Nutzungskonflikte imöffentlichen Raum

Page 1

Technische Universität Berlin Institut für Land- und Seeverkehr (ILS) Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung

MASTERARBEIT

Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum Lösungen für ein nachhaltiges Straßenraummanagement in Innenstädten

Maximilian Bühn

Betreuer: Prof. Dr.-Ing. Christine Ahrend Technische Universität Berlin Dr. Oliver Schwedes Technische Universität Berlin

Berlin, 17. September 2012


Nutzungskonflikte im Ăśffentlichen Raum

Maximilian BĂźhn

I


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

INHALTSVERZEICHNIS ABBILDUNGSVERZEICHNIS .................................................................. III ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ................................................................ III 1 Einleitung ............................................................................................ 1 2 Begriffsklärung................................................................................... 2 2.1 Öffentlicher Raum .................................................................................................. 2 2.2 Straßenraummanagement ..................................................................................... 4

3 Sozialisierung des Kfz-Verkehrs ...................................................... 5 4 Nutzungsansprüche im öffentlichen Raum ................................... 12 4.1 Allgemein ............................................................................................................. 12 4.2 Kfz-Verkehr .......................................................................................................... 13 4.3 Fahrradverkehr .................................................................................................... 13 4.4 Fußgängerverkehr ............................................................................................... 14 4.5 Busse und Bahnen .............................................................................................. 15

5 Ansätze zur Lösung von Nutzungskonflikten ............................... 16 5.1 Vorstellungen der Bürger ..................................................................................... 16 5.2 Raumplanung und verkehrspolitische Rahmenplanung ...................................... 17 5.3 Prinzipien der räumlichen Aufteilung ................................................................... 17 5.3.1 Horizontales Trennungsprinzip ........................................................................... 17 5.3.2 Vertikales Trennungsprinzip ............................................................................... 18 5.3.3 Mischungsprinzip ................................................................................................ 19

5.4 Prinzipien der Anpassung des Kfz-Verkehrs ....................................................... 20 5.4.1 Vermeidung ........................................................................................................ 20 5.4.2 Verlagerung ........................................................................................................ 22 5.4.3 Verstetigung ....................................................................................................... 22 5.4.4 Verlangsamung .................................................................................................. 24 5.4.4.1 Verlangsamung durch Gestaltung

24

5.4.4.2 Verlangsamung durch Tempobeschränkungen

25

5.5 Klassifikation nach Straßenfunktion..................................................................... 26

I


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

6 Umfassende Lösungskonzepte im Stadtgefüge ........................... 27 6.1 Schwächung des MIV .......................................................................................... 27 6.1.1 Einfahrgebühr für Innenstädte – Die City-Maut .................................................. 27 6.1.2 Umweltverträgliche Fahrzeugstandards – Die Umweltzone ............................... 29 6.1.3 Bepreisung von Stellflächen – Die Parkraumbewirtschaftung ............................ 30 6.1.4 Verkehrsführungen wider den Durchgangsverkehr ............................................ 31 6.1.5 Flächen des Kfz-Verkehrs zugunsten des ÖPNV reduzieren ............................. 34

6.2 Stärkung des NMIV.............................................................................................. 36 6.2.1 Klassische Fußgängerzone ................................................................................ 36 6.2.2 Fußgängerbereiche mit ÖPNV und Fahrrädern ................................................. 39 6.2.3 Autofreie Stadtplätze als Identitätsobjekte ......................................................... 42 6.2.4 Straßenraum für alle – Die Begegnungszone .................................................... 44

7 Rechtliche Aspekte .......................................................................... 47 8 Fazit ................................................................................................... 48 Quellen ................................................................................................... 50

II


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Menschen- vs. maschinenorientierte Planung ......................................................... 3 Abbildung 2: Soziale Interaktion auf Hauptstraßen in Korrelation zur Verkehrsstärke ................. 5 Abbildung 3: Prioritäten der EU-Bürger ....................................................................................... 16 Abbildung 4: Tiefgarage unter dem Place de la République in Lyon .......................................... 19 Abbildung 5: Fahrzyklen bei unterschiedlich stetigem Verkehrsablauf ....................................... 23 Abbildung 6: Erhöhter Durchgangswiderstand durch angepasste Gestaltung ............................ 24 Abbildung 7: Funktionelle Straßen-Klassifikation des ARTISTS-Projekts................................... 26 Abbildung 8: Verkehrsführung im Stadtzentrum von Cambridge ................................................ 32 Abbildung 9: Veränderte Straßen-Klassifikation der Innenstadt von Cambridge ........................ 33 Abbildung 10: Reallokation von Straßenraum für die Straßenbahn in Straßburg ....................... 34 Abbildung 11: Neugestaltung des Platzes der Alten Synagoge in Freiburg ................................ 36 Abbildung 12: Fußgängerzone in Nürnberg mit Bus- und Lieferverkehr ..................................... 40 Abbildung 13: Typologie der Belastungen an NO2 in Nürnberg vorher und nachher .................. 41 Abbildung 14: Trafalgar Square nach der Umgestaltung der North Terrace ............................... 42 Abbildung 15: Exhibition Road in London nach der Umgestaltung ............................................. 45 Abbildung 16: Place de la République in Lyon ............................................................................ 46

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS MIV

– Motorisierter Individualverkehr

NMIV

– Nichtmotorisierter Individualverkehr

Kfz

– Kraftfahrzeug

LSA

– Lichtsignalanlage

ÖPNV

– Öffentlicher Personennahverkehr

Pkw

– Personenkraftwagen

StVO

– Straßenverkehrsordnung

III


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

1 Einleitung Die Straße ist für alle da – oder vielleicht auch nicht? Vor allem im verdichteten Raum der Innenstädte überlagern sich zahlreiche Nutzerinteressen, die in einem nachhaltigen Straßenraummanagement fair berücksichtigt werden müssen. Die neue ökologische Einstellung einer breiten Öffentlichkeit für mehr Nachhaltigkeit und Umweltfreundlichkeit führte zu einem neuen Bewusstsein für das Fahrradfahren, das Zufußgehen sowie für die Benutzung des öffentlichen Verkehrs. Die Gestaltung von Straßenräumen und die Aufteilung der Verkehrsflächen sind hoch komplex geworden und verlangen nach wandlungsfähigen Konzepten. Wo sonst Richtlinien und Empfehlungen Hilfestellung geben, ist die Verkehrsplanung im engen Innenstadtbereich auf Kreativität, Erfahrung, intensive Kommunikation mit den Betroffenen und nicht zuletzt auf ein gewisses Maß an Experimentierfreudigkeit angewiesen. Diese Arbeit zeichnet ein Bild von den Ansätzen und Konzepten, mit denen sich Planer dieser Herausforderung stellen. Ausgangspunkt ist die Entwicklung der letzten 30 Jahre: Von der Dominanz des Kfz bis zur neuen Mündigkeit der Bürger, die auf den öffentlichen Raum Anspruch erheben. Jedoch ist es mit dem neuen urbanen Bewusstsein nicht getan. Die Verkehrsplanung braucht Zeit, um sich mit neuen praxistauglichen Konzepten für die neuen Anforderungen zu rüsten. Aufenthalts- und Verbindungsfunktion sollen möglichst in einem Straßenraumentwurf Platz finden und das Straßenraummanagement verlangt nach neuen Standards wie Umweltverträglichkeit. Doch was bedeutet das? Lässt sich Kfz-Verkehr in einer wirtschaftlich orientierten Welt, deren Mittelpunkte die Städte sind, umweltverträglich abwickeln? Welche Prinzipien können dazu neben den klassischen Ansätzen wie Verkehrsverlagerung und -vermeidung verwendet werden? Inwiefern lassen sich Aufenthalts- und Verbindungsfunktion vereinen? Ist das Trennungsprinzip in Zeiten der Begegnungszone noch zeitgemäß? Lassen sich die Vorteile von Trennungs- und Mischungsprinzip sinnvoll in einem Prinzip vereinen? Sollte zur Reduzierung der Auswirkungen des MIV eher der MIV geschwächt oder der NMIV gestärkt werden? Wie soll der nur begrenzt verfügbare Straßenraum effektiv aufgeteilt werden und was wird dann aus dem ruhenden Verkehr? Kann es einen Straßenraum geben, der allen Verkehrsteilnehmern gerecht wird? Es liegt nahe, dass Kompromisse eingegangen werden müssen, doch wie sehr müssen einzelne Nutzer dabei ihre Interessen zurückstecken und mit welchen Folgen? Ergo: Wie sieht das Straßenraummanagement der Zukunft aus? Sind gängige Konzepte wie Umweltzone, Parkraumbewirtschaftung und Fußgängerzone den neuen Anforderungen gewachsen, und welche alternativen Konzepte sind denkbar?

1


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

2 Begriffsklärung 2.1 Öffentlicher Raum Mit dem Begriff „Öffentlicher Raum“ ist im Rahmen dieser Arbeit der zivilgesellschaftliche Raum gemeint. Er beschreibt öffentliche Flächen innerhalb bebauter Ortschaften und ist dem Namen nach der Öffentlichkeit, also allen Mitgliedern der Gesellschaft, frei zugänglich und Bedingung sowie Indikator für Urbanität. Oder auch: „Öffentlichkeit benötigt einen Raum, in dem sie stattfinden kann“.1 Ist die Benutzbarkeit des öffentlichen Raums im Regelfall nicht gegeben, ist dies meist der Dominanz einer oder mehrerer Nutzungsansprüche geschuldet. Die prägnantesten Beispiele dafür sind der Fahrbahnbereich einer stark befahrenen Straße oder größere Stellplatzflächen für Kfz. Kann ein solcher Raum, der durch „Tabuzonen“ geprägt ist, lebenswert gestaltet werden? „Jeder Raum besteht auch aus den begrenzenden Elementen. Er kann nur dann zu einem lebenswerten Umfeld gestaltet werden, wenn die begrenzenden Elemente aufeinander abgestimmt sind und zueinander passen.“ – Knoflacher, 1993. S. 156.

„Lebenswert“ bedeutet Lebensqualität. Wie aber kann die Qualität des öffentlichen Raums gemessen werden? Ein wichtiger Indikator dafür ist Vielfalt.1 Während sich der moderne Städtebau scheinbar dem Prinzip der Einfalt verschrieben hat, besteht durch die überlegte Aufteilung und Gestaltung des ebenerdigen Raums die Chance, mehr Attraktivität zu schaffen. Etwa durch eine heterogene Struktur, in der ein „feinmaschiges Netz lohnender Ziele eine Rhythmik von Bewegung und Ruhe im Tagesablauf entstehen lässt“.2 Die Vielfalt des Raums ergibt sich aus der Heterogenität der Randbedingungen, etwa in Bezug auf Topografie, Soziologie und Wirtschaft.3 Demnach muss der öffentliche Raum ebenso differenziert betrachtet werden wie das ihn umgebende, heterogene Stadtumfeld. Ein weiterer Ansatz, die Qualität des öffentlichen Raums zu bemessen, ist seine Verträglichkeit in Bezug auf die Umwelt und das soziale Umfeld.4 Dabei ist klar, dass die einzelnen Faktoren einander bedingen. Wenn die Schadstoff- und Lärmbelastungen gering sind und der Straßenraum angemessen begrünt ist, kann der Raum auch als Treffpunkt und 1

Bihler, M. A.: Stadt, Zivilgesellschaft und öffentlicher Raum: Das Beispiel Berlin Mitte. LIT. Münster, 2004. S. 40.

2

Knoflacher, 1993. S. 174.

3

Knoflacher, 1993. S. 196.

4

Beaujean, K.: Aufwertung öffentlicher (Straßen-)Räume durch Umsetzung ganzheitlicher Gestaltungskonzepte. In: Wiegandt, C.-C.: Öffentliche Räume, öffentliche Träume – Zur Kontroverse über die Stadt und die Gesellschaft. LIT. Münster, 2006. S. 87f.

2


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Bühne für soziale Kontakte genutzt werden. Insbesondere die Begrünung scheint für das Wohlbefinden von zentraler Bedeutung zu sein. Bäume und Sträucher geben dem Raum Struktur und sorgen für ein angenehmes Stadtklima. Die soziale Verträglichkeit ist von besonderer Bedeutung in einem Stadtraum, in dem ein komplexes soziales Gefüge vom nebeneinander Wohnen und vor allem Leben auf engstem Raum existiert. Gerade weil das Sozialleben in der Stadt eher von Anonymität geprägt ist, sollte der öffentliche (Straßen-)Raum ein Ort der Begegnung und Kommunikation sein und auch dazu einladen. Der Straßenraum ist allerdings bis heute vielerorts kein sozialer öffentlicher Raum.5 Knoflacher sieht eine Ursache darin, dass private Anrainer links und rechts der Straße durch die Öffentlichkeit des Raums keine Verantwortung für den Straßenraum übernehmen können. Der öffentliche Raum könnte sonst Bindeglied werden zwischen den Funktionen der Stadt und der Gesellschaft.5 Voraussetzung für die Gestaltung des öffentlichen Raums sei seine Einbeziehung in die benachbarten Objekte – rechtlich, finanziell und formal. Es würde sich herausstellen, dass es wirtschaftlich nicht sinnvoll ist, den begrenzten Raum als „Lagerplatz für Fahrzeuge“ zu verwenden, da er viel zu kostbar sei. Der öffentliche Raum und seine Gestalt charakterisieren sich vor allem durch ihren Planungsschwerpunkt. In der Zeit der auto-orientierten Planung galt der Autoverkehr als Maßstab für die Gestaltung („Maschinenorientierter Mechanismus“, vgl. Abbildung 1) und für die übrigen Nutzungen standen nur die Restflächen zur Verfügung. Heutzutage wird menschenorientiert geplant. Dabei werden dem Autoverkehr nicht pauschal Flächen zugesprochen, sondern es wird eine sinnvolle Flächenaufteilung angestrebt, bei der notfalls Kfz-Verkehr reduziert wird. Die beiden Planungsmaßstäbe stehen stellvertretend für einen Wertewandel, der sich in den letzten dreißig Jahren vollzogen hat (vgl. Abschnitt 3). Abbildung 1: Menschen- vs. maschinenorientierte Planung

QUELLE: Knoflacher, 1995. S. 21. Abb. 2. 5

Knoflacher, 1993. S. 156f.

3


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

2.2 Straßenraummanagement Während es relativ einfach ist, entweder eine Hauptstraße für die Belange des fließenden Verkehrs oder eine Straße für städtische Aktivitäten zu gestalten, ist es nicht besonders trivial, diese beiden Ansprüche in der Gestaltung einer einzigen Straße zu kombinieren.6 Und doch ist genau das der Ehrgeiz eines nachhaltigen Straßenraummanagements. Es muss sowohl die immateriellen als auch die materiellen Ansprüche berücksichtigen.7 Zu den materiellen Ansprüchen zählt die verkehrliche und technische Wirksamkeit der Straßenraumgestaltung, während die immateriellen, subjektiven Aspekte wie Identifikation, soziale Brauchbarkeit und Attraktivität umfassen.8 Um diesen Ansprüchen zu genügen, bedient sich das Straßenraummanagement aus dem Portfolio des Verkehrssystemmanagements und des Mobilitätsmanagements.9 Das Verkehrssystemmanagement umfasst „harte Maßnahmen“ zur direkten Beeinflussung des Verkehrs durch bauliche, betriebliche, preis- und ordnungspolitische Ansätze.10 Dazu gehört zum Beispiel die gestalterische Aufwertung des Straßenraums, die Neuaufteilung des Querschnittes oder die Abwicklung und Entschärfung von Konfliktsituationen durch Maßnahmen wie Querungshilfen. Dieses klassische Straßenraummanagement bildet den Schwerpunkt dieser Arbeit. Jedoch soll der Vollständigkeit halber auch das Mobilitätsmanagement erwähnt werden, das bereits früher ansetzt.11 Es versucht, die Verkehrsnachfrage mit „weichen Maßnahmen“ wie Verkehrserziehung, Information und Anreizsteuerung zu beeinflussen; vor allem, um Ressourcen optimal auszunutzen und Alternativen zum Kfz-Verkehr aufzuzeigen.12 Dabei werden Ideen koordiniert und organisiert, die auf eine Anpassung oder Stärkung bestimmter Mobilitätsmuster abzielen. Trotz der genannten Unterschiede gibt es Überschneidungen zwischen den beiden Ansätzen bzw. das eine kann nicht ohne das andere betrachtet werden. Ohne den Prozess des Umdenkens und der Akzeptanz bestimmter Verkehrsmodi bleibt selbst der größte technische und gestalterische Aufwand ohne Wirkung.11

6

ARTISTS-Projekt. Abschlussbericht. S. 5.

7

Vogt, Steierwald, 2005. S. 453.

8

Schwarz, 2008. S. 11.

9

Schwarz, 2008. S. 18.

10

Haag, M., Hupfer, C.: Wirkungen von Verkehrsmanagement – systemanalytisch untersucht. Grüne Reihe Nr. 29. Fachgebiet Verkehrswesen, Universität Kaiserslautern. Kaiserslautern, 1995. S. 73.

11

Klewe, H.: Mobilitätsmanagement als Ansatz zur Lösung verkehrlicher Probleme. Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen. Dortmund, 2002. S. 1.

12

Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein- Westfalen (ILS NRW), Institut für Stadtbauwesen (Hrsg.): Mobilitätsmanagement Handbuch. Dortmund, 2000. S. 11.

4


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

3 Sozialisierung des Kfz-Verkehrs Die in der einschlägigen Literatur als verfehlt bezeichnete auto-orientierte Planung, die bis in die 1970er Jahre hinein das Tagwerk der Planer bestimmte,13 wurde ab den 1980er Jahren mit einem neuen Bewusstsein konfrontiert. Was aus heutiger Sicht stellenweise wie autofeindliche Polemik anmutet (MONHEIM, 1990), entwickelte sich bald zu sachlichen Konzepten allgemeinverträglicher Verkehrsplanung. Zunächst musste jedoch ein planerisches Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass die Massenmotorisierung nachweislich das Stadtleben und damit andere Nutzungsinteressen beeinträchtigt. Zwar war dies für jeden nachvollziehbar, der nur einen Fuß auf eine stark befahrene, innerstädtische Hauptverkehrsstraße setzte, aber ein wissenschaftlicher Nachweis fehlte bis dahin. Der US-amerikanische Stadtplaner Donald Appleyard (1928–1982) veröffentlichte im Jahr 1981 eine Untersuchung der Sozialverträglichkeit dreier vergleichbarer Straßen mit verschiedenen Verkehrsbelastungen in San Francisco. Abbildung 2: Soziale Interaktion auf Hauptstraßen in Korrelation zur Verkehrsstärke

QUELLE: Appleyard, 1981. Fig. 3, S. 21. 13

Vgl. Vogt, Steierwald, 2005. S. 3ff.

5


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Darin kommt er zu dem Schluss, dass in der am wenigsten befahrenen Straße deutlich mehr soziale Verbindungen in Form von Freundschaften und Bekanntschaften sowie mehr Treffpunkte im Seitenbereich existieren. Darüber hinaus hat die Studie gezeigt, dass die Bewohner ihre Umgebung anders wahrnehmen. Während sich das Zuhause in der autodominierten Straße meist auf die eigene Wohnung oder das Haus beschränkt, öffnete sich der Lebensraum der Bewohner in den weniger belasteten Straßen und erstreckte sich bis in den Straßenraum. Auf die Aufforderung hin, eine Skizze ihrer Straße anzufertigen, zeichneten sie deutlich mehr Details wie Briefkästen und Bepflanzungen. Dies zeigt, dass sich die Bewohner mit dem Straßenraum identifizierten und ihn als Lebensraum annahmen, statt ihn zu meiden (APPLEYARD, 1981). Appleyards Erkenntnisse blieben jedoch zunächst ohne Folgen für die angewandte Verkehrsplanung, zumal kein versierter Lösungsansatz dargestellt wird. Zwar forciert Appleyard einen partizipativen Planungsansatz für mehr Mitbestimmung der Anwohner,14 allerdings in einer Zeit, in welcher der Partizipationsgedanke in der Verkehrsplanung noch keine bedeutende Rolle spielte. Von ihm beschriebene Werkzeuge wie Geschwindigkeitsbeschränkungen, Abbiegeverbote, Stoppschilder und Signalanlagen werden nur lose aufgeführt, statt maßnahmenwirksam und umfassend beschrieben zu werden.15 Zu dieser Zeit existierte noch kein Planungsbewusstsein dafür, die soziale Verträglichkeit größerer Verkehrsachsen durch Verkehrsberuhigung oder neue Gestaltungen zu verbessern. Die US-amerikanische Studie fällt in einen Zeitabschnitt, in dem in Europa vor allem die Verkehrsberuhigung von Wohngebieten nach niederländischem Vorbild im Vordergrund stand. Die Projekte zur flächenhaften Verkehrsberuhigung in Wohngebieten 1976 in Nordrhein-Westfalen16 und 1980 in verschiedenen Gemeinden Deutschlands, unter anderem in Berlin-Moabit,17 zeigen deutlich, dass die Verkehrsplanung die stark frequentierten Bereiche in den Innenstädten zunächst dem Auto überließ. Selbst die Tempo-30-Zone, die im Jahr 1983 in der Innenstadt von Buxtehude eingeführt wurde,18 bedeutete überwiegend keine Verbesserung für die anderen Verkehrsteilnehmer, sondern lediglich eine Verlangsamung des Kfz-Verkehrs durch Verengung der Fahrbahn und künstliche Kurven. Der so erzeugte Charakter einer „Schnitzeljagd“19 wurde später sowohl aus städtebaulicher als auch aus verkehrlicher Sicht kritisiert. 14

Appleyard, 1981. S. 263ff.

15

Appleyard, 1981. S. 295ff.

16

Vgl. Minister für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen: Großversuch „Verkehrsberuhigung in Wohngebieten“, Schlußbericht der Beratergruppe. Kirschbaum. 1979.

17

Vgl. Walprecht, D.: Verkehrsberuhigung in Gemeinden – Planung, Durchführung, Finanzierung, Rechtsfragen. Heymann. 1983.

18

Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Jahresbericht der Bundesregierung 1985. S. 254f.

19

Vorwort (1985) von Siedler, W. J. In: Angress, G., Niggemeyer E.: Die verordnete Gemütlichkeit. Abgesang auf Spielstraße, Verkehrsberuhigung und Stadtbildpflege. Die gemordete Stadt II. Teil. Quadriga.1985.

6


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Dem Beispiel aus Buxtehude folgten weitere deutsche Städte. Dabei wurde meist in Kauf genommen, dass die Verlangsamung des Kfz-Verkehrs zum Teil Verdrängungseffekte in benachbarte Straßen nach sich zog. Auf diese Weise wurden die Nutzungskonflikte nicht gelöst, sondern mitunter nur verlagert. Eine besondere Berücksichtigung der übrigen Verkehrsteilnehmer, etwa durch Anpassung des Querschnitts oder gezielte Umgestaltung, wurde in der Regel versäumt. Folgerichtig sahen Autokritiker wie Monheim und Knoflacher die Probleme nach wie vor, auch mit den neuen Konzepten. Die schwachen Verkehrsteilnehmer Fußgänger und Fahrräder seien noch immer mit den Versäumnissen und Folgen der autodominierten Verkehrsplanung – beinahe unverändert – konfrontiert. Die Stadtverkehrsplanung sei weiterhin eine Autoverkehrsplanung (MONHEIM, 1990) und selbst zehn Jahre nach der Einführung von Tempo-30-Zone und Verkehrsberuhigtem Bereich findet sich folgendes Zitat (KNOFLACHER, 1993): „Die letzten Jahre haben uns an die Grenzen [ ] gebracht: Die urbanen Ballungsräume ersticken im Verkehr. Die individuelle Motorisierung bringt heute kaum mehr Mobilität; Zerstörung der Stadträume, der Stadt als einen Ort der Öffentlichkeit, des Austauschs von Meinungen, als einen Ort, an dem man sich wohlfühlen kann, ist die Konsequenz [ ]“ – Vorwort von H. Konrad und H. Ch. Ehalt in Knoflacher, 1993. S. 7.

Dabei existierte seit den 1980er Jahren ein theoretisches Verständnis für menschengerechtes Planen. Städtebauliche Qualität konnte zwar nicht direkt, aber indirekt am Verhalten der Menschen gemessen werden.20 Und tatsächlich setzte sich in den 1980er Jahren das Leitbild des „menschengerechten Verkehrs“ durch.21 Es war geprägt von einer Durchmischung der Verkehre und der sogenannten „Stadt der kurzen Wege“. Gleichzeitig erlebten Straßenbahnen und Fahrräder eine Renaissance.21 Eine mittelfristige, spürbare Umsetzung der neuen Planungsideale ließ jedoch zunächst auf sich warten. Die alten Infrastrukturen und Querschnitte zu erneuern, bedurfte Zeit und vor allem Geld. In den Verkehrsentwicklungsplänen war der Fußgängerverkehr üblicher Weise bereits mit der höchsten Priorität versehen, es fehlte jedoch an planerischer Umsetzung im Verkehrsalltag.22 Dass die finanziellen Mittel in den Städten meist nicht in ausreichendem Maß vorhanden waren, zeigen die zahlreichen Tempo-30-Zonen und Verkehrsberuhigten Bereiche ohne Umgestaltungsmaßnahmen. Oft reichte das Geld nur dafür, ein Schild und einige „Blumenkübel“ aufzustellen. Ein anderer Grund ist in den Verwaltungen zu suchen, denen es aus Mangel an Erfahrung, Mitteln und Akzeptanz nur unzureichend gelang, die neuen Leitbilder des „menschengerechten Verkehrs“ umzusetzen.

20

Knoflacher, 1993. S. 133ff.

21

Schmucki, B.: Der Traum vom Verkehrsfluss. Städtische Verkehrsplanung seit 1945 im deutsch-deutschen Vergleich. Campus. 2001. S. 183ff.

22

Monheim, 1990. S. 197f.

7


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

In der Regel waren jedoch die Menschen selbst noch nicht so weit. Die Entwicklung in den Köpfen weg vom Auto verlief eher schleppend; zu stark war das Auto dort noch als Statussymbol verankert. Alternative Verkehrsmittel wie der ÖPNV oder das Fahrrad standen in ihrer Popularität noch immer weit hinter dem Pkw. Der Wertewandel vollzog sich, war aber noch nicht spürbar. So lässt sich im Jahr 1990 eine Bestandsaufnahme erstellen, die gravierende Missstände aufzeigt.23 Der öffentliche Verkehr stand zunehmend in Konkurrenz mit fahrenden und stehenden Autos, was zu Reisezeitverlusten führte. Das Image litt, Busse und Bahnen galten in Folge lange als langsam und unpünktlich. Die Fahrgäste blieben aus, die Verkehrsunternehmen hatten mit finanziellen Einbußen zu kämpfen und wurden dadurch noch unattraktiver. Ein Teufelskreis, aus dem nur das Auto als Gewinner hervorgehen konnte.23 Die Gehwege der Fußgänger wurden immer stärker als Parkfläche, Hilfsradweg oder beliebte Aufstellfläche für Straßenmöbel zweckentfremdet, während die großzügigen Flächen für den Kfz-Verkehr unbehelligt blieben. Dazu kamen die bestehenden planfreien Straßenquerungen aus den 1950er und 1960er Jahren; etwa Fußgängerunterführungen, die eine Maßnahme „zur Ausrottung der Fußgeher“ seien.24 Denn den Menschen ziehe es nicht freiwillig in den Untergrund, schon gar nicht in gekachelte Gänge mit künstlichem Licht, was eine „Pissoir- oder Schlachthausatmosphäre“ erzeuge, während sogar Parkplätze an der Oberfläche liegen.25 Den Fahrradverkehr traf es laut Monheim am Schlimmsten: Das Fahrrad würde trotz seiner einst weiten Verbreitung nicht mehr als vollwertiges Verkehrsmittel gesehen. Fahrradwege fielen teilweise neuem Parkraum zum Opfer. Wenn es Fahrradwege gab, wurden sie meist notbedürftig auf dem Gehweg markiert.26 Auf der Fahrbahn wurden die Fahrradfahrer buchstäblich an den Rand gedrängt (Rechtsfahrgebot), wo sie sich gegen den fließenden und ruhenden Verkehr behaupten mussten.23 Zudem fehlten ausreichend dimensionierte Abstellanlagen.27 Das Leben, das früher in den Straßen pulsierte, fand bis in die 1990er Jahre hinein eher im Inneren der Häuser statt, statt sich zur Straße hin zu öffnen, die im Allgemeinen „monoton und grob“ gestaltet war.23 Die Straße, eigentlich öffentlicher, für jeden zugänglicher Raum, war zum reinen Verkehrsraum degradiert (vgl. APPLEYARD, 1981). Dieser Zustand ist gerade für Kinder kritisch, die ab einem gewissen Alter ihren Aktionsradius stetig erweitern.23 23

Monheim, 1990. S. 41ff.

24

Knoflacher, 1995. S. 62.

25

Knoflacher, 1995. S. 123.

26

Monheim, 1990. S. 267ff.

27

Knoflacher, 1995. S. 269.

8


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Angesichts dieser Randbedingungen wurden zahlreiche Forderungen laut, die eine allgemeine Verbesserung herbeiführen sollten. Einige sollten in den Jahren darauf in der Tat immer mehr Teil angewandter Verkehrsplanung werden, andere blieben Wunschdenken. Um den ÖPNV wieder attraktiv zu machen, sollte vor allem eine Systembeschleunigung erreicht werden. Dazu müssten Busse und Bahnen vom störanfälligen Kfz-Verkehr soweit wie möglich getrennt werden. Straßenbahnen würden am besten in eigenen Gleisbereichen und Busse entsprechend auf eigenen Busspuren fahren. Um das Stadtbild zu wahren, sollten die Gleisbereiche möglichst begrünt oder gepflastert sein, statt im konventionellen Schotterbett geführt werden. Die Haltestellen des Busverkehrs sollten nicht als Haltestellenbucht ausgeführt werden, sondern als Haltestellenkap, um den Gehwegbereich räumlich nicht zu beeinträchtigen und das gefährliche Überholen während des Fahrgastwechsels zu erschweren.28 Statt am konventionellen Separationsprinzip festzuhalten, könnten autofreie oder verkehrsberuhigte Konzepte stärker angewendet werden. Fußgänger müssten bei jeder Kreuzung und jedem Seitenwechsel den Bordstein und damit ihre Sicherheitszone verlassen und sich unnötig Gefahr aussetzen. Außerdem sollte die Anwendung der Konzepte erleichtert werden. Gerade der Verkehrsberuhigte Bereich darf in der Regel nur in Begleitung von Umgestaltungsmaßnahmen und bei Straßen mit geringer Netzbedeutung angewendet werden.29 Bisher erinnerte die Entwicklung an die Wohnstraße in der Schweiz, die wegen zu hohen Auflagen nur selten angewandt werden konnte und schließlich scheiterte.30 Alternativ sollen Aufpflasterungen oder (flexibel gestaltbare) Zebrastreifen zur besseren Querung31 und mehr Tempo-30-Zonen eingerichtet werden, selbst wenn diese nicht vollends auf die Belange von Fußgängern und Fahrradfahrern eingehen. Zugleich darf die Anwendung von Verkehrsberuhigung nicht auf Wohnstraßen beschränkt bleiben, sondern muss auch stärker frequentierte Verkehrsbereiche mit einschließen und eher flächenhaft als punktuell ausgeführt werden.29 Des Weiteren wurde auch im Deutschen Städtetag von 1987 eine Reduzierung der innerörtlichen Geschwindigkeit auf 30 km/h gefordert. Eine weitere zentrale Forderung bestand darin, Gehwege vom Parken zu befreien. Bisher sei Parken überall dort erlaubt, wo es nicht ausdrücklich verboten ist, dabei sollte der umgekehrte Fall gelten: Parken im Seitenraum müsste generell verboten sein, außer dort, wo eine Behinderung der Fußgänger auszuschließen ist. In diesem Zusammenhang könnte Zeichen 315 („Gehwegparken zulässig“) generell abgeschafft werden.32 Um weitere Flächen für den Fußgängerverkehr zu akquirieren, sollten im Rahmen einer Entrümpelung 28

Monheim, 1990. S. 473ff.

29

Monheim, 1990. S. 198ff.

30

Mann, S.: Untersuchungen über die Möglichkeiten und Konsequenzen der Einrichtung von Begegnungszonen in der Stadt Zürich. Diplomarbeit. Technische Universität Dresden. Dresden, 2004.

31

Monheim, 1990. S. 211ff.

9


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

der Gehwege Ampeln, Schilder, Parkuhren, Poller, Leuchten, Trafo- und Telefonkästen sowie Glascontainer näher an den Bordstein gestellt oder noch besser in den Parkstreifen integriert werden. Um das Lichtraumprofil der Straßen nicht zu beeinträchtigen, müssten diese insgesamt einer Prüfung unterzogen werden, ob die vorhandenen Fahrbahnbreiten in dem Maße notwendig sind. In der Regel reiche für Anliegerstraßen eine Breite von 3,50 Metern, für Sammelstraßen eine Breite von 5 bis 5,50 Metern.32 Weiterhin sollte im speziellen Fall geprüft werden, ob der gewonnene Platz für Mittelinseln und -streifen als Querungshilfe verwendet werden kann.33 Mit verringerten Fahrbahnbreiten erhöht sich zudem die Akzeptanz des Kfz-Verkehrs für geringere Geschwindigkeitsgrenzen und damit die Verkehrssicherheit für Fußgänger. Der Fahrradverkehr sollte sinnvoll in verkehrsberuhigende Maßnahmen integriert werden. Die Rechtslage ist in seinem Sinne anzupassen, etwa in Bezug auf das Rechtsfahrgebot, das Nebeneinanderfahren und die Radwegebenutzungspflicht. Vor allem aber müsste der Kfz-Verkehr Überholverbot erhalten sowie auf ein fahrradverträgliches Geschwindigkeitsniveau reduziert werden (30 km/h innerorts).34 Generell sollte die Koexistenz von Fahrrad und Kfz baulich und technisch gesichert werden. Denkbar sind schmalere Fahrbahnen unter Verwendung eines Mehrzweckstreifens sowie durchgängige und vorgezogene Markierungen für den Fahrradverkehr. Gefordert wurde darüber hinaus eine städtebauliche Integration der Kreuzungen, die fahrradfreundlich und sicher mache.35 Der Straßenraum müsste zudem Flächen für ausreichende Fahrradabstellanlagen bereitstellen.36 Aus heutiger Sicht waren Knoflacher und Monheim auf dem richtigen Weg, allerdings harren einige Forderungen noch immer ihrer Umsetzung. Die heraufbeschworene Autofreiheit konnte sich selbst in Konzepten wie der „Autofreien Stadt“ nicht durchsetzen und stark abgeschwächte Konzepte wie der Verkehrsberuhigte Bereich kranken weiterhin an ihrer Umsetzbarkeit in stärker frequentierten Straßen. Tempo-30-Zonen befinden sich vor allem in Wohngebieten37 und trotz politisch anders lautender Forderungen gilt weiterhin Tempo 50 innerorts. Der Zebrastreifen ist zwar international sehr beliebt – oft als normaler Überweg ohne Bevorrechtigung –, wird in Deutschland allerdings verhältnismäßig selten eingesetzt und ist in seiner Anwendung noch immer wenig flexibel.38 Der Fußgängerverkehr selbst konnte seine Stellung zwar geltend machen, jedoch sind aufgeräumte Gehwege noch immer selten und das Gehwegparken weiterhin erlaubt. 32

Monheim, 1990. S. 203ff.

33

Monheim, 1990. S. 218.

34

Monheim, 1990. S. 287ff.

35

Monheim, 1990. S. 301ff.

36

Monheim, 1990. S. 325f.

37

Vogt, Steierwald, 2005. S. 496.

38

Ministerium für Wirtschaft und Mittelstand, Energie und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen: Empfehlungen zum Einsatz und zur Gestaltung von Fußgängerüberwegen. Düsseldorf, 2002.

10


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Einzig der ÖPNV und der Fahrradverkehr erfuhren spürbare Verbesserungen. Busse und Bahnen fahren heute bei Ampelschaltungen weitestgehend mit Vorrang, auf eigenen Busspuren bzw. in eigenen Gleisbetten. Haltestellenkaps sind etabliert und haben Einzug in die Regelwerke erhalten.39 Der politische und gesellschaftliche Stellenwert des Fahrrads ist im stetigen Wachstum begriffen – bis heute.40 Neue Privilegien wie eigene „Fahrspuren“ in Form von Schutzstreifen auf der Fahrbahn haben sich bewährt, selbst mit weiterhin geltenden Rechtsfahrgebot und in direkter Nachbarschaft zum Parkstreifen. Obwohl die Bedeutung des Kfz und sein Anteil am Modal Split unvermindert hoch sind,41 hatte sich offensichtlich ein Wertewandel vollzogen, der anderen Verkehrsarten wie dem Fahrrad, dem Zufußgehen und dem ÖPNV mehr Sympathien einräumte. In den Menschen war ein ökologisches, stadtästhetisches Bewusstsein herangewachsen. Wer mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr, war nicht länger als alternativ abgestempelt, sondern verlieh eher einem individuellem Lebensstil Ausdruck.40 Dazu verliert das Auto in den Industrieländern zunehmend an Strahlkraft als Statussymbol.42 Die Verkehrsplanung lernte aus den Erfahrungen der 1950er und 60er Jahre, als durch neue Infrastruktur mehr Autoverkehr und neue Probleme induziert wurden.55 Durch gezieltes Anlegen von neuen Fahrradwegen und -abstellanlagen, der Umsetzung von Fußgängerverkehrsstrategien und einer Steigerung der Attraktivität des ÖPNV wurde das Prinzip umgekehrt. Während der Kfz-Verkehr durch Reduzierung von Flächen und Umgestaltungen in seiner Bedeutung stellenweise herabgestuft wurde, erfuhren Fahrradverkehr, Fußgängerverkehr und ÖPNV eine Steigerung. Die Verkehrsmittel übergreifende Verkehrsverlagerung wurde salonfähig (modal shift, vgl. Abschnitt 5.4.2). Zudem hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, wonach das Angebot an Infrastruktur auch die Art der Mobilität weitgehend festlegt.43 Das neue Bewusstsein für nachhaltige Mobilität gipfelte schließlich im Prinzip des Leihens und Teilens. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts entdecken zahlreiche Städte vor allem in Europa das Prinzip der Fahrradverleihsysteme für sich. Somit wird das Fahrrad auch für jene interessant, die keines besitzen oder das eigene Fahrrad nicht die gesamte Wegekette mitführen wollen. Darüber hinaus avancierte Car-Sharing mit reservierten Stellplätzen in zentraler Lage zur echten Alternative. Damit wird der Pkw – der den größten Teil des Tages nicht benutzt wird – nicht pauschal verteufelt, sondern besser ausgelastet.

39

Vgl. Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt) und Empfehlungen für Anlagen des öffentlichen Personennahverkehrs (EAÖ)

40

Löbe, M.: Fahrradmitnahme in Nahverkehrszügen. Diplomica. 2011. S. 13ff.

41

MiD 2008 im Vergleich mit den Ergebnissen der KONTIV 1976, KONTIV 1982 und MiD 2002.

42

Andreas Knie, Prof. der Soziologie an der TU Berlin, im Interview mit dem Deutschlandradio. 24. April 2011. URL: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/interview/1444224. Abgerufen am 23. August 2012.

43

Knoflacher, 1993. S. 46.

11


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

4 Nutzungsansprüche im öffentlichen Raum Die vermeintliche neue Eintracht der Verkehrsteilnehmer lässt dennoch Raum für weitere Verbesserungen und Lösungsansätze. Ließen sich diese Ansätze als Gleichung formulieren, fehlten zu ihrer Lösung die Variablen und Parameter. Während die einzelnen Konterparts bekannt sind, stellt sich die Frage nach ihrem optimalen Verkehrsraum, deren Antwort in Abwägung ihrer Systemeigenschaften und allgemeiner Anforderungen zu vertretbaren Nutzungsansprüchen führt.

4.1 Allgemein Für eine stadt- und menschenverträgliche Nutzung des Straßenraums lassen sich einige allgemeine Nutzungsansprüche formulieren, die größtenteils auch die Interessen der Verkehrsteilnehmer selbst widerspiegeln. Die folgenden Punkte können als allgemeine Anforderungen an das Straßenraummanagement festgelegt werden. Unfallrisikominimierung Der Straßenraum ist für alle so zu gestalten, dass die größtmögliche Verkehrssicherheit erreicht wird. Jeder Verkehrsteilnehmer hat den Anspruch, den für ihn gestalteten Verkehrsraum möglichst sicher zu passieren. Dabei sind insbesondere die schwachen Verkehrsteilnehmer in den Fokus zu stellen. Kapazitätsauslastung Durch die Prämisse, sparsam mit der Ressource Raum umzugehen, sind alle Verkehrsflächen so platzsparend wie möglich auszuführen. Demnach sollten alle Verkehrsflächen hinreichend ausgelastet sein. Auf der anderen Seite besteht der Nutzungsanspruch aller Verkehrsteilnehmer, flüssig und schnell voranzukommen bzw. einen Stellplatz zu finden. Umweltverträglichkeit Der Straßenraum sollte so gestaltet sein, dass seine Auswirkungen auf die Umwelt möglichst gering sind. Dies kommt den Verkehrsteilnehmern selbst unmittelbar zugute. Jeder Verkehr – mit Ausnahme vielleicht des Durchgangsverkehrs – erwartet vom Straßenraum eine gewisse Attraktivität oder sogar Aufenthaltsqualität, die von Abgasen, Lärm, der Dimensionierung der Flächen und der Begrünung unmittelbar abhängt. Effektive Abwicklung der Dienstleistungen Es sollten alle wirtschaftlichen und allgemeinen Dienstleistungen wie Waren- und Postzustellung (Lieferverkehr, Kurierdienste) resp. -abholung oder Personenbeförderung effektiv und ohne Störungen vollzogen werden können. Sofern erforderlich, sind dazu besondere Maßnahmen zu ergreifen, wenn notwendig auf Kosten anderer Nutzungsansprüche, etwa des ruhenden Verkehrs. 12


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

4.2 Kfz-Verkehr Der Kfz-Verkehr besitzt nur eine geringe Schutzbedürftigkeit. Durch den Schutz der Karosserie und ihre Masse, die bei hohen Geschwindigkeiten eine hohe kinetische Energie birgt, sind Kfz-Fahrzeuge in ihrer Durchsetzungskraft den schwachen Verkehrsteilnehmern überlegen. Gleichzeitig besitzen sie einen hohen Flächenanspruch und erzeugen vergleichbar hohe Lärm- und Schadstoffemissionen. Demzufolge sind seine Nutzungsansprüche nur insofern als vertretbar anzusehen, als dass sie die allgemeinen Anforderungen an das Straßenraummanagement wie Unfallrisikominimierung und Umweltverträglichkeit sowie seine eigenen, rudimentären Anforderungen erfüllen. Dazu gehört das flüssige Vorankommen in einer passend dimensionierten Infrastruktur (Kapazitätsauslastung). Durch seine systembedingte Differenz zu nichtmotorisierten und langsameren Verkehrsteilnehmern erhebt der Kfz-Verkehr den Anspruch einer separaten Fahrbahn, wobei je nach Anwendungsfall auch Mischverkehrsflächen denkbar sind. Weiterhin verlangt der Kfz-Verkehr in seiner Eigenart als Individualverkehr nach einer flächenhaften Erschließung, wobei abzuwägen ist, ob in der Feinverteilung der Fußgänger- oder Fahrradverkehr priorisiert werden kann. Dies führt zu der Frage der Stellplätze. In Anbetracht des hohen Anteils der Nichtnutzung der Kfz-Fahrzeuge und ihrem hohen Flächenanspruch ist die Thematik ein ernst zu nehmendes Problem, gerade im verdichteten Innenstadtbereich. Die Nutzungsinteressen sind vielfältig: Anwohner bestehen auf ihren Stellplatz, Beschäftigte suchen in Arbeitsplatznähe nach einer Abstellmöglichkeit und Anlieger benötigen ebenfalls einen Parkplatz. Der Idealanspruch geht von einem Stellplatz in unmittelbarer Nähe des Ziels aus. Jedoch erscheint es zumutbar und fair gegenüber dem ÖPNV, Kfz-Stellplätze in vergleichbarer Entfernung wie jene zu Haltestellen anzulegen, idealerweise maximal 300 Meter.44 Für Fahrzeuge von Allgemeininteresse (Car-Sharing) oder mit besonderen Anforderungen an die Stellplatzinfrastruktur (Elektrofahrzeuge) sind entsprechend Stellplätze zu reservieren. Des Weiteren muss der Straßenraum für Sondernutzungen wie Brandbekämpfung, Reinigen und Räumen, Entsorgen sowie Liefern und Laden entsprechend ausgelegt sein und Lösungen vorsehen (effektive Abwicklung der Dienstleistungen).

4.3 Fahrradverkehr Fahrradfahrer und Inline-Skater besitzen ebenso wie Fußgänger ein erhöhtes Risiko, sich bei Verkehrsunfällen tödlich oder schwer zu verletzen. Bei Fahrradfahrern erweist sich sowohl die fehlende Schutzhülle als auch die Fallhöhe als sehr gefährlich. Dies scheint umso kritischer angesichts der Tatsache, dass der Anteil Fahrrad fahrender älterer Men-

44

Knoflacher, 1993. S. 144f.

13


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

schen und Kinder am Modal-Split vergleichsweise hoch ist.45 Demnach sollte die Straßenraumgestaltung im verdichteten urbanen Raum den Ansprüchen der Langsamsten und Schwächsten entsprechen, unabhängig von der Altersverteilung und dem Anteil unterschiedlicher Fahrtypen (routiniert – ängstlich). Außerdem führt dies zu dem Anspruch des Fahrradverkehrs, sich möglichst vom schnellen motorisierten Verkehr zu separieren (Unfallrisikominimierung). Dabei müssen Sichtbeziehungen und Straßenraumgestaltung sicherstellen, dass bei Ab- und Einbiegevorgängen des Kfz-Verkehrs eine Bevorrechtigung des Fahrradverkehrs deutlich wird. Gleichzeitig muss eine Abgrenzung vom Fußgängerverkehr erfolgen, um ein flüssiges, schnelles und sicheres Vorankommen zu gewährleisten. Dies umfasst eine gerade Linienführung in einem unverstellten Fahrbereich, der angemessen proportioniert ist (Kapazitätsauslastung).46 Jedes Abbremsen und Anhalten muss durch den Fahrradfahrer beim erneuten Anfahren per Muskelkraft kompensiert werden. Von übergeordneter Wichtigkeit sind für den Fahrradverkehr Abstellanlagen. Ohne die Möglichkeit, das eigene Fahrrad sicher und abzustellen, stellt sich der Fahrradverkehr selbst infrage. Dabei ist eine ausreichende Stellplatzkapazität entsprechend der Verkehrswirkung des Ziels zu berücksichtigen. Für Fahrradleihsysteme sind an zentralen Orten separate Flächen zu reservieren. Durch seine gute Umweltverträglichkeit ist auf den Fahrradverkehr bei der Straßenraumgestaltung ein besonderes Augenmerk zu richten. Neueren Entwicklungen wie der wachsenden Bedeutung von Lasten- und Elektrofahrrädern sowie Fahrrädern mit Anhänger sollte dabei Rechnung getragen werden.

4.4 Fußgängerverkehr Der Fußgängerverkehr ist von allen Verkehren der flexibelste und in Bezug auf die Verkehrsplanung der anspruchsvollste. Weil Fußgänger sehr anpassungsfähig und nicht an die ihnen zugewiesenen Verkehrsflächen gebunden sind, entsteht eine ungeordnete, den Straßenraum durchdringende „Verkehrsmasse“, die sich kaum kanalisieren lässt. Die zugewiesenen Seitenbereiche und Fußgängerüberwege können dem nur ansatzweise entsprechen. Von Natur her bevorzugen Fußgänger direkte Verbindungen und reagieren empfindlich auf Umwege. Es muss davon ausgegangen werden, dass zwischen den Seitenbereichen in allen Richtungen ein Bedürfnis zum Queren besteht – vergleichbar mit den sozialen Verbindungen nach Appleyard (vgl. Abbildung 2). Sofern die Verkehrsmengen des Kfz-Verkehrs es verlangen, zentrale Querungsmöglichkeiten anzulegen, sollten diese in ausreichender Anzahl oder Ausdehnung vorhanden sein. Hier zeigt sich bereits die Schwierigkeit, die differenzierten Wegewünsche der Fußgänger zu realisieren. Fußgänger brauchen Rückzugsorte und Schutzzonen, die durch möglichst viele und kurze 45

Mobilität in Deutschland 2008 (MiD 2008): Modal-Split-Anteile von ÖPV und NMIV für Männer und Frauen nach Altersgruppen. Abb. 3.76, S. 104.

46

Monheim, 1990. S. 264f.

14


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Wege miteinander verbunden sind (Unfallrisikominimierung). Obwohl Fußgänger physisch vergleichbar wenig Platz benötigen, sollten die Schutzflächen nicht zu knapp bemessen sein. Durch die persönliche Ebene gebietet sich ein Höflichkeitsabstand – selbst bei größeren Fußgängeraufkommen. Zudem schätzen insbesondere Fußgänger den Raum, etwa zum Flanieren und Verweilen. Fußgängerraum begreift sich als „freier“ Raum, der für Straßenmöbel, Geschäftsauslagen, Cafémobiliar und Begrünung gleichermaßen genutzt wird. Insofern ist das Kriterium der Kapazitätsauslastung hier nur schwer anwendbar. Den Straßenraum für den Menschen als solches zu planen hat die Schwierigkeit, dass alles seiner subjektiven Wahrnehmung unterliegt und daran gemessen wird. Seine geringen Geschwindigkeiten lassen ihn um ein vielfaches mehr Details wahrnehmen als andere Verkehrsteilnehmer. Er erhebt einen hohen Anspruch an die differenzierte Ausgestaltung des Straßenraums und ist gleichermaßen sensibel in dieser Hinsicht. Sich im Straßenraum aufzuhalten und dort ein Sozialleben zu entfalten, ist für den Fußgänger ein grundlegendes Bedürfnis. Die Reduzierung von Lärm- und Schadstoffemissionen trägt einen Teil zur Etablierung von Aufenthaltsqualität bei. Eine ästhetische und funktionale Gestaltung sollte ergänzend wirken. Mit seiner emissionslosen Fortbewegung durch Energieversorgung aus dem Ökosystem bedingt das Zufußgehen als natürlichste Bewegungsart zum einen nachhaltig gestaltete Straßenräume und fügt sich zum anderen nahtlos in sie ein (Umweltverträglichkeit). Aus diesem Grund ist dem Fußgängerverkehr in der Straßenraumgestaltung eine hohe Priorität beizumessen.

4.5 Busse und Bahnen Ihre Massentauglichkeit und damit gute Umweltbilanz (vermehrt auch durch elektrische oder hybride Antriebe) haben den Zuspruch des ÖPNV wachsen lassen. Sofern es die Verhältnisse zulassen, erheben Busse und Bahnen Anspruch auf eigene Trassen, um Reisezeit und Zuverlässigkeit zu verbessern (effektive Abwicklung der Dienstleistungen). Durch begrünte Gleisbetten kann die Umweltverträglichkeit noch verbessert werden. Wechselwirkungen mit anderen Verkehrsteilnehmern sind – abgesehen vom Passagierwechsel – kritisch zu betrachten. Durch ihre Masse und Geschwindigkeit stellen vor allem Straßenbahnen ein Unfallrisiko dar, das es baulich so weit möglich abzufedern gilt (Unfallrisikominimierung). Gleisbereiche und Überwege sind für nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer entsprechend zu sichern. Die Isolierung des Verkehrswegs kann im Ausnahmefall auch einer Gestaltung als Mischverkehrsfläche weichen, etwa bei Bahnhofsvorplätzen oder entsprechenden Platzsituationen. Um die Kapazitätsauslastung von Busspuren zu verbessern, könnten nach Vorschlag des ADAC neben Taxis und Fahrrädern auch Fahrgemeinschaften zugelassen werden,47 wie in den USA bereits üblich. 47

B.Z.: Busspuren frei für Fahrgemeinschaften. 4. August 2012. URL: http://www.bz-berlin.de/aktuell/ berlin/busspuren-frei-fuer-fahrgemeinschaften-article1514779.html. Abgerufen am 8. September 2012.

15


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

5 Ansätze zur Lösung von Nutzungskonflikten Die dargestellten Nutzungsansprüche allgemeinverträglich und nachhaltig zu vereinen und dabei möglichst wenig Kompromisse einzugehen, setzt das Verständnis einiger allgemeiner Lösungsansätze voraus. Als Einleitung der Diskussion werden die Vorstellungen der Bürger, wie ihr städtisches Lebensumfeld verbessert werden könnte, thematisiert.

5.1 Vorstellungen der Bürger Die Europäische Kommission führt in regelmäßigen Abständen sogenannte Eurobarometer durch. Diese Meinungsumfragen lassen erkennen, dass die meisten europäischen Bürger nach Verkehrsformen verlangen, die besser mit der Umwelt harmonieren. Im Jahr 1999 gaben 70 % der Bürger an, dass sie die Qualität der Stadtluft mehr beunruhige als noch 1994.48 Die Luftverschmutzung, für die das Auto hauptverantwortlich gemacht wurde, ist an die Spitze der städtischen Umweltprobleme gesetzt worden. Zwei Drittel der Befragten gaben an, dass diese Umweltprobleme ihre Lebensqualität am meisten beeinträchtigen.48 Bei der Frage nach effektiven Lösungsansätzen wurden vor allem nachhaltige Verkehrsformen und eine Reduzierung der Kfz-Dominanz gefordert. Abbildung 3: Prioritäten der EU-Bürger

QUELLE: Eurobarometer 1999 (51.1). Antworten auf die Frage: „Welche dieser Lösungsansätze ermöglicht es Ihrer Meinung nach, die Umweltprobleme in Bezug auf den Verkehr in Städten effektiv zu lösen?“ In: Europäische Kommission: Reclaiming city streets for people – Chaos or quality life? Luxemburg, 2004. S. 13.

48

Europäische Kommission: Eurobarometer 1999. In: Europäische Kommission, 2004. S. 13.

16


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

5.2 Raumplanung und verkehrspolitische Rahmenplanung Verkehr resultiert aus der Motivation des Menschen, Raum zu überwinden. Daher ist die Raumplanung ein wichtiges Instrument, um Verkehr nachhaltig zu beeinflussen. Durch die motorisierten Verkehrsmittel wurden Stadtfunktionen wie Wohnen und Arbeiten weitgehend getrennt und damit eine Benutzung des Autos begünstigt. Umgekehrt können durch das gezielte Anordnen von Quell- und Zielorten Wege verkürzt werden („Stadt der kurzen Wege“), was wiederum die Benutzung unmotorisierter und umweltverträglicher Verkehrsmodi in Betracht ziehen lässt. Zur städtebaulichen Raumplanung ergänzend wirkt die Generalverkehrsplanung. Verkehrsentwicklungs- und Nahverkehrspläne, Fußgänger- und Fahrradverkehrsstrategien, Mobilitätsprogramme und Luftreinhaltepläne geben die Richtung vor für künftige Entwicklungen und Investitionen in der Verkehrsplanung. Mit diesen Instrumenten werden von der Verkehrspolitik – häufig in Synergie mit den Ressorts Umwelt und Stadtentwicklung – Schwerpunkte und Richtlinien gesetzt, denen die ausführenden Planer Rechnung tragen müssen. Auf diese Weise kann die Zusammensetzung und das Zusammenwirken des Verkehrs langfristig beeinflusst werden. Die Vorgaben sind eine wichtige Voraussetzung für viele konkrete Maßnahmen zur Lösung von Nutzungskonflikten im Straßenraum. Ein Beispiel dafür ist vor allem die gezielte Förderung des ÖPNV sowie des Fußgänger- und Fahrradverkehrs innerhalb einer integrativen Netzplanung.

5.3 Prinzipien der räumlichen Aufteilung Die Herausforderungen im Umgang mit den vielseitigen Nutzungskonflikten im öffentlichen Raum hatten in der Vergangenheit – vor allem in Hauptstraßen – eine Verkehrsstruktur nach dem horizontalen Trennungsprinzip hervorgebracht, während dem Mischungsprinzip bisher eher das Nebennetz und die Seitenbereiche vorbehalten waren.49

5.3.1 Horizontales Trennungsprinzip Das horizontale Trennungsprinzip ist zum einen das bewährteste Prinzip der verkehrlichen Aufteilung, zum anderen aber auch das starrste. Die Orientierung in Längsrichtung optimiert den längs gerichteten Verkehr, vernachlässigt dabei jedoch Beziehungen in Querrichtung. Durch das punktuelle Anlegen von Fußgängerüberwegen wird zwar die Möglichkeit zum Queren eingeräumt. Jedoch entstehen in den Konfliktpunkten – vor allem an Einmündungen – kritische Stellen, weil dem Längsverkehr zuvor eine Alleinstellung suggeriert wurde, die plötzlich durchbrochen wird. Dieser Effekt ist umso stärker, je größer die Geschwindigkeitsdifferenz der Verkehre ist. Die Sicherung und gestalterische Kennzeich49

Lohse, D., Schnabel, W.: Grundlagen der Straßenverkehrstechnik und der Verkehrsplanung. Band 2 – Verkehrsplanung. Dritte, vollständig überarbeitete Auflage. Beuth. 2011. S. 159.

17


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

nung solcher Konfrontationspunkte von Längs- und Querbeziehungen müssen unter Aspekten der Verkehrssicherheit mit besonderer Sorgfalt geplant werden. Dennoch hat sich das Trennungsprinzip als sehr tragbar erwiesen. Gleisbetten, Busspuren, Fahrbahnen, Parkstreifen, Fahrrad- und Fußwege ziehen sich in mitunter starren Querschnitten wie selbstverständlich durch die Städte, während städtebaulich integrierte und individuell gestaltete Straßenräume vor allem aus Kostengründen noch eher selten anzutreffen sind. Der Fahrradverkehr kehrte allerdings auf Schutz- oder Mehrzweckstreifen bzw. Fahrradwegen auf die Fahrbahn zurück, jeweils mit Sicherheitsabstand zum Parkstreifen.50 Damit endet allmählich sein Dasein zwischen dem fließenden und dem ruhenden Kfz-Verkehr und sein „Gastspiel“ auf dem Gehweg, das noch sehr häufig ist. Das Trennungsprinzip bietet jedoch noch immer Verbesserungspotenzial, etwa durch lang gezogene Mittelstreifen und Gehwegvorstreckungen. Die Mittelstreifen ermöglichen ein flächiges Queren und verkürzen die Querungsdistanzen. Zudem werden schwache Verkehrsteilnehmer unterstützt, indem ihre Sicht und Sichtbarkeit verbessert wird. Gehwegvorstreckungen beanspruchen ehemalige Flächen des Parkstreifens und verbessern die Sicht auf den Längsverkehr, während Aufpflasterungen in kleineren Knotenpunkten auf eine besondere Querungssituation hinweisen. Geh- und Fahrradwege werden zunehmend über Knotenpunkte und Einmündungen hinwegmarkiert oder -gepflastert, sodass sie als Querverkehr besser wahrnehmbar sind.

5.3.2 Vertikales Trennungsprinzip Das vertikale Trennungsprinzip findet seit den Erfahrungen aus den 1950er und 1960er Jahren nur noch sehr selten Anwendung. Die vertikale Trennung macht jedoch auch aus heutiger Sicht in einigen Fällen Sinn. Straßenbahnen werden teilweise unterirdisch geführt, um unabhängig vom Verkehrsgeschehen des Individualverkehrs zu sein, wodurch ihren Nutzungsansprüchen nach Zuverlässigkeit und geringen Reisezeiten entsprochen wird. Eine andere Anwendung bezieht sich auf den Nutzungsanspruch des ruhenden Verkehrs. Die hohe Rate der Nichtbenutzung der Fahrzeuge und deren enormer Flächenbedarf führt dazu, dass der ruhende Verkehr vor allem in engen, historischen Altstädten vermehrt in Tiefgaragen untergebracht wird. Bezeichnend dafür ist das Stadtumbauprogramm der Stadt Lyon in Frankreich. Dort wurde die Umgestaltung von zahlreichen Stadtplätzen als Gelegenheit begriffen, unter den Plätzen Tiefgaragen zu bauen.51 Unter dem neu gestalteten Place de la République (vgl. auch Abbildung 16) wurden auf sieben Stockwerken 885 Pkw-Stellplätze untergebracht.

50

Bundesanstalt für Straßenwesen: Unfallrisiko und Regelakzeptanz von Fahrradfahrern. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen. Verkehrstechnik. Heft V 184. Bergisch Gladbach, 2009.

51

Schriftenreihe „Lebendige Stadt“, Band 1: Stadtplätze – Strategien für den Umgang mit innerstädtischen Außenräumen am Beispiel von Lyon. 2003. S. 53ff.

18


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Abbildung 4: Tiefgarage unter dem Place de la République in Lyon

QUELLE: Schriftenreihe „Lebendige Stadt“, Band 1: Stadtplätze – Strategien für den Umgang mit innerstädtischen Außenräumen am Beispiel von Lyon. 2003. S. 64 und 65.

Unmittelbar nach dem Überqueren der Rhône – also mit dem Betreten der historischen Altstadt, der Presqu’île – kann der Besucher sein Fahrzeug in der Tiefgarage abstellen und die Stadt zu Fuß erkunden. Die Innenräume und Zugangsbereiche der Tiefgarage wirken hell und freundlich; teilweise lockern Kunstinstallationen die Atmosphäre auf. Ständiges Sicherheitspersonal sorgt für Sicherheit und dient als Ansprechmöglichkeit.51

5.3.3 Mischungsprinzip Der hohe Flächenverbrauch des Kfz-Verkehrs ist dem Gedanken ein fruchtbarer Nährboden, den Fahrbahnbereich für alle Verkehrsteilnehmer freizugeben. Auf der entstehenden Mischfläche könnten sich alle Verkehre gleichberechtigt bewegen. Dies führt jedoch dazu, dass sich der schnelle Verkehr anpassen muss und den Bereich nur sehr langsam passieren kann. Mit der Auflösung der starren Straßenstruktur ist immer auch eine Herabsetzung der Verkehrskapazität verbunden. Also erscheint es folgerichtig, Verkehre nach ihren Geschwindigkeiten zu gruppieren und jeweils eigenen Mischverkehrsflächen zuzuweisen. Ein Beispiel dafür sind gemeinsame Geh- und Radwege, aber auch Fahrradstraßen. In Deutschland können dort zumindest Anlieger mit Kfz per Zusatzzeichen zugelassen werden,52 in den Niederlanden sind Kraftfahrzeuge sogar generell erlaubt. Ein anderer Kritikpunkt sieht weniger den Kfz-Verkehr im Nachteil, sondern die schwachen Verkehrsteilnehmer, die dem MIV in einer freien Fläche schutzlos ausgeliefert seien. Folglich entstanden Konzepte, bei denen mit Straßenmöbeln, Pollern und besonderen Gestaltun52

Anlage 2 der Straßenverkehrsordnung (StVO), Nummer 23 zu Zeichen 244.1.

19


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

gen – nicht aber mit Borden oder klaren Abgrenzungen – Schutzbereiche geschaffen wurden, die für den Kfz-Verkehr nicht zugänglich sind. Auf diese Weise sind Mischverkehrsflächen auch dort denkbar, wo weiterhin der Verkehrsfluss von hoher Bedeutung ist. In der Schweiz wird dieser Ansatz in Form von Begegnungszonen mit Erfolg umgesetzt. Das Anwendungsspektrum umfasst sowohl sensible Wohn- und Schulbereiche als auch stark frequentierte Bahnhofsvorplätze, Einkaufsstraßen, zentrale Plätze und Kreuzungen mit starkem Fußgänger- und Fahrradverkehr.53 In anderen Ländern haben Mischverkehrsflächen noch immer den Charakter von Spielstraßen. Vielerorts sind die verkehrsrechtlichen Voraussetzungen noch nicht ausgereift oder es fehlt die Akzeptanz für derartige Bereiche und Ansätze.54

5.4 Prinzipien der Anpassung des Kfz-Verkehrs Bei der Lösung von Nutzungskonflikten im öffentlichen Straßenraum scheint eine Anpassung des dominanten motorisierten Verkehrs der naheliegendste Lösungsansatz zu sein. Dabei sind räumliche (Verlagerung) und fahrdynamische (Verstetigung, Verlangsamung) Ansätze denkbar, aber auch eine Vermeidung des Kfz-Verkehrs.

5.4.1 Vermeidung Verkehr lässt sich nicht vermeiden, sofern eine funktionale Beziehung zwischen zwei Orten besteht, es sei denn diese beiden Orte trennt keine räumliche Distanz. Ein Beispiel dafür ist eine Wohnung, die gleichzeitig als Arbeitsplatz fungiert. Da dies jedoch die Ausnahme ist, besteht der Fokus der Verkehrsvermeidung vor allem darin, die räumlichen Distanzen zwischen Wohnen, Arbeiten, Versorgen und Orten der Dienstleistung, der Freizeit und der Bildung durch geschickte Standortwahl zu verringern. Mit dem Verkürzen der Wege ergibt sich für bestimmte Orte ein verringertes Verkehrsaufkommen, weil vor allem der Durchgangsverkehr an Gewicht verliert. Die geringeren Distanzen lassen wiederum nichtmotorisierten Verkehr bei der Verkehrsmittelwahl an Bedeutung gewinnen. Je mehr Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden, desto weniger Platz wird verbraucht, wird die Umwelt beansprucht und sind Kfz unterwegs. Ein anderer Ansatz ist der, die Benutzung von Straßen kostenpflichtig zu machen. Mit Straßengebühren (City-Maut, vgl. Abschnitt 6.1.1) sollen Fahrten im Innenstadtbereich unattraktiv gemacht werden. Während sich einige Aktivitäten verlagern, werden andere gebündelt oder gar nicht durchgeführt, sodass in Summe weniger Fahrten entstehen.

53

Schweizer, T.: Begegnungszonen in der Schweiz – ein Erfolgsmodell. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Shared Space – Beispiel und Argumente für lebendige öffentliche Räume. Bielefeld, 2010.

54

Bühn, M.: Anwendbarkeit von Shared Space in Berlin im Bezirk Mitte. Bachelorarbeit. TU Berlin, Juli 2010.

20


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Ein neuerer Ansatz ist das Prinzip der Evaporation (fachsprachlich für „Verdunstung“): Wenn durch neue Verkehrsflächen neuer Verkehr induziert wird,55 müsste durch eine Reduzierung von Flächen eine Abnahme des Verkehrs zu erwarten sein.56 Das gegenteilige Gedankenpaar, wonach neue Verkehrsflächen die Verkehrsqualität verbessern können und eine Dezimierung von Flächen neue Verkehrsprobleme hervorruft, hatte sich als Trugschluss herausgestellt. Tatsächlich passen sich Verkehrsteilnehmer der jeweiligen Situation an und suchen sich neue Wege und Verkehrsmodi. Maßnahmen zur Priorisierung des Bus- und Straßenbahnverkehrs, zur Etablierung von Fahrradspuren und zur Vergrößerung der Seitenbereiche können, wenn sie sinnvoll gestaltet und dem jeweiligen Kontext angemessen sind, zum Erreichen einer Reihe nachhaltiger Ziele beitragen. Dazu gehört die effizientere Nutzung des Straßenraums, eine Erhöhung der Attraktivität des nichtmotorisierten Verkehrs und eine allgemeine Qualitätsverbesserung der Straßenlandschaft. Bei der Auswertung der Maßnahmen ist es schwierig, zu eindeutigen Ergebnissen zu kommen, insbesondere hinsichtlich der Auswirkungen auf das Verkehrsaufkommen. Verkehrszahlen unterliegen zahlreichen, zum Teil langfristigen Einflüssen (allgemein steigendes Verkehrsaufkommen, höhere Einkommen und Pkw-Besitzrate) und können nur kleinere Bereiche erfassen, obwohl die Effekte oftmals weiter entfernt auftreten. Befragungen decken meist keinen genügend großen Zeitraum ab und individuelles Verhalten lässt sich aus den Untersuchungen nur schwer ableiten.56 Dennoch zeugen zahlreiche Projekte davon, dass es bei derartigen Maßnahmen zu einer merklichen Verringerung oder zumindest keiner Erhöhung des Verkehrsaufkommens kommt und die Verlagerungseffekte in die umliegenden Straßen unkritisch sind. Das umgebende Straßennetz darf allerdings keine Alternativrouten bieten, sonst wird das Verkehrsaufkommen nur verlagert. Neben den räumlichen dürfen auch keine zeitlichen Alternativen existieren.57 Grundsätzlich sind die Effekte einer solchen Maßnahme determiniert durch — die Beschaffenheit des Netzwerks und dessen Verkehrskapazitäten — die Art der betroffenen Wege (Arbeit, Freizeit, Einkauf) — die relative Attraktivität von alternativen Standorten — Faktoren, welche die Autobenutzung beeinflussen, etwa Parkreglementierungen — die Attraktivität anderer Verkehrsmodi — spezifische Gestaltungsdetails

— Information und Marketing 55

Department of Transport, SACTRA: Trunk Roads and the Generation of Traffic. London, 1994.

56

Goodwin, P., Hass-Klau, C., Cairns, S.: Evidence on the Effects of Road Capacity Reduction on Traffic Levels. Landor Publishing. London, 1998.

57

Europäische Kommission, 2004. S. 18.

21


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

5.4.2 Verlagerung Statt Kraftfahrzeuge aus dem Nutzungsgefüge durch Verkehrsvermeidung möglichst herauszuhalten, zielt die Verkehrsverlagerung darauf ab, sie so umzuleiten, dass weniger oder weniger kritische Nutzungskonflikte entstehen. Dabei ist der Anteil des Durchgangsverkehrs von Bedeutung. Ist der Anteil gering, lässt dies darauf schließen, dass die Betroffenen den Verkehr größtenteils selbst induzieren. Somit ist der zu schützende Bereich selbst Quell- oder Zielort und eine Umfahrung wenig zielführend. Überwiegt jedoch der Anteil des Durchgangsverkehrs, kann eine Verkehrsverlagerung sinnvoll sein. Das umliegende Straßennetz muss dabei zum einen die zusätzlichen Kapazitäten aufnehmen können und darf zum anderen keine hervorgehobene Stellung in Bezug auf Aufenthaltsqualität und die Bedeutung von Fußgänger- und Fahrradverkehr besitzen. In verdichteten Innenstadtbereichen ist diese Voraussetzung in der Regel nicht gegeben, sodass die Sperrung oder Nutzungseinschränkung ganzer Innenstädte folgerichtig erscheint. Für punktuelle Maßnahmen gestaltet sich jedoch der Lösungsansatz in der Regel schwieriger. Der Ansatz der Evaporation verringert in besonderen Bereichen die Attraktivität des Straßenraums für den Kfz-Verkehr und zwingt ihn auf alternative Routen, die ihm allerdings nicht in ausreichender Kapazität und Anzahl zur Verfügung gestellt werden. Somit sehen sich die motorisierten Verkehrsteilnehmer gezwungen, auf andere Verkehrsmittel umzusteigen. Umgekehrt kann diese Verkehrsverlagerung im Sinne eines modal shifts auch durch eine Aufwertung oder Alleinstellung von umweltverträglichen Verkehrsmitteln wie dem ÖPNV, dem Fahrrad oder dem Zufußgehen gezielt gefördert werden.

5.4.3 Verstetigung Auf stark befahrenen Straßen kommt es häufig zu Verzögerungs- und Beschleunigungsmanövern des Kfz-Verkehrs durch Interaktionen mit anderen Verkehrsteilnehmern (vgl. Abbildung 5). Dabei sind die Verzögerungen und Beschleunigungen umso ausgeprägter, je unterschiedlicher der Verkehrscharakter und die Geschwindigkeitsdifferenzen sind. Die Verminderung von Emissionen und Lärm kann nachweislich durch eine Verbesserung des Verkehrsflusses erzielt werden. Bei extrem unstetigem Verkehrsablauf werden innerhalb geschlossener Ortschaften bis zu 60 bis 70 % mehr Luftschadstoffe und bis zu 80 % mehr CO2 ausgestoßen als bei flüssigem Verkehr.58 Bei stetiger Fahrweise lässt sich außerdem die Lärmbelastung um bis zu 3 dB verringern. Die entspräche etwa der Lärmverminderung bei einer Halbierung des Verkehrsaufkommens.59

58

Bundesamt für Umwelt (BAFU): Handbuch der Emissionsfaktoren des Straßenverkehrs (HBEFA). Version 3.1, 2010.

59

Bundesamt für Umwelt (BAFU), 2011. S. 14f.

22


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Abbildung 5: Fahrzyklen bei unterschiedlich stetigem Verkehrsablauf

QUELLE: Bundesamt für Umwelt (BAFU): Nachhaltige Gestaltung von Verkehrsräumen im Siedlungsbereich – Grundlagen für Planung, Bau und Reparatur von Verkehrsräumen. Bern, 2011. S. 15.

Neben dem Effekt der Verminderung von Emissionen und Lärm ergeben sich Synergieeffekte zwischen schwachen Verkehrsteilnehmern und MIV. Bei einem stetigen Verkehrsfluss sind auch die Geschwindigkeiten geringer, sodass Fußgängern – etwa beim Queren – mehr Zeit verbleibt, den Kfz-Verkehr einzuschätzen. Der Kfz-Verkehr erfährt durch die Verstetigung eine Verbesserung der Reisezeit und ein angenehmeres Fahren. Die Maßnahmen zur Verstetigung des Verkehrs sind baulicher, gestalterischer und betrieblicher Natur und zielen auf die Schaffung von Kapazitätsreserven.59 Durch die Reserven hat das häufige Abbremsen eines einzelnen Fahrzeugs nur Einfluss auf das Verhalten der Fahrzeuge in seiner näheren Umgebung, nicht aber auf alle Fahrzeuge. Somit wird die Störung auf möglichst wenige Fahrzeuge begrenzt. Ein häufiger Grund für unstetes Fahrverhalten sind unterschiedliche Ausbaustandards.59 Im Sinne einer einheitlichen, selbsterklärenden Netzstruktur sind daher einheitliche Querschnitte sinnvoll, um Verkehr zu verstetigen. Damit einher geht die einheitliche Gestaltung. Sie muss gewährleisten, dass sich die unmotorisierten Verkehrsteilnehmer so verhalten, dass die Stetigkeit des MIV möglichst nicht beeinträchtigt wird. Statt einer Lichtsignalanlage könnte die Gestaltung das flächige Queren anbieten, sodass Fußgänger nicht gebündelt, sondern vereinzelt die Straße queren. Eine andere Möglichkeit ist die Bereitstellung von eigenen Ladezonen, sodass einem Be- und Entladen in zweiter Reihe vorgebeugt wird. Die Gestaltung muss jedoch auch höhere Geschwindigkeiten ausschließen, zum Beispiel durch optisch verengte Fahrbahnen. Aus betrieblicher Sicht lässt sich ebenfalls Verkehr verstetigen. Eine Grüne Welle ist dabei nur eine Maßnahme. Denkbar wären außerdem überarbeitete LSA-Schaltungen oder eine gesonderte Führung des geradeaus fahrenden Fahrradverkehrs an Kreuzungen. 23


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

5.4.4 Verlangsamung Während bei der Verstetigung des motorisierten Verkehrs seine Verlangsamung eher als Nebeneffekt auftritt, können Maßnahmen auch gezielt zur Geschwindigkeitsminderung eingesetzt werden. Das hätte den Effekt, Lärm- und Schadstoffbelastungen zu reduzieren und die Verkehrssicherheit zu verbessern. Neben reinen Geschwindigkeitsbegrenzungen kann auch die Straßenraumgestaltung einen Teil dazu beitragen. 5.4.4.1 Verlangsamung durch Gestaltung Die Gestaltung des Straßenraums beeinflusst unmittelbar den Verkehr. Ein Maß für diese Beeinflussung ist der Durchgangswiderstand.60 Er beschreibt die Durchlässigkeit der Straße in Bezug auf den motorisierten Verkehr. Während die Fahrbahn früher schlicht mit Hindernissen verstellt wurde, um die Fahrlinie zu verschwenken und damit die Geschwindigkeit zu senken, steht heute ein gesamtheitlicher, die Randnutzungen einbeziehender Ansatz im Vordergrund. Die starre Aufteilung des Straßenraums nach dem Trennungsprinzip wird dabei aufgeweicht, jedoch nicht in dem Sinne, dass eine Mischverkehrsfläche entsteht. Vielmehr wird die Interaktion zwischen Straße und Randnutzungen erhöht, indem diese gestalterisch besser aufeinander abgestimmt werden. Denkbar ist eine Nivellierung des Straßenraums oder Absenken der Borde auf drei Zentimeter mit unterschiedlichen Materialien für Seitenbereich und Straße. Abbildung 6: Erhöhter Durchgangswiderstand durch angepasste Gestaltung

QUELLE: Bundesamt für Umwelt (BAFU): Nachhaltige Gestaltung von Verkehrsräumen im Siedlungsbereich – Grundlagen für Planung, Bau und Reparatur von Verkehrsräumen. Bern, 2011. S. 49. 60

Bundesamt für Umwelt (BAFU), 2011. S. 42.

24


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Je auffälliger die Materialien sind, etwa durch eine charakteristische Pflasterung, desto mehr Identität erhält der Ort und umso angepasster sind die Geschwindigkeiten. Dieser Effekt kann durch Nutzungen verstärkt werden, die in den Straßenraum „hineinragen“, zum Beispiel zur Straße offene Verkaufsauslagen oder Café-Aufstellflächen (vgl. Abbildung 6). Durch den direkten Kontakt mit den Randnutzungen sieht sich der Kfz-Fahrer einem höheren Durchgangswiderstand ausgesetzt. Er muss die vielfältigen Reize verarbeiten und darauf entsprechend reagieren – und fährt entsprechend langsamer. Obwohl der Kfz-Verkehr weiterhin bevorrechtigt ist, kann seine Stellung darüber hinaus durch optische Übergangsbereiche geschwächt werden. Derartige Bereiche könnten mit gepflasterten Teilabschnitten oder besonderen Markierungen wie quer liegenden Zebrastreifen umgesetzt werden.61 Des Weiteren kann eine optische Verengung der Fahrbahn, etwa durch Markierung oder abgesetzte Pflasterung, den Kfz-Verkehr verlangsamen. 5.4.4.2 Verlangsamung durch Tempobeschränkungen Der induzierten Geschwindigkeitsreduzierung durch angepasste Gestaltung steht die angeordnete Tempolimitierung gegenüber. Zwar sollten in der Regel auch hier begleitende Umgestaltungsmaßnahmen stattfinden, vor allem bis zu einer Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h, die Praxis sieht jedoch meist anders aus. Dabei steht die Akzeptanz solcher Tempobeschränkungen in direktem Zusammenhang zur Straßenraumgestaltung. Ohne begleitende Gestaltung wird nur die Wirkung statt der Ursache bekämpft. Geschwindigkeitsbeschränkungen von 30 km/h sind eine Abstufung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in Ortschaften (meist 50 km/h). Sie werden vor allem zur Minderung der Lärmbelastungen eingerichtet, aber auch zur Verbesserung der Querbarkeit und Verkehrssicherheit.62 Immer häufiger sind sie innerhalb von Zonierungen (Tempo-30-Zone) Teil einer Netzhierarchie. Auf diese Weise entstehen Rückzugsgebiete, vor allem für das Wohnen. Hier weicht der Durchgangsverkehr zum Teil auf das „schnelle“ Netz aus, der Schwerverkehr wird ebenfalls reduziert. Geringere Höchstgeschwindigkeiten als 30 km/h, etwa 20 oder 10 km/h (Tempo-10- bzw. Tempo-20-Zone), werden vor allem in sensiblen Innenstadtbereichen mit einer hohen Dichte schützenswerter Gebäude eingerichtet. Diese besonderen Bereiche zeichnen sich durch eine hohe Frequentierung von Fußgängern aus, wodurch sich der Anspruch einer hohen Aufenthaltsqualität und Verkehrssicherheit ergibt. Die historischen Straßen sind oft eng und gepflastert. Auf diese Weise kommt der Lärmentlastung eine hohe Bedeutung zu. Auch die Erschütterungen durch den Schwerlastverkehr sind in Anbetracht historischer Baumasse zu minimieren.

61

DePauli-Schimanovich, W.: Über die Zukunft der Verkehrs-Technik und -Planung in Europa. Passagen. Wien, 2003. S. 320.

62

H. P. Lindenmann: Beurteilung der Auswirkungen von Zonensignalisationen (Tempo 30) in Wohngebieten auf die Verkehrssicherheit. ETH Zürich, Institut für Verkehrsplanung, Transporttechnik, Strassen- und Eisenbahnbau (IVT). März 2000.

25


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

5.5 Klassifikation nach Straßenfunktion Die Klassifizierung von Straßen erfolgt in zahlreichen Ländern nach ähnlichen Prinzipien. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Etablierung der erwähnten Netzhierarchie. Die Unterscheidung wird dabei gewöhnlich nach der Verbindungs-, der Erschließungs- und der Aufenthaltsfunktion der jeweiligen Straßen vorgenommen. Um Straßen nachhaltig zu gestalten, ist vor allem die Funktion in Bezug auf die Urbanität relevant. Die verträgliche Berücksichtigung der Funktionsansprüche von Aufenthalt und Verbindung ist – wie anfangs erwähnt – nicht trivial (vgl. Abschnitt 2.2). Im Rahmen des EU-Projekts ARTISTS („Arterial Streets Towards Sustainability“) wurde ein Lösungsansatz entwickelt, der Straßen ihrer Funktion nach klassifiziert und das Straßendesign davon abhängig macht. Demnach hat eine Straße bzw. jeder Straßenabschnitt sowohl einen bestimmten Verbindungsstatus als auch einen Status in Bezug auf die städtischen Aktivitäten und physischen Qualitäten des Ortes.63 Dieser Zusammenhang lässt sich in folgendem Schema darstellen. Abbildung 7: Funktionelle Straßen-Klassifikation des ARTISTS-Projekts

QUELLE: European Commission Fifth Framework Programme: Arterial streets for people. Abschlussbericht des ARTISTS-Projekts. S. 28. Übersetzte Darstellung.

Der Ansatz setzt die Identifizierung eigenständiger Straßenabschnitte und Orte voraus, die für sich genommen klassifiziert werden. Indikatoren dafür sind Veränderungen im Querschnitt, variierende Zuständigkeitsbereiche (verschiedene Straßenbehörden), baulicher Charakter, Raumnutzung und Fußgängeraufkommen der Straße.63 Straßenabschnitte mit hohem Verbindungsstatus und niedrigem Ortsstatus können Raum für den Durchgangsverkehr beanspruchen, während Straßen mit umgekehrter Klassifikation mehr Raum für Stadtaktivitäten erhalten können. Wenn beide Funktionen hoch sind, ist eine ausgeglichene Verteilung des Straßenraums notwendig. Wenn das nicht möglich ist, soll eine der beiden Funktionen herabgestuft werden.63 63

Abschlussbericht ARTISTS-Projekt. Appendix A: A procedure for street classification.

26


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

6 Umfassende Lösungskonzepte im Stadtgefüge Die vorab vorgestellten Lösungsansätze lassen sich nicht kategorisch in konventionelle und modernere Ansätze einteilen. Gleichwohl sind sie Bausteine, mit denen es die angewandte Verkehrsplanung versteht, städtische Nutzungskonflikte im Rahmen umfassender Lösungskonzepte zu lösen. Dafür kann zum einen der MIV geschwächt, zum anderen der NMIV gestärkt werden. Einige der folgenden Lösungskonzepte werden inzwischen in vielen europäischen Städten erprobt und angewendet, etwa die „klassische“ Fußgängerzone oder die City-Maut. Andere Prinzipien müssen sich in neuen, alternativen Lösungskonzepten erst bewähren.

6.1 Schwächung des MIV 6.1.1 Einfahrgebühr für Innenstädte – Die City-Maut Der Gedanke, Innenstädte mit einem Sperrgürtel zu versehen, der nur gegen ein Entgelt passiert werden darf, hat seinen Ursprung in der Wirtschaftstheorie. Demnach ist es sinnvoll, dass Straßenbenutzer die von ihnen verursachten externen Kosten (Emissionen von Schadstoff und Lärm, Flächenverbrauch, Stauwirkungen), durch die andere beeinträchtigt werden, mit einen monetären Beitrag ausgleichen. Dieser Beitrag sollte genauso hoch sein wie die Kosten, die durch einen Einzelnen verursacht werden. Soziale Effekte, wonach ärmere Personen benachteiligt werden, sollten durch eine Förderung von Gütern der Allgemeinheit, etwa dem öffentlichen Nahverkehr, mit Hilfe der entstehenden Einnahmen ausgeglichen werden. Die Einführung einer City-Maut sehen 19 % der EU-Bürger als notwendige Lösung für Umweltprobleme in Bezug auf den Verkehr (vgl. Abbildung 3).48 Kritik am Konzept bemängelt mitunter fehlende Kapazitäten des Nahverkehrs und Verdrängungseffekte des fließenden und ruhenden Kfz-Verkehrs in die angrenzenden Bezirke. Für die City-Maut in London wurden zur Einführung im Jahr 2003 die Ziele definiert, Stau zu reduzieren, das Busangebot und Reisezeiten für den Kfz-Verkehr zu verbessern sowie die Verteilung von Gütern und Dienstleistungen effizienter zu gestalten.64 Die Verkehrsnachfrage sollte sich besser auf den Tag verteilen, Stauwirkungen reduziert und die Infrastruktur effektiver genutzt werden. Durch die anvisierte Verringerung des Verkehrsaufkommens sollte sich zudem der Verkehrsfluss verbessern. Neben diesen unmittelbaren Effekten für den motorisierten Verkehr sollten sich Nebenwirkungen ergeben, vor allem eine Veränderung des Modal Splits, also eine stärkere Nutzung des öffentlichen Verkehrs, umweltfreundlicher Fahrzeuge, Fahr- und Motorräder sowie der eigenen Füße. 64

Transport for London: Central London Congestion Charging – Impacts monitoring – Sixth Annual Report, July 2008. Juli 2008. S. 1.

27


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Inwiefern diese Zielvorgaben im Allgemeinen mit dem Konzept einer City-Maut erreicht werden können, lässt sich gut am Londoner Beispiel nachvollziehen. Die dortigen Behörden haben die Auswirkungen der Maut mit einem Monitoring-Programm fünf Jahre lang verfolgt. Nach einem halben Jahr hatte sich der Verkehr in die Zone hinein um 60.000 Fahrzeuge verringert. Es wird davon ausgegangen, dass davon 50 bis 60 % auf den Nahverkehr umgestiegen sind. 20 bis 30 % haben die Zone gemieden und sind auf umliegende Bereiche ausgewichen (Verkehrsverlagerung). Die restlichen 15 bis 25 % haben Fahrgemeinschaften gebildet, haben generell weniger Fahrten unternommen (Verkehrsvermeidung), sind außerhalb der Mautzeiten gefahren oder sind verstärkt auf Fahrräder und Motorräder ausgewichen.65 Den Verdrängungseffekten vor allem im Bezug auf das Parken wurde vorgebeugt, indem schärfere Restriktionen durchgeführt und regelmäßig kontrollierte Parkzonen eingeführt wurden. Nach vier Jahren hat sich der Verkehr in den Kordon hinein um 30 % reduziert. Die Abnahme beträgt jedes Jahr kontinuierlich 5 bis 7 %, was Schlüsse nahelegt, wonach Personen langfristig ihren Wohnort oder ihren Lebensstil ändern.66 Das Aufkommen an Taxis, Bussen und Fahrrädern wuchs hingegen weiter stetig an. Das Aufkommen des Binnenverkehrs hat sich kaum verändert. Die Verkehrsverteilung über den Tag hat sich dagegen etwas ausgeglichen. Während der Verkehr innerhalb der Mautzeiten reduziert wurde (werktags 7 bis 18 Uhr), sind direkt davor und danach Verkehrsspitzen entstanden.66 Der Verkehrsfluss wurde anfangs deutlich verbessert, verschlechterte sich jedoch nach drei Jahren wieder auf das ursprüngliche Niveau. Gründe dafür sind vermutlich verschiedene Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit von Fußgängern und Fahrradfahrern, vor allem aber lang andauernde Straßenbauarbeiten. Ohne sichtbare Wirkung der City-Maut wurden Vorwürfe laut, das Konzept verfehle seinen Zweck.67 Dabei wird geschätzt, dass sich die Durchschnittsgeschwindigkeit ohne die City-Maut innerhalb dieser drei Jahre von 17 auf 11,5 km/h verschlechtert hätte.66 Eine Verbesserung der Luftqualität ist kein erklärtes Ziel der City-Maut – im Gegensatz zur Umweltzone (vgl. Abschnitt 6.1.2). Dennoch wurde eine deutliche Abnahme der Schadstoffe in der Luft registriert.68 Die zuständige Verkehrsbehörde Transport for London räumte jedoch ein, dass eine Reduktion der Schadstoffemissionen höchstens einmalig nach der Einführung der Maut eintreten würde.66 Eine unabhängige Studie des Health 65

Transport for London: Congestion Charging – 6 months on. 23. Oktober 2003.

66

Transport for London: Central London Congestion Charging – Impacts monitoring – Fifth Annual Report, July 2007. Juli 2007.

67

BBC News: Congestion charge ‚not working’. 23. November 2007. URL: http://news.bbc.co.uk/ 2/hi/uk_news/england/london/7109727.stm. Abgerufen am 30. August 2012

68

Transport for London: Central London Congestion Charging – Impacts monitoring – Fourth Annual Report, June 2006. Juni 2006.

28


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Effects Institute aus dem Jahr 2011 sieht zudem wenig Anhaltspunkte, dass die Maut die Luftqualität verbessert hat. Es sei schwierig, einen solchen Einfluss angesichts der Einflüsse regionaler Luftverschmutzungen und Wetterwechsel von einer räumlich begrenzten Maßnahme abzuleiten.69 Das Busangebot wurde mit Einführung der City-Maut verbessert. Neben zusätzlichen Fahrzeugen wurden Busrouten angepasst und erweitert. In Folge konnte die Anzahl der Wege pro Tag mit dem Bus von unter 90.000 auf 116.000 gesteigert werden. Die Benutzerzahlen für U-Bahn und Regionalbahn haben sich nur leicht bzw. gar nicht verändert.66 Die Verkehrsunfälle sind mit der City-Maut leicht zurückgegangen. Den größten Rückgang erfuhren Pkw und Motorräder, während Fahrräder sogar eine leichte Verschlechterung erlebten, was weitgehend dem erhöhten Modal Split zuzuschreiben ist.66 Vom allgemeinen Rückgang der Unfälle mit Körperverletzten sind schätzungsweise 40 bis 70 Vorfälle pro Jahr der City-Maut beizumessen.68

6.1.2 Umweltverträgliche Fahrzeugstandards – Die Umweltzone Ein anderer Ansatz, die Lebensqualität in den Städten zu erhöhen und die Wirkung des Kfz-Verkehrs zu mindern, ist die Verbesserung der Luftqualität. Vorgaben der Europäischen Union sehen die Erstellung von Luftreinhalteplänen oder Lärmaktionsplänen vor70 und definieren Grenzwerte, zu deren Einhaltung die Mitgliedsstaaten verpflichtet sind.71 In vielen Städten, wo die Grenzwerte überschritten werden, entstehen Umweltzonen, weil ein Großteil der Schadstoffemissionen dem Kfz-Verkehr zugerechnet wird.72 Fortan werden Kfz entsprechend ihrer Erfüllung der europäischen Abgasnormen73 mit Plaketten ausgestattet. In einem meist mehrstufigen Prozess werden Fahrzeuggruppen schrittweise ausgeschlossen, bis nur noch Fahrzeuge mit „grüner“ Plakette zugelassen sind. Laut Umweltbundesamt kann der Jahresmittelwert an Schadstoffen in der Luft bereits in der ersten Stufe, in der noch vergleichsweise viele Fahrzeuge zugelassen sind, um 2 % sinken. Das entspricht jährlich fünf Tagen, an denen die Grenzwerte nicht überschritten werden. In der letzten Stufe ist bereits eine Reduzierung um 10 % zu erwarten, das entspricht 25 Überschreitungstagen.72 Dennoch kommt es immer wieder zu Kritik, wonach Umweltzonen unwirksam seien. Die minimalen Effekte in Bezug auf die Luftqualität stün69

Green Car Congress: HEI study finds London Congestion Charging Scheme shows little evidence of improving air quality. 27. April 2011. URL: http://www.greencarcongress.com/2011/04/hei-study-finds-londoncongestion-charging-scheme-shows-little-evidence-of-improving-air-quality.html. Abgerufen am 30. August 2012.

70

Europäische (Umgebungslärm-)Richtlinie 2002/49/EG.

71

Europäische Richtlinien 96/62/EG, 1999/30/EG und 2008/50/EG.

72

73

Umweltbundesamt (UBA): Kurzinformation zum Thema „Umweltzonen in Deutschland“. Berlin, 2008. http://www.umweltbundesamt.de/umweltzonen/umweltzonen.pdf. Abgerufen am 31. August 2012.

Europäische Richtlinie 70/220/EWG und Verordnung 715/2007/EG (Euro 5, Euro 6).

29


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

den nicht im Verhältnis zum bürokratischen und technischen Aufwand. Der ADAC untersuchte drei Umweltzonen und verglich die Luftreinheit mit Referenzstädten in der Nähe.74 Die Städte mit den Umweltzonen schnitten dabei nicht besser ab als die Vergleichsstädte und die hohe Streuung (sowohl Zu- als auch Abnahmen) ließen keinen Trend erkennen. Scheinbar sind andere Einflüsse – etwa das Wetter – so dominant, dass mögliche Effekte überdeckt werden. Obwohl der Anteil des Kfz-Verkehrs am Feinstaub nur etwa 5 % beträgt und signifikante Schadstoffreduzierungen oftmals ausbleiben, ist eine Einführung von Umweltzonen aus gesundheitlicher jedoch Sicht sinnvoll. Autos produzieren den größten Anteil hoch toxischer Schadstoffe. Allein der Einsatz von Rußfiltern bei Dieselfahrzeugen bringt erhebliche Verbesserungen.75 Zusätzlich bewirken Umweltzonen ein geringeres Verkehrsaufkommen, sodass insgesamt weniger gesundheitsrelevanter Feinstaub eingeatmet wird, als die Messstationen vermuten lassen.75

6.1.3 Bepreisung von Stellflächen – Die Parkraumbewirtschaftung Der übermäßigen Inanspruchnahme von Flächen des Straßenraums durch den ruhenden Verkehr und den daraus resultierenden Nutzungskonflikten (vor allem durch illegales Parken) kann durch die Anwendung einer Parkraumbewirtschaftung Abhilfe geschaffen werden. In Gebieten, wo eine Anwendung sinnvoll ist, steht die hohe Nachfrage nach Parkraum einem zu geringen Angebot gegenüber. Dieser Umstand erzeugt einen starken Parksuchverkehr, dessen Umweltauswirkungen erheblich sind. Die Anzahl der zur Verfügung stehenden Stellflächen, also das Angebot, kann jedoch im verdichteten Innenstadtbereich nicht erhöht werden, was gesellschaftlich auch nicht vertretbar ist. Eine Verringerung der Stellplätze ist wegen des hohen Parkdrucks oftmals nicht möglich, obwohl sich 22 % der EU-Bürger dafür aussprechen (vgl. Abbildung 3),48 was der wahrgenommenen Präsenz der parkenden Autos im Stadtbild anzulasten ist. Die Reduzierung von Parkstände sollte, sofern möglich, Bestandteil einer Parkraumbewirtschaftung sein. Im Wesentlichen regelt die Parkraumbewirtschaftung jedoch die Nachfrage durch eine Bepreisung der Stellplätze – gestaffelt nach Nachfragedruck. Nachfragegruppen, die auf die Stellplätze nicht zwingend angewiesen sind, wie etwa Kunden und Beschäftigte, verlagern daraufhin ihren Verkehrsweg auf andere Verkehrsmittel (Verkehrsverlagerung). Der freigewordene Parkraum vermindert den Parksuchverkehr und Lärm- sowie Abgasbelastungen sinken. Zusätzlich können Geschäftstreibende, Anwohner und deren Besucher Dauervignetten zu vergünstigten Konditionen erhalten. Für den Lieferverkehr werden vor allem bei Nutzungscharakteristiken mit ausgeprägter Einzelhandelsnutzung vereinzelt 74

ADAC: Wirksamkeit von Umweltzonen. Juni 2009. URL: http://www.adac.de/_mmm/pdf/ umweltzonen_wirksamkeit_bericht_0609_43574.pdf. Abgerufen am 31. August 2012.

75

Wichmann, H.-E. (Helmholtz Zentrum München): Schützen Umweltzonen unsere Gesundheit oder sind sie unwirksam? Umweltmed Forsch Prax 13 (1) 2008. URL: http://www.helmholtz-muenchen.de/fileadmin/ EPI/PDF/Aktuelles/Newsletter/Umweltzonen_Gesundheit_Wichmann.pdf. Abgerufen am 31. August 2012.

30


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Ladezonen eingerichtet.76 In diesen Gebieten wird meist das Prinzip des Kurzparkens angewendet, damit kurze Erledigungen getätigt werden können. Dabei wird die Höchstparkdauer auf zum Beispiel 15 Minuten oder 2 Stunden festgesetzt, um den Umschlagsgrad der Parkflächen zu verbessern (Parkplatzrotation). Andere Formen sind das Mischund das Bewohnerparken. Das Bewohnerparken findet vor allem in Gebieten mit verdichteter Wohnnutzung mit angrenzenden Arbeitsplatzkonzentrationen oder anderen besucherintensiven Nutzungen Anwendung.76 Das Mischparken sollte generell in Gebieten mit hoher Nutzungsdichte und hohem Parkdruck eingeführt werden. Eine besondere Form der Parkraumbewirtschaftung ist die Parkverbotszone, in der das Parken generell verboten ist (außer in besonders gekennzeichneten Bereichen, die in der Regel kostenpflichtig sind). Die Ziele der Parkraumbewirtschaftung sind vor allem die Verkehrsverlagerung von Berufspendlern, eine Verringerung des Parkdrucks, erhöhte Parkchancen für Bewohner und Kurzzeitparker und eine Verringerung des Parksuchverkehrs.76 Davon abgeleitete Ziele sind geringere Umweltbelastungen, weniger Fahrten mit dem MIV (und mehr Fahrten mit dem ÖPNV) und die Senkung der ordnungswidrigen Flächenbenutzung. Damit geht auch die Verbesserung der Verkehrssicherheit einher, indem etwa Kreuzungsbereiche nicht durch parkende Fahrzeuge verstellt werden und somit die Sichtbeziehungen gewahrt bleiben. Ein besonderes Augenmerk gilt dem Kurier- und Lieferverkehr, für die ein Kurzparken meist nicht ausreichend ist. In Deutschland darf in eigens eingerichteten Ladezonen, etwa in Form eingeschränkter Halteverbote, nur zum Be- und Entladen oder Ein- und Aussteigen und höchstens drei Minuten gehalten werden.77

6.1.4 Verkehrsführungen wider den Durchgangsverkehr Nach dem Eurobarometer sprechen sich 43 % der EU-Bürger dafür aus, Autoverkehr generell zu verringern (vgl. Abbildung 3).48 Ein Ansatz dafür ist, den Durchgangsverkehr zu unterdrücken, indem Verkehrsregelungen die Verkehrsführung so organisieren, dass innerstädtische Bereiche nicht mehr adäquat durchquert werden können. Dies hat eine erhebliche Reduzierung des Verkehrsaufkommens zur Folge – der Verkehr verpufft (Evaporation, vgl. Abschnitt 5.4.1). Durch ein System aus eingeschränkt befahrbaren Zufahrten und Straßen (die nur für ÖPNV, Taxis und Fahrräder freigegeben sind), Durchfahrtssperren, Abbiegeverboten und Einbahnstraßen kann gewährleistet werden, dass es nur für den Zielverkehr des MIV sinnvoll ist, die Innenstadt zu befahren (vgl. Abbildung 8).78 Einige Straßen können generell nur für den ÖPNV freigegeben werden. Andere können wie76

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin: Leitfaden Parkraumbewirtschaftung. Berlin, 2004. S. 8. URL: http://www.stadtentwicklung.berlin.de/verkehr/politik_planung/strassen_kfz/parkraum/download/ leitfaden_parkraumbewirtschaftung.pdf. Abgerufen am 1. September 2012.

77

StVO, Anlage 2: Vorschriftszeichen. Nr. 63, Zeichen 286 „Eingeschränktes Halteverbot“.

78

Europäische Kommission, 2004. Case study 7, Cambridge, England; Case study 8, Oxford, England. S. 42ff.

31


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

derum dem Fußgängerverkehr vorbehalten sein, entweder unter Zulassung des ÖPNV oder als reine Fußgängerbereiche. Denkbar sind auch Fußgängerbereiche, die das Befahren von Kfz generell zulassen, aber zeitlich einschränken, etwa werktags von 10 bis 16 Uhr. Umfahrungsmöglichkeiten führen den Durchgangsverkehr um die Innenstadt herum (Verkehrsverlagerung). Das Konzept hat den Vorteil, dass die Erschließung mit dem Kfz gewährleistet wird, gleichzeitig aber eine erhebliche Steigerung der Aufenthaltsqualität zu erwarten ist. Abbildung 8: Verkehrsführung im Stadtzentrum von Cambridge

QUELLE: Europäische Kommission: Reclaiming city streets for people – Chaos or quality life? Luxemburg 2004. S. 43.

Das Beispiel zeigt die überarbeitete Verkehrsführung in der Altstadt von Cambridge. Die Stadt litt unter stetigen verkehrlichen Überlastungen. Der Nahverkehr hatte unter Verspätungen zu leiden. Die europäischen Richtwerte für Stickstoffdioxid wurden an 24 von 27 Messstellen überschritten. Prognosen gingen dazu bis 2016 von einer Steigerung des Verkehrsaufkommens um 27 bis 48 % aus.78 Neben der Reurbanisierung der Innenstadt sollten vor allem der öffentliche Verkehr, das Zufußgehen und Fahrradfahren an Popularität gewinnen. Begleitende Maßnahmen wurden initiiert, etwa die Erhöhung der Parkticketpreise: Zwei Stunden Parken wurden teurer als ein Park-and-Ride-Ticket für den ÖPNV („Peitsche“), während die Bedingungen und Anreize für die anderen Verkehrsarten immer weiter verbessert wurden („Zuckerbrot“).78 Bereits 1997 wurde die zentrale Verkehrsstraße, die Bridge Street, probeweise 18 Monate für den Durchgangsverkehr gesperrt. Davon waren etwa 9.000 Fahrzeuge pro Tag betroffen.78 Opposition gegen das Projekt wurde laut, die Staus in den benachbarten Straßen fürchtete und den eingeschränkten Zugang zur Innenstadt generell bemängelte, vor allem 32


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

in Bezug auf den Einzelhandel. Eine umfangreiche Untersuchung konnte diese Bedenken nicht bekräftigen, sodass die Sperrung nach der Testphase permanent wurde. Zwei Jahre später folgte die Sperrung der Emmanuel Road und die heutige Verkehrsführung wurde komplettiert. Das Modellprojekt aus Cambridge lässt sich auf die Methodik der ARTISTS-StraßenKlassifikation übertragen (vgl. Abschnitt 5.5). Demnach gab es für die Innenstadt von Cambridge sowohl einen hohen Verbindungsstatus als auch einen hohen Status des Ortes. Um diesen Konflikt zu lösen, wurde der Verbindungsstatus der Straßen im Innenstadtbereich herabgestuft, von denen die Bridge Street und die Emmanuel Road die bedeutendsten ist. Hier sind die größten Wirkungen zu erwarten. Abbildung 9: Veränderte Straßen-Klassifikation der Innenstadt von Cambridge

QUELLE: Eigene Darstellung.

Das Verkehrsaufkommen wurde in beiden Straßen erheblich reduziert. In der Bridge Street verkehrten 85 %, in der Emmanuel Road 78 % weniger Fahrzeuge. Die Verkehrsbelastung über den Fluss Cam ist um 6.000 Fahrzeuge täglich zurückgegangen. In Oxford, wo ein vergleichbares Projekt durchgeführt wurde, gingen die Verkehrsbelastungen ebenfalls deutlich zurück, während in den umliegenden Straßen kein Anstieg des Verkehrsaufkommens registriert wurde.79 Eine Untersuchung der Auswirkungen auf den ÖPNV hat gezeigt, dass in Oxford 8 bis 9 % mehr Fahrgäste den Bus nutzen, das sind 2.000 Personen.78 Der Modal Split hat sich deutlich zugunsten des Busverkehrs verschoben: Vor den Maßnahme lag der Pkw-Benutzungsgrad bei 54 %, der Busanteil bei 27 %. Danach wurde nur noch für 39 % der Wege das Auto benutzt, während nun 44 % der Verkehrsteilnehmer den Bus nutzten.78 Damit einher geht die stärkere Benutzung der Park-and-Ride-Anlagen. Das Verkehrsaufkommen der Fußgänger in den zentralen Bereichen hat ebenso zugenommen; Verkehrszählungen bezeugen 8,5 % mehr Passanten, das entspricht einem Anstieg um 6.000 Personen.78

79

Oxfordshire County Council Environmental Services: Review of impact of the central area changes. 27. Juli 2001.

33


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Ferner sind in Bezug auf die Luftqualität Verbesserungen eingetreten. Die Luftbelastung hat sich zwischen 1997 und 1999 entweder verbessert oder ist konstant geblieben. Es wird geschätzt, dass die Feinstaubbelastungen um 5 % zurückgegangen sind und dieser Rückgang der neuen Verkehrsführung zuzuschreiben ist.78 In Oxford ging die Feinstaubbelastung in den verkehrsberuhigten Bereichen bereits drei Wochen nach Inkrafttreten der Maßnahme um 25 % zurück – die Belastungen durch Kohlenstoffmonoxid um sogar 75 %. Zudem wurde überall in der Stadt weniger Stickstoffdioxid gemessen.78

6.1.5 Flächen des Kfz-Verkehrs zugunsten des ÖPNV reduzieren Die Eigenschaft des Kfz-Verkehrs, große Flächen zu beanspruchen und enorme Umweltwirkungen zu erzeugen legt den Schluss nahe, dass seine Flächen vorrangig in Bereiche für den öffentlichen Verkehr umgewandelt werden sollten. Die damit einhergehende Verbesserung des Nahverkehrsangebots entspricht dem Wunsch von 69 % der EU-Bürger (vgl. Abbildung 3) und ist damit das Konzept, das am meisten Zuspruch findet.48 Tatsächlich wird ein Rückbau von Flächen des Kfz-Verkehrs zugunsten des ÖPNV vielerorts mit Konsequenz durchgeführt, meist auf Grundlage von Nahverkehrsplänen, die eine Anreizsteigerung des Nahverkehrs fokussieren. Damit wird eine Verkehrsverlagerung (modal shift) vom MIV auf den ÖPNV regelrecht erzwungen. Auch hier wird das Prinzip der Evaporation angewendet und die Erfahrungen zeigen, dass kein Verkehrschaos eintritt.56 In Straßburg wurden Flächen des Kfz-Verkehrs für den Bau einer Straßenbahnlinie reduziert, die nun die Fußgängerbereiche erschließt. Abbildung 10: Reallokation von Straßenraum für die Straßenbahn in Straßburg

QUELLE: Google Street View. Rue du Noyer in Straßburg. Aufnahmedatum: August 2008.

Besonders deutlich wird das Prinzip in London am Verkehrsknotenpunkt Vauxhall. Der dortige Knotenpunkt befindet sich im südlichen Teil des Londoner City-Maut-Bereichs und war vor der Umgestaltung sechsarmig. Er war einer der am stärksten belasteten Knoten34


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

punkte in London mit 9.000 bis 10.000 Fahrzeugen täglich.80 Außerdem befindet sich hier ein wichtiger Nahverkehrsumsteigepunkt für Bus, U-Bahn, den Regional- und den Fernverkehr. Die Vernetzung der Verkehrsträger war jedoch bis dato nicht im Sinne der Bedeutung des Knotenpunkts. Umsteigewege wurden über Umwege und zum Teil über den stark frequentierten Knotenpunkt geführt. Um die Situation zu verbessern, sollten die Flächen des Kfz-Verkehrs um 20 % reduziert werden, um Platz für ein neues Busterminal direkt vor dem Bahnhofsgebäude zu schaffen. Sowohl von planerischer Seite als auch von den Medien wurden Bedenken geäußert, wonach die Maßnahme eine deutliche Verschlechterung der Verkehrsqualität zur Folge hätte und den Busverkehr selbst ausbremsen würde. Verkehrssimulationen prophezeiten eine drastische Erhöhung der Staulängen um 267 %.80 Einzig die Rückendeckung der Politik war konstant vorhanden. Um die Bedenken zu zerstreuen, wurde die Verkehrskapazität vor der eigentlichen Maßnahme durch veränderte Verkehrsführung und Ampelsteuerung künstlich um 15 % verringert. Die Maßnahme selbst würde eine Reduzierung um 20 % bedeuten. In Folge des Experiments wurden keine signifikanten Stauungen und keine Störungen in den umliegenden Straßen festgestellt. Allerdings wurde in den Spitzenzeiten 2 bis 8 % weniger Verkehr gemessen und die auftretenden Staus waren kürzer als davor.80 Somit konnte die Maßnahme umgesetzt werden. Neben der Errichtung des Terminals wurden auch Anlagen für den Fahrradverkehr und sichere Übergänge für Fußgänger eingerichtet. Während die Vorteile für die Umsteigebeziehungen unverkennbar sind, lässt sich nur schwer einschätzen, wie viel Kfz-Verkehr im Nachhinein tatsächlich evaporiert ist. Die Routenentscheidungen liegen zum Teil in anderen Stadtteilen und die Umlegung des Verkehrs verteilt sich auf das gesamte Straßennetz. Allerdings zeigt das Beispiel, dass eine Abweichung von der herkömmlichen Herangehensweise zur Lösung komplexer innerstädtischer Nutzungskonflikte führen kann, ohne dass größere Kompromisse eingegangen werden müssen. Ein anderes Beispiel für die Erhöhung der Attraktivität des ÖPNV und des Stadtraums zuungunsten von Flächen des Autoverkehrs findet sich aktuell in Freiburg. Ende der 1990er Jahre wurde ein Teil der Ringstraße von vier auf zwei Fahrbahnen reduziert und die freigewordenen Flächen zur Busspur umgewidmet.56 Nun folgt ein umfangreiches Maßnahmenpaket, deren Herzstück die fußgänger- und nahverkehrsfreundliche Umgestaltung des Platzes der Alten Synagoge ist (vgl. Abbildung 11).81 Dafür wird die Ringstraße komplett unterbrochen. Entsprechende Ausweichkapazitäten werden geschaffen.

80

Europäische Kommission, 2004. Case Study 3, Vauxhall Cross, London, England. S. 28f.

81

Stadt Freiburg im Breisgau: Umgestaltung von Kronenstraße, Werthmannstraße, Rotteck- und Friedrichring mit Stadtbahn. URL: http://www.freiburg.de/pb/,Lde/231769.html. Abgerufen am 5. September 2012.

35


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Abbildung 11: Neugestaltung des Platzes der Alten Synagoge in Freiburg

QUELLE: Stadt Freiburg im Breisgau: Visualisierung Platz der Alten Synagoge – Vogelperspektive. Blick vom Regierungspräsidium. URL: http://www.freiburg.de/pb/,Lde/ 231789.html. Abgerufen am 5. September 2012.

Wie in Straßburg wird der neue Raum für den Bau einer Straßenbahnlinie verwendet, nur dass der Kfz-Verkehr hier ausgeschlossen wird. Die Straßenbahn wird den neuen, 350 Meter langen Fußgängerbereich auf einer abgesetzten „Fahrbahn“ durchqueren. Dieser Fahrbereich darf weiterhin auch vom Lieferverkehr genutzt werden. Die Zufahrten zu den Stellplätzen sind für Anlieger erreichbar. Die neue Straßengestaltung fügt sich ein in das Ensemble der großen öffentlichen Gebäude von Theater und Universität und lässt einen neuen Stadtplatzcharakter entstehen (vgl. auch Abschnitt 6.2.3). Auch hier lässt sich die Methodik des ARTISTS-Projekts anwenden (vgl. Abschnitt 5.5): Der Verbindungsstatus des Standorts wurde zurückgesetzt und der städtebauliche Status gesteigert.

6.2 Stärkung des NMIV 6.2.1 Klassische Fußgängerzone Die Fußgängerzone im klassischen Sinne beschreibt eine Verkehrsfläche, welche dem Fußgängerverkehr vorbehalten ist. Andere Verkehrsteilnehmer sind nur durch Ausnahmeregelungen zugelassen.82 Eine zeitweilige Aufhebung der Zufahrtsbeschränkung betrifft in erster Linie Versorgungsfahrzeuge, Lieferfahrzeuge und Fahrräder. Diese Verkehrsteilnehmer haben dem Fußgängerverkehr Vorrang einzuräumen und sich seiner Geschwindigkeit anzupassen.83 Die Straßenraumgestaltung ist auf die Bedürfnisse des 82

Vgl. § 76a StVO „Fußgängerzone“.

83

Höfler, F.: Verkehrswesen-Praxis, Band 1: Verkehrsplanung. Bauwerk. Berlin, 2004. S. 233ff.

36


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Fußgängerverkehrs abgestimmt. Dies spiegelt sich in der Wahl der Beläge und der Straßenmöblierung mit Bänken, Beleuchtung, Brunnen und Bäumen wider. Die gestalterische Wirkung zeugt weniger von einem fortbewegenden, verkehrlichen Charakter, denn von einer Aufenthaltssituation. Geschäfte, Restaurants und Cafés öffnen sich zur Straße hin und laden zum Verweilen ein. Dennoch waren Fußgängerzonen in der beschriebenen Form – die mittlerweile in zahlreichen größeren und kleineren europäischen Städten Anwendung gefunden hat – ursprünglich Bestandteil autogerechter Stadtplanung. Verkörperten sie doch die Organisation der Verkehre nach dem Trennungsprinzip schlechthin.84 Fahrräder werden oftmals kategorisch ausgeschlossen und die Einhaltung des Verbots wird selbst nachts scharf kontrolliert, etwa in München.85 Andernorts sind Fahrräder zwar zugelassen oder werden im Probebetrieb getestet, bleiben jedoch im für Fußgänger gestalteten Straßenraum ein Fremdkörper. Umgekehrt ist die vorgeschriebene Schrittgeschwindigkeit für Fahrräder nicht kompatibel; es entsteht ein Unfallpotential. Während es im Begegnungsfall Fußgänger – Fahrrad meist bei Beinaheunfällen bleibt, fühlen sich vor allem ältere Personen verunsichert und gefährdet. Partiell zugelassener Lieferverkehr birgt ebenfalls das Risiko schwerwiegender Unfälle – auch in Verbindung mit Fußgängern.86 Der Fahrradverkehr wird aus diesem Grund in der Regel aus der Fußgängerzone verbannt, doch die Geschäfte sind vom Lieferverkehr abhängig. Der Zwist wird meist durch zeitliche Zulassungsbeschränkungen gelöst. Ein Zusatzschild regelt, dass Fußgängerzonen nur in den Randzeiten vom Lieferverkehr befahren werden dürfen. Die Straßenreinigung verkehrt ebenfalls in den schwach frequentierten Zeiten vor oder nach den Geschäftszeiten. Doch selbst mit diesen Kompromissen ist die Fußgängerzone nach wie vor ein Erfolgsmodell. In größeren Kommunen haben sie sich als zentrale Orte öffentlichen Lebens erhalten,87 sodass sich 46 % der EU-Bürger dafür aussprechen, weitere Fußgängerbereiche einzurichten (vgl. Abbildung 3).48 Doch das Konzept bröckelt und ist in mittleren und kleinen Städten zusehends geschwächt.87 In den Außenbereichen der Städte entstehen immer häufiger großflächiger Einzelhandel und ausgedehnte Einkaufszentren mit einer sehr guten Erreichbarkeit und einem hohen Flächenangebot zu niedrigen Grundstückspreisen. Diese Einkaufsmöglichkeiten in der Peripherie sind zunehmend eine Konkurrenz für Fuß-

84

Schmucki, B.: Stadt-(r)und-Fahrt gegen Verkehrsinfarkt: Motorisierung und urbaner Raum. In: Von Saldern, A.: Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchzeiten. Franz Steiner. 2006. S. 313.

85

Süddeutsche Zeitung Magazin: Das Auslaufmodell. Heft 50/2009. Autor: Peter Praschl.

86

ADFC Landesverband Nordrhein-Westfalen e.V.: Radfahren in Fußgängerzonen. 15. August 2012. URL: http://www.adfc-nrw.de/willkommen-beim-adfc-nrw/newsbeitrag/article/348/radfahren-infussgaengerzonen.html. Abgerufen am 30. August 2012.

87

Westdeutsche Allgemeine Zeitung: Fußgängerzone – ein Auslaufmodell? 15. Oktober 2010. Autor: Hubert Wolf. URL: http://www.derwesten.de/region/rhein_ruhr/fussgaengerzone-ein-auslaufmodellid3836164.html. Abgerufen am 30. August 2012.

37


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

gängerzonen.88 Vielerorts bestehen Überlegungen, Fußgängerzonen in verkehrsberuhigte Straßen umzuwandeln, um Kaufkraft zu gewinnen. Betroffen sind vor allem kleinere Städte, in denen sich die großen Einkaufsmagneten nicht ansiedeln oder aus denen sie abwandern.87 Ein Ansatz muss sein, die Fußgängerbereiche von ihrem Dogma der Konsumparadiese zu befreien und sie stattdessen als lebenswerte und stadtverträgliche Zentren zu etablieren. Die Innenstädte sind vor allem dann zukunftsfähig, wenn sie wandlungsfähig bleiben.88 Zusätzlich entstand nun eine Diskussion in Bezug auf den öffentlichen Raum. Aufenthaltsqualität und städtische Lebendigkeit ließen sich in Fußgängerzonen vor allem vormittags und in den Abendstunden nach Ladenschluss nur schwerlich finden und die Bereiche veröden. Es würden Sammelpunkte für „Problemgruppen“ entstehen, die im Kontrast zur Vorstellung von Urbanität in Form von Cafés etc. stünden.88 Themen wie Kriminalität, Sicherheit und Überwachung gerieten in den Fokus und Forderungen nach verstärkten Kontrollmaßnahmen wurden laut.89 Daraus resultieren stark reglementierte Bereiche, in denen alle Randerscheinungen, die den Straßenraum mit Leben füllen (Straßenmusiker, Kunstprojekte, Alkoholgenuss) zu Sondernutzungen avancieren oder verboten sind. In der Folge weichen diese Nutzungen auf andere Orte aus und die Fußgängerzone wird „zahm, so eintönig, so leblos“.85 Es besteht der Vorwurf, dass die Stadtplanung nur Angebote für den öffentlichen Raum bereitstellt, nicht aber die Akzeptanz von Aneignungs- und Nutzungsoptionen mit einbezieht.88 Andererseits sind einige Fußgängerzonen in Spitzenzeiten, vor allem in Form von „Einkaufsstraßen“, überlaufen und schnelllebig, sodass kaum Gelegenheit zu Langsamkeit und Aufenthalt besteht.85 Flächige Fußgängerzonen wie in Kopenhagen können das Fußgängeraufkommen besser verteilen und bieten Nischen für kleinere Läden, die sich die Ladenmieten im zentralen Innenstadtbereich nicht leisten können. Die Nutzungsqualität von Fußgängerzonen ist stark von den städtebaulichen Rahmenbedingungen abhängig, etwa der Lage zu großen Verkehrsstraßen und der Abschirmung sensibler Bereiche von Lärm und Emissionen, die nur teilweise beeinflussbar sind. Eine Verbesserung der Nutzungsqualität im Sinne einer Fußgängerzone erfordert meist einen hohen finanziellen Aufwand, der von der öffentlichen Hand nur selten gewährleistet werden kann.88 Dann müssen andere Konzepte gewählt werden, zum Beispiel eine Minderung des Durchgangsverkehrs (vgl. Abschnitt 6.1.4).

88

Schubert, D.: Die Fußgängerzone – Auslaufmodell oder Beitrag zur Renaissance europäischer Stadtkultur? In: Institut für Stadt- und Regionalplanung, TU Berlin (Hrsg.): Stadterneuerung – Aufwertung im Stadtumbau. Berlin, 2008. S. 33ff.

89

Wehrheim, J.: Die überwachte Stadt. Sicherheit, Segregation und Ausgrenzung. Budrich. 2. Auflage. Dezember 2005.

38


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

6.2.2 Fußgängerbereiche mit ÖPNV und Fahrrädern Der Gedanke einer Betrachtung von Fußgängerbereichen unter Einbeziehung ganzer Innenstädte und einer Integration des Nah- und Fahrradverkehrs führt zum Konzept „modernerer“ Fußgängerzonen. Die erwähnten Beispiele aus Straßburg und Freiburg (vgl. Abschnitt 6.1.5) zeigen, dass Fußgängerzonen und Nahverkehr sich nicht ausschließen müssen. Entgegen der allgemeinen Vorstellung verlieren Straßenbahnen in solchen Bereichen ihre Dominanz, weil sie in die Straßengestaltung integriert sind und von den Fußgängern dementsprechend beachtet werden. Für Busse gilt das adäquat. Wenn es gelingt, den Nahverkehr in diesen autofreien Bereichen zu etablieren, wäre das Problem der Erschließung von „klassischen“ Fußgängerzonen um einiges entschärft. Für das Fahrrad gilt: Sofern die Flächen der Fußgängerbereiche genügend Ausweichmöglichkeiten bieten und der Fahrradverkehr in die Gestaltung integriert wird, etwa mit eigenen Fahrbereichen, spricht nichts dagegen, ihn auszuschließen. Dieser Ansatz ist sinnvoller, als durch ein Verbot Konflikte zu provozieren. In Berlin wird wie zum Trotz der Europaradweg R1 über den Alexanderplatz geführt.90 Der Fahrradweg ist vom übrigen Fußgängerbereich mit kleinen Metallnieten abgegrenzt und teilweise durch gleiche Pflasterung in die Straßengestaltung integriert. In anderen Bereichen ist der Fahrradweg mit Asphalt und Pollern abgesetzt und mit Pfeilen markiert. Der Fahrradverkehr und seine Stellung ist in beiden Fällen für den Fußgänger gut wahrnehmbar: Im ersten Fall ist der Fahrradfahrer ein gleichberechtigter Verkehrsteilnehmer mit eigenen Schutzbereich. Im zweiten Fall ist der Fahrradverkehr ein schnellerer Verkehrsteilnehmer und Fußgänger erhalten Schutzbereiche. Nach diesem Prinzip der Schutzbereiche funktionieren auch Begegnungszonen (vgl. Abschnitt 6.2.4), in denen selbst Autos mit Fußgängern harmonieren. Die Stadt Gent in Belgien ist ein gutes Beispiel für Städte mit autofreien Innenstädten, in denen aber ÖPNV und Fahrräder zugelassen sind. Die Stadt nahm am EU-Programm CIVITAS ELAN teil, dessen Ziel die Implementierung einer nachhaltigen Mobilität war.91 Die Innenstadt von Gent war bis Mitte der 1990er Jahre stark durch Ein- und Ausfallverkehre belastet. 1993 wurde eine Fahrradstrategie ins Leben gerufen, die eine Fahrradkultur als Gegengewicht zum Autoverkehr etablieren sollte. Neben der Verbesserung der Infrastruktur, vornehmlich in die City hinein, und der Vorbeugung von Diebstählen war vor allem die Einrichtung einer Fahrradabteilung in der Stadtverwaltung maßgebend.92 90

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung: Radrouten – Europaradweg R1 (West) – Etappe durch Mitte. URL: http://www.stadtentwicklung.berlin.de/verkehr/mobil/fahrrad/radrouten/de/europaradweg_west/ etappe_05.shtml. Abgerufen am 6. September 2012.

91

CIVITAS: Projekt CIVITAS ELAN. URL: http://www.civitas-initiative.eu/index.php?id=70& sel_menu=6&proj_id=10. Abgerufen am 11. September 2012.

92

CIVITAS: Demonstration City Gent. URL: http://www.civitas-initiative.eu/index.php?id=66& sel_menu=35&city_id=88. Abgerufen am 11. September 2012.

39


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

1997 folgte der erste Mobilitätsplan. Statt sich für die Verkehrsberuhigung der Innenstadt etwa für eine City-Maut zu entscheiden, wurde im Plan die Einrichtung einer Fußgängerzone favorisiert, wie für kleinere Städte üblicher. Um die Zone herum wurden für jede Richtung sogenannte „Parkrouten“ festgelegt, mit denen die umliegenden Stellplätze und Tiefgaragen – mit Hilfe eines Parkleitsystems – leicht erreicht werden konnten.93 Damit war auch die Intermodalität zum ÖPNV und zum Fußgängerverkehr sichergestellt. Der Einhaltung der Parkverbote wurde besondere Aufmerksamkeit zuteil. Zwischen den Parkrouten und der Fußgängerzone wurde die Geschwindigkeit auf 30 km/h herabgesetzt. Weiterhin wurden Straßen und Plätze attraktiver gestaltet.93 Im Nachhinein scheint der Autoverkehr auch hier evaporiert, also verschwunden zu sein. In den umliegenden Straßen wurde nur eine leichte Erhöhung der Verkehrsbelastungen beobachtet, die zu den Stauungen zuvor kaum eine Verschlechterung darstellt. Die Benutzung des öffentlichen Verkehrs erfuhr in den ersten zwei Jahren eine Steigerung um 3 bis 5 %, das entspricht 3.000 bis 5.000 mehr Fahrten pro Tag.93 Dadurch, dass Busse und Straßenbahnen 80 % ihrer Wege in die Stadt hinein in eigenen Bereichen zurücklegen, hat sich die Verkehrsqualität erheblich verbessert. Außerdem konnte die Qualität durch Vermeidung illegal abgestellter Fahrzeuge und Verringerung von Verkehrsstaus verbessert werden. Das Aufkommen des Fahrradverkehrs hat sich wie erhofft verbessert. Die Unfälle mit Fahrrädern haben sich um etwa 30 % verringert.93 In Nürnberg erfuhr die Innenstadt zwischen 1988 und 1989 einen vorbildlichen Prozess der Qualitätssteigerung, indem nach und nach immer mehr Bereiche für den Autoverkehr gesperrt werden. Fahrräder und partiell Busverkehr sind zugelassen. Abbildung 12: Fußgängerzone in Nürnberg mit Bus- und Lieferverkehr

QUELLE: Google Street View. Hauptmarkt/Schulgäßchen in Nürnberg. Aufnahmedatum: August 2008. 93

Europäische Kommission, 2004. S. 39f.

40


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Im weit ausgedehnten Fußgängerbereich wurde der Konflikt zwischen Fußgängern und dem Lieferverkehr mit Hauptversorgungsrouten gelöst.94 Abseits dieser Routen ist Lieferverkehr nur mit Ausnahmen zugelassen. Zusätzlich existieren Zeitrestriktionen: Die Zufahrt zum Marktplatz ist werktags von 5 bis 10 Uhr und 13 bis 21 Uhr und die Befahrung der gesamten Zone nur von 18.30 bis 10.30 Uhr gestattet. Interessanterweise wurde die Umwandlung der Innenstadt in eine Fußgängerzone ursprünglich aus dem Grund vollzogen, die Luftqualität zu verbessern.94 Dementsprechend wurden dazu umfangreiche Untersuchungen durchgeführt. Bereits ein Jahr nach der Verkehrsberuhigung verbesserte sich das Niveau an Stickstoffdioxid (NO2) im historischen Innenstadtbereich um 30 %. Die Belastungen durch Kohlenstoffmonoxid und Feinstaub gingen um 15 % zurück. Vor der Fußgängerzone betrugen die NO2-Emmissionen über der Innenstadt bis zu 80 μg/m3 und fielen in Richtung der Außenbezirke auf 35 bis 40 μg/m3 ab. Nach der Verkehrsberuhigung reduzierte sich der NO2-Anteil in der Altstadt auf das Niveau der Außenbezirke (vgl. Abbildung 13). Obwohl die Verbesserungen den Einflüssen verbesserter Fahrzeugtechnologien, geringerer Emissionen durch EU-Richtlinien, verringerten Tempolimits und einer Veränderung des Modal Split unterliegen, ist der Einfluss der Fußgängerzone unverkennbar. Abbildung 13: Typologie der Belastungen an NO2 in Nürnberg vorher und nachher

QUELLE: Europäische Kommission: Reclaiming city streets for people – Chaos or quality life? Luxemburg 2004. S. 34.

94

Europäische Kommission, 2004. S. 31f.

41


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

6.2.3 Autofreie Stadtplätze als Identitätsobjekte Die meisten der bisher vorgestellten Lösungsansätze und -konzepte beabsichtigen, neben den anderen Zielen, den Städten (wieder) ein Gesicht zu geben. Die allgegenwärtige Präsenz von Fahrzeugen, etwa am Place de la Concorde in Paris, und seine beschriebenen Auswirkungen aber auch austauschbare Fußgängerzonen haben den Städten teilweise ihre Identität genommen. Mit den Maßnahmen soll diese Identität wiedererlangt werden. Es soll ein Ort geschaffen werden, der von Urbanität geprägt ist – nicht von Verkehr. Besonders exponierte Stadtbereiche, vor allem zentrale Plätze, bieten dafür enormes Potenzial. In vielen Städten wurden Stadtplätze vom Autoverkehr befreit, die nun Orte der Kommunikation und der Begegnung sind, etwa der Trafalgar Square in London. Dort wurde eine der am stärksten befahrenen Straßen Londons zwischen dem Platz und der National Gallery im Jahr 2003 in den Platz integriert, sodass ein völlig neues Platzgefühl entstand. Abbildung 14: Trafalgar Square nach der Umgestaltung der North Terrace

QUELLE: Forster+Partners: Trafalgar Square Redevelopment. URL: http://www.fosterandpartners.com/Projects/1046/Default.aspx

In der britischen Hauptstadt hat die Etablierung der City-Maut den Weg geebnet für weitergehende Überlegungen für mehr Nachhaltigkeit im Stadtverkehr. Die ambitionierte Initiative „World Squares for All“ wurde ins Leben gerufen, die den Raum zwischen Trafalgar Square und Parliament Square betrachtete.95 Dabei wurde eine fußgängerfreundliche und hochqualitative urbane Umgebung – vor allem für die Plätze selbst – sowie ein verbessertes Verkehrsmanagement fokussiert. Insbesondere der Trafalgar Square hatte durch den Autoverkehr erheblich an Qualität verloren. Der Platz geriet zu einem großen, hochbelas95

English Heritage: Capital Spaces transforming London. London, 2005. S. 19.

42


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

teten Kreisverkehr. Pro Stunde verkehrten hier bis zu 1.500 Fahrzeuge.96 Der nördliche Teil, die North Terrace, war ein Abschnitt der nationalen Route A4, die London und Bristol miteinander verbindet.97 Die Wegebeziehungen zwischen den Sehenswürdigkeiten in der Umgebung konnten nur mit Schwierigkeiten oder über Umwege wahrgenommen werden. Der Platz war von der Stadt isoliert und befand sich in einer Insellage. Mit der Unterbrechung des Verkehrs nördlich des Platzes wurde eine Art „Piazza“ mit einer großen Freitreppe errichtet. Nach der ARTISTS-Methodik wurde die North Terrace von einer Straße vom Typ „Ia“ herabgestuft zum Typ „Va“ (vgl. Abbildung 7). Der Verbindungsstatus sowie der Status des Ortes waren sehr hoch, sodass der Verbindungsstatus der Straße radikal herabgesetzt wurde. Ergänzend wurde in den umliegenden Straßen die Kapazität reduziert. Maßnahmen in der näheren Umgebung sollten die Verkehrsbelastung des Platzes zusätzlich vermindern. Dazu gehören vor allem die Einrichtung von Busspuren und gesicherter Fußgängerüberwege zur Verbesserung der Querungs- und Wartezeiten.97 Mit einem kleinen Kreisverkehr im Süden des Platzes wurden der Verkehrsfluss und die Querbarkeit für Fußgänger zusätzlich verbessert.96 Die gemessenen Effekte waren ebenso deutlich wie die direkt wahrnehmbaren. Morgens und abends hat sich das Verkehrsaufkommen um 40 % reduziert.97 Somit kann auch hier von einer Evaporation bzw. einer Verkehrsverlagerung gesprochen werden. Zum Teil wird die Abnahme des Verkehrs jedoch den Auswirkungen der City-Maut zugeschrieben. Hier wird deutlich, dass verschiedene Maßnahmen ineinander greifen können und sollten. Die Verbesserungen für den Fußgängerverkehr manifestieren sich in einer Verkürzung der Wartezeiten an zehn Kreuzungen und einer Verdoppelung der Grünzeiten an fünf Knotenpunkten.97 Die Wiederentdeckung der Plätze lässt sich in zahlreichen europäischen Städten verfolgen. Egal ob der Autoverkehr wie in London vollständig verbannt (z.B. Rådhuspladsen in Kopenhagen), nur teilweise unter Vermeidung des Durchgangsverkehrs zugelassen (z.B. Pariser Platz in Berlin) oder verträglich geführt wird, etwa in Begegnungszonen (vgl. Abschnitt 6.2.4): Das Motto lautet: „Reclaim the streets!“ (dt.: „Erobert die Straßen zurück!“). Das eindrucksvollste Beispiel dafür ist neben dem Trafalgar Square der Times Square in New York. Dort wurden der Broadway unterbrochen und Fußgängerbereiche eingerichtet. Nachdem eine 18-monatige Testsperrung eine Verringerung der Unfälle zur Folge hatte und von Händlern und Touristen als Verbesserung wahrgenommen wurde, wurde die neue Verkehrsführung im Jahr 2010 endgültig fixiert.98 96

Transportation Alternatives Magazine: London Reclaims Trafalgar Square, is Times Square Next? Ausgabe Sommer 2003. S. 16.

97

Abschlussbericht ARTISTS-Projekt. Appendix C – Street Case Studies. Example Six: Trafalgar Square.

98

New York Times: New York Traffic Experiment Gets Permanent Run. 11. Februar 2010. Autor: Michael M. Grynbaum. URL: http://www.nytimes.com/2010/02/12/nyregion/12broadway.html. Abgerufen am 9.9.2012.

43


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Das erklärte Ziel der Verkehrsverwaltung war gewesen, eine Verbesserung des Verkehrsflusses und der Verkehrsqualität zu erreichen. Obwohl diese Ziele nicht oder nur geringfügig erreicht werden konnten, wurde die Maßnahme als Erfolg bezeichnet. Die Verbesserungen in Bezug auf die Sicherheit der Fußgänger und den Fußgängerverkehr im Allgemeinen und die ästhetische Verbesserung würden überwiegen.98

6.2.4 Straßenraum für alle – Die Begegnungszone Das aktuellste und vielleicht auch vielversprechendste Prinzip der beschriebenen Lösungskonzepte ist das der Begegnungszone aus der Schweiz. Besonders kritisch bei der Betrachtung von Nutzungskonflikten sind immer diejenigen Bereiche, in denen die größte Überschneidung von Nutzungsansprüchen vorherrscht, etwa auf Bahnhofsvorplätzen, zentralen Stadtplätzen oder in Einkaufsstraßen. Die Begegnungszone empfiehlt sich für genau diese Bereiche.53 Die Verkehrsteilnehmer sind zunächst gleichberechtigt und verkehren gemeinschaftlich auf einer nivellierten Fläche. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass es sinnvoll ist, Schutzbereiche zu schaffen, in denen sich die Seitennutzungen abspielen und Fußgänger sich zurückziehen können. Diese Bereiche sind gleichermaßen vor dem fließenden wie vor dem ruhenden Verkehr geschützt. Zudem sollte dem Fußgänger rechtlich der Vortritt eingeräumt werden. Es leuchtet ein, dass wichtige, stark frequentierte Verkehrsachsen nicht nach dem Mischungsprinzip funktionieren würden, weil dann die Kapazität zu sehr verringert würde. Jedoch ist die Begegnungszone – wie auch die meisten der vorgestellten Konzepte – dafür geeignet, Verkehr stellenweise gewollt zu reduzieren, um urbane Qualität herzustellen. Mit Verkehrsmengen, wie sie heute im Innenstadtbereich verträglich erscheinen, sind Begegnungszonen kompatibel. Dabei hat sich gezeigt, dass Begegnungszonen eine Verstetigung des Verkehrs bewirken,99 obwohl augenscheinlich öfter für Fußgänger gebremst werden muss. Das häufige Abbremsen fügt sich jedoch harmonisch in den Fahrzyklus ein, während das Halten an Fußgängerüberwegen in konventionellen, geregelten Straßenräumen eine deutliche Zäsur in der Fahrdynamik erzeugt (vgl. Abbildung 5). Seit der Aufnahme der Begegnungszone in die schweizerische Straßenverkehrsordnung im Jahr 2002 und zahlreichen Anwendungen dort elaborieren überall in Europa Versuche, Nutzungskonflikte im Straßenraum nach dem Prinzip der Begegnungszone zu lösen. Inzwischen sind zahlreiche gelungene Beispiele entstanden, darunter der Opernplatz in Duisburg, der Zentralplatz in Biel, der Sonnenfelsplatz in Graz, der Place Cornavin in Genf, die Blackett Street in Newcastle und die New Road in Brighton.

99

Vgl. Verkehrssimulation in Fussverkehr Schweiz: Putting Pedestrians First. Video zu Erfahrungen mit Begegnungszonen in der Schweiz. URL: http://www.youtube.com/watch?v=B4R0CV41P3o (Zeitcode 4:40).

44


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Das aktuellste und wohl eindrücklichste Projekt bisher ist die Exhibition Road in London, die im Dezember 2011 fertiggestellt wurde.100 An der Straße liegen zahlreiche bedeutende Museen und Einrichtungen, deren Fassaden in künstlerischer und architektonischer Hinsicht ein einmaliges Ensemble darstellen. Die Neugestaltung der Straße, die in einem Architekturwettbewerb ausgeschrieben wurde, sollte diesem Aspekt Rechnung tragen.100 Außerdem sollten mit der neuen Gestaltung Unfälle, Geschwindigkeiten und Durchfahrstärken reduziert werden.101 Der Straßenraum erhielt eine niveaugleiche Diagonalpflasterung, durchzogen von visuellen und taktilen Trennungslinien. Die Ausstattung mit Straßenmöbeln wurde auf das notwendigste reduziert. Die Verkehrsführung wurde so geändert, sodass der MIV im südlichen Teil nun in beide Richtungen auf der einen Hälfte der Straße fährt. Das Tempolimit beträgt 30 km/h. Die andere Hälfte ist Fußgängern und Fahrradfahrern vorbehalten. Im nördlichen Teil wird der Kfz-Verkehr wie gewohnt auf beiden Hälften geführt. Die gesamte Straße ist als Parkverbotszone ausgewiesen, jedoch darf auf ausgewiesenen Flächen geparkt werden. Auf zusätzliche Schilder und Markierungen wurde verzichtet. Die Stellplätze sind überwiegend als Senkrechtparkstände neben der Fahrbahn mittig angelegt. Alle Stellplätze sind dauerhaft vermietet oder für Menschen mit Behinderung reserviert, öffentliche Parkstände stehen in der Straße selbst nicht zur Verfügung. Für Reisebusse gibt es eigene Kurzparkbereiche. Die fertig gestaltete Straße erhielt zahlreiche städtebauliche Auszeichnungen für die gelungene Reurbanisierung des öffentlichen Raums.100 Abbildung 15: Exhibition Road in London nach der Umgestaltung

QUELLE: Metalocus Magazine: RIBA London Winners 2012. URL: http://www.metalocus.es/ content/en/blog/riba-london-winners-2012. 23.6.2012. Abgerufen am 14. September 2012. 100

The Royal Borough of Kensington and Chelsea: Exhibition Road. Insbesondere Unterseiten „What has changed?“ und „Parking“. URL: http://www.rbkc.gov.uk/subsites/exhibitionroad.aspx. Abgerufen am 11. September 2012.

101

Schmidt, F.: Shared Space in Großbritannien: ein Sonderweg? In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Shared Space – Beispiel und Argumente für lebendige öffentliche Räume. Bielefeld, 2010.

45


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Zahlreiche Beispiele in Europa verfolgen zudem die stadtverträgliche Umgestaltung von Plätzen nach dem Prinzip der Begegnungszone. Allerdings nicht durch Vermeidung des motorisierten Verkehrs (vgl. Abschnitt 6.2.3), sondern durch dessen Integration in das übrige Verkehrsgeschehen und in das Stadtbild. In Lyon wurde ein umfangreiches Programm initiiert, bei dem die moderne Gestaltung von öffentlichen Außenräumen bei gleichzeitiger Lösung von Verkehrsproblemen im Mittelpunkt stand.51 Dabei entstand unter anderem die neue Gestaltung des Place de la République (vgl. Abbildung 4), die sehr typisch ist für Platzgestaltungen als Begegnungszone. Wie auch der Zentralplatz in Biel in der Schweiz unterbricht der Place de la République eine Fußgängerzone, die Rue de la République. Dadurch wird der Platz von zahlreichen Fußgängern frequentiert. Der KfzVerkehr wird in zwei voneinander getrennten Einrichtungsfahrbahnen über den Platz geführt, die mit Pollern abgegrenzt sind, um ein Befahren des übrigen Platzes zu vermeiden. Die Fahrbahnen sind niveaugleich geführt, und der Fußgänger kann flächig queren. Abbildung 16: Place de la République in Lyon

QUELLE: Google Street View. Place de la République in Lyon. Aufnahmedatum: Mai 2008.

Die Auswirkungen solcher Umgestaltungen in städtebaulicher Hinsicht sind offensichtlich. In Bezug auf das Verkehrsaufkommen sind Verdrängungseffekte zu erwarten. Im idealen Fall werden die Bereiche nur noch von Anliegern befahren. Die Verkehrssicherheit wird durch Begegnungszonen im Allgemeinen verbessert.102 Sowohl bei der Zahl der Schwerverletzten, der Verletzten und der Sachschäden ist eine Verringerung um 10 bis 30 % zu erwarten, wovon vor allem Fußgänger und Fahrradfahrer profitieren.53 Jedoch ist die Anlage von Begegnungszonen nicht ausdrücklich dazu geeignet, die Verkehrssicherheit zu verbessern, dazu seien die Effekte zu gering. Hierzu wäre eine weitergehende Differenzierung der Gestaltung hinsichtlich des jeweiligen Unfallgeschehens notwendig.53 102

Fussverkehr Schweiz: Unfallgeschehen in Begegnungszonen: Vergleich der Situation vorher und nachher in Burgdorf, Biel, Lyss und Einsiedeln. Erschienen in: Strasse und Verkehr, Nr. 09/September 2008.

46


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

7 Rechtliche Aspekte Die Bausteine der beschriebenen Konzepte für multifunktionelle Straßenräume entspringen ihrem Wesen nach der traditionellen Verkehrsplanung. Neu ist allerdings die „Kombination betrieblicher und gestalterischer Maßnahmen sowie die bewusste räumliche und architektonische Gestaltung, insbesondere auch der bewusste Einbezug des Straßenraums bis zu den Gebäudefassaden“.103 Die meisten der vorgestellten Projekte waren umstritten, gingen sie doch über das hinaus, was gemeinhin als planerischer und gesellschaftlicher Konsens angesehen wurde. Die Akzeptanz für die Projekte musste in breit angelegten Partizipationsprozessen erarbeitet werden, in denen aus Normen, Erfahrungen und Ideen haltbare Gestaltungsentwürfe entstanden.103 Während Richtlinien je nach Anwendung bis zu einem gewissen Grad ausgelegt werden können, ist das Verkehrsrecht klar definiert. Abweichungen davon sind nicht möglich, sodass häufig Kompromisslösungen entstehen, die den Nutzungsansprüchen nicht vollständig gewachsen sind. Ein Beispiel dafür ist der Wunsch nach einer Entsprechung der Begegnungszone in der deutschen StVO. Obwohl die Gestaltungen in der Schweiz den Anspruch auf Selbsterklärbarkeit erheben, sind Begegnungszonen auch dort entsprechend beschildert. Als Pendant wird in Deutschland häufig der Verkehrsberuhigte Bereich gewählt, obwohl dieser für Innenstädte mit der vorgegebenen Schrittgeschwindigkeit und dem Kinderspiel denkbar ungeeignet ist. Die zweitbeste Alternative, die Tempo-20-Zone, ist lediglich eine Entsprechung der Tempo-30-Zone mit Bevorrechtigung des KfzVerkehrs.104 Ein anderes Beispiel sind Fußgängerüberwege in Form von Zebrastreifen. Eine flexible Anwendung, etwa querliegende Streifen zur Verdeutlichung des Fußgängervortritts oder ein linienhafter Einsatz, ist in Deutschland undenkbar.38 Viele der vorgestellten Maßnahmen setzen eine Änderung der Straßenklassifikation voraus. Die Kompetenzen für die Klassifizierung liegen in der Regel beim jeweiligen Träger der Straßenbaulast, also beim Bund, den Ländern, den Landkreisen oder den jeweiligen Gemeinden und Städten. Einschneidende Änderungen wie am Trafalgar Square in London sind somit Gegenstand langwieriger Abstimmungsprozesse, welche die Planungen um einiges verzögern können. Neben dem jeweils nationalen Recht sind in Europa die Vorgaben der Europäischen Union bindend. Hier gibt es Anregungen, die landesspezifischen Verkehrsregelungen zu vereinheitlichen, was auch den neuen Verkehrskonzepten zugute käme. Die meisten Städte müssen sich vergleichbaren Problemen stellen, sodass auch die entstehenden Lösungen vergleichbar sind. Ein einheitlicher Katalog von entsprechenden Verkehrsregelungen fehlt jedoch bisher. 103

Bundesamt für Umwelt, 2011. S. 25.

104

Vgl. § 45 StVO.

47


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

8 Fazit Automobilverkehr ist seit drei Generationen fester Bestandteil der Städte. Bis heute ist das Kfz durch seine Leistungsfähigkeit und die Möglichkeit der individuellen Verfügbarkeit unverzichtbar. Die Kehrseite der Medaille sind zahlreiche durch den Kfz-Verkehr ausgelöste Umweltauswirkungen, mit denen in den vergangenen Jahrzehnten vor allem Fußgänger unmittelbar belastet wurden. Mancher Passant mag in der Vergangenheit der Vorstellung anheimgefallen sein, Autos wie Wasser einfach verdampfen zu können. Eine Stadt nur für Fußgänger, Fahrradfahrer, den Nahverkehr, kurz: für alle nachhaltigen Verkehrsformen, das klang wie eine Vision aus einem Science-Fiction-Roman. Die Fußgängerparadiese in den Innenstädten konnten damit nicht gemeint sein, dafür waren diese zu isoliert. Doch mit dem 21. Jahrhundert erhielten neue Ideen Einzug in die verkehrsplanerische Praxis. Darunter jene Idee, ganze Innenstädte von den Belastungen des MIV zu „befreien“, indem dieser „evaporiert“ wird („Evaporation“ die; -en <lat.>: Verdampfung, Verdunstung [von Wasser]). Mit dem ökologischen Schwung von Fahrradverleihsystemen, Car-Sharing und Elektrofahrzeugen wurde der traditionelle Kfz-Verkehr in den Innenstädten endgültig zum Enfant terrible. Die vorgestellten Konzepte zur Schwächung des MIV haben, abgesehen von der Umweltzone, die Gemeinsamkeit, dass sie eine konsequente Verringerung des Kfz-Verkehrsaufkommens beabsichtigen mit der Maßgabe, eine Verkehrsverlagerung zugunsten des Nahverkehrs zu erzielen. Von diesem modal shift sollen auch der Fußgänger- und Fahrradverkehr profitieren. Andere Ziele wie die Verbesserung der Luftqualität, die Reduzierung der Verkehrsunfälle oder die Minimierung anderer externer Effekte des Kfz-Verkehrs, wie etwa der Flächenverbrauch, leiten sich im Allgemeinen daraus ab. Die Konzepte des umgekehrten Ansatzes, bei dem der NMIV gestärkt wird, gehen von den Belangen der Fußgänger aus. Dementsprechend scharf sind daher die Einschränkungen für den KfzVerkehr. Er wird entweder ganz ausgeklammert oder in abgeschwächter Form verträglich geführt wie in der Begegnungszone. Was sich für den MIV bzw. für den NMIV jeweils als annehmbarer Kompromiss darstellt, ist für das Gesamtsystem jedoch noch kein Idealzustand. Dieser liegt irgendwo dazwischen, also dort, wo sich MIV und NMIV auf Augenhöhe befinden. Dieser Zustand ist allerdings illusorisch. Die Systemeigenschaften der Verkehre sind zu verschieden, als dass man alle Verkehrsteilnehmer in einem Shared Space sich selbst überlassen könnte. Dennoch kann mit den dargestellten Ansätzen und Konzepten eine Annäherung an den Idealzustand erreicht werden, indem Kombinationen der Konzepte angewendet werden. Möglich wären beispielsweise autofreie Stadtplätze und Fußgängerbereiche mit ÖPNV und Fahrrädern innerhalb von Innenstädten, die vom Durchgangsverkehr befreit wurden. 48


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Kfz-Verkehr lässt sich bis zu einem gewissen Grad vermeiden oder verlagern, sodass eine Mischung der Verkehre, also eine verträgliche Abwicklung unter Entschärfung der Nutzungskonflikte, möglich ist. Dort wo eine ausreichende Schwächung des MIV nicht erreicht werden kann, etwa bei wichtigen innerstädtischen Verkehrsachsen, ist das Trennungsprinzip nach wie vor der State of the Art. Der Separation der Funktionen im Straßenraum steht die Integration gegenüber, etwa der Funktionen des Aufenthalts und der Verbindung. Daraus folgt: Die beiden Funktionen lassen sich nur dann vereinen, wenn die Dominanz des MIV geschwächt werden kann, entweder direkt oder indirekt durch Stärkung des NMIV. Folglich können auch Nutzungskonflikte im Allgemeinen nur dann gelöst werden. Der MIV hinterlässt in den Feldern Luftqualität, Lärm, Verkehrssicherheit und Flächennutzung den größten Fußabdruck. Die vorgestellten Konzepte zeigen, wie seine Wirkungen in diesen Bereichen verringert werden können. Die Luftqualität unterliegt dynamischen Einflüssen, doch hält der Kfz-Verkehr nach der enormen Reduzierung der Emissionen durch die Industrie in den letzten Jahrzehnten den größten Anteil an der Luftverschmutzung. Die Beispiele zeigen, dass eine spürbare Verbesserung nur dann erfolgen kann, wenn Kfz-Verkehrs stark reduziert oder vollständig ausgeschlossen wird. Selbst die Effekte der eigens eingesetzten Umweltzone sind nur marginal. In puncto Lärmreduzierung existieren vergleichsweise wenige Untersuchungen, weil Verringerung, Verlangsamung und Verstetigung des MIV unmittelbar eine deutliche Lärmminderung erzielen. Die Verkehrssicherheit betrifft das in gleicher Weise. Überhöhte Geschwindigkeiten sind eines der häufigsten Unfallursachen und weniger stark belastete Straßen erzeugen weniger Unfälle. Die Rechnung geht zwar nicht ganz auf, wenn mit höherem Aufkommen des Fahrradverkehrs die Unfälle mit Fahrradbeteiligung ansteigen, jedoch ist durch die geringeren Kfz-Verkehrsstärken in Summe eine Reduzierung der schwerwiegenden Unfälle zu erwarten. Eine Verringerung der Flächeninanspruchnahme des fließenden und ruhenden Kfz-Verkehrs kommt unmittelbar den Randnutzungen zugute. Dort miteinander konkurrierende Nutzungen können auf den neu gewonnenen Raum ausweichen. Besonderes Augenmerk muss dabei dem Lieferverkehr gelten, etwa in Form flexibel nutzbarer Ladezonen, um einem Parken in zweiter Reihe vorzubeugen. Die betrachteten Ansätze sind dem Namen nach nur allgemeine Gedankenansätze, die eine Richtung vorgeben. In der Praxis muss jedes Maßnahmenbündel durch viele kleine Bausteine aus dem Verkehrssystem- und Mobilitätsmanagement belebt werden. Das Straßenraummanagement der Zukunft ist kreativ und schöpft aus einem Potpourri an Maßnahmen traditioneller und neuerer Ansätze, die in einem offenen und partizipativen Gestaltungsprozess zu maßgeschneiderten Lösungen zusammengeführt werden.

49


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Quellen Angress, G., Niggemeyer E.: Die verordnete Gemütlichkeit. Abgesang auf Spielstraße, Verkehrsberuhigung und Stadtbildpflege. Die gemordete Stadt II. Teil. Quadriga. 1985. ISBN 3-88679-125-4. Appleyard, D.: Livable Streets, Berkeley, CA: University of California Press, 1981. Bihler, M. A.: Stadt, Zivilgesellschaft und öffentlicher Raum: Das Beispiel Berlin Mitte. LIT. Münster, 2004. ISBN 3-8258-7821-x. Bühn, M.: Anwendbarkeit von Shared Space in Berlin im Bezirk Mitte. Bachelorarbeit. TU Berlin. Berlin, 2010. Bundesamt für Umwelt (BAFU): Handbuch der Emissionsfaktoren des Straßenverkehrs (HBEFA). Version 3.1. 2010. Bundesamt für Umwelt (BAFU): Nachhaltige Gestaltung von Verkehrsräumen im Siedlungsbereich – Grundlagen für Planung, Bau und Reparatur von Verkehrsräumen. Bern, 2011. PDF-Download: www.bafu.admin.ch/uw-1110-d. Bundesanstalt für Straßenwesen: Unfallrisiko und Regelakzeptanz von Fahrradfahrern. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen. Verkehrstechnik. Heft V 184. Bergisch Gladbach, 2009. Department of Transport, SACTRA: Trunk Roads and the Generation of Traffic. London, 1994. DePauli-Schimanovich, W.: Über die Zukunft der Verkehrs-Technik und -Planung in Europa. Teil 1 von Europolis. Passagen. Wien, 2003. Europäische Kommission: Reclaiming city streets for people – Chaos or quality life? Luxemburg, 2004. ISBN 92-894-3478-3. European Commission Fifth Framework Programme: Arterial streets for people. Abschlussbericht des ARTISTS-Projekts (Arterial Streets Towards Sustainability). Goodwin, P., Hass-Klau, C., Cairns, S.: Evidence on the Effects of Road Capacity Reduction on Traffic Levels. Landor Publishing. London, 1998. H. P. Lindenmann: Beurteilung der Auswirkungen von Zonensignalisationen (Tempo 30) in Wohngebieten auf die Verkehrssicherheit. ETH Zürich, Institut für Verkehrsplanung, Transporttechnik, Strassen- und Eisenbahnbau (IVT). März 2000.

50


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Haag, M., Hupfer, C.: Wirkungen von Verkehrsmanagement – systemanalytisch untersucht. Grüne Reihe Nr. 29. Fachgebiet Verkehrswesen Universität Kaiserslautern. Kaiserslautern, 1995. Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Shared Space – Beispiel und Argumente für lebendige öffentliche Räume. Bielefeld, 2010. ISBN 978-3-9803641-7-1. Höfler, F.: Verkehrswesen-Praxis, Band 1: Verkehrsplanung. Bauwerk. Berlin, 2004. ISBN 3-934369-52-9. infas, DLR: Mobilität in Deutschland 2008 – Ergebnisbericht Struktur – Aufkommen – Emissionen – Trends (MiD 2008). Bonn und Berlin, 2010. Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen (ILS NRW), Institut für Stadtbauwesen (Hrsg.): Mobilitätsmanagement Handbuch. Dortmund, 2000. ISBN: 3-8176-1097-1. Institut für Stadt- und Regionalplanung (ISRT), TU Berlin (Hrsg.): Stadterneuerung – Aufwertung im Stadtumbau. Berlin, 2008. ISBN 978-3-7983-2090-1. Klewe, H.: Mobilitätsmanagement als Ansatz zur Lösung verkehrlicher Probleme. Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen. Dortmund, 2002. Knoflacher, H.: Fußgeher- und Fahrradverkehr – Planungsprinzipien. Böhlau. 1995. ISBN 3-205-98308-4 Knoflacher, H.: Grundlagen der Verkehrs- und Siedlungsplanung: Verkehrsplanung. Böhlau. 2007. ISBN 3-205-77626-0. Knoflacher, H.: Zur Harmonie von Stadt und Verkehr – Freiheit vom Zwang zum Autofahren. Böhlau. 1993. ISBN 3-205-05445-8. Löbe, M.: Fahrradmitnahme in Nahverkehrszügen. Diplomica. Hamburg, 2011. ISBN 978-3-8428-6037-7. Lohse, D., Schnabel, W.: Grundlagen der Straßenverkehrstechnik und der Verkehrsplanung. Band 2 – Verkehrsplanung. 3. Auflage. Beuth. 2011. ISBN 978-3-41017271-0. Mann, S.: Untersuchungen über die Möglichkeiten und Konsequenzen der Einrichtung von Begegnungszonen in der Stadt Zürich. Diplomarbeit. Technische Universität Dresden. Dresden, 2004. Minister für Wirtschaft, Mittelstand und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen: Großversuch „Verkehrsberuhigung in Wohngebieten“, Schlußbericht der Beratergruppe. Kirschbaum. 1979. 51


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Ministerium für Wirtschaft und Mittelstand, Energie und Verkehr des Landes NordrheinWestfalen: Empfehlungen zum Einsatz und zur Gestaltung von Fußgängerüberwegen. Düsseldorf, 2002. Monheim, H., Monheim-Dandorfer, R.: Straßen für alle – Analysen und Konzepte zum Stadtverkehr der Zukunft. Rasch und Röhring. 1990. ISBN 3-89136-368-0. Schmucki, B.: Der Traum vom Verkehrsfluss. Städtische Verkehrsplanung seit 1945 im deutsch-deutschen Vergleich. Campus. 2001. ISBN 3-593-367-29-7. Schriftenreihe „Lebendige Stadt“, Band 1: Stadtplätze – Strategien für den Umgang mit innerstädtischen Außenräumen am Beispiel von Lyon. Hamburg, 2003. Schwarz, K.: Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum – Straßenraummanagement als Lösungsansatz für städtische Parks. Technische Universität Berlin, Institut für Land- und Seeverkehr, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung. IVP-Schriften, Nr. 16. ISSN 1613-1258. Berlin, 2008. Steierwald, G., Vogt, W.: Stadtverkehrsplanung – Grundlagen, Methoden, Ziele. Springer. Berlin, 2005. 2. Auflage. ISBN 3-540-40588-7. Transport for London: Central London Congestion Charging – Impacts monitoring. – Congestion Charging – 6 months on. 23. Oktober 2003. – Fourth Annual Report, June 2006. Juni 2006. – Fifth Annual Report, July 2007. Juli 2007. – Sixth Annual Report, July 2008. Juli 2008. Walprecht, D.: Verkehrsberuhigung in Gemeinden – Planung, Durchführung, Finanzierung, Rechtsfragen. Heymann. 1983. ISBN 3-452-19574-0. Wehrheim, J.: Die überwachte Stadt. Sicherheit, Segregation und Ausgrenzung. Budrich. 2. Auflage. Dezember, 2005. ISBN 3-938-09447-8. Wiegandt, C.-C.: Öffentliche Räume, öffentliche Träume – Zur Kontroverse über die Stadt und die Gesellschaft. LIT. Münster, 2006. ISBN 978-3-8258-9158-9. Von Saldern, A.: Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchzeiten. Franz Steiner. 2006. ISBN 3-515-08918-7.

52


Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum

Maximilian Bühn

Die selbstständige und eigenhändige Anfertigung versichere ich an Eides statt.

Datum / Unterschrift

53


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.