Tessel, Topf und Tracht - Europa gesammelt und ausgestellt

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Europa gesammelt und ausgestellt

TESSEL, TOPF UND TRACHT

Museum der Kulturen Basel Christoph Merian Verlag



TESSEL, TOPF UND TRACHT



Europa gesammelt und ausgestellt

TESSEL, TOPF UND TRACHT

Museum der Kulturen Basel Christoph Merian Verlag



Europa sammeln: Reflexion auf das Eigene

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Einführung

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Anna Schmid

Dominik Wunderlin

Geschichte einer Abteilung

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Dominik Wunderlin

Europa? Europa!

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Dominik Wunderlin (dw), Tamara Posillipo (tp)

OBJEKTGESCHICHTEN Dominik Wunderlin (dw), Tamara Posillipo (tp)

Abteilungsleiter – Institutionalisierung einer Leidenschaft  Kommissionsmitglieder – Die Strategen  Volkskundler – Am Anfang war der Laie Universitätsprofessoren – Die anziehende Kraft des Alltäglichen Frauen in der Volkskunde – Unbeachtete Leistungen ins Licht gerückt  Sammlungsreisende – Im Auftrag unterwegs  Sammler – Ein Faible für Fremdes und Eigenes Landtrödler und Antiquitätenhändler – Zwischen Tand und Preziosen  Industrielle – Der geschäftige Blick Der Gründer der Paneuropäischen Union

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Zeitsprünge

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Tamara Posillipo

Volkskundliche Ausstellungen der Abteilung Europa

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Dominik Wunderlin

Ausstellungen der Abteilung Europa Bibliografie

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Europa sammeln: Reflexion auf das Eigene Anna Schmid

Ethnologische Museen konzentrieren ihre Tätigkeiten bis heute meistens auf ausser­ euro­päische Regionen; selten verfügen sie über umfangreiche europäische Sammlun­ gen, und noch seltener über die Institution Europa-Abteilung. Das Museum der Kul­ turen Basel darf sich glücklich schätzen, eine solche Abteilung Europa mit einem Bestand von etwa 75 000 Objekten aus nahezu allen Bereichen des Lebens zu haben. Wie es dazu kam, welche Ziele mit der Abteilung verfolgt wurden und wie sie sich entwickelte, wird in dieser Publikation ausgeführt und in der gleichnamigen Ausstellung gezeigt. Bei der Abteilungsgründung 1904 hatte Eduard Hoffmann-Krayer ein Konzept vorgelegt, das heute als vergleichende europäische Ethnologie umschrieben werden könnte. Er hatte auch einen in neunzehn Sachbereiche unterteilten Kanon ausgearbeitet, nach dem die Sammlung aufgebaut werden sollte. Vergleichbare Vorlagen waren damals in ethnologischen Museen selten. Bereits 1911 plädierte Hoffmann-Krayer dafür, thema­ tisch und abteilungsübergreifend zu arbeiten. Er forderte, «dass in sachlich ver­glei­ chenden Sammlungen die Schranke zwischen den Weltteilen fallen muss. Und mit Freude würde ich es sehen, wenn z.B. unsere europäische Pflug- und Lampensamm­ lung in einer allgemeinen Sammlung aufginge, die dann ein womöglich lückenloses Gesamtbild der Entwicklung darböte». Zwar ist diese Forderung von der damaligen Auffassung von Wissenschaft geprägt und vor dem Hintergrund zu verstehen, dass Entwicklungslinien postuliert wurden und nachgezeichnet werden sollten. Aus heutiger Sicht liesse sich diese Forderung aber auch als generelle Bedingung des wissen­ schaftlichen Arbeitens auffassen, mit der sich Unterschiede in der materiellen Kultur zu der jeweiligen Weltsicht in Verbindung setzen lassen – ohne damit eine Wertung vorzunehmen, wie ja die Rede von Entwicklung sie nahelegt. Darüber hinaus wird in dem Zitat die Beziehung zwischen einem Hier und Dort betont – ein wesentlicher Teil der Programmatik unseres Hauses heute. Wie schon andernorts gesagt, liegt die Relevanz eines ethnologischen Museums für die hiesige Gesellschaft, «in den Möglichkeiten der Relativierung und in der kritischen Reflexion auf das Eigene». In gewisser Weise hat Hoffmann-Krayer dies bereits 1911 vorweggenommen, und wir führen es mit thematischen Ausstellungen weiter. Europa wird je nach Standpunkt und Anliegen unterschiedlich definiert (vgl. den Beitrag von D. Wunderlin ‹Europa? Europa!› in diesem Band). Angesichts der – regio­ nalen, ökonomischen, politischen, sozialen, kulturellen oder auch religiösen – Hetero­ genität verwundert dies nicht. Für die Ethnologie und das ethnologische Museum sind vor allem Randzonen und Brüche aussagekräftig. Darin zeigen sich Schemata der Grenzziehungen jenseits von nationalen Grenzen. Mithin werden diese Schemata rele­


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vant, wenn es darum geht, das Eigene zu bestimmen beziehungsweise zu hinter­fragen. Wer definiert sich heute (noch) über eine Tracht oder über Einrichtungsgegen­stände? Welche Relevanz haben Senntumsmalerei oder Zeugnisse bäuerlicher Kultur für wen? Wann veränderten sich die Bezüge zu diesen Ausdrucksformen des Alltags? Auf diese und viele weitere Fragen entwerfen Publikation und Ausstellungen mit dem umfang­ reichen Europa-Bestand einige mögliche Antworten. Dabei zeigt sich immer wieder, dass Historisches nicht nur der Vergangenheit angehört. Die Reihe der ethno­logischen Anliegen, die wir anhand der Europa-Sammlungen bearbeiten können, liesse sich lange fortsetzen. Der Leiter der Abteilung Europa, Dominik Wunderlin, hat sich der schwierigen Her­ ausforderung gestellt, die 111-jährige Geschichte der Abteilung und ihrer Leistungen auf eine spezifische Weise aufzuarbeiten. In den Objektgeschichten werden anhand von ausgewählten Objekten Persönlichkeiten, die für die Abteilung prägend waren, und ihre Sammeltätigkeit charakterisiert. Bei einer derart umfassenden Sammlung bleibt die Qual der Wahl nicht aus. Herr Wunderlin hat dies zusammen mit seiner Assistentin Tamara Posillipo mit Bravour bewältigt. Allerdings hat er dabei seinen eigenen Beitrag zum Gesicht und zur Entwicklung der Abteilung nicht gebührend berücksichtigt. Ich kann es an dieser Stelle nicht darstellen, nur so viel: Seit 1986 wirkt Dominik Wunderlin als Kurator in der Abteilung Europa. Das Verzeichnis der Ausstellungen am Ende der Publikation lässt immerhin erahnen, wie gross seine Leis­ tungen und Verdienste waren und sind. Für sein aussergewöhnliches Engagement, seine Begeisterung, seine Umsichtigkeit, sein Gespür für Wesentliches sowie für seine Offenheit gegenüber Neuem möchte ich Dominik Wunderlin ganz herzlich danken! Mein Dank gebührt auch dem gesamten Team, das an der Konzipierung und Realisierung von Ausstellung und Publikation mitgearbeitet hat. Zum Auftakt empfängt Sie eine Parade der Kopfbedeckungen, in der die Heterogenität und der kulturelle Reichtum Europas zum Ausdruck kommen. Ziehen wir den Hut vor diesem Europa!


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Einführung Dominik Wunderlin

Angesichts der immer wieder zum Thema werdenden Frage, warum der Mensch sammelt (oder auch nicht), musste es irgendwann kommen, dass der bekannte Satz ‹Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich!› mit einem Augenzwinkern leicht um­ge­ wandelt wird in ‹Colligo ergo sum – Ich sammle, also bin ich!›. Das Sammeln als Kulturtechnik ist etwas sehr Menschliches und wird nicht nur als Steckenpferd betrieben, sondern greift auch tief in den Alltag hinein. Denken wir nur an unser Ver­ halten als Konsumenten: Beim Grossverteiler können wir Punkte erzielen, der Buch­ händler gibt Marken für eine Sammelkarte ab und bei der Airline sind es Meilen, die man sammelt. Schon im 19. Jahrhundert hatte der Handel entdeckt, dass man eine Kundenbindung über den Sammlertrieb herstellen konnte, so etwa über die Kauf­ mannsbildchen (von Liebig bis zu den Bilderschecks) oder über die Rabattmarken, die man ins Büchlein einklebte. Dass auch diese physisch greifbaren Phänomene das Interesse der europäischen Ethnologie geweckt haben und den Weg in unser Museum gefunden haben, muss nicht überraschen. Dem institutionalisierten Sammeln widmen sich dieses Buch und die Ausstellung ‹Tessel, Topf und Tracht› anlässlich des 111-jährigen Bestehens der Abteilung Europa im Museum der Kulturen Basel. Sie präsentieren einerseits wichtige Einlieferer von Museumsgut und andererseits eine Palette von Objekten aus unserer Sammlung mit ihren Geschichten. So wird ersichtlich, wie die Abteilung zur Hauptsache zu ihrem Bestand von rund 110 000 Gegenständen, registriert auf rund 75 000 (heute virtuellen) Inventarkarten, gekommen ist. Abgesehen von einer Reihe planmässiger Reisen, wel­ che die Abteilungsvorsteher seit den 1950er Jahren zur Ergänzung der Sammlungen unternommen haben, wurden die meisten Objekte nicht durch eigene volkskund­liche Feldarbeit zusammengetragen. Vieles kam durch Zufall ins Museum, war und ist oft auch aktuell ein Eingehen auf Angebote; was aber nicht in jedem Fall auch heisst: durch Kauf. In der Tat sind viele Objekte, ja ganze Sammlungsteile im Laufe der vielen Jahrzehnte dem Museum geschenkt worden. Aus einigen der nachfolgen­den Porträts geht aber auch hervor, dass verschiedentlich Personen – oft interessierte Laien – im Auftrag für das Museum sammelten oder zumindest wussten, woran ein Interesse bestand. Wir stellen zwar nur dreissig Persönlichkeiten vor. Doch wir betrachten sie als repräsentativ für die Gesamtheit der rund 5000 Namen, die von Tampere bis Rom, von Malaga bis Bukarest wertvolle Knotenpunkte im Netzwerk waren oder noch sind. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass die Sammeltätigkeit unserer Abteilung von Anfang an Ziele und Konzepte verfolgte, die letztlich zu hoch gesetzt waren. Während andere, oft noch im 19. Jahrhundert gegründete, volkskundliche Museen in


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anderen Ländern stets den Aufbau einer nationalen und regionalen Sammlung zum Ziel hatten, beschloss man hier in Basel, während der Blütezeit des Nationalismus, im Jahre 1904 etwas fast Revolutionäres: die Gründung einer nicht-nationalen, auf den europäischen Kulturdialog abzielende, typologische Vergleichssammlung. Der Name der neuen Abteilung, ‹Europa›, war Programm, und ihr Gründer und langjähriger Vor­ steher Eduard Hoffmann-Krayer stellte mit seinem länderübergreifenden Konzept ein Projekt zu einer Zeit auf die Beine, als noch niemand von ‹Europäischer Ethnologie› (oder ‹europäischer Völkerkunde›, wie Hoffman-Krayer es 1910 nannte) sprach. Aber: Eine Sammlung zu realisieren, in der alle Länder Europas gleichermassen mit ihrer Keramik, ihren Holzgeräten, Fuhrwerken und Booten, mit ihren Handwerken und Trachten etc. vertreten sein sollten, war eine gut gemeinte, aber nur ganz am Anfang auch verfolgte Utopie. Die Abteilung Europa und ihr Gründer waren in mancherlei Hinsicht der Zeit weit vo­ raus. Den supra-nationalen, euro-ethnologischen Anspruch haben wir schon genannt. Aussergewöhnlich war auch, dass praktisch mit der Aufnahme der Sammel- und Doku­ mentationstätigkeit ein Konzept in gedruckter Form vorlag und schon sechs Jahre danach die konzeptionellen Überlegungen in einer umfangreichen Ausstellung der Öffentlichkeit gezeigt werden konnten. ‹Alltag›, ein Schlagwort der letzten Jahrzehnte, wurde zwar vor hundert Jahren noch nicht in Verbindung mit volkskundlichen Objekten gebraucht, aber ganz gewöhnliche Gegenstände des damaligen Alltag­ ge­ brauchs wurden auch damals gesammelt, solange sie die Kriterien eines ‹VolkskunstObjektes› erfüllten. Wie das Konzept von 1904 deutlich macht, war für HoffmannKrayer ‹Volkskunst› nur eine von insgesamt neunzehn Sachbereichen, die er zu sam­meln gedachte, und stand auf der Liste an 17. Stelle! Noch in der Zeit des Zweiten Weltkriegs glaubte man – wohl das letzte Mal – in un­se­rem Haus, vorhandene Lücken in der Schweizer Populärkultur füllen zu können. Nach­dem Kustos Alfred Bühler begonnen hatte, einen noch heute hilfreichen Sach­kata­­log anzulegen, nutzte seine damals interimistisch als Vorsteherin der Abteilung Eu­ro­pa wirkende Ehefrau Dr. Kristin Bühler-Oppenheim die Gelegenheit im Jahres­ bericht 1943, «kurz einiges über die Prinzipien des Sammelns zu sagen, das vielleicht den (einen) oder anderen in seiner Sammeltätigkeit unterstützt». Adressaten waren wohl jene unter den Empfängern des Berichtes, die als Nichtwissenschaftler zu den Sam­mlern gehörten, auf die «wir für den Erwerb volkskundlichen Gutes in erster Linie […] angewiesen sind, die häufig über Ziele einer Sammlung für Volkskunde im unklaren sind, und dementsprechend auch nicht wissen, was sie erwerben sollen». Des­ halb seien die Berichterstatterin und der sie assistierende stud. phil. Paul Hinderling, der spätere Afrikaforscher und Ethnosoziologe, daran gegangen, aus volkskundlichen Monografien Auszüge anzufertigen, die sämtliche für eine Region typischen Gegen­ stände auflisten. Was sich dann gemäss Sachkatalog noch nicht in den Beständen fände, würde auf Zettel notiert und eingereiht. «Dieser Katalog kann für jeden Sammler,


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der nicht speziell in die Materie eingeführt ist, als Programm dienen, das das mühe­ volle und mit Zeitverlust verbundene Orientieren an Ort und Stelle zum mindesten erleichtert. – Wo nicht in einem geschlossenen Gebiet gesammelt wird, sondern die verschiedensten Gegenstände hier und dort erstanden werden, muss sich der Sammler besonders klar darüber sein, dass es sinnlos ist, Stücke nur um der Originalität und Schönheit ihrer Form willen zu erwerben, wenn sich ihr genauer Herkunftsort nicht mehr ermitteln lässt, da solche unmöglich an der richtigen Stelle eingeordnet werden können, und daher zur Erweiterung der vorhandenen Bestände nichts beitragen. Nur solche Gegenstände berechtigen zum Erwerb ohne genauere Angaben, von denen noch kein Exemplar im Museum vorhanden ist.» Kristin Bühler-Oppenheim erklärte er­gän­zend, wie wichtig alle Angaben seien, die zu einem Objekt beigebracht werden können (inkl. Dialektbezeichnung), und wie dann diese Informationen auf die Kar­tei­ karte oder bei grosser Länge in die Sammlungsakten gelangten. Abschliessend hielt sie fest: «Erst Sammlungen, die auf die oben beschriebene Weise angelegt und in der Katalogisierung zugänglich gemacht sind, ermöglichen schliesslich den Wissenschaft­ lern anderer Gebiete und in erster Linie dem Ethnologen und Volkskundler ein fruchtbares Ausschöpfen, was ja neben der Bildung des Laien ihre eigentliche Aufgabe ist.» Aus unbekannten Gründen ist dieses Vorhaben nicht verwirklicht worden. So war man gemäss den nachfolgenden Jahresberichten auch weiterhin froh um den «uner­ müdlichen Eifer einiger Volkskundler», die zusammentrugen, «was noch an Altem vorhanden ist» (Jahresbericht 1945, Alfred Bühler). Gerne würden wir bei den so erworbenen Gegenständen hoffen, dass sie auf ethisch vertretbare Art die Hand ge­ wechselt haben. Dass dies nicht immer der Fall war, wissen wir zumindest in Ansätzen. So waren Arthur Byhan, Kustos der Eurasien-Abteilung im Hamburger Völker­kunde­ museum, und der eifrige Sammelreisende Julius Konietzko, diensthabender kaiserlichdeutscher Heeresethnograf, in den Jahren des Ersten Weltkriegs im Balkan unterwegs. Letzterer verkaufte einige der dabei gesammelten Objekte 1919 unserem Museum. Unzweifelhaft lockte in ländlichen Kreisen auch oft das angebotene Bargeld, um manchen alten Familienbesitz in Richtung Basel entschwinden zu lassen. Manchmal mag auch das (für unsere Abteilung bisher nicht nachweisbare) Angebot überzeugt haben, die alte lottrige und unpraktisch gewordene Truhe gegen einen modernen, praktischen Kasten aus dem Möbelhaus zu tauschen. Wir wissen aber auch von einem Landarzt und Sammler, der sich medizinische Leistungen mit ihn interessierenden Religiosa der Patientenfamilie bezahlen liess. Und wir denken an den Erwerb von Objekten bei Museumskollegen hinter dem Eisernen Vorhang, wo der Staat stets dringend auf Devisen angewiesen war und man bei den Einkäufen die ‹Handels­ organisationen› und staatlich-ideologisch gelenkte ‹Heimatwerke› nicht umgehen konnte. Oder nennen wir zuletzt noch den bestimmt auftretenden Leopold Rütimeyer, der in Kairo einem Musikanten sein Instrument gleich nach dem Spiel zu einem


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(angemessenen?) Preis aus der Hand nahm und in Palermo den damaligen Besitzer unseres ältesten bemalten Eselskarrens auf offener Strasse hiess, das Zugtier auszu­ spannen, um den Einachser fürs Museum mitzunehmen. So ist also zweifellos das eine oder andere Objekt unserer Sammlung mit einer Geschichte verbunden, die nicht nur schön ist. Dennoch darf rückblickend festgehalten werden, dass das Erreichte insge­ samt beachtlich ist und eine Sammlung besteht, die in ihrem Reichtum und ihrer Breite einmalig ist. Vieles, was Menschen an Sachen hervorgebracht haben, die typisch für ihre Region sind, findet sich nun in der Basler Dokumentation. Die im zentralen Teil dieses Buches vorgestellten Dinge sind von uns subjektiv aus­ gewählt worden. Jedes Objekt steht jedoch direkt in Verbindung mit der Person, die es selbst gesammelt oder über die Aufnahme in unsere Sammlung sanktioniert hat. Hinter jedem Objekt, das den Weg in unsere Sammlung gefunden hat, steht ein Erkennt­nis­ inte­resse des Sammlers oder Museumswissenschaftlers, das sich im Laufe der Zeit auch wandeln, verschwinden, aber später wieder erwachsen kann. Der immer wieder er­folgte Einsatz von Dingen, die auch schon vor längerer Zeit in die Sammlung gekom­ men sind, in Ausstellungen im Hause oder als Leihgaben, beweist, wie gross der Stellen­ ­wert der Basler Bestand in seiner Gesamtheit wie in seinen Einzelbereichen ist. Unsere Sammlung böte auch eine gute Grundlage – idealerweise in Kooperation mit anderen grossen Sammlungen – für ein virtuelles Museum europäischer Populärkulturen. Die ‹Dingbedeutsamkeit› allerdings, das heisst die Beziehung eines Menschen zu den Ob­ jekten seines Handelns oder seiner Umgebung, die über das Zweckgebundene hinaus­ geht, kann nur im Museum selbst erlebt werden (Korff 1992). Und so wollen sowohl die Ausstellung ‹Tessel, Topf und Tracht› wie auch die Begleitpublikation die nun 111 Jahre dauernde Arbeit an einer Dokumentation zur europäischen materiellen Populär­ kultur würdigen und gleichzeitig eine ‹Hommage› an alle darstellen, welche die Abtei­ lung von innen oder von aussen aufgebaut und gestaltet haben.


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Geschichte einer Abteilung Dominik Wunderlin

Wie bei jeder Geschichte gibt es auch zu jener der Abteilung Europa eine Vorge­schich­ te. Diese beginnt im späten 19. Jahrhundert, als Eduard Hoffmann-Krayer als junger, aus Basel stammender Privatdozent in Zürich lebte und wirkte. Der seit 1896 am Schweizerdeutschen Wörterbuch, dem ‹Idiotikon›, tätige Philologe hatte im Folgejahr soeben mit Gleichgesinnten die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde gegrün­ det, als er auch schon eine Abfuhr erlitt: Er wollte nämlich, dass sich die Gesell­schaft dem Sammeln volkskundlicher Objekte annehmen sollte, da er erkannt hatte, dass ‹Wörter und Sachen› in der philologischen Forschung ein wichtiges methodisches Prin­zip darstellen. Dass der Vorschlag aus Geld- und Raumgründen abgelehnt wurde, entmutigte Hoffmann-Krayer keineswegs: Er begann auf privater Basis zu sammeln. Was er bis zum Sommer/Herbst 1904 zusammengetragen hatte, ist beachtlich, denn das Inventar des Gründungsjahrs der Abteilung zählt 288 Nummern, die er als seine Geschenke im Einlaufbuch registrierte. In seine Vaterstadt Basel war Hoffmann-Krayer bereits im Jahre 1900 zurückge­kehrt. Geholt hatten ihn sein Freund, der Germanist John Meier, und der Sprachfor­ scher Jacob Wackernagel, welche die Regierung davon überzeugen konnten, dass eine Pro­fessur für Phonetik, schweizerische Mundarten und Volkskunde wichtig für die Basler Universität wäre, nicht zuletzt auch für die Lehrerausbildung, und Hoffmann der richtige Mann dafür. Der Antrag hatte Erfolg, denn er passte gut in die Zeit, in der das Interesse an ‹Heimatlichem›, an alten materiellen und immateriellen Dingen, deutlich gewachsen war, zweifellos als Reaktion auf starke Modernisierungsschübe. Hoffmann-Krayer war nicht nur der richtige Mann für die ihm auferlegte Arbeit als Dozent an der Universität, sondern er fand auch den Weg ins Museum auf dem Münsterhügel, um seine Vision einer volkskundlichen Dokumentationsstelle doch noch zu verwirklichen. Er trat deshalb 1904 mit der Anregung an die Museumskommis­ sion heran, der ‹Ethnographischen Sammlung der Universität Basel› eine volkskund­ liche Abteilung anzugliedern. Während die Kommission, der auch Leopold Rütimeyer angehörte, sehr positiv reagierte und Hoffmann-Krayer als Mitglied ins Gremium aufnahm, kam es in der Regenz der Universität zu stürmischen Debatten. Ausgelöst hatte sie die Kommission des Historischen Museums, die Konkurrenz witterte; «obschon von dieser Seite aus nie etwas für die Volkskunde getan worden war», bemerkte der Museumsleiter Felix Speiser 1943 lakonisch in einem historischen Rückblick zu fünfzig Jahre Völkerkundemuseum. Die Kommission unseres Museums liess sich i­n­des nicht beirren, und so kam es zu keinen weiteren Beanstandungen. Allerdings arbeitete der Vorsteher der jüngsten Abteilung 1907 ein Memorandum aus, das die Abgrenzung der Sammlungsgebiete der Abteilung Europa gegenüber dem Histo-


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rischen Museum zum Inhalt hatte. Wie Felix Speiser in seiner knapp gehaltenen Mu­ seumsgeschichte 1943 festhielt, konnte die Kommission des Historischen Museums dem Papier «zunächst nicht zustimmen», da ihr vielleicht der Glaube fehlte. Immerhin war es so gut, dass es sich Jahrzehnte später, in den 1940er Jahren, auch bei der Ab­ grenzung gegen das Schweizerische Landesmuseum bestens bewährte. Die Abteilung Europa schien sich trotz geringer Geldmittel flott zu entwickeln, da Hoffmann-Krayer meist in die eigene Tasche griff; ausgezeichnet funktionierte vor allem sein Netzwerk mit Sammlern und Einlieferern, darunter auch vielen Laien und Dilet­ tanten! Denn «galt es doch», wie er 1908 im Vortrag ‹Wege und Ziele schweize­rischer Volkskunde› formulierte, «die letzten Überreste vergangener Kultur­epo­chen zu sam­meln und in die Scheunen zu bringen, bevor auch sie von der Sturm­flut internationaler Zivi­ lisation für immer weggeschwemmt sein würden.» (Auch hier zeigt er sich als ty­pischer Vertreter seiner Zeit, die retten wollte, was es noch zu retten gab.) Das Sammelgebiet umschrieb Hoffmann-Krayer zu Beginn wie folgt: «Gegenstände, die vom Landvolk entweder erzeugt oder verwendet werden und gegenüber der moder­ nen städtischen Kultur eine wesentlich primitivere Kulturstufe repräsentieren, ferner solche städtischen Erzeugnisse, die mit dem Volksleben durch längere Tradition eng verknüpft sind.» Er schärfte diese Definition später noch mehrmals und rückte von den kulturhistorisch verstandenen Attributen ‹altartig›, ‹primitiv› und ‹bäuerlich› ab, als er die kulturelle Zeichenhaftigkeit vieler «Erzeugnisse des eigentlichen, höheren Kunst­ gewerbes oder gar des internationalen Industriebetriebes» (Hoffmann-Krayer, 1926) erkannte. So gelangten noch zu seinen Lebzeiten (also vor 1936) zahlreiche Objekte der Massenproduktion aus verschiedenen Sachbereichen in die Sammlung, mit denen die Wandlungsabläufe und Wirkungszusammenhänge in industrialisierten Gesellschaften belegt werden können. Die Objekte konnte Hoffmann-Krayer anfänglich im Rollerhof (in drei, später sechs Kammern) deponieren, denn dieses stattliche Gebäude stand seit dem Auszug der Regierung leer; sie hatte es während des Rathausumbaus genutzt. Im Rollerhof orga­ nisierte er auch im Sommer 1910 die erste ‹Ausstellung für Volkskunst und Volkskunde›. Wie der Titel der Ausstellung andeutete, zeigte sie Exponate, die nach dem damals wie heute landläufig geltenden Verständnis als ‹Volkskunst› bezeichnet wurden und werden. Aber ‹schön› war weder damals noch ist sie heute die gültige Voraussetzung für ein Objekt unserer volkskundlichen Sammlung: Die dokumentarische Qualität einer Erfah­rungswirklichkeit ist wichtiger als die ästhetische Qualität. Was Hoffmann-Krayer in seiner berühmt gewordenen Antrittsrede ‹Die Volkskunde als Wissenschaft› mit der Formel vulgus in populo forderte, nämlich die Erforschung der überindividuellen kulturellen Überlieferung innerhalb eines Volkes, sollte auch für die materielle Kultur gelten. Denn es gibt fast zahllose Belege in unseren Sammlungen, die zu Hoffmann-Krayers Satz passen: «Das Volk produziert nicht, es reproduziert», und dieser gilt ebenso bei der Beschäftigung mit der ihm von Anfang an wichtigen Ergologie,


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der Lehre von den materiellen und technischen Erzeugnissen menschlicher Kultur. Seine schriftlich formulierten, aber nicht in die Tat umgesetzten Visionen von einem ‹Museum der Ergologie› beschäftigten ihn bis zu seinem Tod. Um sechs Jahre überlebte ihn der Museumsleiter Fritz Sarasin, der allerdings nie viel für die Arbeit von Hoffmann-Krayer und seine Sammlung übrig hatte. Zentral für Sarasin war eine weitgehende Beschränkung der ethnografischen Sammlung auf mate­ rielle Zeugnisse der Kultur. Zwar fanden sich darin schon damals reiche ergo­logische Bestände, «viel weniger dagegen andere Dokumente, die etwa soziologische, rechtliche, künstlerische, religiöse oder andere geistige Kulturaspekte betreffen» (Bühler, 1960). Die europäische Sammlung Hoffmann-Krayers war zudem ein Projekt auf dem Boden philologisch-kulturhistorischer Forschungsrichtungen und gefiel dem Natur­ wissen­ schaft­ler Sarasin nicht. «Seiner ganzen Einstellung widersprach es auch, das Museum nicht bloss als Forschungsinstitut, sondern auch als kulturelle Institution richtig zur Geltung zu bringen» (Bühler, 1960). Ordnung genügte ihm und auch die Präsentation möglichst vieler Objekte in leicht übersehbarer Aufreihung. «Eindrucksvolle Ausstel­ lungs­­ formen, Führungen, thematische Sonderausstellungen und weitere Möglichkei­ten, dem Publikum das Wesen der fremden Kulturen nahezubringen, lagen ihm fern und wurden von ihm oft mit Misstrauen beurteilt» (Bühler, 1960). Das wusste Hoffmann-Krayer, hielt ihn aber nicht davon ab, zumindest Miniatur-Wechsel­aus­stel­ lungen zu veranstalten, und auch von zahlreichen öffentlichen Führungen haben wir Kenntnis. Wie wir zudem von seinem Nachfolger Felix Speiser wissen, führte Fritz Sarasin das Museum respektive die Kommission patriarchalisch. Bis zum Tode seines Vetters Paul Sarasin (1929) entschieden die beiden das meiste unter sich, zogen dann bei einem Abendschoppen noch Leopold Rütimeyer bei, der die Beschlüsse seiner Freunde abnickte. Darum gab es oft nur eine Sitzung gegen Jahresende, wo die Ent­ scheide der Herren Sarasin ebenso zur Kenntnis genommen wurden wie die bei dieser Gelegenheit verlesenen Jahresberichte der Abteilungsleiter. Opposition wäre angesichts des hohen Ansehens der alten Herren nicht ratsam gewesen, und so arrangierte sich offenbar jeder. Dass nach dem Tod Hoffmann-Krayers keine Person zum Vorsteher der Abteilung Eu­ ropa gewählt wurde, die Profil hätte entwickeln können, hängt wohl auch mit der Ab­ neigung Fritz Sarasins gegenüber der Volkskunde zusammen. So war während zehn Jahren niemand da, der kontinuierlich und mit einem tiefen volkskundlichen Wissen die Abteilung führte. Zunächst wurde Hoffmann-Krayers Schüler Hanns BächtoldStäubli mit der Leitung der Abteilung betraut. Da dieser aber mit den Redaktions­ arbeiten an den letzten Bänden des Handwörterbuchs des deutschen Aberglaubens stark belastet war, hatte er nur wenig Zeit fürs Museum. So zeichnet zunächst der erste besoldete Kustos Eugen Paravicini für den Jahresbericht, dann scheint Rudolph Iselin, der sonst (und bis 1956) für die Fotosammlung zuständig war, die laufenden Arbeiten in der Abteilung Europa übernommen zu haben.


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Immerhin ist bekannt, dass Bächtold-Stäubli im Jahre 1937 in der Kommission eine Ana­ lyse der Sammlung präsentierte und für eine Neuausrichtung im Sammlungsaufbau plädierte. Er empfahl, sich in den nächsten zehn Jahren zu beschränken und nur noch dort zu sammeln, wo die bestehende Sammlung «schon sehr schöne Anfänge besitzt» (Protokoll der Museumskommission, 1937). Bächtold rief zum Mut zur Lücke auf und zur Befolgung von Hoffmann-Krayers Konzept der sachlichen Ordnung. Schliesslich schlug er vor, die präsentierte Abteilung Europa zu einem Museum des gesamten Alpenbogens um­zugestalten und Studenten im Sommer zum Sammeln in die Berge zu schicken. Nach Bächtolds Tod im Jahre 1941 rückte Paul Geiger in die Kommission auf. Gleichzeitig wurde Iselin von seiner Aufgabe befreit und durch die «zeitweilige Assistentin» (Be­ zeichnung im Jahresbericht 1942) Dr. Kristin Oppenheim abgelöst, die bereits im Jahr danach die Gattin des 1938 zum zweiten besoldeten Kustos gewählten Dr. Alfred Bühler wurde. Dr. Kristin Bühler-Oppenheim erledigte bis zum 1. März 1946 offenbar zur Hauptsache die nicht unbeträchtlichen angefallenen Katalogisierungsarbeiten. Sie be­ schäf­­tigte sich aber auch intensiv mit europäischen Textilien, während ihr Mann den Sach­katalog Europa erstellte, soweit er nicht Aktivdienst leisten musste. Im Jahre 1944 erfolgte eine wichtige ‹organisatorische Änderung›: Der Hohe Bundes­rat gab die Erlaubnis, dass der Titel des Museums fortan ‹Museum für Völkerkunde und Schweizerisches Museum für Volkskunde› lauten dürfe. Hintergrund für diese Massnahme waren schon gegen Ende der 1930er Jahre in Zürich und in Schwyz aufgetretene Bestrebungen zur Gründung eines Schweizerischen Volkskundemuse­-­ ums. Das wollte man sich angesichts der grossen Sammelleistung der letzten vierzig Jahre nicht bieten lassen. Der zuständige Regierungsrat Dr. Fritz Hauser machte 1942 eine diesbezügliche Anfrage beim Departement des Innern (EDI), wie diesem Vorgang ein Riegel geschoben werden könne, da einzig die Basler Sammlung den Zusatz ‹schwei­ zerisch› verdienen dürfte. Bern wies unser Museum daraufhin an, mit der Kommis­sion des Schweizerischen Landesmuseums in dieser Angelegenheit in Kontakt zu treten. Die Gespräche führten zum erfreulichen Ergebnis, dass das dem EDI unter­ stellte Landes­ museum auch weiterhin auf ein systematisches Sammeln volkskund­ licher Objekte verzichten werde. Es wurde eine schriftliche Vereinbarung getroffen, welche die beiden Sammlungen abgrenzte, und zur Vermeidung von ‹SammlungsRivali­ täten› bekam Zürich das Recht, einen Delegierten in unsere Kommission zu entsenden. Später entschlossen sich das Landesmuseum, das Historische Museum Basel und das Bernische Historische Museum, alle nicht ins bestehende Sammlungs­ konzept passenden volkskundlichen Objekte nach Basel ins unbefristete Depositum zu geben. Der Titel ‹Schweizerisches Museum› wurde von unserer Museumsleitung als grosse Verpflichtung gesehen und diente durchaus als Druckmittel, um den längst nötigen Erweiterungsbau zu bekommen. An den Vorbereitungen für den Tag der Eröff­ nung des ‹Schweizerischen Museums für Volkskunde›, administrativ weiterhin Teil des Völkerkundemuseums, arbeitete bald nach seinem Amtsantritt im Frühling 1946 der


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neue Vorsteher der Abteilung, Dr. Robert Wildhaber. In seine zweiundzwanzig Jahre dauernde Zeit als Abteilungsleiter fiel die Museumseröffnung im Mai 1953 und gleich­ zeitig der Beginn einer intensiven Sonderausstellungstätigkeit. Ein Schwerpunkt waren Ausstellungen zur Volkskunst, oft das Resultat einer Feldforschung in osteuropäischen Ländern, die Wildhaber als Museumsmitarbeiter wie keiner vor und nach ihm bereist hat. Es gehört zu seinen grossen Verdiensten, dass er 1967 die neuere Volkskunstdiskus­ sion ausgelöst hat: «Gegenstände irgendwelcher Art in traditionell verpflichteter Form zu verzieren, da sprechen wir von Volkskunst in strenggefasstem Sinn des Wortes. ‹Schön› in volks­kundlicher Weise verstanden heisst nur: das Objekt und seine Verzie­ rung entsprechen den traditionellen Vorschriften einer Gruppe. Die Verzierungen sind also nicht ‹freie› Gestaltungen eines individuellen Schöpferwillens, sondern sie sind der ‹gebundene› Aus­druck einer Gemeinschaftszugehörigkeit» (Wildhaber, 1967, unpag.) Als er seine An­sichten auch in der Festschrift Ranke publizierte, löste das in Deutschland eine heftige Debatte aus. In seiner allerletzten Zeit als Abteilungsleiter und darüber hinaus, von 1967 bis 1970 war Wildhaber sehr intensiv mit Volkskunst-Ausstellungen im internationalen Raum beschäftigt. Als Partner fanden sich die Pro Helvetia, der deutsche Kunstrat und die Smithsonian Institution. Dazu kam noch eine zum Teil parallel laufende, gigantische Volkskunstausstellung im Kunstgewerbemuseum Köln, wo aus Deutschland, Österreich und der Schweiz 1813 Objekte gezeigt wurden. Als wissenschaftlicher Beirat brachte Wildhaber 206 Objekte aus unserem Museum sowie rund hundert Objekte von zwölf weiteren Schweizer Leihgebern ein. Die aufwendigen Arbeiten für diese Grossunternehmen waren weitgehend darum möglich, weil seit 1963 Theo Gantner als zeitweiliger Assistent in der Abteilung tätig war. Er übernahm im Jahre 1968 die Leitung und schärfte in der Folge das Profil der Abteilung weiter, sodass man in der Aussenwahrnehmung noch stärker als bei Wild­ haber den Eindruck erhielt, das Schweizerische Museum für Volkskunde sei ein eigen­ ständiger Organismus. Galt die volkskundliche Museumsarbeit zunächst Zeugnissen gemeinschaftsgebundener Überlieferungen und der Ergologie, dann der Volkskunst, so konzentrierte sich Theo Gantner auf die Dokumentation von formellen Gruppen und auf das Medium der populären Druckgrafik; beide Themen führten zu zwei viel beach­ teten, durchwegs Neuland beschreitenden Ausstellungsreihen. Gantner versuchte aber auch in den Jahren 1968 bis 1973 zusammen mit der Christoph Merian Stiftung, dem Botanischen Garten und dem Historischen Museum ein Museum in der grossen Scheune von Vorder Brüglingen zu verwirklichen. Unsererseits wäre es um die Präsentation der landwirtschaftlichen Transportmittel und Geräte gegangen und hätte unter anderem zu einer Ausstellung der bedeutenden Pflugsammlung unseres Museums geführt; in einem Exposé erinnerte Gantner auch an die ‹Ackerbauhalle› als eine weitherum beachtete Attraktion. Das Projekt verschwand, als klar wurde, dass auf der Brüglinger Ebene die nationale Gartenausstellung ‹Grün 80› realisiert werden sollte. Immerhin


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konnte dann in der Scheune das Historische Museum seine Kutschen permanent zur Aufstellung bringen; darunter sind notabene auch vier aus unserer Sammlung. In der Ära Gantner begann die Abteilung intensiv mit der EDV-Erfassung der Objekt­ dokumentationen. Diese zukunftsgerichtete Arbeit wurde möglich, nachdem der Leiter ab 1986 durch zwei junge Konservatoren (50 %) mit Ressortverantwortungen, Katharina Eder Matt und Dominik Wunderlin, tatkräftige Unterstützung bekam. Es war nun auch die Zeit angebrochen, in der definitiv die Dokumentation von Arbeits­ welten, Freizeit und Mobilität unserer Industriegesellschaft zu einem wichtigen Thema im Sammlungskonzept wurde. Nach der Pensionierung von Theo Ganter (1996) und dem Ausscheiden von Katharina Eder Matt (1997) blieb es bloss wieder bei einer 100-Prozentstelle in der EuropaAbteilung, die seither Dominik Wunderlin allein besetzt. Inzwischen, konkret am 1. Januar 1996, war die Namensänderung in ‹Museum der Kulturen Basel› erfolgt. Damit wurde auch wieder ausschliesslich der alte Name der Abteilung in Gebrauch genommen; er lässt dank dem Zusatz ‹Europa› doch aufhorchen und klingt geradezu modern. Angesichts der gut 110 000 Objekte (bei rund 75 000 Nummern) ist es in den letzten Jahren nie opportun geworden, neue Sammlungsgebiete zu eröffnen, sondern vor allem zu ergänzen. Zurückhaltung beim Erwerb ist auch deshalb geboten, weil sich heute eine Vielzahl von privaten und staatlichen Museen ebenfalls in der Dokumentation von Alltagskultur betätigt. So besteht ein wichtiger Teil der Arbeit heute in einer Ver­ tiefung, wozu fallweise auch eine umfangreiche Sammlung von Versand- und Han­dels­ katalogen beigezogen werden kann. Neben diesen besonderen Zeugnissen von Alltags­ kultur, die eine urbane Bevölkerung mit jener des ländlichen Raums gemein­­sam hat, wird das Augenmerk auch auf Verpackungen, Tragtaschen oder Kunststoff­ artikel gerichtet. Viele andere Bereiche sind bereits seit 1994 so gut wie eingefroren, das heisst, wir verzichten weitestgehend auf einen weiteren Sammlungsausbau. Für den derzeitigen Abteilungsleiter, der noch das Schweizerische Museum für Volks­ kunde von innen kannte und erlebte, wie es an einer sehr langen Leine wirken konnte, ist die ‹Re-Integration› ein interessanter und keineswegs einfacher Prozess gewesen. Heute schätzt er neben der Arbeit an abteilungsinternen Unternehmen die im Dialog zwischen dem ‹Volkskundler alter Schule› und den Ethnologen entstehende Projekte auf der Basis der seinerzeit gemeinsam beschlossenen Neuausrichtung des Hauses. Hoffmann-Krayer schrieb 1926 in anderem Zusammenhang, aber durchaus hierher pas­send: «… und der anregende Verkehr mit meinen Kollegen von der ethnographi­ schen Kommission tat das seine, um mich auf den Weg zu leiten, den wir im Geiste soeben zurückgelegt habe.» Die Arbeit war damals herausfordernd und spannend, wie sie es auch heute ist, und es freut den Abteilungsleiter, wenn auch das Publikum Ob­ jekte aus der Abteilung Europa in einem neuen Licht und in einem anderen Kontext wieder entdeckt.




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Europa? Europa! ‹Ist Europa am Ende?› So titelte im vergangenen Juli 2015 eine Nordwestschweizer Tages­ zeitung und lieferte damit einen der unzähligen Diskussionsbeiträge zur ‹Grie­chenlandKrise›. Dabei geht jemand wie so oft und aus welchem Grund auch immer darüber hin­ weg, dass das im Titel gemeinte ‹Europa› nicht das Europa aller, sondern nur die ‹Euro­­päische Gemeinschaft› (EU) meint, der bekanntlich neben andern euro­päischen Staaten auch die Schweiz, obwohl mittendrin, nicht angehört. Dieses Anwen­den des Begriffs ‹Eu­ ropa› ist in jedem Fall eine journalistische Fehlleistung. Begegnen kann man ihr eben­so in Medien, die im EU-Raum erscheinen, und sie ist gelegentlich sogar bei Verlaut­ba­run­ gen aus der Brüsseler Administration zu finden. Dies ist «krän­kend für Staaten, die sich seit tausend Jahren als Grundpfeiler europäischer Kultur ansehen» und eine «usur­pa­to­ risch wirkende Aneignung des Namens Europa durch die EU» (Köpke/Schmelz, 1999). Aber was ist eigentlich Europa genau, was europäisch? Wie ist Europa geografisch defi­ niert? Wer gehört zu Europa, wer ist Europäer? Eines vorneweg: Die Antworten fallen je nach Standort unterschiedlich aus und eindeutige gibt es nicht. Wenn wir von der eigentlichen Bedeutung von Kontinent aus geografischer Sicht aus­ gehen, dann ist Europa keine ‹zusammenhängende Landmasse›, sondern nur ein ‹Wurm­ fortsatz› Asiens. So formulierte es der französische Philosoph und Essayist Paul Valéry 1924, und dies müsste eigentlich zum Entscheid führen, vom Kontinent ‹Eura­sien› zu sprechen! Gegen Norden, Westen und Süden ist zwar die Abgrenzung durch die Meere klar, wobei aber die als Synonym und präzisierend gebrauchte Bezeich­nung ‹Euro­ päisches Mittelmeer› für die Wasserfläche zwischen Südeuropa, nördlichem Vorder­ asien und Nordafrika durchaus stutzig machen kann … Gegen Osten ist die geografische Abgrenzung physisch nicht eindeutig und letzt­lich willkürlich: Sie verläuft von Norden über den mässig wahrnehmbaren Kamm des Urals, führt entlang des Uralflusses ins Kaspische Meer und durch die Manytschniede­ rung weiter ins Asowsche Meer. Die Fortsetzung verläuft nach dieser Definition durch das Schwarze Meer zum Bosporus, durch das Marmarameer und die Dardanellen in die Ägäis. So wurde die Grenze zu Asien 1730 durch den Schweden Phillip Johann Tabbert genannt Strahlenberg beschrieben, und sie setzte sich rasch durch. Längst aber ist klar, dass diese Grenzziehung unglücklich ist. Sie teilt die Türkei und Istanbul zwei Konti­nenten zu und zählt Ankara, die ‹europäischste› Stadt des Landes, zu Asien. Zur Irri­tation aus heutiger Sicht trägt auch bei, dass das vorderasiatische Zypern trotz Zwei­teilung der Insel als Entität Vollmitglied der EU ist und die Türkei in Brüssel seit Längerem im ‹EU-Wartsaal› sitzt. Die unklare Abgrenzung gegen Asien verdeutlichen auch sportliche und kulturelle Verbindungen: Dem europäischen Fussballverband (UEFA) gehören die voll oder mehrheitlich in Asien liegenden Staaten Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Israel und ebenso die Türkei und Zypern an. Mit Ausnahme von Kasachstan beteiligen sich diese Länder auch am alljährlichen ‹Euro­

Hüte Strohhut aus Spanien; VI 30327; Fes aus Bosnien; um 1900; VI 60523; gorro aus Spanien; VI 30337; Trachtenhauben aus Polen; um 1890; DE 1; Trachtenhauben aus Slowenien; um 1890; VI 27845l; Béret aus Frankreich; vor 1980; VI 54628; Tropenhelm aus Frankreich; 1927; VI 63964

Abb. S. 18/19


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pean Song Contest› der Eurovision; je einmal nahmen auch Marokko (1980) und Aus­ tralien (2015) daran teil. Die Gründe für alle diese ‹Mitgliedschaften› liegen zumeist in historischen, kulturellen oder auch politischen Verbindungen. Europa, das in der jüngeren Geografie auch Kulturerdteil genannt wird, was eine weit­ gehend plausible Einteilung erlauben würde, hat bezüglich Aussengrenzen eine bewegte Geschichte hinter sich. Sie kann hier nicht im Detail reproduziert werden. Immerhin aber so viel: Das Wort Europa kommt wahrscheinlich vom assyrischen ereb für dunkel, Sonnenuntergang, was dann auch zum Synonym ‹Abendland› geführt hat. Es wurde unter dem römischen Papsttum mit seiner lateinischen Kirche, der ‹christianitas›, lange als ein ‹Kampf- oder Ausgrenzungsbegriff› gegenüber äusseren Feinden wie Byzanz oder dem Islam verwendet. Entsprechend zählte über Jahrhunderte grob gesagt nur das Gebiet westlich Elbe, Saale und Adria zu Europa. Nachdem der Begriff ‹Abendland› (auch Okzident) in jüngerer Zeit aus verschiedenen Gründen weitgehend ausser Ge­brauch gekommen ist, hat ihn im Spätherbst 2014 (leider) die Protestbewegung ‹Patri­otische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes› wiederentdeckt. Die Denk­weise der PEGIDA-Anhänger ist der jüngste Beweis für eine konservative Denkart, wonach das konstitutive Element Europas die christliche Dominanz sei. Fortschritt­liche, historisch denkende Kreise bewerten hingegen «eine aufgeklärte liberale Gesinnung, das Prinzip der Demokratie und die Wahrung der Menschenrechte als elementar ‹europäisch›» (Köpke/Schmelz, 1999). Diese Denkhaltung akzeptiert somit auch, dass es säku­larisierte Werte gibt, die an die Stelle christlicher getreten sind. Nachdem nicht nur der ‹Islam›, sondern auch ‹Russland› lange ein Antonym zu Euro­pa darstellten, setzte bereits im 15. Jahrhundert die Erkenntnis ein, dass das ‹Moskauer Reich› auch ein Teil der (europäischen) ‹christianitas› ist und zudem ideal als Verbünde­ ter gegen die Osmanen. Die konsequente Europäisierung unter Zar Peter dem Grossen ab 1700 ist nur vergleichbar mit dem Wandel der Türkei durch Kemal Atatürk ab 1923. Obwohl in jüngerer Zeit wieder Zweifel geäussert werden, ob Russland und die Türkei zu Europa gehören, ist diese Frage angesichts der seit Jahrhunderten bestehenden Kul­ turkontakte mit diesen Ländern und ihrer Funktion als Brücke zwischen asiatischer und europäischer Kultur obsolet. Ein Meer trennt Völker, aber es verbindet sie auch. Historisch gesehen gibt es seit griechisch-römischer Zeit kulturelle Verbindungen zu den Ländern am Ost- und Süd­ rand des Mittelmeeres. Denken wir an den Transfer von Wissen, Techniken und Kultur, denken wir auch an die Wurzeln von Juden- und Christentum und an Völkerwande­ rungen. Der ‹arabische Frühling› liess die Hoffnung aufkommen, dass wieder Annähe­ rungen folgen und die Gemeinsamkeiten um das ‹europäische Mittelmeer› eine andere Wertigkeit bekommen könnten. Wie auch immer: Europa ist ein dynamischer, kulturell geprägter Raumbegriff, der in der Vergangenheit, in der Gegenwart und mit einiger Sicherheit auch in Zukunft unter­ schiedlich zu umschreiben war, ist und sein wird. Eine entsprechende Konstante sind


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ganz klar auch die Kulturen Europas, die so verschieden und zahlreich sind wie die Länder und Regionen. Die dazu verwendete Formel lautet ‹Einheit in der Vielfalt›. Sie lässt sich allein schon aus der Anzahl autochthoner oder zumindest seit einigen hundert Jahren niedergelassener Ethnien ableiten. Unter dem Dach Europa leben rund hundert­ fünfzig kleinere und grössere Ethnien mit eigener Sprache und Kultur. Dies reicht von den Albanern über die Huzulen zu den Niederländern und von den Sorben bis zu den Zimbern. Hinzu kommen aber auch alle Kommunitäten, die durch Migration heute als Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft leben und ihre kulturelle Identität zu bewahren versuchen. Es ist ein Ziel der europäischen Ethnologie, Unterschiedliches und Gemeinsames zwi­ schen den Kulturen zu suchen und zu erklären. Auch eine europäische Sammlung, die wie die unsere seit 111 Jahren im Auf- und Ausbau begriffen ist, wird diese Aufgabe nie abschliessen (können). Eduard Hoffmann-Krayer, der Gründer der ‹Abteilung für euro­ päische Völkerkunde›, war sich schon 1910 bewusst, dass diese Abteilungs­be­zeich­nung ‹allzu stolz› (Hoffmann-Krayer, 1910c) gewählt sei. Denn er erkannte rasch, dass die Anlegung einer umfassenden Sammlung nicht zu leisten war und auch nicht geleistet werden muss, um sachlich-vergleichende, diachronisch geordnete Reihen aufzustellen. «Nie war beabsichtigt, möglichst alles aus allen Zeiten und aus allen Regionen Europas in möglichst allen Varianten und Varietäten zu sammeln. Die Grundlage bildete für Hoffmann-Krayer das gleichzeitig Typische und Vergleichbare» (Gantner, 1982). Dem Abteilungsgründer war 1910 aber sehr wichtig, in der damaligen Ausstellung im ‹Roller­ hof› das Prinzip der vergleichenden Aufstellung am Beispiel der technologischen Ent­ wicklung des europäischen Pfluges fast lückenlos demonstrieren zu können. dw

Die europäische Hutparade Nicht um eine Entwicklung der Formen, sondern um den sachlichen Vergleich geht es in der ersten Station der Ausstellung zu 111 Jahre Europa. Es gibt wohl wenige Themen in unserer europäischen Vergleichssammlung, die dem Betrachter in derart abwechs­ lungsreicher und breiter Form Europa augenfällig machen lässt wie die Kopfbedeckun­ gen. Seit dem Altertum ist bekannt, dass der Mensch diesem Körperteil, Sitz des Denk­ ver­mögens und der Sinnesorgane, besonders wirksam mit Kopftrachten schützt, manch­mal damit aber auch Mängel verdeckt. Wie nirgends sonst entwickelte der Mensch derart unterschiedliche Gestaltungen, und er machte den Kopfschmuck je nach­dem zu einem Abzeichen der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, zu einem Stand, zu einer Berufsgattung oder zu einer Vereinigung. Der frühverstorbene Lyriker Johann Christoph Günther (1695 – 1723) liefert uns das Zitat dazu: «Aus diesem unbewiesnen Grunde Hat alle Zeit und jedes Land Witz, Vorrecht, Herrschaft, Ruhm und Freiheit Allein dem Hute zuerkannt.»


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Eine hohe und breite Wand verwehrt dem Besucher den direkten und uneingeschränk­ ten Blick in den Ausstellungssaal. Aber er muss nicht – wie Wilhelm Tell – den Hut grüssen, sondern ist eingeladen, eine paneuropäische Hut-Parade auf sich wirken zu lassen. Die weisse Wand steht für Europa, aber es sind keine Umrisse des Kontinents sichtbar. Darauf montiert sind insgesamt 111 Kopftücher, Kappen, Mützen, Hüte und Hauben aus unserer Sammlung. Manche wird der Betrachter, je nach persönlicher Biografie, sofort erkennen und verorten. Das Béret gehört nach Frankreich, der Stroh­ hut mit dem hinten herabhängenden Seidenband dem Gondoliere von Venedig, der Fès in den muslimischen Balkan oder gar in die Türkei, der Bollenhut in den Schwarz­ wald und das Sennenkäppi in den schweizerischen Alpenraum. Aber da sind auch warme Kopfbedeckungen aus Skandinavien, eine Zipfelkappe, die barritta, die wohl in den zentralen Mittelmeerraum gehört, und ein brauner Hut ist tatsächlich aus Zunder, einem Baumschwamm, gemacht. Und wie reich präsentieren sich doch die iberische Halbinsel oder Osteuropa! Unschwer erkennbar ist auch, dass die Kopfbedeckungen nicht bloss ein ländliches Europa abbilden: denn hier finden wir auch den schwarzen Zylinder des eleganten Herrn aus der Stadt, den Studentenhut aus Oxford oder die seltsam geformte Mütze der studentischen Goliarden aus Italien. Diese Kopftrachten sind auch ein Indiz dafür, dass die europäische Sammlung seit langer Zeit breit aufgestellt und keineswegs auf das Bäuerliche fixiert ist. Obwohl bei der Installation in der Ausstellung keine Umrisse des europäischen Konti­ nents zu erkennen sind, sieht man anhand von Objekten an den seitlichen Rändern der Präsentation, dass die Sammlung auch scheinbare Exoten aufweist. Zu entdecken sind ein Tropenhelm, Kopfbedeckungen der aus ‹old Europe›, ja aus der Schweiz, nach den USA emigrierten ‹Amish people›, oder ein Pfadfinderhut aus Japan, der sich aber nicht unter­scheidet von einem europäischen Exemplar. Die Hut-Parade verweist in ihrer Ge­ samt­heit auf das Sammlungskonzept und will visuell Denkanstösse geben zu den Fragen ‹Was ist Europa?› und ‹Wer ist Europäerin, wer ist Europäer, wer sind die Europäer?›. dw

Männliche Kopfbedeckungen Heute trifft man im Alltag selten Hutträger. Nur zu speziellen Anlässen wird der Kopf mit Kopfzierden oder Schutzhelmen bedeckt. In vergangenen Jahrhunderten gehörten Kopf­ bedeckungen zur Alltagsgarderobe und gaben über Stand, Religion oder Alter Auskunft. Diese damals unentbehrlichen Accessoires schützten also nicht nur vor Hitze, Kälte, Sand oder Regen, sondern verkörperten Denkweisen und Gesellschaftsstrukturen. Im Mittelalter galten für den europäischen Mann besonders keltische und römische Kopfbedeckungen als Vorbild. Ab dem 16. Jahrhundert war die spanische Mode Ton angebend. Dabei ist vor allem das Barrett zu erwähnen, das steif und eckig oder auch weich sein konnte und regional und standesgemäss unterschiedlich ausgeformt war. Später kam ein spanischer, kegelförmiger Filzhut in Mode, war in den Tragedetails aber


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streng nach Ständen reglementiert. Den Kastorhut, einen grossen runden Biberfilzhut, trug der Mann im 17. Jahrhundert, etwa zeitgleich trugen Frauen schwere Pelzmützen – auch im Sommer. Nach dem Drei- und Zweispitz im 18. Jahrhundert setzte sich ab 1750 der Strohhut durch. Alle drei Hutarten haben sich bis ins frühe 21. Jahrhundert als Teil einer Uniform oder als Sommerhut erhalten und enthalten oft mehrere Nar­ rative gleichzeitig. So bietet der Gondolierehut aus Stroh seinem Träger einen ange­ nehmen Sonnenschutz; für die Stadt Venedig wirkt er identitätsstiftend und für Hut­ macher bietet er heute noch die Möglichkeit, in ihrem Handwerk tätig zu sein. Zy­­ lin­­ derhüte und Frauenhauben wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts steifer, und erhielten so eine festgelegte Form. Als die Volkstrachten nicht mehr selbst­ver­ ständlich getragen wurden, büssten auch Kopfzierden ihre Funktion als Stände­merk­ mal ein. Bauern trugen vermehrt Zylinder aus industrieller Massenproduktion und bürgerliche Herren weiche Hüte. Zudem wurden weiter Modeströmungen aus anderen Ländern adaptiert, wie zum Beispiel die Melone aus London. Während des 20. Jahr­ hunderts setzte sich dann die Barhäuptigkeit als Regel durch. Uniformen und gewisse Stile verlangen aber auch heute eine Kopfbedeckung. Das Baseball Cap wurde ab den 1970ern und 80ern in Europa ein beliebtes Accessoire, das ebenso von Frauen getragen wird. Je nach Form konnte man sich mit dieser Kopfzierde aus den Vereinigten Staaten als Sportler oder Sportlerin, USA-Fan oder Hip-Hopper auszeichnen. Daneben sind seit Beginn des 21. Jahrhunderts Schiebermützen aus Tweed, Cord oder Filz nicht mehr bloss auf Jägerköpfen zu sehen, sondern werden gern von jungen und nostalgischen Männern aufgesetzt. Der typische Hipster der jüngsten Zeit zeigt sich zudem zu jeder Jahreszeit gerne mit Wollmütze. Überhaupt führt die Entdeckung des Mannes als Kon­ sument, der Retro-Trend und das allgemeine Bedürfnis nach einer umfassenden ästhe­ tischen Gestaltung des Selbsts zu einer grösseren Auswahl an Kopfzierden und einem Wiederentdecken älterer Hutformen. tp Tostmann (2009)

Weibliche Kopfbedeckungen Julie Heierli beschreibt in ihrem Artikel zum ‹Kopfputz der bürgerlichen Frauen in der Schweiz› von 1922 die gesellschaftlichen Normen und Sitten der Kopfbedeckung vom 17. bis Ende des 19. Jahrhunderts. Heierli hat sehr früh die Volkstrachten der Schweiz – also die von der Bevölkerung getragene Kleidung – umfassend erforscht und dokumentiert. Sie befasst sich in ihrem Artikel mit kantonalen und regionalen Unter­ schieden und bezieht die Einflüsse grosser Modestädte wie Paris und Wien in ihre Beobachtungen mit ein. Die Bäuerin unterschied sich über ihren Kopfputz von der Adligen, die Ledige von der Verheirateten und die Katholikin von der Reformierten. Die Charakteristika variierten regional. Da unter den weissen Hauben der Verheirateten keine Haare zu sehen sein durften, wurden die Haare kurz gehalten und die Köpfe bis hoch über der Stirn glatt rasiert.

Baskenmütze Biarritz, Pyrénées-Atlantiques, Frankreich; Textil, Wolle, Filz, Kunstleder; vor 1981; 26,5 × 25 × 3,4 cm; VI 54628; Geschenk: Theo Gantner, Museum; 1981

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