TRAM 8 – GRENZENLOS
TRAM 8 – GRENZENLOS DIE VERLÄNGERUNG DER TRAMLINIE 8 VON BASEL NACH WEIL AM RHEIN
TIEFBAUAMT / BAU- UND VERKEHRSDEPARTEMENT BASEL-STADT (HG.) CHRISTOPH MERIAN VERLAG
INHALT
6 VORWORTE 8 ERSTE EINBLICKE UND EIN AUSBLICK
10 DIE TRAMLINIE 8 NACH
WEIL AM RHEIN ODER DIE GUNST DER STUNDE
30 DIE GEMEINSAMEN
SCHNITTSTELLEN FINDEN – STADTENTWICKLUNG FÜR KLEINHÜNINGEN-KLYBECK UND WEIL-FRIEDLINGEN
34 UNTERWEGS IM GEBIET DES
GRENZENLOSEN TRAMS – EIN SPAZIERGANG ZWISCHEN KLEINHÜNINGEN UND WEIL AM RHEIN
14 WENN ÜBER DIE GRENZE GEBAUT 60 WIRD – UND ÜBERRASCHUNGEN VERTIEFENDE HINTERGRÜNDE AUSBLEIBEN
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BASEL UND WEIL – DIE GESCHICHTE EINER NACHBARSCHAFT
24 VON DER TURNFESTWIESE BIS ZU DEN ABSTELLSTUMMELGLEISEN IN KLEINHÜNINGEN
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PLANSPIELE
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UND EINE HANDVOLL GRUSSBOTSCHAFTEN
62 TRAM NACH WEIL AM RHEIN:
EIN GROSSER SCHRITT RICHTUNG 360 GRAD
66 MUT, WEITSICHT UND
BEHARRLICHKEIT FÜR EIN ZUKUNFTSTRÄCHTIGES VERKEHRSMITTEL
70 «WIE PACKT MAN EIN
98 UMWELTVERTRÄGLICHKEIT –
74 BEMERKENSWERTE
101 BÜRGERBETEILIGUNG –
SOLCHES PROJEKT AN?»
BRÜCKENBAUWERKE
VIEL MEHR ALS NUR EIN SCHLAGWORT
EINE HERAUSFORDERUNG
80 «TRAM 8 – GRENZENLOS» – AUCH 104 FÜR DIE BVB EIN PIONIERPROJEKT DIE TRAM UND DAS TRAM – 86 GRENZÜBERSCHREITENDE GEDANKEN – FÜNF GRUSSBOTSCHAFTEN AUS DEUTSCHLAND UND DER SCHWEIZ
92 DER NEUE ZOLL: IMPOSANTE
MITTELKABINE MIT SCHUTZDACH
96 NEUES GESICHT FÜR TEILE
KOMMUNIKATION ÜBERWAND AUCH SPRACHLICHE GRENZEN
106 AUTORINNEN
UND AUTOREN
108 IMPRESSUM 110 ÜBERSICHTSPLAN
ZUM HERAUSKLAPPEN
DER STADT WEIL
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VORWORTE Oberbürgermeister der Stadt Weil am Rhein
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WOLFGANG DIE T Z
eit dem 14. Dezember 2014 bedient die Tramlinie 8 die Strecke zwischen Basel und der Endhaltestelle in Weil am Rhein. Damit wird ein historisches Kapitel in der Geschichte des Dreilandes aufgeschlagen. Erstmals seit der Stilllegung der Linie 6 nach Lörrach verkehrt wieder eine Straßenbahn zwischen der Schweiz und Deutschland. Der Vorgang hat mehr als symbolische Bedeutung. Er macht zur verkehrlichen Selbstverständlichkeit, was wir im menschlichen und wirtschaftlichen Bereich im Dreiländereck alltäglich leben. Der Raum rund um Basel ist zu einem Nukleus der europäischen Möglichkeiten geworden. Hier tragen dank der Entscheidungsfreude der lokalen Akteure in Deutschland, Frankreich und der Schweiz praktische Formen der Zusammenarbeit Früchte zum Nutzen für die Bevölkerung im Dreiland. Infrastrukturprojekte und die wirtschaftliche Verflochtenheit sind es, die uns zu Europäern des praktischen Alltags machen. Die Dreiländerbrücke für Fußgänger und Radfahrer über den Rhein zwischen Huningue und Weil am Rhein, die Zollfreie Straße, die Buslinie 55, das Trinationale Umweltzentrum, die 3Land-Planung, die Kooperation der Rheinhäfen … – die Liste ist lang und noch lange nicht erschöpft. Die Tramverbindung aber ragt unter den zahlreichen Infrastrukturprojekten besonders hervor. Das Legen von Schienen hat im Gegensatz zu Busverbindungen etwas sehr Verbindliches, trägt die Dauerhaftigkeit in sich. Nicht nur die Bevölkerungen von Basel und Weil am Rhein erhalten mit der neuen Linie deutlich verbesserte Situationen ihrer Mobilität. Gerade für viele Berufspendler aus dem Rheingraben ergibt sich zum Fahrplanwechsel eine weitere Option für den Umstieg zu den Zielen in Basel. Der Nahverkehr macht einen erkennbaren Quantensprung. Meine Hochachtung gilt allen Personen, die zur Ideengebung, zur Planung und schließlich zum Bau ihren Beitrag geleistet haben. Ich danke den mitfinanzierenden Institutionen und ihren gewählten Repräsentanten, die an das Vorhaben geglaubt und den Projektverantwortlichen Vertrauen entgegengebracht haben: der Schweizerischen Eidgenossenschaft, dem Land Baden-Württemberg, dem Kanton Basel-Stadt, dem Landkreis Lörrach, den Basler Verkehrs-Betrieben (BVB), der Europäischen Union, dem Gemeinderat der Stadt Weil am Rhein und den Spendern des Fördervereins «Regio-S-Bahn jetzt». Mein besonderer Dank gilt den Projektverantwortlichen auf Basler und Weiler Seite. Sie haben bei einem historischen Projekt exemplarische Arbeit geleistet und bewiesen: Durch hohen persönlichen Einsatz und Kreativität können technische und administrative Hindernisse, die sich aus der Zweistaatlichkeit des Vorhabens ergeben, überwunden werden. Mit Freude sehe ich der Tramzukunft zwischen Basel und Weil am Rhein entgegen.
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DR. HANS- PE TER WESSELS
Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt Vorsteher des Bau- und Verkehrsdepartements Basel-Stadt
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ie Verlängerung der Tramlinie 8 vom Wiesendamm bis an den Bahnhof in Weil am Rhein ist eine Erfolgsstory. Dies aus mehreren Gründen. Erstens liefert sie den Beweis dafür, dass es sich lohnt, sich für ein zukunftsorientiertes Projekt einzusetzen. Mut, Weitsicht, die Kunst des Überzeugens sowie die Vermittlung der Vision sind da gefragt. Siege und Niederlagen sind in der Politik Alltag und sehr nahe beieinander. Deshalb kann es nicht hoch genug geschätzt werden, wenn das persönliche Engagement einzelner Persönlichkeiten es möglich macht, ein wichtiges Projekt wie das Tram 8 zu verwirklichen. Mein spezieller Dank gilt dabei insbesondere Weils Oberbürgermeister Wolfgang Dietz und alt Regierungsrat Ralph Lewin, die wirkliche Pionierarbeit geleistet haben, aber auch allen anderen am Projekt Beteiligten auf deutscher und Schweizer Seite und nicht zuletzt der vom Bau betroffenen Kleinhüninger und Weiler Bevölkerung. Zweitens ist dieses grenzüberschreitende Projekt in seiner ganzen historischen Dimension zu würdigen: Zwei Weltkriege im letzten Jahrhundert haben zu Grenzziehungen geführt, welche bis heute die an der Landesgrenze lebenden Menschen im Alltag einschränken. Es darf nicht vergessen werden: Tramlinien über die Landesgrenze waren in Basel vor dem Ersten Weltkrieg eine Selbstverständlichkeit. Die Tramverlängerung nach Weil am Rhein ist vor diesem Hintergrund als eine Art Korrektur der Geschichte zu sehen. Drittens steht die Tramverlängerung aus ökonomischer und ökologischer Sicht im Zeichen der Zeit. Die vielen Pendlerinnen und Pendler aus dem grenznahen Ausland, die täglich mit ihrem Auto zur Arbeit nach Basel fahren, geben für ihr Fahrzeug viel Geld aus – und die Wohn- und Lebensqualität in der Stadt leidet unter dem Motorfahrzeugverkehr und den Abgasen. Der Trend ist in ganz Westeuropa zu beobachten: Die Städte werden mehr und mehr von Autos entlastet, wobei als Alternative der öffentliche Verkehr – insbesondere das Tram wegen seiner gegenüber Bussen weit grösseren Passagierkapazität und des viel höheren Fahrkomforts – ausgebaut wird. Mit dem Tram 8 erhalten die deutschen Pendlerinnen und Pendler, Besucherinnen und Besucher die Möglichkeit, vom Bahnhof Weil in wenigen Minuten ins Stadtzentrum von Basel zu fahren. Mit der neuen Tramverbindung werden generell die Nachbarschaftsbeziehungen auf eine neue Grundlage gestellt: Die Einwohnerinnen und Einwohner von Weil und Basel werden sich in den nächsten Jahren noch näher kommen, was sich nur positiv auf die gemeinsame Weiterentwicklung auf politischer, wirtschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Ebene auswirken wird. Erfreulich ist schliesslich, dass der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel auch mit Frankreich vorankommt: In den nächsten Jahren wird die Tramlinie 3 von Burgfelden bis zum Bahnhof von Saint-Louis verlängert. Gehen wir weiter auf diesem Kurs!
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ERSTE EINBLICKE UND EIN AUSBLICK
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Rund 3,7 Kilometer lang ist sie – die schweizerisch-deutsche Landesgrenze zwischen Basel und Weil am Rhein, die schon lange besteht, die aber im Lauf der Geschichte nicht immer im gleichen Mass spürbar war. Über diese historische Trennlinie führt nun jedoch eine neue starke Verbindung: die Tramlinie 8, die vom Wiesendamm in Kleinhüningen um 2,8 Kilometer bis zum Weiler Bahnhof verlängert wurde. Wie sich dieses Projekt von der ersten Idee bis zur konkreten Ausführung entwickelt hat, welche Hürden es nehmen musste und worin die «Gunst der Stunde» lag, schildern die ersten zwei von fünf Einblicken. Die anderen sind den Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Basel und Weil am Rhein, der Geschichte der Tramlinie 8, deren Verlängerung bereits vor dem Zweiten Weltkrieg «angedacht» wurde, und der besonderen Befindlichkeit der Bevölkerung im früheren Fischerdorf Kleinhüningen gewidmet. Die Themen des Ausblicks sind die Stadtentwicklung auf beiden Seiten der Landesgrenze und die Suche nach den gemeinsamen Schnittstellen zwischen den beiden Städten, die sich zweifellos immer näher kommen.
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DIE TRAMLINIE 8 NACH WEIL AM RHEIN ODER DIE GUNST DER STUNDE Grenzüberschreitende Projekte sind nichts Einfaches und Schienenprojekte schon gar nicht. Für die Verlängerung der Tramlinie nach Weil am Rhein konnten die Verantwortlichen nicht auf ein Wunder zählen. Sie nutzten vielmehr die Gunst der Stunde.
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CHRISTOF WAMISTER
n den Voten in der Sitzung des Basler Grossen Rates vom Januar 2008 wird deutlich, wie breit die «Tramverlängerung Linie 8 Kleinhüningen - Weil am Rhein» – so der Titel des Ratschlags der Regierung – mitgetragen wurde. Die Idee einer Tramlinie über die Grenze war populär. Denn auch im Bewusstsein der jüngeren Generation war präsent, dass es grenzüberschreitende Tramlinien schon einmal gegeben hatte und dass sie aus kurzsichtigen Erwägungen aufgegeben worden waren. Ein gutes Omen war auch der etwas in Vergessenheit geratene Sachverhalt, dass alle drei Linien mit deutschen Partnern realisiert wurden: das Tram Nummer 5 nach St. Ludwig / St. Louis (1900 bis 1957), die Verlängerung der Tramlinie 6 nach Lörrach (1919 bis 1967) und die Linie 7 (später 25) nach Hüningen/Huningue (1910 bis 1960). Für die projektierte Verlängerung der Linie 3 nach Burgfelden / St. Louis ist es aber auch ein gutes Omen, dass Frankreich die beiden grenzüberschreitenden Linien nach der Rückgewinnung des Elsass 1918 weiterführte. Und fast vergessen geht, dass mit dem BLT-Tram nach Rodersdorf eine vierte grenzüberschreitende Linie besteht – in der Terminologie des Bundesamtes für Verkehr eine «Nebenbahn» –, die bei Leymen französisches Staatsgebiet durchfährt und nie von einer Schliessung bedroht war. Dieses historische Bewusstsein war aber allein nicht ausschlaggebend. Kam denn der erneute Bau einer Tramverbindung nicht fast zu spät? Hatten sich die Verkehrsgewohnheiten und die räumlichen Strukturen nicht schon zu stark verfestigt, um noch Veränderungen bewirken zu können? Im Bericht der Regierung zum Projekt war von solchem Fatalismus nichts zu lesen. «Der Kanton Basel-Stadt ist Teil eines trinationalen Wirtschaftsund Lebensraumes», heisst es darin lapidar. Und mit dem Fallen der Grenzen durch das Abkommen von Schengen würde der Verkehr noch intensiver und einfacher werden. Bei den alten Tramlinien wurden noch Zollkontrollen in den Tramwagen durchgeführt, oder die Passagiere mussten das Tram sogar verlassen und die Grenze zu Fuss überqueren. Beim neuen Tram von und nach Weil sind Kontrollen noch möglich, aber sie werden nicht mehr systematisch durchgeführt.
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Doch nicht wegen trinationaler und europapolitischer Symbolik wurde die neue Tramlinie gebaut, sondern mit klarer verkehrspolitischer Stossrichtung und als Ergänzung des Regio-S-Bahn-Netzes auf der Ebene Nahverkehr. Der grenzüberschreitende Verkehr wächst, und er ist zu strassenlastig. Nur 17 Prozent benützen öffentliche Verkehrsmittel, während dieser Anteil, der sogenannte Modal Split, auf schweizerischer Seite bei doch 37 Prozent liegt. Noch tiefer als auf der südbadischen Seite liegen die Zahlen im Elsass. Das hat mit dem Zustand der öffentlichen Verkehrsmittel zu tun, welche die weit verstreuten Wohngebiete in den Gemeinden nur ungenügend erfassen. Diese Zahlen lassen sich somit nur beeinflussen, wenn Umsteigemöglichkeiten vorhanden sind – von den örtlichen Transportsystemen auf das grenzüberschreitende Tram. In Weil ist dies mit der Verbindung zum Bahnhof und zu den Bushaltestellen gegeben. Ermutigt wurden die Basler Behörden durch eine Studie der 54 Gemeinden umfassenden Trinationalen Agglomeration Basel (TAB) von 2005, welche zum Schluss kam, dass die Tramverbindungen nach Burgfelden und St. Louis wie die Linie nach Weil «machbar und aus volkswirtschaftlicher Sicht positiv zu beurteilen sind». Für die Berechnung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses wurden allerdings die Baukosten tiefer eingeschätzt, als sie sich dann bei der Erarbeitung des konkreten Projektes erwiesen. Zur Gunst der Stunde gehörte auch, dass auf Bundesebene erstmals die Bedeutung und der Finanzbedarf der Agglomerationen für grosse Projekte anerkannt wurde. 2005 wurde der auf 20 Jahre befristete Infrastrukturfonds für den Agglomerationsverkehr und das Nationalstrassennetz ins Leben gerufen und 2007 gesetzlich festgeschrieben. Es war eine indirekte Folge des Volksneins von 2004 zum Gegenvorschlag des Parlaments zur Avanti-Initiative, der daran gescheitert war, dass in die Finanzierung des Nationalstrassenbaus auch noch der Ausbau des Gotthard-Strassentunnels auf vier Spuren verpackt worden war. Bereits 2005 lag auch eine Liste der vom Bund (der Schweizerischen Eidgenossenschaft) anerkannten dringlichen Projekte vor. Darunter fanden sich auch die «Tramverlängerungen nach St. Louis und Weil am Rhein in der Stadt Basel», für welche damals 39,5 Millionen Franken eingesetzt waren – die Hälfte der Baukosten. Da die Linie nach St. Louis sich als noch nicht spruchreif erwies, kamen diese Mittel vollumfänglich der Tramverlängerung nach Weil zugute. Es war die einzige und erste Tramlinie über die Grenze, die vom Bund mitfinanziert wurde, aber nicht das einzige grenzüberschreitende Projekt. Für die S-Bahn-Linien Mendrisio – Varese (67 Millionen Franken) und Genf – Cornavin – Annemasse (CEVA, 550 Millionen) sprach der Bund noch wesentlich grössere Beiträge. Da die Beiträge des Bundes mit der Auflage verknüpft waren, vor Ende 2008 mit den Bauarbeiten zu beginnen, stand das Projekt in seiner Projektierungs- und Startphase unter Zeitdruck. Der Ratschlag mit dem Projekt lag aber im September 2007 vor, und der Grosse Rat behandelte und genehmigte das Geschäft im Januar des Schicksalsjahres 2008. Das vom Bund gesteckte Ziel wurde erreicht: Am 6. Dezember 2008 wurde in der Kleinhüningeranlage der erste Leitungsmast errichtet. Bis dahin und auch nachher mussten aber eine Reihe von Schwierigkeiten überwunden werden. Erste Impulse für den Bau der Tramverlängerung gingen auch von der Stadt Weil aus, aber das Projekt war bei den Bürgern «nicht unumstritten», wie auch die Umweltund Verkehrskommission des Basler Grossen Rates in ihrem Bericht zum Ratschlag feststellen musste. Mit ihrem Budget von damals 54 Millionen Euro jährlich (für die laufende Rechnung und Investitionen insgesamt) wäre die Kommune auch hoffnungslos überfordert gewesen. Für die Planung und den Bau des Streckenabschnittes auf deutschem Territorium einigte man sich deshalb auf einen Finanzierungsmodus, an dem nicht weniger als sechs Partner beteiligt waren, darunter auch der Landkreis Lörrach und das Bundesland Baden-Württemberg. Um das Risiko von Weil bei Kosten-
Die entscheidende Verzweigung am Wiesendamm in Kleinhüningen: Dort, wo sich während Jahrzehnten die Endstation der Tramlinie 8 befand, fährt nun jedes zweite Tram weiter bis nach Weil am Rhein – und wieder zurück.
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überschreitungen zu minimieren, machte Basel-Stadt nachträglich eine Zusage für eine Beteiligung im Umfang von 50 Prozent. Und um die Erneuerung der Strecke in voraussichtlich dreissig Jahren zu sichern, wurde ein gemeinsamer Erneuerungsfonds beschlossen – wohlverstanden immer für die Strecke auf deutschem Gebiet. Damit waren alle politischen Widerstände in Weil beseitigt. (Eine definitive Abrechnung der Planungs- und Baukosten liegt noch nicht vor.) Im Jahr des Baubeginns zeichneten sich folgende Proportionen ab: Gesamtkosten 104 Millionen Franken, Beitrag des Bundes 43 Millionen, Beitrag Basel-Stadt 38 Millionen, 23 Millionen durch die deutschen Partner (Bundesland, Landkreis und Stadt Weil). Durch den Fall des Eurokurses gegenüber dem Schweizer Franken reduzierte sich der Schweizer Beitrag an die Kosten des deutschen Streckenabschnittes. Ein rein baslerisches Problem war die Skepsis in Kleinhüningen, dem Quartier und eingemeindeten Dorf, das die Last der Bauarbeiten auf Schweizer Seite zu tragen hatte. Noch 1960 hatten sich die Kleinhüninger dagegen gewehrt, dass die Endstation auf die linke und damit vom Dorfkern weiter entfernte Seite der Wiese verlegt wurde. Mittlerweile machte sich in Kleinhüningen das Gefühl breit, man werde «von den Behörden nicht ernst genommen». So sieht es zumindest Georges Böhler, Präsident des Dorfvereins Pro Kleinhüningen. Am Ende gewannen Regierung und Politik aber die stillschweigende Zustimmung der Kleinhüninger zum Bau der Tramlinie in der Kleinhüningeranlage durch die Zusicherung, den Lastwagenverkehr in der Kleinhüningeranlage und auf dem Hochbergerplatz zu unterbinden. Der Schwerverkehr aus dem Rheinhafen verkehrt jetzt schon ausserhalb des Kleinhüninger Zentrums, und für den Schwerverkehr von den Tanklagern an der Landesgrenze wurden am Anfang der Hiltalingerbrücken zwei Rampen gebaut – Projektleiter Dejan Despotovic nennt sie «Ohren» –, welche die Lastwagen via Südquaistrasse, Neuhausstrasse und Badenstrasse auf eine ebenfalls neu erstellte Autobahnzufahrt leiten. Rückblickend bleibt der Präsident des Quartiervereins bei seiner Kritik. Die eineinhalbjährigen Bauarbeiten in der Kleinhüningeranlage seien eigentlich «unzumutbar» gewesen. Diese Ergänzungen für den Strassenverkehr kamen im Bauplan zuletzt, lange nach Fertigstellung der neuen Hiltalingerbrücken. Die Verbindung nach Weil erwies sich grundsätzlich nicht als banale Verlängerung einer Tramlinie in der Ebene, sondern als Werk der Brücken. Es mussten nicht weniger als fünf Brücken neu gebaut werden, zuletzt parallel zur Friedensbrücke in Weil über den Geleisen der Deutschen Bahn eine separate Trambrücke. Besonders schön, aber baulich auch knifflig ist die Situation auf dem Scheitelpunkt der Hiltalingerbrücke, die hier die Eisenbahnbrücke des Hafenareals und die enge Porte zum Hafenbecken 2 überquert. Cui bono: Wem wird nun die Tramlinie nützen? Sie sei kein «Einbahnverkehr zu den Billiganbietern in Deutschland», sagte in der Parlamentsdebatte vom Januar 2008 der Grossrat der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) und frühere BVB-Sprecher Pius Marrer: «Der Einkaufsverkehr läuft auch in der umgekehrten Richtung.» Das Thema war somit schon aktuell, als der Eurokurs noch wesentlich höher lag. Skeptiker weisen darauf hin, dass das neue Tram direkt vor das umsatzstarke Rhein-Center fährt, während das Einkaufscenter Stücki auf der Schweizer Seite bis jetzt nur per Bus durch den öffentlichen Verkehr erschlossen ist. Doch die neue Tramlinie muss als
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Ganzes gesehen werden, als zusätzliches Verkehrsangebot in einer Region, die immer stärker zusammenwächst. Wie stark das Tram von den Berufspendlern benutzt wird, ist erst abzuschätzen, wenn der Bahnhof Weil bis 2016 baulich erneuert und mit Anschlussrampen zur Tramendstation versehen ist. Denn die momentane Situation präsentiert sich noch nicht optimal. Die Tramwendeschlaufe und die Endstation auf der Brücke liegen hoch über dem Bahnhof Weil, der im Wesentlichen aus zwei überdachten Perrons besteht und von den Fussgängern nur über eine viel befahrene Umfahrungsstrasse erreicht werden kann. In Weil-Leopoldshöhe ist immerhin der Anschluss an das regionale Busnetz gegeben und hinter dem Kreisel beginnt die Weiler Hauptstrasse, auf der man nach eineinhalb Kilometern den historischen Ortskern des Winzerdorfes Weil erreicht. Doch das Land Baden-Württemberg hat bereits signalisiert, dass es sich definitiv nicht an den Kosten einer Verlängerung der Strassenbahn bis zum Sparkassenplatz beteiligen wird. Eine Tramlinie durch das Zentrum von Weil bleibt somit bis auf Weiteres eine Vision.
Die deutsch-schweizerische Landesgrenze zwischen Basel und Weil-Friedlingen. Am deutschen Bundesadler fahren seit Dezember 2014 auch die grünen Trams der Basler Verkehrs-Betriebe vorbei. Blick von der Hiltalingerbrücke auf den neu gestalteten Grenzübergang.
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WENN ÜBER DIE GRENZE GEBAUT WIRD – UND ÜBERRASCHUNGEN AUSBLEIBEN Im Jahr 2008 erfolgte der Spatenstich, sechs Jahre später, 2014, konnte die verlängerte Tramlinie 8 eröffnet werden. Dazwischen lag eine Bauphase mit vielen spannenden und unerwarteten Momenten.
MONIK A JÄG GI
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robleme oder gar Skandale blieben aus, den Zeitplan konnten die Verantwortlichen einhalten – und nun ist die Tramlinie 8 von Kleinhüningen nach Weil am Rhein gebaut. Heute fährt das Tram im Viertelstundentakt über die lärmgedämpften Schienen der Gärtnerstrassenbrücke, dann entlang der Kleinhüningeranlage über die geschwungene Hiltalingerbrücke, wo sich darunter, im Hafenbecken 2, in dem Moment vielleicht ein Lastschiff zentimetergenau durch den Kanal unter der Brücke in Richtung Rhein schiebt. Auf der anderen Seite der Grenze, vorbei an Zollgebäude und Rhein-Center, biegt das Tram in die Hauptstrasse von Weil-Friedlingen ein. Nach einer schwungvoll geführten Kurve geht es über die luftige Trambrücke und die Geleise der Deutschen Bahn zur Wendeschleife. Wie wurde das Projekt «Tram 8 – grenzenlos» geplant und gebaut? Wo lagen die Knacknüsse? Immerhin handelte es sich um ein Projekt, das 104 Millionen Schweizer Franken kostet, für das man 2,8 Kilometer Schienen und Oberleitungen gelegt sowie acht Haltestellen, einen Kreisel, fünf Brücken und je eine An- und Abfahrtsrampe gebaut hat. Misslungen ist einzig der Versuch der Weiler, die Tramlinie von der Wendeschleife beim Bahnhof Weil bis zum Sparkassenplatz ins Zentrum der Stadt zu verlängern. Das Bundesland Baden-Württemberg bewilligte das Projekt zur weiteren Förderung des öffentlichen Nahverkehrs nicht. Mit Ausnahme der Bauverzögerung bei der Trambrücke und beim Umbau der Kreuzung vor dem Rhein-Center gab es keine weiteren Bauüberraschungen. Zu gut war alles vorbereitet: Die erfahrensten Baufirmen in Europa wurden gesucht und gefunden, die Risikoanalysen für jedes Teilprojekt durchgeführt, die Verantwortlichkeiten auf beiden Seiten festgelegt – ebenso wie die Projekthierarchie in einem Organigramm mit roten, gelben, blauen und grünen Kästchen. Die eigentliche Bauphase begann allerdings erst, nachdem 28 Einsprachen bereinigt waren: Die Kleinhüninger standen dem Projekt misstrauisch gegenüber. Sie fürchteten die lange Bauzeit, die Verkehrsbehinderungen und den Baulärm.
VOR DER BAUPHASE IST NACH DER BAUPHASE
Einschub der Bogenbrücke über die Gleise der Deutschen Bahn im Dezember 2013.
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Die Bauphase führte über das Auffahren von Baumaschinen, den Einbau von Schienen und Signalen oder die verschiedenen Armierungs- und Belagsarbeiten hinaus: Strassen mussten gesperrt, Umleitungen geplant und Anwohner orientiert werden. Zum Beispiel darüber, dass in der Kleinhüningeranlage Nachtarbeiten geplant waren, dass Rodungsarbeiten anstanden oder dass die Zollstrasse wegen Kreiselarbeiten gesperrt wurde. Auch erzürnte Basler Restaurantbesitzer, die während der lärmigen Bauzeit Umsatzrück-
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«WIE HABT IHR DAS GEMACHT?» EUROPA AUF BAUSTELLENBESUCH Bei der Verlängerung der Tramlinie 8 handelt es sich um ein Vorzeigeprojekt. Das belegen nicht zuletzt die Delegationen von Fachleuten, Politikern und Studierenden aus Finnland, Holland, Deutschland sowie aus anderen Gegenden der Schweiz, welche die Baustellen besichtigt haben, darunter auch eine Delegation aus Genf. Dort soll vom Jahr 2019 an eine 16 Kilometer lange S-Bahn-Linie 19 Genf mit der französischen Stadt Annemasse verbinden. Die Genfer wollten sich deshalb informieren, wie man die Arbeit zwischen zwei Ländern – eines davon in der EU, das andere nicht – organisiert. Erstaunen löste die Erklärung aus, die Zusammenarbeit sei unkompliziert, pragmatisch und lokal-bilateral zwischen den zwei Projektleitern erfolgt, ohne EU-Bürokratie dazwischen. «So war es am einfachsten, sonst wären wir nie fertig geworden», sagt rückblickend der Basler Projektleiter Dejan Despotovic.
gänge beklagten, wollten besänftigt werden. Aber nicht nur im Zusammenhang mit der Quartierbevölkerung bildete die professionell aufgezogene Kommunikationsstrategie einen wichtigen Bestandteil der Bauphase. Es gelang insbesondere, zwischen den Ländern den richtigen Kommunikationsstil zu finden. Dieser erlaubte es, über die Grenze ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, welches die schnelle und unbürokratische Absprache zwischen den Projektleitern beider Länder, aber auch den Dialog in den Quartieren ermöglichte. Ganz grenzenlos war das Projekt allerdings nicht. An der Landesgrenze endete die Baustellenkontrolle jedes Landes. Eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit gab es nur bei der Zollstation und beim Trambetrieb, sonst baute jedes Land nach seinen eigenen Vorschriften. Das kam auch bei den Baustellen zum Ausdruck – diese organisierte jede Stadt selber und auf unterschiedliche Weise. In Kleinhüningen beispielsweise musste der Verkehr während der Bauarbeiten weiterrollen. Eine Verkehrsumleitung durch die Wohnquartiere war jedoch ausgeschlossen. Deshalb wurden nur abschnittweise Baustellen eröffnet – eine nach der anderen, der Reihe nach. Der Verkehr wurde auf einer Fahrbahn an der jeweiligen Baustelle vorbeigelotst. Entsprechend lange dauerte die Bauzeit auf Schweizer Seite. Anders lösten die Verantwortlichen in Weil dieses Problem: Sie teilten das Bauvorhaben nicht in einzelne kleine Abschnitte ein, sondern sperrten die Strasse für den Verkehr und leiteten diesen durch die Wohnquartiere um. Trotz unterschiedlicher Arbeitsweise gelang die Zusammenarbeit, wie im Jahr 2013 das millimetergenaue Zusammenschweissen der neu verlegten Tramschienen am Zollübergang bewies.
WENN ES ENG WIRD AUF DEN BRÜCKEN Eine besondere Herausforderung waren die Brückenbauten, denn auf allen Brücken mussten neu Schienen verlegt werden. Jede Brücke stellte zudem ihre eigenen Anforderungen, wie beispielsweise die Gärtnerstrassenbrücke. Die Planung wurde dann umdisponiert, als klar wurde, dass die bestehende Brücke, in der auch Wasserrohre, Fernwärme- und Stromleitungen eingebaut waren, für die zukünftige Nutzung ungeeignet war. Heute sind die neuen Leitungen und Rohre grösser, und Lärmschutzvorschriften schreiben eine Erschütterungs- und Schalldämmung für die Geleise vor. Es wäre deshalb eng geworden in und auf der Brücke, die auch als Übergang für Tram, Fussgänger, Velofahrer und Autos dienen muss. Heute verlaufen neue Rohre und Leitungen in einem begehbaren Tunnel unter der Wiese hindurch – im eigens gebauten Energieleitungstunnel direkt neben der Brücke. Für die Anwohner
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boten die schweren Baumaschinen, die für den Tunnelbau in das Flussbett gefahren werden mussten, vermutlich eine ganz neue Perspektive. Eine Knacknuss war auch der Bau der drei Hiltalingerbrücken über den Kanal zum Hafenbecken 2, die Bahngeleise und die Südquaistrasse. Auch hier durften weder der Verkehr noch die Schifffahrt unterbrochen werden – die Verkehrsersatzbrücke wurde kühn an die bestehende Brücke angedockt. Mit dem Bau einer An- und Abfahrtsrampe für den Schwerverkehr setzte man gleichzeitig auch das Verkehrsentlastungskonzept für Kleinhüningen um. Der technisch anspruchsvollste Teil im gesamten Projekt war die Konstruktion der Trambrücke, die neben die Friedensbrücke beim Bahnhof Weil gebaut wurde. Sie besteht aus zwei Bauwerken, der Bogenbrücke und der Vorlandbrücke. Zusammen überspannen sie auf einer Länge von 170 Metern vierzehn Geleise der Deutschen Bahn. An drei Wochenenden wurde das Einschieben der Brücke – pro Wochenende rund 20 Meter – in ihre endgültige Position vorgenommen. Ganz so glatt wie sonst auf den Baustellen verlief es mit dem Bau der Trambrücke jedoch nicht. Die Deutsche Bahn gab die Baufelder für den Bau der Brücke über die Geleise nicht rechtzeitig frei. Erst nachdem der Projektleiter, der Oberbürgermeister und der Bürgermeister von Weil nach Berlin zum Termin ins Bundesverkehrsministerium gereist waren, fruchtete der politische Druck, und die vorgefertigten Brückenteile konnten installiert werden. Vermutlich war dies das erste Mal, dass sich das Bundesverkehrsministerium mit einer lokalen Baustelle befasste.
Nachtarbeiten an den Tramgleisen in Weil-Friedlingen. Einbau von Kurvengleisen bei der Abbiegung von der Zoll- in die Hauptstrasse in Weil.
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BASEL UND WEIL – DIE GESCHICHTE EINER NACHBARSCHAFT Lange Zeit lebten die beiden Nachbarn Rücken an Rücken. Die Grenze zwischen ihnen war sehr durchlässig. So richtig spürbar wurde sie vor genau 100 Jahren mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Verlängerung der Tramlinie 8 trägt weiter dazu bei, dass sich die Nachbarn immer näher kommen.
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FRANZ SCHMIDER
s sieht aus wie ein unbekanntes Flugobjekt und gleicht einer Kabine eines Zeppelins, die nicht an einer Riesenzigarre, sondern an einer Frisbeescheibe hängt. Das Ufo ist gelandet zwischen einer acht Etagen hohen trist-grauen Parkhauswand und riesigen Öltanks, zwischen Lagerhallen und etwas abgewirtschafteten Wohnhäusern. Von der erhöht liegenden Position der Brücke über das Hafenbecken herunter betrachtet, wirkt die Strasse, die hinüberführt nach Weil am Rhein, wie eine Schneise, die nur ein wenig aufgeweitet wurde, damit der Verkehr vorbeifliessen kann an dem eleganten Fremdkörper aus Glas und Beton, der so demonstrativ deplatziert wirkt. Weil hier kein Platz ist für eine Grenze, muss ein Zollabfertigungsgebäude aussehen, als wäre es vom Himmel gefallen. Allerdings fallen Grenzen, sofern sie nicht natürlich gegeben sind, gerade nicht aus den Wolken, sie sind menschengemacht, sie kommen und gehen, sind mal hermetisch abgeriegelt, mal durchlässig. An dieser Stelle ist sie, was den Alltag angeht, vor genau einhundert Jahren richtig gekommen. Und zwar im August 1914, als sie geschlossen wurde. Der Weg hinüber aus der Schweiz ins Deutsche Reich und umgekehrt war versperrt, von einem Tag auf den anderen. Grenzen hatten bis dahin keine Rolle gespielt, weder für die Basler Textilunternehmer, die auf der Schusterinsel in Friedlingen produzieren liessen, noch für die Arbeitnehmer, die hin und her wechselten, die noch im Jahr 1913 den Färberstreik gemeinsam durchgestanden hatten. 40 000 Deutsche und Elsässer, die damals auch Deutsche waren, lebten in Basel, mehr als ein Drittel aller Einwohner der Stadt. Wie selbstverständlich fuhren Strassenbahnen von Basel nach Sankt Ludwig und Hüningen, so die damaligen Ortsnamen. Dann kam der Krieg und mit ihm die Grenze. Sie ist für Jahrzehnte geblieben, langsam verliert sie an Bedeutung. In diesen Jahrzehnten aber wandten sich die Nachbarn eher den Rücken zu, Basel und Weil am Rhein orientierten sich in andere Richtungen. Inzwischen wenden sie sich einander wieder zu, beide haben nicht unbedingt Interesse gefunden aneinander, sondern daran, aus der Situation das Beste zu machen. Das Parkhaus ist Bestandteil des Rhein-Centers, entworfen und gebaut, um Kunden aus der Schweiz schnell und schnörkellos abzufertigen. Zweckmässigkeit steht an erster Stelle, die Zollstelle, in der qualifizierte und gut honorierte deutsche Beamte jedes Jahr fast eine Million grüne Ausfuhrbescheinigungen abstempeln, liegt direkt neben der Ausfahrt des Parkhauses. Das Dokument ist bares Geld wert für die Kunden, die vom deutschen Finanz-
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minister mit der Rückerstattung der Mehrwertsteuer geködert werden. Mehr als ein Drittel der Kunden der 60 Geschäfte in dem Einkaufszentrum kommen aus der Schweiz. Und mit der Direktanbindung ans Basler Tramnetz sollen es noch mehr werden, hoffen die Betreiber. Der ganze Komplex ist eine Art Abbild des in Beton gegossenen Pragmatismus im nachbarschaftlichen Verhältnis. Ein paar Meter weiter steht ein anderes Beispiel, das Verkaufszentrum von Endress+Hauser. Ein Bein in der EU ist wichtig für Schweizer Unternehmen, die auf dem Weltmarkt mitspielen. Ausserdem erleichtert es die Suche nach Fachkräften. Der Messtechnikhersteller tritt damit ein wenig in die Fussstapfen so traditioneller Basler Textilunternehmen wie Schetty oder Schwarzenbach, die sich im 19. Jahrhundert nach Friedlingen orientiert hatten, weil es Platz gab für die Fabriken und Wasser für die Färbereien und einen Bahnanschluss. Und weil in Friedlingen Aufbruchstimmung herrschte. Bei aller Mühe, die man sich im Weiler Rathaus in den vergangenen Jahren gegeben hat: In Friedlingen empfängt die Stadt Weil am Rhein ihre Besucher nicht gerade von ihrer Sonnenseite, so wenig wie Basel seine Gastfreundschaft und seine Sehenswürdigkeiten in Kleinhüningen zeigt. Darüber kann auch jene grüne Oase nicht hinwegtäuschen, die hochtrabend «Rheinpark» heisst und doch nicht mehr ist als ein Auslauf zwischen Konsumtempel und Hafengebiet. Die Siedlung ist einfach zu schnell und dadurch nicht organisch gewachsen. Erst seit 1929 gehört Friedlingen zu Weil, trug seinen Teil dazu bei, dass Weil überhaupt zur «Stadt» wurde und mit vollem Namen seither Weil am Rhein heisst, weil sie sozusagen an den Rhein heranrückte.
Blick auf die Mündung der Wiese in den Rhein um 1750: Im Vordergrund das ehemalige Schloss Klybeck in Kleinbasel. Auf der anderen Seite der Wiese das Dorf Kleinhüningen mit seiner markanten Dorfkirche, dahinter das Gebiet von Friedlingen und der Tüllinger Hügel. Kupferdruck von Emanuel Büchel.
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Ausblick vom Tüllinger Hügel über Alt-Weil bis nach Basel.
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Seither legt man dort grossen Wert auf den Namenszusatz. Und wer sich auf der Route der neuen Tramlinie nähert, für den liegt der Zusatz ja auch nahe. Schliesslich hat man ihn ja neben sich, den Strom, Bindeglied und Trennlinie zugleich, nirgendwo so offenkundig und sichtbar wie am Dreiländereck mit dem Pylon und der neuen Dreiländerbrücke. Durch Friedlingen rückte Weil nicht nur an den Rhein heran, sondern auch an Basel. Aber wie gesagt: mit dem Rücken. Friedlingen verdankt seinen Namen dem Markgrafen Friedrich V., der hier ein Schloss besass und es zum Andenken an den Westfälischen Frieden von 1648 in Friedlingen (bis dahin: Ötlikon) umbenannte. Aber schon gut 50 Jahre später wurde der Ort Schauplatz einer Feldschlacht im Spanischen Erbfolgekrieg (1702), vorbei war es erst mit Frieden und später auch mit Schloss. Was blieb, wurde «an die Einwohner zu Weil verkauft, welche gute Wiesen daraus machten», wie es dem amtlichen Sammelband «Die Badische Markgrafschaft» über das Kurfürstentum aus dem Jahr 1804 hiess. Damals freilich war Weil noch «ein grosses, schönes, eine Stunde von Lörrach jenseits der Wiese und eine Stunde von Basel gelegenes Pfarrdorf mit 922 Einwohnern». Das Dorf sei «sehr gut gebaut und hat einige schöne den Baselern gehörige Landhäuser». Hier wachse «ein sehr vorzüglicher Wein, der in Basel grossen Absatz findet, und eine Menge vortreffliches Obst, besonders Kirschen». Die Zeilen beziehen sich auf jenes Weil, das in Nachbarschaft zu Riehen am anderen Ende der Stadt liegt und heute noch Alt-Weil heisst. Von einer Grenze ist in dem historischen Text nicht die Rede. Friedlingen ist also nicht Weil am Rhein, das gilt auch umgekehrt. In Friedlingen wächst kein Wein und hier blühen auch keine Kirschbäume. Dass Friedlingen kein Bauerndorf mehr ist, liegt vollständig an Basel. Zunächst am Bau der Eisenbahn. Weil Basel verhindern wollte, dass die Badische Bahn an der Stadt vorbei aus Freiburg kommend über Lörrach direkt Richtung Zürich weiterfährt, bot es den Bau eines Badischen Bahnhofes auf städtischem Gebiet an. Und so wurde Weil zur letzten Station auf deutschem Gebiet, es wurde Standort von Güterumschlag, Rangierbahnhof und – dies vor allem in Haltingen – Werkstätten. Weil wurde für ein Jahrhundert eine Eisenbahnerstadt. Abzulesen nicht zuletzt an den riesigen Flächen, welche die verschiedenen Gleisanlagen bis heute belegen. Wer von Friedlingen kommend den anderen Teil von Weil am Rhein erreichen will, muss hinüber über die Schienenstränge der Rheintalbahn, des alten Rangier- und des neuen Verladebahnhofes, in dem Container umgesetzt werden für den Transport durch die Alpen oder für die Feinverteilung in Richtung Norden. Bis heute trennen diese Bahngleise die eigentliche Stadt Weil am Rhein von jenem Ortsteil, der sie an den Rhein anbindet. Doch ohne diesen Stadtteil gäbe es kein Weil. Denn im 19. Jahrhundert lockte die Nähe zur Bahn, zum Rhein und zu Basel Unternehmer wie den Textilfabrikanten Dietsch aus Mulhouse auf die Schusterinsel in Friedlingen, seine Aktiengesellschaft wurde 1901 von Schweizer Unternehmern übernommen und als «Färberei und Appretur Schusterinsel GmbH» weitergeführt. Joseph Schetty, ein anderer Basler, erwarb einen Teil der Insel und errichtete dort eine Seidengarnfärberei. Unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkrieges waren in den Unternehmen, die sich in kurzer Zeit in Friedlingen angesiedelt hatten, mehr als 1600 Beschäftigte tätig. Geblieben ist davon heute so gut wie nichts mehr. In einem verbliebenen Teil der einstigen Schwarzenbach-Fabrikhallen hat sich heute das «Kesselhaus» etabliert, eine ambitionierte Theater- und Kultureinrichtung samt Künstlerateliers und einem kleinen Museum für Weiler Textilgeschichte. Das Zentrum versteckt sich fast ein wenig in einem Hinterhof, will nicht so recht an den Ort passen, an dem es mehr Wettbüros und Dönerbuden, Shisha-Bars und Spielhallen gibt als Buchhandlungen. Zwar hat der Stadtteil allein durch den Bau der Strassenbahnlinie und die Begrünung eines Teils der Fahrbahn eine
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spürbare Aufwertung erfahren. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er eine Art Zubringerfunktion hat. Denn die Distanz ist geblieben. Nicht nur die Bahnlinie steht für diese Trennung, auch die in den 1970er- Jahren errichtete Autobahnbrücke wirkt wie eine Barriere. Zudem beansprucht die 1980 eröffnete gemeinsame deutsch-schweizerische Zollabfertigungsstelle, die komplett auf Friedlinger Gemarkung liegt, 25 Hektar Fläche des Stadtteils und verhindert jede sonstige Entwicklung. Die Verhandlungen über den Bau der Zollanlage auf deutschem Gebiet nutzten Weil am Rhein und Basel übrigens, um Streubesitz zu tauschen und ihre jeweilige Gemarkung so zu arrondieren. So kam Basel in den Besitz von Flächen im Bereich des Bässlergutes. Vor allem aber sorgt die Topografie für eine markante Trennung. «Hangkante» nennen die Weiler die wenigen Meter, die es zu überwinden gilt von Friedlingen zur
Leopoldshöhe, ein wiederum sehr markgräflich klingender Name, der der Bahnstation auf der grünen Wiese neben dem damaligen Zollhaus seinerzeit etwas Würde verleihen sollte. Einen Bahnhof, der diesen Namen verdient, hat Weil am Rhein übrigens bis heute nicht. Schliesslich lag die nächste echte Siedlung beim Bau der Bahnlinie weit entfernt. Da hielt man einen – gar repräsentativen – Bahnhofsbau nicht für erforderlich. Die Leopoldshöhe, künftiger Endpunkt der Tramlinie, markiert aber bis heute eine Art Pol dieser Stadt. Weil, also die alte, im 8. Jahrhundert erstmals in einer Schenkung an das Kloster St. Gallen urkundlich erwähnte Siedlung, liegt noch einmal eineinhalb Kilometer entfernt am Fuss des Tüllinger Berges. Hier befinden sich der Nukleus mit
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alter Dorfkirche, historischen Höfen, mit der sie umgebenden Siedlung, das Staffelgiebelhaus, einst Amtssitz des Vogtes von Rötteln, und das Museum am Lindenplatz. Vor vielen Jahren interessierte sich sogar die Basler Öffentlichkeit zeitweise für das bescheidene Haus, als es vorübergehend einer Käfersammlung aus München Exil bot, bis diese ins Naturhistorische Museum nach Basel umziehen durfte. In Alt-Weil finden sich übrigens auch zahlreiche Spuren – vom Baslerstab über der Haustür bis zu speziellen Verzierungen an Deckenbalken –, die auf Basler Bürger verweisen, die hier Güter besassen. Und dazwischen? Dazwischen haben Generationen von Stadtplanern in den Jahren nach dem
Aufschwung Ende des 19. Jahrhunderts in erster Linie versucht, die Distanz zu überbrücken und zu füllen. Zunächst Anfang des 20. Jahrhunderts, als für die zuziehenden Eisenbahner und Industriearbeiter die Gartenstadt errichtet wurde, eine Mustersiedlung aus den 1920er- Jahren, die das neue Denken ausdrückte. Es folgte eine Zeit ungeheuren Wachstum nach dem Krieg, als die Zahl der Einwohner sich zwischen 1950 und 1970 durch Zuzug von Flüchtlingen und die Jahre des Babybooms auf 20 000 verdoppelte – ablesbar an den sterilen Wohnblocks und den austauschbaren Ladenzeilen. Es war der Versuch, entlang einer Strasse eine Stadt entstehen zu lassen. Wodurch endgültig das Zentrum unter die Räder kam. Fragt man Weiler nach der Stadtmitte, so fallen die Antworten sehr unterschiedlich aus. Nun erfolgt ein neuer Versuch, so etwas wie eine Mitte zu erfinden, indem man sie definiert. Eine Strassenbahn soll dabei helfen. Dort also, wo diese Bahn endet, direkt an der Hangkante zur Bahn, soll später einmal das Zentrum der Stadt wachsen. Und dies, obwohl dieser Endpunkt stadtgeografisch eher am Rand liegt und nicht dort, wo Menschen wohnen. Das Angebot ist darauf abgestellt, Berufspendler auf dem Weg nach Basel zum Umstieg vom Auto auf Bahn und Tram zu bewegen und so die Strassen in Basel zu entlasten. Im Gegenzug soll Schweizer Kunden das Shoppen erleichtert werden, und Einzelhändler jenseits von Friedlingen wollen auch etwas abhaben vom Kuchen. Wieder einmal wurde der pragmatische Ansatz gewählt. Bahnen überbrücken Distanzen, schaffen Verbindungen, sogar über Grenzen. Das könnte, bezogen auf die Nachbarn, gelingen. Bezogen auf die Stadt selbst allerdings fällt in diesem Sinn die neue Linie zu kurz aus.
Drei Grenzübergänge zwischen dem Kanton Basel-Stadt und Weil am Rhein: Kleinhüningen/Weil-Friedlingen Die grüne Grenze im Gebiet der Langen Erlen Weil/Riehen (Weilstrasse)
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VON DER TURNFESTWIESE BIS ZU DEN ABSTELLSTUMMELGLEISEN IN KLEINHÜNINGEN Die Geschichte der Tramlinie 8 handelt unter anderem von einem provisorischen Zubringer zu einem Turnfest, von Stummelgleisen, die 30 Jahre bis fast zur Grenze nach Weil am Rhein reichten, und Strassenbahnlinien, die einst an drei anderen Orten die Grenze überschritten.
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ie Geburtsstunde der Tramlinie 8, damals sprach man allerdings noch von der Strassenbahn, war am 5. Juli 1912. Das trifft aber nur auf die Liniennummer zu. Oder auf den Streckenteil im Westen der Stadt. Die Linie vom Claraplatz nach Kleinhüningen ist einige Jahre älter: 1897, also nur gerade zwei Jahre nach der Einweihung der ersten elektrifizierten Linie durch die Innenstadt, fuhren die ersten Strassenbahnwagen bis in die damals noch eigenständige Gemeinde Kleinhüningen. Als vierte Basler Strassenbahnlinie trug sie der chronologischen Nummerierung entsprechend aber vorerst noch eine Vier auf der Tafel. Auch hier soll der Chronologie Rechung getragen werden. Die Basler Stadtbehörden trieben ab Mitte der 1890er-Jahre den Aufbau des Basler Strassenbahnnetzes rasch voran. 1895 fuhren die ersten elektrifizierten Trams auf der Strecke des ehemaligen Pferde-Omnibusses vom Centralbahnhof über die Mittlere Brücke bis zum Badischen Bahnhof, der sich damals noch am heutigen Riehenring befand. Bereits 1896 folgte zur Entlastung der Talstrecke durch die Innenstadt die zweite Linie über die Wettsteinbrücke. 1897 kam als dritte Linie die Querverbindung von Birsfelden (Schulgasse) bis zum Burgfelderplatz dazu. Und im selben Jahr bereits folgte die Eröffnung der vierten Linie vom Claraplatz nach Kleinhüningen.
ZÜGIGER BAU Die Geschichte dieser Linie zeigt, wie zügig damals neue Tramgleise verlegt wurden. Am 23. April 1896 beschloss der Grosse Rat den Bau der Tramverbindung vom Claraplatz bis zur Wiesenbrücke. Und ein knappes Jahr später, am 14. April 1897, fuhr der erste Strassenbahnwagen vorerst bis zum Klybeckschloss (1955 abgebrochen), ab dem 16. Mai dann bis zur Wiesenbrücke. Richtig schnell ging es kurz danach bei der Erweiterung der Linie zu. Ende Februar 1897 bewilligte der Grosse Rat einen Kredit von 18 000 Franken für die Verlängerung der Strecke bis zum Kleinhüninger Dorfkern, wie dies erst wenige Monate zuvor durch einen parlamentarischen Vorstoss und von einer Petition der Kleinhüninger Bevölkerung verlangt worden war. Und bereits am 29. August (oder laut einer anderen Quelle am 29. September) fuhren die Trams bis zum Gasthof Krone bei der Pfarrgasse. Bis 1903 war der Claraplatz die südliche Endstation dieser Strassenbahnlinie. Eine Spitzkehre – die Motorwagen konnten in beide Richtungen fahren – verunmöglichte
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die Mitführung von Anhängerwagen, während die Strecke ins Dorf Kleinhüningen hinein vorerst nur einspurig war. Ab 15. Oktober 1903 fuhren die Strassenbahnen auf dem inzwischen weiter ausgebauten Stadtnetz über den Claraplatz hinaus ins Grossbasel und dort auf der Strecke der heutigen Linie 6 weiter bis zum Morgartenring. Aber erst 1923 erlaubte eine Wendeschlaufe auf dem Areal einer Sägerei am nördlichen Wieseufer die Mitführung von Anhängerwagen.
STUMMELGLEISE BIS FAST ZUR GRENZE Anfang der 1930er- Jahre musste die Tramlinie wegen Drainage-Baumassnahmen gegen die Hochwassergefahr durch den Rheinrückstau wegen des Kraftwerks Kembs von der Klybeck- in die Gärtnerstrasse verlegt werden. Später wurde der noch heute geltende Einbahnverkehr in beiden Strassen eingeführt. Gleichzeitig wurde die Strecke nördlich der Wiese auf Doppelspur ausgebaut und über das Zentrum des seit 1908 eingemeindeten Dorfs hinaus weit in die Kleinhüninger Anlage hinein verlängert. Im 1994 veröffentlichten Buch «Basler Tram» wurde die Vermutung aufgestellt, dass dies «offensichtlich als mögliche Fortsetzung der Tramlinie in Richtung deutsche Grenze/ Friedlingen gedacht» war. Die Stummelgleise wurden aber lediglich zum Abstellen von Anhängern benutzt – die Grenzen wurden vorerst anderswo überschritten (siehe Kasten auf Seite 26). 1960 verschwanden die Gleise. Im selben Jahr wurde, um den zunehmenden Auto- und Lastwagenverkehr nicht zu behindern, auch die Wendeschlaufe vom Hochbergerplatz auf das südliche Wieseufer verlegt, sodass Kleinhüningen bis 2014 wieder auf eine Tramverbindung warten musste. Die Tramlinie befuhr von Kleinhüningen aus im Laufe der Jahre beinahe das ganze Basler Netz. Es begann mit der Endstation Claraplatz, später führte sie durch die Allschwilerstrasse bis zum Morgartenring, vom Herbst 1913 an fuhren die Trams bis zum Bahnhof SBB, zwei Jahre später ging es auf der neuen Strecke über die Marga-
Von 1897 an fuhr die Kleinhüninger Tramlinie bis vor den Gasthof zur Krone.
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