01 — 2019
Die wehrhafte Demokratie: 70 Jahre Grundgesetz
CIVIS & SONDE
CIVIS & SONDE
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»Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.« aus der Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland Am 23. Mai 1949 stellte der in Bonn am Rhein tagende Parlamentarische Rat fest, dass das am 8. Mai 1949 vom ihm beschlossene Grundgesetz durch die Volksvertretungen der deutschen Länder angenommen wurde.
»Die Verfassung ist weder Orakel noch Motor der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen oder erneuern kann.« Richard von Weizsäcker Bonn, am 24. Mai 1989
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Liebe Leserin, lieber Leser, vielmehr die Menschen, als Bürgerinnen und Bürger, zur politischen Selbstbestimmung und stattet sie mit den dafür notwendigen Rechten aus. Davon Gebrauch zu machen, liegt an uns.
das Grundgesetz bildet den Rahmen für das Leben der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Prinzip des Rechtsstaats erfüllt das Grundgesetz die klassische Ordnungsfunktion einer Verfassung. Mit den Grundrechten fügt es dieser Ordnung ein ganz neues Versprechen hinzu. Diese beiden Dimensionen werden nicht allein durch die Entscheidung des Verfassungsgebers erfüllt. Vielmehr bedarf die gegebene Verfassung des regelmäßigen Abgleichs mit der tatsächlichen Verfassung der Gesellschaft und des Lebens in Deutschland. Dafür bieten die Jahrestage von 100 Jahren Weimarer Reichsverfassung und 70 Jahren Grundgesetz gleichermaßen Anlass: Um sich der Lehren der Vergangenheit zu entsinnen und ihre Verwirklichung in der Gegenwart zu reflektieren. Dazu möchten wir mit dieser Ausgabe der CIVIS mit Sonde beitragen.
Diesen Auftrag trägt das Ihnen vorliegende Debattenmagazin im Namen. Erik Bertram und Michael Lönne haben ihn mit großem Elan verfolgt. Zu Beginn des Jahres haben sie sich aus der regelmäßigen Redaktionsarbeit zurückgezogen. Als Chefredakteur hat Erik über vier Jahre lang und für insgesamt zwölf Ausgaben die inhaltliche Verantwortung für das Heft getragen, die Arbeit des Redaktionsteams umsichtig koordiniert und anstandslos eine Vielzahl der organisatorischen Aufgaben geschultert. Erik und Michael, der fortan als Geschäftsführer fungierte, erweckten die altehrwürdige CIVIS mit Sonde im Jahr 2014 zu neuem Leben: mit neuem Format, modernem Designkonzept und frischen Inhalten. Ohne die beiden gäbe es die CIVIS so heute nicht! Dafür möchte ich ihnen, auch im Namen der gesamten Redaktion, herzlich danken! Wir sind froh, dass sie uns beratend weiterhin zur Seite stehen, nicht zuletzt als Mitglieder unseres Beirats.
Der Ordnung als Rechtsstaat liegt die Entscheidung zugrunde, mit der Stärke des Rechts den vermeintlichen Naturzustand – homo homini lupus, wie Thomas Hobbes in seinem Werk „De Cive“ schreibt – zu überwinden. Nach siebzig Jahren gelebter Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland muss man feststellen: Es gibt sie wieder vermehrt, die Feinde der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. Das gilt auch für Teile Europas und der Welt. Sie missbrauchen die Rechtsstaatlichkeit und setzen eine Herrschaft durch Recht anstelle einer Herrschaft des Rechts. Erstere zeichnet sich durch erhebliche Beeinträchtigungen von Grundwerten, insbesondere Grundrechten, aus. Nichts ist unverfügbar, nichts ist unantastbar: Die Gesetzgebung muss sich weder einer normativen noch einer institutionellen Kontrolle unterziehen.
Ein weiterer Dank geht an alle Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe. Schließlich wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Vergnügen bei der Lektüre. Wir laden Sie ein, auch unsere Webseite zu besuchen. Dort finden Sie unsere vergangenen Ausgaben sowie ergänzende Artikel zum aktuellen Heftthema. Leserpost können Sie uns gerne senden an leserbriefe@civis-mit-sonde.de. Mit herzlichen Grüßen
Dagegen sieht das Grundgesetz die wehrhafte Demokratie vor. Die institutionellen Garantien der Verfassung als ausreichende Vorkehrung zu erachten, würde die Mütter und Väter des Grundgesetzes jedoch missverstehen. Das Grundgesetz ermächtigt
Ihr Carl-Philipp Sassenrath
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Was kommen mag | Im Gespräch CIVIS mit Sonde trifft den Thüringer CDU-Spitzenkandidaten Mike Mohring
I. Das Grundgesetz 28
Die Alternative zu Deutschland: Das Geschenk des Grundgesetzes | Ursprünge Christian Bommarius blickt auf 1949, das Geburtsjahr des Grundgesetzes
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Identität und Grundgesetz | Inhalt Nina Warken beschreibt Wurzeln, Werte und die ordnende Funktion der Verfassung
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Perspektiven auf unsere Verfassung | Bedeutung Ali Aborashed und Ann-Cathrin Simon stellen sich den Fragen von Christine Hegenbart
II. Funktionen des Staats 48
Der Rechtsstaat als Argument | Rechtsstaat Philipp Amthor zu seinen dogmatischen Grundlagen und dem politischen Gebrauch
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Die Bundesrepublik und das Weltrechtsprinzip | Gerechtigkeit Pauline Brosch beleuchtet, wie Deutschland gegen die Verbrechen in Syrien vorgeht
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Wenn Lobbyregister, dann bitte richtig! | Gesetzgebung Patrick Sensburg über Vorschläge im Spannungsfeld: Praxiswissen versus Unabhängigkeit
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Inhalt
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01 — 2019 III. Grundrechte 66
Menschenwürde: Ein neuer Schliff für das Kronjuwel | Artikel 1 Christian Blum und Dominik Meier argumentieren für eine klarere Konturierung
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Menschen nicht in Schubladen zwingen | Artikel 3 Susanne Baer über eine repressive Normalität der Mehrheit und Konsens am Verfassungsgericht
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Die Medienmacht in uns | Artikel 5 Steffen Hindelang schlägt ein Update für die kommunikative Selbstbestimmung vor
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KI und Ethik: Wendepunkt für die Technologiebranche | Standpunkt Nina Keim über rechtliche und ethische Herausforderungen der vierten industriellen Revolution
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Der Präsident, der mich wie einen Sohn behandelte | In memoriam Timothy McBride über George H. W. Bush, den 41. Präsidenten der USA
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Von der Newa an den Dnepr. Vom Potomac an die Spree. | Portrait Nico Lange portraitiert von Sebastian Hass
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Abonnement
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Impressum
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WAS KOMM MAG 12
CIVIS mit Sonde im Gespräch mit dem Thüringer Spitzenkandidaten Mike Mohring: über den erfahrenen Zuspruch in schwerer Zeit, die Volkspartei der Influencer, das Grundgesetz aus dem Blick der östlichen Bundesländer, eine Politik mit den Bürgern und europäische Emotionen.
MEN Das Gespräch fand am 24. März 2019 in Berlin statt. Interview: Christine Hegenbart & Sebastian Hass Redaktionelle Mitarbeit: Christina von Busch & Carl-Philipp Sassenrath
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»Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.« Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945)
CIVIS: Herr Mohring, Sie haben zuletzt mit viel Mut der Öffentlichkeit von Ihrer Krankheit berichtet. Woher haben Sie diesen Mut gezogen? Haben Sie in dieser schweren Phase den Glauben wiederentdeckt?
mein Auftreten Kraft und Mut gibt. Und das wiederum gibt mir Kraft, dass so viele Leute auf mich zukommen und mich positiv begleiten. Ich weiß gar nicht, was gewesen wäre, wenn ich nicht so viel Zuspruch erhalten hätte.
Mohring: Wiederentdecken musste ich den nicht. Aber ich habe die Dinge in den letzten Wochen und Monaten häufiger hinterfragt, auch mich selbst. Nach meiner letzten Chemotherapie habe ich die letzten Zeilen eines Bonhoeffer-Gedichts online gestellt: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Das war für mich ein wichtiger Punkt, den Prozess zumindest medizinisch abgeschlossen zu haben. Jetzt liegt es in anderen Händen, wie der Körper es aufnimmt. Aber ich verlasse mich darauf, dass es gut wird. Es gibt Halt, wenn man weiß, dass da noch jemand ist, der immer bei uns ist.
»Es gibt mir Kraft, dass so viele Leute auf mich zukommen und mich positiv begleiten.« CIVIS: Gerade auch in Thüringen hatte man den Eindruck, dass Sie fair behandelt wurden. Wenn man etwa den amerikanischen Wahlkampf anschaut, in dem bei gesundheitlichen Problemen direkt die persönliche Eignung hinterfragt wird, war das vielleicht nicht selbstverständlich. War das besonders schön zu sehen?
CIVIS: Sie haben davon berichtet, viel Zuspruch aus der Bevölkerung erhalten zu haben. Was haben Ihnen die Menschen gesagt? Inwiefern spielte in der Kommunikation auch der christliche Glaube eine Rolle?
Mohring: Das war eine erfreuliche Erfahrung. Viele Beobachter haben gesagt, dass es richtig war, in die Öffentlichkeit zu treten. Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich das mache und in welcher Form und erst mal abgewartet, wie die Therapie verläuft und wie mein Körper das alles verkraftet. Ich wollte mich erst einmal sammeln. Nachdem ich an die Öffentlichkeit gegangen bin, hat dieses hohe Maß an Mitmenschlichkeit geholfen, auch von den politischen Mitbewerbern, die ja aus allen politischen Lagern Genesungswünsche geschickt haben. Dass alle so anständig geblieben sind, verdient Respekt.
Mohring: Viele Leute haben mir Gebete und Zeilen geschickt, die sie in Zeiten getragen haben, in denen sie es schwer hatten. Das war teils sehr persönlich, sehr beeindruckend. Genauso wie es natürlich beeindruckend war, dass mir ganz viele ihre eigenen Schicksale geschildert haben und das immer noch tun. Die Menschen sagen mir, dass ihnen
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CIVIS: Ein Lichtblick im sonst oft wenig zimperlichen politischen Betrieb?
ich diesen Prozess richtig. Und auch, dass er gerade jetzt stattfindet.
Mohring: Ja, vor allem ein völliges Gegenteil zu dem, was man sonst in den sozialen Netzwerken erlebt. Auch da habe ich im Verhältnis 1000 zu 1 Zuspruch erlebt, ehrlichen Herzens und mitfühlend. Und viele Leute, die geschrieben haben: „Ich bin mit der Politik der CDU nicht einverstanden, aber ich wünsche Ihnen alles Gute, gute Genesung.“ Das hätten die Leute nicht tun müssen, doch es war ihnen ein besonderes Bedürfnis.
CIVIS: Sie betonen immer wieder, dass die CDU die Partei der Mitte ist. Haben Sie das Gefühl, sie bewegt sich in eine Richtung weg? Kalibriert sich da etwas neu? Mit der neuen Vorsitzenden? Mohring: Ich glaube die Partei wird gerade selbstbewusster und stellt sich als Volkspartei wieder breiter auf. Sie justiert nach. Das gehört dazu, dass man zwischendurch schaut, ist noch alles richtig kalibriert. Das finde ich sehr positiv. Ab und zu geht es im politischen Alltag unter, was die Partei eigentlich ausmacht. Deswegen ist es gerade in der Regierungszeit wichtig, sich selbst zu prüfen.
CIVIS: Wenn man durch so eine Phase geht, was kann man mit dem Lesen von Papieren, seien es auch kluge Positionspapiere, der Antragsschwemme und Geduldigkeit des Papiers noch anfangen? Welche Bedeutung mag man dem noch beimessen?
»Der Wechsel, den Angela Merkel eingeleitet hat, war notwendig und klug. Er war selbstbestimmt und auch ein wenig überraschend.«
Mohring: Dieselbe Bedeutung wie vorher. Das gehört zu unserem Geschäft dazu. Ich finde nur, dass viele Prozesse zu langatmig sind. Wenn es weniger Eitelkeiten gäbe, wäre manches einfacher. Ich habe das umschrieben mit dem Satz: Wenn man in Beratungen geht mit dem Wissen, der andere könnte auch Recht haben, könnte man sich häufig schneller verständigen.
CIVIS: Jeder von uns beobachtet Annegret Kramp-Karrenbauer seit ihrer Wahl. Viele sind an irgendeiner Stelle von ihr überrascht. Was hat Sie am meisten überrascht?
*** Die CDU als Volkspartei: ihre Mitglieder als Kommunikatoren
Mohring: Überrascht hat sie mich nicht. Wer es schafft, einen solchen innerparteilichen Wahlkampf zu gewinnen, der kann auch die Partei führen. Und bei ihr wird häufig übersehen, dass sie schon viele Jahre als Ministerin Führungserfahrung gesammelt hat, bevor sie selbst Regierungschefin geworden ist. Wenn jemand auf Landesebene drei Ressorts führt, dann in die Staatskanzlei kommt, dann erfolgreich Wahlen bestreitet und dabei auch noch die Koalitionspartner rausschmeißt und trotzdem gewinnt: Dann finde ich, da überrascht nichts. Ihr Weg ins Konrad-Adenauer-Haus bestätigt eigentlich nur ihr bisheriges Tun. Diese Tatsachen haben viele übersehen, weil der Blick in die kleinen Landesverbände aus Berlin oft oberflächlich ist. Annegret Kramp-Karrenbauer tut der Partei gut. Der Wechsel, den Angela Merkel eingeleitet hat, war klug – notwendig und klug. Er war selbstbestimmt und auch ein wenig überraschend. Ich bin eigentlich kein Freund von Doppelspitzen, aber ich vermute, dass diese Doppelspitze für die Wahlperiode funktionieren kann. Ein Dauerinstrument ist sie dennoch nicht.
CIVIS: So gesehen könnte auch der Prozess zum neuen CDU-Grundsatzprogramm die Gefahr bergen, länglich zu werden. Mohring: Das ist aber etwas ganz Anderes. Die breite Beteiligung der Mitglieder ist positiv. Das habe ich in Thüringen auch so angelegt, als wir vor zehn Jahren unser Grundsatzprogramm geschrieben haben. Es ist richtig, die Basis einzubeziehen und sich zu fragen: Was macht uns eigentlich aus? Warum sind wir alle in derselben Partei? Die einen aus der Bauernpartei, die anderen aus der CDU der DDR, die anderen aus dem Neuen Forum oder Demokratischen Aufbruch, die anderen ganz neu dazugekommen: alle in derselben CDU. Was verbindet uns? Das kann kein Vorstand allein beantworten. Diese Fragen immer wieder zu erörtern, und sich zu vergewissern, was noch gilt und gegebenenfalls nach zu justieren, das muss eine Partei immer wieder tun. So gesehen finde
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CIVIS: Dennoch gibt es im großstädtischen Milieu auch manches Rumoren. Viele Hauptstädter etwa hatten sich an Angela Merkel und ihren Stil gewöhnt. AKK ist nun eine Vorsitzende, die nach Ansicht mancher ein Familienbild aus den 1950er Jahren propagiert. Damit mische sich die Union plötzlich wieder in Lebensmodelle ein, was sie jahrelang nicht getan hat. Bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung könnte die Partei dadurch auf dem Rückweg sein.
damit wir auch Vertrauen gewinnen. Unsere Aufgabe ist, in einer sozial und kulturell immer vielfältigeren, auch polarisierten Gesellschaft Brücken zu bauen und zugleich Leuchtturm zu sein. Denn die Menschen erwarten in stürmischen Zeiten Orientierung. Daran können sich die Menschen orientieren – und trotzdem ihren eigenen Weg gehen. CIVIS: Angenommen die Stärkung der Union als Volkspartei gelingt nicht oder schlägt sich nicht in ausreichender Weise in den Wahlergebnissen nieder: Ist zu erwarten, dass die Zersplitterung des politischen Systems mittelfristig dazu führt, dass Koalitionen sich bereits im Vorfeld sortieren und gemeinsam als Wahlplattform antreten?
Mohring: Ich sehe überhaupt keinen Nachteil darin, dass in der Union Mitglieder unterschiedliche Familienbilder haben und verschiedene Lebensmodelle vertreten. Niemand will die Partei auf ein bestimmtes Bild verpflichten. Eine Volkspartei, die in sehr unterschiedlichen Milieus zu Hause ist und zu Hause sein will, in ländlichen Regionen und Großstädten, steht für große Breite und Vielfalt. Ich würde raten, eine gewisse Gelassenheit an den Tag zu legen, dann kann man damit sehr gut umgehen. Das trifft sowohl auf den liberaleren, aber auch auf den konservativeren Teil zu. Wenn AKK Raum gibt für die Debatte, für Personen, dann ist das gut. Und ich habe den Eindruck, das hat sie vor. Ich nehme zum Beispiel positiv wahr, dass sie zu Friedrich Merz ein gutes Verhältnis gefunden hat und er das auch bestätigt. Viele sehen in Friedrich Merz jemanden, der den konservativen Teil durch sein eigenes Wirken glaubhaft repräsentieren kann. Auch an Repräsentanten für liberale oder christlich-soziale Positionen fehlt es in der Partei ja nicht.
Mohring: Das will ich nicht ausschließen, wenn der Trend zur Zersplitterung anhalten würde. Ich glaube aber eher, dass sich das Parteiensystem wieder konsolidieren wird und nicht alle Parteien, die jetzt auf dem Markt sind, auch in der Zukunft noch da sein werden. Ob dem so ist, liegt aber auch an uns. CIVIS: Was lässt Sie hoffen, dass sich das wieder einfangen lässt? Mohring: Wir sollten uns einfach zutrauen und daran arbeiten, die erforderliche Bindungskraft zu entwickeln. Nur wenn wir als stärkste politische Kraft dauerhaft unter 30 Prozent notieren würden, dann wären wir an so einem Punkt angekommen. Aber das sehe ich nicht. CIVIS: Sie sprechen in Interviews immer mal wieder von einer medialen Parallelwelt. Die mag eines der Probleme sein, das wir in den politischen Diskussionen haben. Welche Strategie könnte die CDU dazu entwickeln?
»Ich glaube, dass sich das Parteiensystem wieder konsolidieren wird und nicht alle Parteien, die jetzt auf dem Markt sind, auch in der Zukunft noch da sein werden.«
Mohring: Die Frage ist doch: Woher nehmen die Leute ihre Informationen, wie bilden sie sich ihre Meinung? Wir müssen in sozialen Netzwerken mitdiskutieren und unsere Argumente einbringen. Es steht uns als Partei nicht zu, in WhatsApp- Gruppen privater Freundeskreise aufzutauchen. Aber unsere Mitglieder können ihre Freunde in solchen Debatten informieren. Da müssen wir besser werden. Und da müssen sich auch unsere Mitglieder mehr anstrengen, die bisher auch oft nur Post und Parteizeitung empfangen haben. Besser wäre, wenn sie mit diesen Informationen selbst zum Botschafter werden. Die Abgeordneten zuallererst.
CIVIS: Und auf diesem Wege kann die Stärkung der CDU als Volkspartei gelingen? Mohring: Genau. Wir müssen diese Vielfalt als Volkspartei selbstbewusster ausleben. Wir sind die einzig verbliebene Volkspartei, egal wo in Deutschland. Von Bayern bis in den Norden, vom Osten bis in den Westen. Und das ist auch unser gesellschaftlicher Anspruch, diesen Status zu repräsentieren,
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»Als Volkspartei – mit über 400.000 Mitgliedern – haben wir die riesige Chance, unzählige Influencer zu ha ben. Das funktioniert aber nur, wenn sich alle selbst so verstehen.«
Aber am Ende jedes Mitglied. Dafür brauchen wir eine ganz neue Form der Kommunikation in der Partei und die haben wir noch nicht gefunden. Als Volkspartei – mit über 400.000 Mitgliedern – haben wir die riesige Chance, unzählige Influencer zu haben. Das funktioniert aber nur, wenn sich alle selbst so verstehen.
persönlich, ich war damals 17-18 Jahre alt –, dass sich dieses geeinte Vaterland auch eine neue Verfassung gibt. Der Weg ist anders gelaufen. Er ist deshalb nicht falsch und die Debatte darüber ist eigentlich müßig. Festzuhalten ist, dass die Zeit des Umbruchs 1989/90, als so viel Neues passiert ist, Demokratie die Leute zu Hunderttausenden, Millionen begeistert hat und alle mitgestalten wollten, eine wunderbare Zeit war. Aber vielleicht hätte es auch den Weg zur deutschen Einheit überfrachtet, wenn man auch noch eine grundlegende Verfassungsdebatte geführt hätte.
*** Das Grundgesetz und der gelebte Patriotismus CIVIS: 70 Jahre Grundgesetz: Wie blicken Sie und wie schauen die Einwohner Thüringens auf dieses Datum, auch auf diese Feierlichkeit? War die Art und Weise, also der Beitritt des Ostens zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, ein Fehler?
CIVIS: Das wäre vor allem viel Textarbeit gewesen. Mohring: Rückblickend kann man das schwer einschätzen. Das Zeitfenster für die Einheit war nicht groß. Und vielleicht waren die Leute klug, die entschieden haben, das nicht zu machen, weil sonst das Fenster für die Einheit zugegangen wäre. Aber wir – ich kann das aus meiner eigenen Perspektive sagen – wir haben jedenfalls dafür gestritten, für eine neue Verfassung.
Mohring: Ich komme ja aus dem Neuen Forum und wir haben damals als Bürgerrechtsbewegung einen eigenen Verfassungsentwurf vorgelegt. Natürlich hätten wir uns gewünscht – auch ich ganz
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»Ich kann mich an eine Auseinander setzung mit Bodo Ramelow erinnern, der sich empört hat, als unsere Frak tion im Landtag mit schwarz-rotgoldenen Krawatten aufgetreten ist. Heute tut er so, als wäre er der größte Verfassungspatriot, aber es gab eben auch Zeiten, in denen er das alles infrage gestellt hat.«
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CIVIS: Als ich in Jena studiert habe, hatte ich eine Kommilitonin aus Erfurt. Die sagte immer so halb scherzhaft: „Den Sandmann habt ihr uns gelassen. Das Ampelmännchen habt ihr uns gelassen. Aber der Rest kam von Euch.“ Das war so ein Gefühl, oder?
im Landtag mit schwarz-rot-goldenen Krawatten aufgetreten ist. Heute tut er so, als wäre er der größte Verfassungspatriot, aber es gab eben auch Zeiten, in denen er das alles infrage gestellt hat. Wie bei jeder Nation ist das Selbstbewusstsein, die Festigung der Identität durch nationale Symbole, von großer Bedeutung. In manchen Phasen haben wir das vernachlässigt. Ein entspannter, gelassener, positiver Patriotismus erschöpft sich nicht im Grundgesetz, er findet dort jedoch ein ausgezeichnetes Fundament. Und übrigens auch in den Landesverfassungen. Vielen Ostdeutschen sind die Debatten um die Landesverfassungen noch präsent, weil wir uns alle erst nach der friedlichen Revolution neue Verfassungen geben konnten. Sie sind damit auch ein Stück moderner als das Grundgesetz. Und das relativiert in gewisser Weise auch die Bedeutung der ausgefallenen gesamtdeutschen Verfassungsgebung.
Mohring: Natürlich haben die Ostdeutschen gerade in der Zeit des Umbruchs auch einen Teil ihrer Identität verloren. Dafür haben sie an Freiheit gewonnen, sie haben an Demokratie gewonnen. Das wiegt natürlich stärker. Aber das Gefühl, dass vieles, was ihr Leben bis dahin bestimmt hat, an Gültigkeit verlor, das hat viele aus der Bahn geworfen. Hinzu kommt, dass das, was ihnen Halt gegeben hat – ihre Arbeit, wo sie sich wertgeschätzt gefühlt haben – auf einmal weg war. Nicht wenige haben jahrelang, manchmal Jahrzehnte lang keine neue Arbeit gefunden. Wenn sie irgendwo zur Bewerbung angetreten sind, wurde alles hinterfragt, was sie vorzuweisen hatten. Sie mussten sich permanent rechtfertigen. Sie hatten zurecht die Wahrnehmung, dass das ihre Kollegen im Westen nicht machen mussten. Das hat viele skeptisch werden lassen. Die Euphorie ist da ein Stück verflogen. Dennoch ist die Demokratiezufriedenheit, der Blick auf die deutsche Einheit, auf das Grundgesetz, auf die Freiheiten und Chancen, die sich ergeben haben, für mindestens drei Viertel der Bürger viel entscheidender. Die Demokratie hat feste Wurzeln im Osten.
»Dankbarkeit ist keine politische Kategorie und Politiker sollten sie auch nicht erwarten. Wir haben einen permanenten Auftrag. Dazu gehört zum Beispiel, das Sicherheitsversprechen des Staates zu erfüllen.« CIVIS: Finden Sie, wir sind zu wenig dankbar für die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolge, deren Rahmenbedingungen der deutsche Rechtsstaat auf Grundlage unseres Grundgesetzes geschaffen hat?
CIVIS: Es hat jetzt diese gemeinsame Verfassung nicht gegeben. Finden Sie dennoch, das Grundgesetz taugt als Spender von Verfassungspatriotismus, Leitkultur oder Identität?
Mohring: Dankbarkeit ist keine politische Kategorie und Politiker sollten sie auch nicht erwarten. Wir haben einen permanenten Auftrag. Dazu gehört zum Beispiel, das Sicherheitsversprechen des Staates zu erfüllen. Viele haben das Gefühl, dass der Staat ihnen dieses Versprechen nicht mehr uneingeschränkt geben kann. Aber sie erwarten zu Recht einen starken Staat, der ihnen Freiheit und Sicherheit gleichermaßen garantiert, der diejenigen, die Sicherheit für uns garantieren als Polizisten, als Rettungseinsatzkräfte, schützt und anerkennt. Da haben wir in der neuen Koalition als CDU/CSU jetzt auch viel getan. Wenn es uns gelingt, Vertrauen zurückzugewinnen, dann gibt es im Gegenzug das Vertrauen in die Institutionen und in die Politik.
Mohring: Unbedingt, das macht sich doch auch fest an den nationalen Symbolen, an Schwarz-RotGold, an einem entspannten, fröhlichen, gelassenen Patriotismus. CIVIS: Leben wir den? Mohring: Unterschiedlich. Es gibt Phasen der Euphorie, des Sommermärchens, da war das stärker. Ich finde jetzt spannend und beeindruckend, dass Bundespräsident Steinmeier bei seiner Rede zu 100 Jahren Weimarer Reichsverfassung Schwarz-RotGold wieder so in den Mittelpunkt gerückt hat. Ich bin selber ein Freund davon. Ich kann mich an eine Auseinandersetzung mit Bodo Ramelow erinnern, der sich empört hat, als unsere Fraktion
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»Es tut der Demokratie auch gut, wenn Politik sich durchgängig und immer wieder hinterfragen lassen und rechtfertigen muss. Das mag mühselig sein, anstrengend sein, aber ich finde, das ist doch das beste Regulativ.«
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CIVIS: Das sind Themen, die Sie immer wieder ansprechen, dass das Vertrauen in die Institutionen schwindet, in den Rechtsstaat, in das staatliche Gewaltmonopol. Gleichzeitig aber wächst die reale Sicherheit, wenn man sich die Kriminalitätsstatistiken ansieht. Die Frage ist, wo und wie kann die Politik da ansetzen und Vertrauen spenden?
sie sich querstellen. Wir sehen es nun schon seit Jahren bei Rot-Rot-Grün in Thüringen. Die Linke stellt den Verfassungsschutz infrage. Die Linke beleidigt die Polizisten mit ihren linksextremistischen Sprayern mit ACAB – All cops are bastards – und lassen den Innenminister und seine Behörde hängen. Der Verfassungsschutz wird permanent infrage gestellt. Das alles stärkt nicht das Vertrauen in die Institutionen. Wer sich so verhält, ruiniert den Föderalismus. Auch deshalb muss die Linke heraus aus der Thüringer Staatskanzlei.
Mohring: Es genügt ein spektakuläres Verbrechen, um bei den Leuten die Skepsis zu verstärken und Vertrauen schwinden zu lassen. Das ist ein Problem. Ein anderes, dass wir oft zu zögerlich sind. Wir haben für Angriffe auf Polizeibeamte jetzt die Höchststrafe von drei auf fünf Jahren Freiheitsstrafe erhöht. Aber wir haben nicht die Mindeststrafe erhöht, weil die SPD sich verweigert hat. Und wahrgenommen wird ja die Regierung als Ganzes und nicht nur eine einzelne Partei. Wenn die Regierung kneift, was soll denn der Bürger, der eh schon skeptisch ist, davon halten? Dessen Vertrauen schwindet. Er wird dann plötzlich anfällig für die lauten Töne der Populisten, die nie Lösungen sind. Das ist die Gefahr. Da sind wir zu langsam.
*** Für eine neue Politik in Thüringen: nicht über die Köpfe der Menschen hinweg CIVIS: Jetzt haben wir in diesem Jahr drei Landtagswahlen vor der Brust. Alle vier Jahre wählen wir den Bundestag, dazwischen finden ständig diverse Landtagswahlen statt. Bundesthemen funken in die Landesthemen rein, und umgekehrt. Da stellt sich die strukturelle Frage, ob man diese ganzen Landtagswahltermine nicht mal harmonisiert – anstatt permanent die Jagd durch den politischen Zirkus zu betreiben?
»Es braucht diese eine prägende Kraft im politischen System, die bündeln kann, die Brücken baut, die koalitionsfähig ist.«
Mohring: Das würde schon praktisch auf längere Sicht kaum funktionieren, weil zum Beispiel Regierungen zurücktreten oder Wahlperioden aus anderen Gründen außerplanmäßig zu Ende gehen. Ich glaube, es tut der Demokratie auch gut, wenn Politik sich durchgängig und immer wieder hinterfragen lassen und rechtfertigen muss. Das mag mühselig sein, anstrengend sein, aber ich finde, das ist doch das beste Regulativ. Denn das Volk kann jederzeit in irgendeinem Teil des Landes seine Zustimmung geben oder rote Karten verteilen.
CIVIS: Gilt das auch beim Thema Sicherheitsreform im Hinblick auf die Landesverfassungsschutzämter? Ist es nicht sinnvoller, Sicherheit in diesem Bereich als nationale Aufgabe zu begreifen?
CIVIS: In der gefühlten Wahrnehmung sind das derzeit viele roten Karten.
Mohring: Richtig ist, der Verfassungsfeind macht nicht an der Landesgrenze zwischen Hessen und Thüringen halt.
Mohring: Das liegt eben auch daran, dass so viele Leute auf der Suche nach Orientierung sind, viele sich zurückgelassen fühlen. Das darf uns nicht erschüttern, sondern fordert uns mehr. Aus den Herausforderungen folgt nicht der Untergang der Volkspartei. Es braucht doch diese eine prägende Kraft im politischen System, die bündeln kann, die Brücken baut, die koalitionsfähig ist. Und es ist zuallererst die Aufgabe einer Partei in der Mitte, vor allem in der breiteren bürgerlichen Mitte, sich diese Bindungs- und Anschlussfähigkeit zu bewahren. Die Randparteien und
CIVIS: Aber der Staat in der Kompetenzabgrenzung. Mohring: Deswegen braucht es eine nationale Strategie, in die die Arbeit der Landesämter für Verfassungsschutz eingebettet wird. Nachdem der Nationalsozialistische Untergrund, der NSU, aufgeflogen und verheerende Fehler in der Sicherheitsarchitektur sichtbar geworden sind, ist auch schon viel verändert worden. Wir brauchen eine bundesweite Koordination und Bündelung der Informationen. Die Länder graben sich jedoch das Wasser ab, wenn
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»Es wäre eine Chance gewesen, die Probleme des Ostens in Berlin stärker in den Fokus zu rücken, wenn in drei Ländern gleichzeitig gewählt würde.«
Splitterparteien und Protestparteien können diese Bindungskraft nie erzielen. Umso größer ist die Herausforderung für uns. CIVIS: Eine Herausforderung, die durch den permanenten Wahlkampf noch verschärft wird. Mohring: Ich habe dafür plädiert, dass die Thüringer mit Sachsen und Brandenburg am 1. September zusammen wählen und es die eine große Ostwahl in diesem Jahr gibt. Das wäre eine Chance gewesen, die Probleme des Ostens in Berlin stärker in den Fokus zu rücken, wenn in drei Ländern gleichzeitig gewählt würde. Aber das haben Bodo Ramelow und die Linke abgelehnt und damit die Koalitionspartner Grüne und SPD genauso. Sie wollten einen eigenen Wahltermin haben. CIVIS: Diese Frage wird man Ihnen in den kommenden Wochen und Monaten wohl noch häufiger stellen, aber: Wenn Sie Ministerpräsident werden, was machen Sie anders als Ramelow? Mohring: Das kann ich ganz klar sagen. Wir wollen nicht über die Köpfe der Bürger hinweg Politik machen, sondern mit ihnen Politik gestalten und sie einbinden – und das ohne die Arroganz der Macht, wie wir sie bei Rot-Rot-Grün erleben. Wenn das gelingt, kann man in einem Land eine ganze Menge bewegen. Da ist auch Selbstkritik angezeigt. Im Verhalten des Thüringer Linksbündnisses
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Wir reden seit Jahren über die Sicherung der Außengrenzen und kommen nicht aus dem Knick. Es gibt keine Antwort darauf, wie sich Europa stärker behaupten kann gegenüber den USA, China und Russland, wie Europa auch verteidigungspolitisch enger zusammenrücken kann. Frankreich und Deutschland suchen nach einem gemeinsamen Projekt und tun sich mit der Einigung schwer. Auch die Empathie zwischen den Regierungschefs hat nachgelassen. Ein technokratisches Gebilde alleine erwärmt keine Herzen. Es fehlt an emotionalen Gesten in Europa. Die Auftritte Adenauers und de Gaulles, der Kniefall Brandts in Warschau, Mitterand und Kohl Hand in Hand vor Soldatengräbern, Kohl mit Gorbatschow im Kaukasus. Ich suche vergeblich nach diesen Bildern im letzten Jahrzehnt.
haben wir auch oft unser eigenes Verhalten vor 2014 gespiegelt gesehen. Ich will den Beweis antreten, dass wir in der Opposition und aus dem Fehlverhalten der Linkskoalition gelernt haben. Bei der sind Wort und Tat völlig auseinandergefallen: „Mehr Bürgerbeteiligung“ oder das Petitionsrecht tragen sie immer wie eine Monstranz vor sich her, in der Realität haben sie aber so ignorant wie keine Regierung zuvor in Thüringen Bürgerinteressen mit Füßen getreten. Ein Beispiel: Jüngst gab es im Petitionsausschuss eine Sitzung zum Schulgesetz. Die Linkskoalition provoziert mit diesem Gesetz, dass kleine Schulen im ländlichen Raum geschlossen werden. Tausende Leute haben dagegen eine Petition unterschrieben. Dann werden diese Bürger angehört und vom zuständigen Kultusministerium ist niemand da. Und auf unseren Antrag, der Minister möge sich den Petenten erklären, lehnt das Rot-Rot-Grün einfach ignorant ab. Und diese Art hat sich durch die ganzen Regierungsjahre gezogen.
CIVIS: Aber da hat die heutige Generation politisch Verantwortlicher es auch schwer. An viele Symbolthemen wurde schon ein Haken gemacht. Irgendwann kann man das nicht mehr toppen. Bei aller Sympathie für Kohl und Mitterrand: Über manche politischen Feinarbeiten haben die sich auch keine Gedanken gemacht. Und da hat man es heute nicht leicht.
*** Ein Mangel an emotionalen Gesten in Europa CIVIS: Vor die Landtagswahlen hat der Kalender die Europawahl gesetzt. Wie erklärt man einem Thüringer Europa? Wie kämpft man als CDUler, der Leidenschaft für Europa in der DNA trägt, bei einem Publikum, das europäischen Gedanken vermutlich nicht immer aufgeschlossen gegenübersteht?
Mohring: Die eben genannten Themen werden zu wenig diskutiert, stattdessen wird öffentlich gleich alles abqualifiziert. Macron hält eine Rede, AKK entgegnet und dann sagen gleich wieder alle: Nein, alles falsch. CIVIS: Weil man dafür vielleicht auch nochmal ein neues Format finden muss. Dieses Vorgehen, Paris hält eine Rede und erwartet eine Antwort aus Berlin, das funktioniert doch nicht.
Mohring: Indem man beweist, dass Europa notwendig ist. Europa, allen voran die Europäische Union, steht am Ende genauso wie die Volksparteien unter Rechtfertigungsdruck. Und irgendwie fehlt es an der gemeinsamen Zukunftsidee.
Mohring: Eine Rede zur Lage der Nation wäre ein Instrument. Das ist ein Format, in dem man diese großen Fragen behandeln könnte. Einmal im Jahr die großen Linien zeichnen, länger denken und auch Debatten auslösen. Das wollen die Leute auch. Das würde Orientierung geben. Bisher sind wir doch in dem Rhythmus drin: Es gibt einen EU-Gipfel und dann gibt es eine mehr oder minder beachtete Regierungserklärung. Das war‘s. Das ist alles richtig, aber ist doch auch eher eine Pflichterfüllung.
»Wir reden seit Jahren über die Sicherung der Außengrenzen und kommen nicht aus dem Knick.« Friedensprojekt, Wirtschaftsunion, Währungsunion – das ist alles richtig, aber das reicht für die Zukunft nicht als Begründung. Und wie in der Politik üblich: Zukunft lässt sich nicht allein durch den Verweis auf die Vergangenheit beschreiben.
CIVIS: Ein Teil der aktuellen Regierung würde sich wahrscheinlich schon an dem Wort „Nation“ stoßen.
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»Wir brauchen sicherlich keine Ostquote, aber eine größere Sensibilität dafür, bei Einstellungen, Beförderungen und Berufungen.«
Mohring: Schlimm genug. Das ist eine Frage der Emotionen, und da sind wir auch wieder bei Patriotismus und Identitäten. Wir müssen uns nicht unterhalten, ob Behörden in den Osten verlegt werden, damit Identität, nationaler Zusammenhalt gestiftet wird. Es geht um ein Selbstbewusstsein, das sich seiner selbst tatsächlich bewusst ist, ein Nationalbewusstsein. Dazu haben die Ostdeutschen aus ihrer besonderen historischen Erfahrung viel zu sagen. Dazu müssen sie allerdings dort präsenter sein, wo öffentliches Bewusstsein, wo Meinung geprägt wird: in den Universitäten, in der Publizistik, in den Verwaltungen, in der Justiz in der Bundeswehr. Wir brauchen sicherlich keine Ostquote, aber eine größere Sensibilität dafür, bei Einstellungen, Beförderungen und Berufungen. Solange etwa das halbe Thüringer Kabinett am
Wochenende auspendelt, weil etliche Minister und Staatssekretäre nicht aus dem Land kommen, stimmt etwas nicht.
»Es ist einfach nur die Frage: Würde in anderen Ländern so ein Zustand hingenommen werden? In Bayern etwa?« Es geht gar nicht um die Frage Ost-West, WestOst. Es ist einfach nur die Frage: Würde in anderen Ländern so ein Zustand hingenommen werden? In Bayern etwa? Ich behaupte: Das würde nicht passieren.
Mike Mohring ist seit 2008 Vorsitzender der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag und seit 2014 Landesvorsitzender der CDU Thüringen. Seit 2010 ist er Mitglied im Bundesvorstand, seit 2018 auch Mitglied im Präsidium der CDU Deutschlands. Bei der Thüringer Landtagswahl am 27. Oktober 2019 tritt er als Spitzenkandidat der CDU an.
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I. Das Grundgesetz 1949 geboren als Provisorium, ordnet das Grund gesetz bis heute das Leben und die politischen Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland. Drei Beiträge über die Ursprünge, die Inhalte und die Bedeutung der deutschen Verfassung.
von Christian Bommarius
1949 ist das Geburtsjahr des Grundgesetzes. Es wird als Proviso rium geboren und erregt bei der großen Mehrheit der Bevölkerung zunächst wenig Interesse. In seinem Buch »1949« erkundet Christian Bommarius die Anfänge der Bundesrepublik. CIVIS druckt daraus einen Ausschnitt über die Geburtsstunde der neuen Verfassung ab.
gezeigt. Die fehlende Bereitschaft, sich für das Grundgesetz zu erwärmen, hat viele Gründe. Sie stehen – natürlich ohne Absicht der Verfasser – in seiner Präambel. Es sei nur „für eine Übergangszeit“ geschaffen.
Die Westdeutschen müssen dem Gaul natürlich nicht ins Maul schauen, aber etwas interessierter sollten sie das Geschenk schon betrachten, das ihnen in Bonn frei Haus geliefert wird. Denn das Geschenk, das sie auf den Tag genau vier Jahre nach Kriegsende bekommen, ist das größte und schönste, das den Deutschen in ihrer Geschichte jemals gemacht worden ist: einklagbare Grundrechte, Unveränderbarkeit wichtiger Verfassungsprinzipien, allen voran Art. 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ 265 Tage hat der Parlamentarische Rat für seine Arbeit benötigt – am 8. Mai um 23:55 Uhr nimmt die Mehrheit das Grundgesetz an. Die Abgeordneten der CDU, SPD, FDP und auch zwei CSU-Abgeordnete aus Franken stimmen dafür. Abgelehnt wird es von den Abgeordneten des Zentrums, die die kirchlichen Interessen nicht hinreichend berücksichtigt finden, von den Abgeordneten der Deutschen Partei, der KPD, die Widerstand gegen die Bildung des Weststaats leisten, und von sechs Abgeordneten der CSU, die mehr Föderalismus im Grundgesetz wünschen.
»Wer kann sich schon für ein Provisorium begeistern, das früher oder später durch eine dauerhafte Verfassung abgelöst werden soll.« Wer kann sich schon für ein Provisorium begeistern, das früher oder später durch eine dauerhafte Verfassung abgelöst werden soll. Es sei auch für „jene Deutschen“ geschrieben, denen „mitzuwirken versagt war“. Jedem West- und erst recht jedem Ostdeutschen ist bewusst, dass es auf unabsehbare Zeit ausschließlich für die Westdeutschen geschrieben sein wird und die Ostdeutschen kaum in der Lage sind, sich legal den Wortlaut des Grundgesetzes zu verschaffen.
Von der Mehrheit der Westdeutschen wird es weder begrüßt noch abgelehnt, sondern kaum zur Kenntnis genommen. Vor einigen Wochen haben in einer Umfrage 40 Prozent der künftigen Bundesdeutschen beteuert, das Grundgesetz sei ihnen gleichgültig, 33 Prozent bekundeten mäßiges Interesse, nur 21 Prozent haben sich „sehr interessiert“
Das Grundgesetz bewirkt natürlich nicht die deutsche Teilung, aber in ihm findet sie sichtbaren Ausdruck. Und schließlich behauptet die Präambel, das „deutsche Volk“ habe sich das Grundgesetz gegeben.
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Die Alternative zu Deutschland: Das Geschenk des Grundgesetzes Ein dauerhaftes Provisorium
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es nicht. Darum verstehen die meisten Westdeutschen im Frühjahr 1949 – und noch Jahre später – auch die Sprache nicht, in der das Grundgesetz zu ihnen spricht.
Das deutsche Volk wird überhaupt nicht gefragt, nur die Landtage werden in den kommenden Wochen um ihre Zustimmung gebeten. Aber entscheidend ist: Hätte in den vergangenen Monaten das „deutsche Volk“ – angemessen repräsentiert – ein entscheidendes Wort bei der Entstehung des Grundgesetzes mitgesprochen, dann würde sich darin der deutsche Geist von 1948/49 finden, also gerade nicht das Bekenntnis zu den Menschenrechten und zu einem geeinten Europa.
*** Die Sprache war Deutsch, aber dieses Deutsch, in dem das Grundgesetz zu den Einwohnern sprach, war bis dahin in Deutschland unerhört. Wovon sprach es? Es sprach an erster Stelle von den Grundrechten, von den Bürgerrechten, die jedem Deutschen, von den Menschenrechten, die jedermann, ob Deutscher oder Ausländer, zukämen, vor allem aber sprach es in Artikel I von der Menschenwürde.
Die Westdeutschen glauben nicht, dass der Parlamentarische Rat in ihrem Namen spricht, und sie bezweifeln, dass das Grundgesetz ihnen Besonderes zu sagen hat. Richtig ist, dass die 61 Väter und vier Mütter des Grundgesetzes nicht das „deutsche Volk“, sondern dessen – zum Teil noch immer verpönten – Außenseiter repräsentieren. Dazu gehören Remigranten wie die Sozialdemokraten Rudolf Katz, Ernst Reuter und Fritz Eberhard, Gegner des NS-Regimes wie Konrad Adenauer (CDU), Elisabeth Selbert (SPD), Jakob Kaiser (CDU), Ludwig Bergsträsser (SPD) und Ernst Wirmer (CDU), der Bruder des nach dem 20. Juli 1944 hingerichteten Widerstandskämpfers Josef Wirmer, dazu gehören Widerstandskämpfer wie Hermann Runge (SPD), Opfer wie der jüdische Christdemokrat Walter Strauß, dessen Eltern im KZ Theresienstadt ermordet wurden, von den Kommunisten Max Reimann und Hugo Paul gar nicht zu reden.
»Die Bundesrepublik ist die AzD – die Alternative zu Deutschland.« Solange die Westdeutschen glaubten, deren Unantastbarkeit sei die Phantasmagorie eines Gutmenschen – heute wäre in einschlägig bekannten Kreisen von rot-grünem Siff die Rede, obwohl der Artikel von dem Liberalen Theodor Heuss, dem Sozialdemokraten Carlo Schmid und dem Christ demokraten Hermann von Mangoldt verfasst wurde –, waren sie zwar Deutsche, aber Bundesbürger mussten sie erst werden. Mit anderen Worten: Deutschland musste sich abschaffen, damit die Bundesrepublik werden konnte. Die Bundesrepublik ist die AzD – die Alternative zu Deutschland.
Die Sprache, die die Mitglieder des Parlamentarischen Rates sprechen, ist Deutsch, aber die Gedanken, die sie formulieren, ihr Menschenbild, das die Bürger- und Menschenrechte gestaltet, sind
Christian Bommarius
Christian Bommarius 1949 – Das lange deutsche Jahr Droemer Knaur Verlag, München 2018, gebunden, 320 Seiten.
ist seit 2018 Kolumnist der Süddeutschen Zeitung. Er war zuvor unter anderem als Korrespondent am Bundesverfassungsgericht
Der hier abgedruckte Text ist den Seiten 192 ff. und 304 f. entnommen. Wir danken dem Droemer Knaur Verlag für die freund liche Genehmigung des Abdrucks.
sowie von 1998 bis 2017 als Redakteur bei der Berliner Zeitung tätig. Von ihm stammt auch das 2009 erschienene Buch „Das Grundgesetz. Eine Biografie“. Für sein publizistisches Werk wurde Bommarius der Heinrich-Mann-Preis verliehen.
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von Nina Warken
100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 70 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland: Nina Warken zu den Lehren aus der Weimarer Demokratie, den Grundwerten des Grundgesetzes und der Anerkennung des Rechtsstaates als Voraussetzung für Integration.
Weimarer Republik, in der das Staatsoberhaupt über die Einhaltung der Reichsverfassung wachen sollte. Das Bundesverfassungsgericht ist in der deutschen Verfassungsgeschichte ohne Beispiel, es ist Gericht und Verfassungsorgan zugleich. Zu Recht genießt es als Institution im In- wie im Ausland höchstes Ansehen.
Am 1. September 1948 nahm der Parlamentarische Rat im Museum Alexander Koenig in Bonn seine Arbeit auf, die am 8. Mai 1949 mit dem Entwurf eines provisorischen „Grundgesetzes“ beendet wurde. Am 23. Mai 1949 – dieser Tag jährt sich in diesem Jahr zum 70. Mal – wurde das Grundgesetz feierlich verkündet und trat in Kraft. Dieses Datum stellt die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland dar, und seit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 gilt das Grundgesetz „für das gesamte deutsche Volk“.
Die Grundlage der politischen Ordnung Das Grundgesetz ist die unangefochtene Grundlage der politischen Ordnung unseres Landes. In der Welt wird es längst als eine der großen Verfassungen angesehen, die jungen Demokratien als Orientierung und anderen Staaten bei der Verfassungsgebung als Vorbild dient. Unumwunden können wir im 70. Jahr seines Bestehens sagen, dass das Grundgesetz zu den besonderen Glücksfällen der deutschen Geschichte gehört. Doch was verleiht dem Grundgesetz ein solches Ansehen und diese hohe Akzeptanz in unserem Staat?
Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates hatten bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes den Untergang der Weimarer Demokratie und die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur vor Augen. Aus diesen Erfahrungen heraus wiesen sie den Grundrechten eine herausgehobene Stellung zu. Im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung unterliegen die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen und die föderale Ordnung der „Ewigkeitsgarantie“ aus Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes. Das Grundgesetz sollte stärkere Sicherungen gegen eine Aushöhlung der Verfassung erhalten als in Weimar. Vor allem die Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt, die Garantie des Rechtsschutzes und die Verfassungsbindung des Gesetzgebers haben die Demokratie des Grundgesetzes zu einer Verfassungsdemokratie werden lassen. Eine herausragende Schutzfunktion für unsere Verfassung nimmt das Bundesverfassungsgericht als „Hüter der Verfassung“ wahr. Dies steht im Gegensatz zur
Einen Grund stellt sicherlich die außergewöhnliche Fähigkeit zur Bewältigung veränderter Aufgabenstellungen und neuer Herausforderungen dar. Das Grundgesetz hat sich in den vergangenen 70 Jahren den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen stets gewachsen gezeigt. In einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. Januar 2019 führt Professor Dr. Thomas von Danwitz unter dem Titel „Wert und Werte des Grundgesetzes“ hierzu aus:
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Identität und Grundgesetz Werte und Ordnungsfunktion unserer Verfassung
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Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft des Rechts. Verankert wurden Grundfreiheiten, geschaffen wurden Organe, denen Kompetenzen übertragen wurden, und Regeln, deren Nichteinhaltung sanktioniert wird. Die Erfolge europäischer Integration waren und sind immer auf Kompromisse gegründet, Kompromisse gründen dabei auf den Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Zum Interessenausgleich gehört der Streit, bei dem Freiheit und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte jedoch nicht zur Disposition stehen dürfen. So steht es geschrieben in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union, dem alle Mitgliedstaaten verpflichtet sind.
„Für das Bonner Grundgesetz ist es erstens das unbedingte Bekenntnis zur normativen Kraft einer Verfassung, die ihr Fundament in unveräußerlichen Menschenrechten als integrierende Wertordnung findet. Zweitens ist es ein Verständnis des Grundgesetzes als 'living instrument'. Es lässt nicht nur Raum für Verfassungsänderungen und einen stillen Verfassungswandel zu, sondern erkennt vor allem gestaltende Verfassungsfortbildungen durch Staatspraxis und Verfassungsgerichtsbarkeit an. Schließlich ist es drittens die Verfassungsentscheidung für eine offene Staatlichkeit, deren effiziente Ausgestaltung der Übertragung von Hoheitsrechten mehr als nur ein beliebiger verfassungsrechtlicher Mechanismus ist. Dieser 'Integrationshebel' hat die europäische Einigung auch inhaltlich vorweggenommen. Denn nur so war es der Bonner Republik möglich, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen. Daher gehört auch diese Grundsatzentscheidung des Grundgesetzes zu dem, was Andreas Vosskuhle als dessen 'Quellcode' bezeichnet hat. […] Daher wird man heute die Bestrebungen in so manchen europäischen und außereuropäischen Staaten, den freiheitlichen Rechtsstaat und die Unabhängigkeit der Justiz und mit ihnen die praktische Wirksamkeit der gewährten Grund- und Menschenrechte zu untergraben, als die wohl größte Herausforderung für die Wertordnung des Grundgesetzes ansehen müssen.“
»Zum Interessenausgleich gehört der Streit, bei dem Freiheit und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte jedoch nicht zur Disposition stehen dürfen.« Ohne Zweifel haben wir als wiedervereinigtes Deutschland von dem europäischen Einigungsund Integrationsprozess wie kaum ein anderes Land der 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union profitiert. Wir als Deutschland treten ein für ein starkes Europa und für europäische Lösungen, wir dürfen dabei aber nie vergessen, die anderen – vor allem kleineren – Mitgliedstaaten sowie unsere Nachbarn im Osten und Süden Europas auf diesem Weg mitzunehmen und angemessen einzubinden. Die Europäische Union ist nicht nur eine Rechts- und Wertegemeinschaft, sondern vor allem auch ein Friedensprojekt, das uns seit 70 Jahren Frieden garantiert. Und für die allermeisten Menschen in unserem Land ist diese Europäische Union eine Herzensangelegenheit, für die es sich einzusetzen lohnt.
Das Grundgesetz stellt das Fundament unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Deutschland dar. So ist unser Land Teil der freien Welt geworden, das im Frieden mit allen seinen Nachbarn lebt. Vor allem hierfür können wir dankbar und glücklich sein, denn der Frieden ist keine Selbstverständlichkeit – jeden Tag müssen wir uns für ihn einsetzen, um ihn zu bewahren. Denn Kriege waren in Europa seit Jahrhunderten traurige Normalität. Die Europäische Union als Gemeinschaft des Rechts
Deutsche Integrationsleistungen
Vor allem seit dem Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrages im Jahr 2005 – Frankreich und die Niederlande lehnten ihn durch Volksabstimmungen ab – klagen wir über eine Krise der Europäischen Union und ihrer Institutionen. Wir erleben seit dieser Zeit eine Vertrauenskrise in das politische Einigungsprojekt Europas, die sich über die Jahre hinweg verstärkt hat.
Deutschland ist ein offenes, vielfältiges, pluralistisches, ökonomisch starkes und wohlhabendes Land. Soziale Marktwirtschaft und Sozialstaatlichkeit eröffnen gute Lebenschancen für alle in unserem Land. Dies alles macht Deutschland für viele Menschen in der Welt zu einem attraktiven Land. Inzwischen ist Deutschland Heimat für Menschen aus mehr als 190 Nationen geworden.
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»In der Welt wird das Grundgesetz längst als eine der großen Verfas sungen angesehen, die jungen Demokratien als Orientierung und anderen Staaten bei der Verfassungsgebung als Vorbild dient.«
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das die Integrationsfähigkeit unseres Landes nicht überfordert.
Lassen sie mich kurz in die jüngere Vergangenheit unseres Landes zurückblicken: Zuwanderung und Migration sind für Deutschland nicht neu. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind viele Millionen Menschen nach Deutschland gekommen, als Vertriebene, als Aussiedler, als Gastarbeiter, als Flüchtlinge oder als nachgezogene Familienangehörige. Rund 17 Millionen von ihnen kennen Einwanderung aus ihrer eigenen Erfahrung oder auch als Teil ihrer Familiengeschichte. Deutschland hat – und darauf können wir auch stolz sein – eine grandiose Integrationsleistung vollbracht.
Integration als Integration in den Rechtsstaat Ich bin der festen Überzeugung, dass Integration nur gelingt, wenn wir als aufnehmende Gesellschaft eine klare Vorstellung davon haben, was im Zusammenleben von Einheimischen und Migranten in Deutschland gelungen ist und an welchen Stellen wir von beiden Seiten Verbesserungsbedarf haben. Denn wer zu uns kommt und wer hier lebt, genießt die Vorzüge unserer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Unsere freiheitlich-demokratische Verfassung gewährleistet beispielsweise die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Religion sowie die ungestörte Religionsausübung. Um diese Freiheit innerhalb der gesamten rechtsstaatlichen Konzeption zur Geltung zu bringen, in dem die Gewissens- und Religionsfreiheit ebenso wie weitere Freiheitsrechte alle staatliche Gewalt binden, müssen die verschiedenen Grundrechte durch Abwägung der unterschiedlichen Rechtsgüter miteinander in Einklang gebracht werden.
Zuwanderung gehört wie unsere christlich-abendländisch geprägte Kultur- und Werteordnung zur Historie Deutschlands. Unsere gemeinsamen Werte bilden das Fundament, auf dem das Zusammenleben ermöglicht wird. Denn einerseits schützt das Grundgesetz alle in Deutschland lebenden Menschen in gleicher Weise, andererseits ist es für alle Menschen auch in gleicher Weise verpflichtend. In den Jahren 2015 und 2016 waren Deutschland und Europa mit einer der größten Fluchtbewegungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs konfrontiert. Nahezu eine Million Menschen suchten unter anderem auf der Flucht vor Krieg und Leid Zuflucht in unserem Land, viele von ihnen stellten Asylanträge. Deutschland ist in dieser schwierigen Situation seinen humanitären und rechtlichen Verpflichtungen mehr als gerecht geworden und auch zukünftig werden wir unsere Verpflichtungen achten.
»Voraussetzung für Integration ist es, dass der Rechtsstaat von jedem, der in unserem Land lebt, akzeptiert und verinnerlicht wird.« Grundlegende Werte unserer Verfassungsordnung – etwa die Gleichberechtigung von Mann und Frau – dürfen nicht dadurch beeinträchtigt oder gar ausgehöhlt werden, dass Menschen, die aus anderen Kultur-, Religions- und Rechtskreisen zu uns kommen, exzessiv von den hiesigen Freiheitsgarantien Gebrauch machen wollen.
Dieser Befund mag aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Flüchtlingsschutz immer zunächst nur Schutz auf Zeit bedeutet, denn wir wissen auch, dass die Möglichkeiten unseres Landes nicht unbegrenzt sind. Klar ist, dass wir nicht alle dauerhaft aufnehmen können, die zu uns gekommen sind und zu uns kommen möchten. Wir haben in den vergangenen Jahren viele Maßnahmen wie etwa das EU-Türkei-Abkommen, einen verbesserten EU-Außengrenzschutz, mehrere Asylrechts- und Ausweisungsrechtsverschärfungen umgesetzt, die den Flüchtlingszustrom nach Deutschland regeln. Und um es klar anzusprechen: Wer bestandskräftig keinen asylrechtlichen Schutz beanspruchen kann, ist nicht als schutzbedürftig anerkannt und muss Deutschland auch wieder verlassen. Wir begrenzen damit Zuwanderung auf ein Maß, das die gesellschaftliche Akzeptanz nicht übersteigt und
Der Rechtsstaat prägt die Identität unserer Verfassung. Er ist nicht nur Teil unserer Werteordnung, sondern dient ihrem Schutz. Voraussetzung für Integration ist es, dass der Rechtsstaat von jedem, der in unserem Land lebt, akzeptiert und verinnerlicht wird. Integration bedeutet deshalb Integration in den Rechtsstaat, der in kultureller, weltanschaulicher und religiöser Hinsicht Freiheiten garantiert, und gleichzeitig – im Sinne einer Wehrhaftigkeit – die Identität unserer Werteordnung sichert und erhält.
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»Zuwanderung gehört wie unsere christlich-abendländisch geprägte Kultur- und Werteordnung zur Historie Deutschlands.«
In einer Rede am 29. November 2016 in Offenbach hat Bundespräsident a.D. Joachim Gauck unter anderem zum Thema „Zusammenleben von Einheimischen und Zugewanderten“ Folgendes gesagt:
Deutschland als sein neues Zuhause betrachtet, seine Rechte und Pflichten wahrnehmen und Teil dieser Gesellschaft werden will. […] Die entscheidende Trennlinie in unserem Land verläuft nämlich nicht zwischen alten und neuen Deutschen, zwischen Einheimischen und Zugewanderten, auch nicht zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Die entscheidende Trennlinie verläuft zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten, zwischen jenen, die eine offene und demokratische Gesellschaft verteidigen wollen und werden, und jenen, die die Meinungsfreiheit nur ausnutzen, um Zwietracht, Hass und Gewalt zu säen.“
„Integration ist nicht nur eine große Herausforderung für die aufnehmende Gesellschaft, sie ist auch eine Herausforderung für die Hinzukommenden. Wohl kann der Staat viel tun, und das muss er auch, denn er muss ja Nachteile ausgleichen. Er kann Sprach- und Integrationskurse anbieten, die interkulturelle Kompetenz von Lehrern, Polizisten oder Verwaltungsmitarbeitern erhöhen, die Aufnahme von Migranten in den Arbeitsmarkt fördern, er kann den Besonderheiten von Religionsgemeinschaften Rechnung tragen, von Juden und Muslimen, Aleviten und Jesiden, von Buddhisten, Sikhs und Bahai. Aber letztlich hängt es vom Willen eines jeden Einwanderers ab, ob er
Insgesamt können wir nach 70 Jahren Grundgesetz sagen, dass wir als Nation viel gelernt und viel geleistet haben und auf das Erreichte stolz sein können. Wir sind uns der neuen, vor uns liegenden Herausforderungen bewusst. Stellen wir uns ihnen mit Mut und Selbstvertrauen.
Nina Warken MdB ist Mitglied in den Ausschüssen für Recht und Verbraucherschutz sowie für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Die 39-Jährige ist Integrationsbeauftragte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und steht dem Bundesfachausschuss "Innere Sicherheit" der CDU Deutschlands als Vorsitzende vor.
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Perspektiven auf unsere Verfassung Interview: Christine Hegenbart Fotografie: Jens Oellermann
Perspektiven auf unsere Verfassung Trotz seiner immensen Bedeutung für unser Land hat man oft den Eindruck, dass das Grundgesetz im Alltag der Deutschen nicht sehr präsent ist. Doch seine Inhalte werden in Schulen, Universitäten, Einbürgerungs- und Integrationskursen den Menschen nähergebracht. CIVIS mit Sonde hat mit Ann-Cathrin Simon, einer Jura-Studentin, und Ali Aborashed, einem Geflüchteten aus Syrien, über ihre Perspektiven auf unser Grundgesetz gesprochen.
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Ali Aborashed
ist 53 Jahre alt und lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Berlin. Vor einem Jahr kam er aus Damaskus als Flüchtling nach Deutschland. Vor sechs Monaten nahm er am Integrationskurs teil. Der gebürtige Palästinenser hat englische Literatur und Medien studiert und arbeitete in Syrien für die Flüchtlingshilfe der UN in der Verwaltung. In Deutschland sucht er gerade eine Arbeitsstelle. Hierzu lernt er Deutsch und möchte sich weiterbilden.
CIVIS: Im Integrationskurs wird auch über die deutsche Rechtsordnung sowie die Geschichte und Kultur Deutschlands gesprochen. Was haben Sie dort gelernt? Was fanden Sie am interessantesten?
eigentlich nicht so groß sind – auch wenn dies auf den ersten Blick so scheint. Insbesondere die deutschen Dörfer erinnern mich an die syrische Kultur – beide konservieren stets ihre ganz eigene Kultur.
Aborashed: Der Integrationskurs hat mir geholfen, mich in die deutsche Gesellschaft einzupassen. Durch ihn habe ich die deutsche Kultur und die historischen Hintergründe kennen und verstehen gelernt. Was mich besonders interessiert, ist, wie Deutschland nach der großen Katastrophe des Zweiten Weltkrieges ein neues (gesellschaftliches) Leben starten und neu anfangen konnte. Insbesondere die schnelle Entwicklung der deutschen Wirtschaft ist in der Rückschau beeindruckend. Vor ähnlich großen Herausforderungen wird auch Syrien stehen, wenn der Bürgerkrieg beendet ist. Deutschland ist für mich bis in die heutige Zeit ein sehr interessantes Land.
»Wir sind nach Deutschland geflüchtet, weil unsere Würde in Syrien antastbar war und ist.« CIVIS: Das Grundgesetz beginnt mit 19 Artikeln zu den Grundrechten. In Artikel 1 steht zu lesen „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Welche Bedeutung haben diese Worte für Sie persönlich? Aborashed: Ich habe mich mit dem Grundgesetz im Integrationskurs beschäftigt. Als ich Artikel 1 gelesen habe, habe ich mir gewünscht, dass es dieses Grundrecht auch in meinem Land gibt. Eines der wichtigsten Dinge im Leben ist die Würde des Menschen. Wir sind nach Deutschland geflüchtet, weil unsere Würde in Syrien antastbar war und ist.
CIVIS: Hat sich durch die Kursinhalte Ihr Blick auf Deutschland verändert? Aborashed: Die Informationen, die ich im Integrationskurs bekommen habe, haben mir sehr geholfen. Sie haben mir gezeigt, dass die Unterschiede zwischen meiner Kultur und der deutschen Kultur
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CIVIS: Im Grundgesetz sind auch die wichtigsten Staatsprinzipien wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit niedergelegt. Wie beurteilen Sie diese beiden Prinzipien in Deutschland?
In Syrien gibt es all dies nicht. Selbst Gesetze, die auf dem Papier stehen, werden nicht einmal richtig angewendet. CIVIS: Deutschland tut sich noch immer schwer mit (Verfassungs-)Patriotismus. Können die Deutschen zum 70. Jubiläum stolz auf ihr Grundgesetz, ihre Verfassung sein? Das Grundgesetz garantiert die Grundrechte für die deutsche Bevölkerung und schließt in weiten Teilen alle Menschen ein, die in Deutschland leben. Auch weist das Grundgesetz den deutschen Parteien eine zentrale Rolle im demokratischen System zu.
»Artikel 5 ist der beste Artikel im Grundgesetz. Er erlaubt es den Menschen, offen etwas gegen die Regierung zu sagen.« Aborashed: Das Grundgesetz schützt die Demokratie und alle Menschen in Deutschland, egal woher sie kommen. Und das Grundgesetz hat ein wichtiges Ziel, nämlich Gerechtigkeit und Gleichheit zwischen Menschen zu verwirklichen und ihnen Meinungsfreiheit zu gewährleisten.
Aus meiner Sicht ist Artikel 5 der beste Artikel im Grundgesetz. Er erlaubt es den Menschen, offen etwas gegen die Regierung zu sagen. Das könnten wir in unserem Land nie machen. Auf diese Errungenschaft können die Deutschen stolz sein.
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Ann-Cathrin Simon
ist 22 Jahre alt und studiert im 6. Semester Rechtswissenschaften an der Karl-Ruprechts-Universität in Heidelberg mit dem Schwerpunkt Wirtschafts- und Europarecht. Sie ist Kreisvorsitzende der Jungen Union RemsMurr und arbeitet als studentische Mitarbeiterin im Wahlkreisbüro des Parlamentarischen Staatssekretärs Steffen Bilger MdB.
CIVIS: Im Zentrum der Verfassungsrechtsvorlesung des Jurastudiums steht das Grundgesetz. Was haben Sie dort gelernt? Welche Inhalte fanden Sie persönlich am interessantesten?
Für mich stellt unser Grundgesetz einen Wertekompass dar. Dieser dient nicht nur uns Deutschen zur ständigen Orientierung im Alltag, sondern auch den vielen Menschen, die im Rahmen der Migration zu uns kommen.
Simon: Wir haben uns in der Vorlesung mit den Grundrechten sowie dem Staatsorganisationsrecht befasst. Hier ist mir erst die Tragweite des Grundgesetzes als unser steter Begleiter im Alltag – sei es in Form der Grundrechte oder der Verfassungsprinzipien – bewusst geworden. Es dient als Grundlage für jegliche Form der juristischen Abwägung und Auslegung und bildet das Fundament unseres Rechtssystems. Diese zentrale Bedeutung ist einzigartig. Schließlich fasziniert mich die Genese. Es ist erstaunlich, welche Weitsicht hinter dem Grundgesetz steht, dass es selbst nach 70 Jahren noch als Grundlage unseres Zusammenlebens dienen kann.
»Es ist erstaunlich, welche Weitsicht hinter dem Grundgesetz steht, dass es selbst nach 70 Jahren noch als Grundlage unseres Zusammenlebens dienen kann.« CIVIS: Das Grundgesetz beginnt mit 19 Artikeln zu den Grundrechten. Im Artikel 1 steht zu lesen „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Welche Bedeutung haben diese Worte für Sie persönlich?
CIVIS: Hat sich durch diese Vorlesung Ihr Blick auf Ihr Heimatland verändert?
Simon: Diese Worte sind das Grundprinzip unseres gesellschaftlichen Miteinanders. Jedoch werden sie oft unterschätzt und lapidar dahingesagt – man macht sich deren Bedeutung nur selten bewusst. Meiner Meinung nach ist Artikel 1 nicht nur ein Grundrecht, sondern gleichsam eine Grundpflicht und ein Auftrag für uns alle.
Simon: Mir ist bewusst geworden, welches Privileg es ist, in einem Rechtsstaat wie Deutschland leben zu dürfen. Gerade auch im Vergleich zu anderen Ländern, welche von einem Grundgesetz wie dem unseren nur träumen können.
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CIVIS: Im Grundgesetz sind auch die wichtigsten Staatsprinzipien, wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, niedergelegt. Wie beurteilen Sie diese beiden Prinzipien derzeit in Deutschland? Simon: Die Prinzipien sind von fundamentaler Bedeutung für unser Selbstverständnis als Gesellschaft. Allerdings werden sie von uns zunehmend als selbstverständlich erachtet. Ihr Fortbestand ist kein Automatismus – nur weil sie gesetzlich festgeschrieben sind, bedeutet es nicht, dass sie auch weiterhin bestehen werden. Sie entfalten ihre Wirkung erst, wenn sie mit Leben gefüllt werden. Dazu gehört zum Beispiel die Teilnahme an Wahlen. Eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn jeder von seinem Wahlrecht Gebrauch macht.
»Fortbestand ist kein Automatismus.«
Genauso gehört es aber auch zur Demokratie, dass man die Meinungen anderer aushält. In Deutschland und Europa wird dies zunehmend auf die Probe gestellt. Wir dürfen diese Entwicklung nicht als Gefahr wahrnehmen, sondern als Chance für die Demokratie, die im Streit um die bessere Meinung nur noch stärker wird. CIVIS: Deutschland tut sich noch immer schwer mit (Verfassungs-)Patriotismus. Können wir zum 70. Jubiläum stolz auf unser Grundgesetz sein? Simon: Es ist schade, dass wir uns mit diesem Patriotismus noch immer so schwertun und in eine Verteidigungshaltung verfallen, wenn wir dann doch mal ein patriotisches Gefühl aufkommen lassen. Natürlich ist es wichtig, dass wir stets im Bewusstsein unserer Vergangenheit agieren. Trotzdem können wir stolz darauf sein, wie sich Deutschland nach der Zeit des Nationalsozialismus erholt und demokratisch, rechtsstaatlich und sozial formiert hat. Das Grundgesetz ist Ergebnis ebendieses Wandlungsprozesses. Es mahnt vor den Fehlern der Vergangenheit und legt die Grundregeln dafür, dass etwas dergleichen nie wieder passieren kann. Wir müssen das Grundgesetz als Auftrag und Verantwortung sehen, seinen Inhalt und Werte zu wahren und auch in Zukunft mit Leben zu füllen. Schließlich ist es eine der größten Errungenschaften des letzten Jahrhunderts, auf welche wir mehr
als stolz sein können!
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II. Funktionen des Staats Der deutsche Staat funktioniert nach dem Grundgesetz als Rechtsstaat. Im Einzelfall entscheidet die Justiz, ihre Entscheidungen müssen vollzogen werden. Sie basieren auf Gesetzen, die auf transparente Weise zustande kommen. Der Rechtsstaat wirkt in seinem Streben nach Gerechtigkeit auch über die Landesgrenzen hinaus. Drei Beiträge.
von Philipp Amthor
Der Rechtsstaat als Argument Zu den dogmatischen Grundlagen und dem politischen Gebrauch des Rechtsstaatsprinzips
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Das Rechtsstaatsprinzip ist der wohl zentrale Grundton, auf den unsere Verfassung gestimmt ist. Es ist ein Prinzip, das innerhalb der Rechtswissenschaft wegen seines hohen Abstraktionsgrades immer wieder auf Vorbehalte stößt, das in politischen Debatten wegen seines durchaus schillernden Klanges allerdings häufig Verwendung findet – insbesondere in Zeiten, in denen das Ver trauen in den Rechtsstaat in besonderer Weise herausgefordert scheint. Wer den Rechtsstaat als Argument bemüht, sollte dabei allerdings Vorsicht walten lassen.
I. Rechtsstaat als dogmatisches Argument
Dies gipfelte darin, dass der Staatsrechtler Helmut Ridder schon vor über 20 Jahren zu dem Befund gelangte, dass der Rechtsstaat bereits 1.000 Bände fülle, weshalb es sich erübrige, noch weitere Bände hinzuzustellen – eine nicht ganz einsame Einschätzung, die angesichts des Umstandes, dass bisweilen bis zu 150 einzelne Elemente unter das Rechtsstaatsprinzip subsumiert werden, in dem verbreiteten Verdruss mündete, dass das Rechtsstaatsprinzip bisweilen alles und nichts zu beinhalten scheine.
Die besondere Bedeutung des Rechtsstaates für das deutsche Staatsrecht offenbart schon ein Blick in unsere jüngere deutsche Verfassungsgeschichte: So gebraucht zwar die Weimarer Reichsverfassung, deren 100. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, den Begriff des Rechtsstaates textlich nicht, zeigt sich inhaltlich aber gleichwohl der Dogmatik und der Idee des Rechtsstaates als Gesetzesstaat klar verpflichtet. Obschon oder gerade weil diese Idee alsdann vom Nationalsozialismus hinweggefegt wurde, der eine rücksichtslose Staatsgewalt über den Rechtsstaat stellte, spielte der Rechtsstaatsgedanke bei der Konzeption unseres Grundgesetzes vor 70 Jahren eine zentrale Rolle. Dies sogar insoweit als das Rechtsstaatsprinzip guten Gewissens als Grundton interpretiert werden kann, auf den die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Grundrechte und das Staatsorganisationsrecht unserer Verfassung gestimmt haben. Dass sich die Grundentscheidung für das Rechtsstaatsprinzip gleichwohl nur in schmalen expliziten Vorgaben des Verfassungstexts wiederfindet (vgl. Artt. 23 Abs. 1 S. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG), macht die nähere Konturierung des Rechtsstaatsprinzips zu einer besonderen Herausforderung.
»Sollte man sich radikal von dem Rechtsstaatsprinzip als dogmatischem Argument verabschieden?« Der Staatsrechtler Philipp Kunig schlussfolgerte aus der schwierigen Konkretisierbarkeit des Rechtstaatsprinzips deshalb gar, dass sogar eine Streichung des Prinzips aus dem juristischen Wortschatz zugunsten einer dogmatischen Beschränkung auf die Grundrechte und das Staatsorganisationsrecht angezeigt sei. Sollte man sich also radikal von dem Rechtsstaatsprinzip als dogmatischem Argument verabschieden?
Angesichts der besonderen Konkretisierungs- und Ausformungsbedürftigkeit des Rechtsstaatsprinzips verwundert es kaum, dass die dogmatischen Konturen des Rechtsstaates innerhalb der Rechtswissenschaft immer wieder Gegenstand intensiver Forschung und kontroverser Diskussionen waren.
Ein Verzicht auf eine nähere dogmatische Ausgestaltung des Rechtstaatsprinzips als Argument würde den Rechtsstaat selbst vor ein Problem stellen: Richter, Anwälte und Gutachter, die unter Entscheidungs- und Begründungszwang stehen,
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können nämlich keine Rechtsfigur anwenden, die sie nicht auszufüllen wissen. Und auch der verfassungsändernde Gesetzgeber könnte die Bestandsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG („Ewigkeitsgarantie“) nicht auf ein Rechtsstaatsprinzip erstrecken, dessen Inhalt er nicht ergründen kann. Deshalb ist eine nähere Konturierung des Rechtsstaatsprinzips also durchaus notwendig und sinnvoll, wenn auch mühsam – insbesondere mühsamer und komplexer als es sich im Rahmen des vorliegenden Kurzbeitrages leisten ließe.
Kurzum: Ein theoretisch handhabbarer Vorschlag für einen denkbaren Umgang mit dem Rechtsstaatsprinzip, der zeigt, dass es zwar zugegebenermaßen abstrakt und mühsam, aber nicht vergebens ist, das Rechtsstaatsprinzip dogmatisch zu rekonstruieren. Der Rechtsstaat eignet sich also auch als dogmatisches Argument – wenn auch als kompliziertes Argument, das notwendigerweise nicht gerade von praktischer Handhabbarkeit, sondern vor allem von Abstraktion lebt.
Jede Arbeitshypothese für eine dogmatische Konturierung des Rechtsstaatsprinzips muss akzeptieren, dass es keinen fest anerkannten Kanon von Elementen des Rechtsstaatsprinzips gibt und dass deren nähere Identifizierung allenfalls Teil eines iterativen Prozesses sein kann. Einen profunden Beitrag dazu hat etwa Katharina Gräfin von Schlieffen mit ihrer Habilitationsschrift erbracht, in der sie die fast 150 Merkmale, die dem Rechtsstaat gelegentlich zugeschrieben werden, auf ihre Tauglichkeit untersucht hat. Zu den wesentlichen Merkmalen zählt sie unter anderem die Verfassungs- und Rechtsbindung, das Differenzgebot (Gewaltenteilungen), den Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt, den Begründungszwang, das Willkürverbot, das Bestimmtheitsgebot und die Verhältnisgerechtigkeit.
»Emotional wird es, wenn das Rechtsstaatsprinzip nicht nur dogmatisch, sondern auch politisch diskutiert wird.« II. Rechtsstaat als politisches Argument Juristische Prinzipien und das ihnen eigene Abstraktionsniveau sind klassischerweise emotio nal relativ blutleer. Weit weniger blutleer, sondern eher emotional wird es hingegen, wenn das Rechtsstaatsprinzip nicht nur dogmatisch, sondern auch politisch diskutiert wird. Drei aktuelle Beispiele zeigen, dass die politischen Diskussionen über Rechtsstaatlichkeit dabei aber nicht immer der dogmatischen Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit genügen.
»Der Vorschlag zeigt, dass es zwar abstrakt und mühsam, aber nicht vergebens ist, das Rechtsstaatsprinzip dogmatisch zu rekonstruieren.«
Fall 1 (Ellwangen): Bundesweite Aufmerksamkeit erregte im vergangenen Jahr eine zunächst gescheiterte Dublin-Überstellung eines 23-jährigen Westafrikaners von Ellwangen nach Italien. So hatten bis zu 200 Bewohner der Asylunterkunft in Ellwangen teils gewaltsam den Vollzug der Abschiebung des Westafrikaners verhindert. Erst drei Tage später vollzog die Polizei dann mit einem neuen Großeinsatz die Rückführung. Dieser Fall wurde in der medialen und öffentlichen Wahrnehmung teilweise herangezogen, um die vorgebliche Schwäche des deutschen Rechtsstaats zu belegen. So sprach beispielsweise Jörg Meuthen als Bundessprecher der AfD von einer „Kapitulation des Rechtsstaats“ und seine Parteikollegin Alice Weidel sah den „Rechtsstaat von seinen Gästen mit Füßen getreten.“ Doch ist es rechtsstaatswidrig, wenn die Polizei den Vollzug einer Abschiebung in einem zweiten Versuch wiederholen muss? Oder ist es – wie mancher Freund einer allzu liberalen Migrationspolitik vielleicht behaupten würde –
Systematisiert werden die als wesentlich identifizierten Elemente dann innerhalb von drei Kategorien: Erstens in den Konstitutionselementen und der Idee, dass Staatlichkeit notwendigerweise rechtskonstituiert ist, so dass erst das Recht die öffentliche Gewalt konstituiert; zweitens in den Nomokratieelementen und der Idee, dass nicht nur Menschen, sondern auch Gesetze herrschen sollen – etwa durch unabhängige Richter und durch verfassungsgebundene Politiker; und drittens in den Relationselementen und der Idee, dass das gesetzliche Recht verhältnismäßig umzusetzen ist, so dass das Ideal nicht nur Rechtsvollzug, sondern auch eine verhältnisentsprechende Gerechtigkeit ist.
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»Der Rechtsstaat erfordert, dass geltendes Recht auch durchgesetzt und vollzogen wird.«
vielleicht sogar auch rechtsstaatswidrig, einen Menschen gegen seinen Willen mit starkem Polizeivollzug abzuschieben? Beides ist nicht der Fall. Im Gegenteil: Der Rechtsstaat erfordert, dass geltendes Recht auch durchgesetzt und vollzogen wird – dazu gehört es auch, dass eine vollziehbare Ausreisepflicht gegen Widerstände durchgesetzt wird. Und ja, rechtsstaatlich ist es auch, dass die Staatsgewalt zu einem zweiten Vollzug ansetzt, sofern es die Verhältnismäßigkeit gebietet, einen ersten Vollzugsversuch abzubrechen. Eingedenk dessen belegt der Fall Ellwangen also keine Kapitulation des Rechtsstaates, sondern im Gegenteil dessen Wirklichkeit.
erfolglose Abschiebebestrebungen gegen den islamistischen Gefährder berichtet wurde, hatten die Bochumer Ausländerbehörde und das Innenministerium Nordrhein-Westfalen die Abschiebung veranlasst, obwohl diese zuvor vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen gerichtlich untersagt, den Behörden jedoch (vermeintlich) nicht rechtzeitig mitgeteilt wurde. Anschließend beurteilte das Oberverwaltungsgericht Münster diese Abschiebung als „offensichtlich rechtswidrig“. Für die AfD-Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Alice Weidel, zeige dieser Fall in erschreckender Weise auf, „wie sehr sich Behörden und Gerichte vom gesunden Menschenverstand entfernt haben“. Ihr Kollege Alexander Gauland erklärte, es bestünde die Gefahr, dass deutsche Gerichte durch solche Entscheidungen zum „Totengräber des Rechtsstaats“ würden. Verteidigt man so den Rechtsstaat? Ganz sicher nicht, da der Rechtsstaat nicht Politiker verlangt, die ihre politische Vorstellung über gerichtliche Entscheidungen stellen.
Fall 2 (Sami A.): Auch die problematische Abschiebung des tunesischen Predigers Sami A., der mutmaßlich als Leibwächter von Osama bin Laden agierte, wurde im vergangenen Jahr immer wieder als Problemfall für den Rechtsstaat herangezogen. Nachdem in den Medien immer wieder über
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Stattdessen verlangt der Rechtsstaat eine klare Abfolge: Erstens, dass der Gesetzgeber das Recht erlässt, zweitens, dass die Exekutive das Gesetz vollzieht und drittens, dass Richter im Einzelfall bestimmen, was Recht ist.
ausstatten wollen, sondern diejenigen Politiker, die stattdessen bewusst Lücken im Gefahrenabwehrrecht dulden.
Dabei lassen sich mit Blick auf den Fall Sami A. – unabhängig von einer Beurteilung der Richtigkeit der konkreten Entscheidung – drei Probleme ausmachen: Zum einen war die Rechtslage allzu unübersichtlich, zum anderen ermöglichte die Ungeschicklichkeit der Exekutive den viel zu langen Aufenthalt des Gefährders in Deutschland und schließlich kam es zu einer rechtswidrigen Nichtbefolgung einer gerichtlichen Entscheidung. Dies verdeutlicht, was ein guter Beitrag für den Rechtsstaat wäre: Gute Gesetze und die Stärkung einer guten Verwaltung – und nicht Richterschelte.
Was muss die Lehre aus dem juristischen Vorspiel und den genannten Beispielen sein? Zunächst sicher die Erkenntnis, dass der Rechtsstaat unter Druck steht und nicht immer als überzeugendes Argument verwendet wird. Darüber hinaus aber ganz sicher auch die Erkenntnis, dass der Rechtsstaat verteidigt werden muss.
III. Rechtsstaat und Gesellschaft
»Für Politik und Wissenschaft ist es eine stete Aufgabe, für das Rechtstaatsprinzip zu werben.«
Fall 3 (Kompetenzen im Polizeirecht): Auch in aktuellen Diskussionen um Kompetenzen im Polizeirecht wird immer wieder der Rechtsstaat als politisches Argument bemüht. Besonders heftig wurde dabei im vergangenen Jahr über das neue Bayerische Polizeiaufgabengesetz (PAG) diskutiert. FDP, Grüne und Linke hatten sich dazu in einer sogenannten „Allianz für den Rechtsstaat" gegen das PAG zusammengeschlossen. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner kritisierte in diesem Zusammenhang, dass das PAG keinen Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit schaffe, sondern ein Angriff auf die Freiheit und ein Paradigmenwechsel vom Rechtsstaat zum Obrigkeitsstaat sei.
Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den in diesem Jahr verstorbenen früheren Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, der treffend beschrieben hat, dass der Staat stets auch von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Dies ist auch für den Rechtsstaat besonders relevant. Er konstruiert sich dogmatisch nämlich gerade nicht aus normativen Gesinnungen oder Rechtsgefühlen der Bürger, sondern er ist ein Konstrukt, das sich gerade als Gegenwelt zu den Sehweisen des Alltags ausgebildet und bewährt hat. Er hält Distanz zur Alltagskultur und ist nicht für jedermann begreiflich. Gerade deshalb muss dieses Prinzip – ganz im Sinne Böckenfördes – vice versa aus seiner Abstraktheit heraus aber auch in die Herzen und Überzeugungen der Menschen vordringen, wenn es sich gesellschaftlich rechtfertigen will. Deshalb ist es für Politik und Wissenschaft eine stete Aufgabe, für das Rechtstaatsprinzip zu werben – ohne Populismus, mit Ernsthaftigkeit und Konsequenz.
»Die Kritiker moderner Polizeigesetze machen es sich zu leicht.« Ist das eine rechtsstaatliche Argumentation? Nein. Die Kritiker moderner Polizeigesetze machen es sich zu leicht: Sie behaupten eine Erosion des Rechtsstaates und einen Abbau von Bürgerrechten und lassen außer Acht, dass gerade die Reformziele einer stärkeren Aufklärung und Abwehr von Straftaten der Wehrhaftigkeit des Rechtsstaates dienen.
Kurzum: Der Rechtsstaat hängt nicht nur von seinen verfassungsrechtlichen Grundlagen ab. Er hängt auch von der Verfassung unserer politischen Kultur und von der Verfassung unserer Herzen und Gemüter ab, die wir für unseren Rechtsstaat stets couragiert und offen halten sollten. Wir sollten den Rechtstaat nicht mit leichtfertigen Argumenten gefährden, sondern ihn mit Ernsthaftigkeit feiern.
Sie malen in düsteren Farben antizipierte und vorgebliche Grundrechtseinschränkungen und verkennen, dass nicht diejenigen Politiker eine Gefahr für den Rechtsstaat sind, die Sicherheitsbehörden mit Kompetenzen auf der Höhe der Zeit
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»Der Rechtsstaat ist ein Konstrukt, das sich gerade als Gegenwelt zu den Sehweisen des Alltags ausgebildet und bewährt hat.«
Philipp Amthor ist Jurist und Mitglied des Deutschen Bundestages. Für die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion ist er Experte für Verfassungsrecht im Ausschuss für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages.
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Die Bundesrepublik und das WeltrechtsÂprinzip Wie Deutschland mit den Mitteln des Rechtsstaats gegen die Verbrechen in Syrien vorgeht
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von Pauline Brosch
Es ist ein Meilenstein in der Aufklärung der Verbrechen des syri schen Regimes: Auf der Grundlage des Weltrechtsprinzips gehen deutsche Behörden strafrechtlich gegen syrische Kriegsverbre cher vor. Angesichts der beschränkten Möglichkeiten internatio naler Aufklärungsmechanismen schultert Deutschland auf diese Weise internationale Verantwortung. Pauline Brosch stellt die Funktionsweise des Weltrechtsprinzips und seine Bedeutung für die internationale Strafjustiz dar.
sich kein syrisches Regierungsmitglied vor einem Gericht für seine Taten verantworten. Das könnte sich nun mit den Festnahmen vom Februar ändern.
Wenn in den vergangenen Monaten in Deutschland über den Konflikt in Syrien diskutiert wurde, dann ging es dabei allzu häufig um die Frage der Entziehung der Staatsbürgerschaft von Terroristen des sogenannten „Islamischen Staats“. Die Debatte hat ein wichtiges Ereignis in den Hintergrund treten lassen: die Festnahme zweier Mitglieder des Assad-Regimes in Deutschland Mitte Februar diesen Jahres.
Die Ohnmacht des internationalen Strafrechtssystems Das internationale Strafrechtssystem steht dem Morden in Syrien ohnmächtig gegenüber. Eigentlich sind die Richterinnen und Richter des internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag für die Strafverfolgung von Kriegsverbrechern zuständig. Da Syrien sich aber nicht dem Tribunal unterworfen hat, sind ihnen die Hände gebunden. Theoretisch könnte der UN-Sicherheitsrat die Angelegenheit nach Den Haag verweisen, aber solche Initiativen scheiterten bislang stets am Veto Russlands und Chinas und die politische Lage lässt nicht erwarten, dass sich daran in naher Zukunft etwas ändern wird. Aus demselben Grund ist auch ein UN-Sondertribunal – wie es für die juristische Aufarbeitung der Völkermorde in Ruanda und dem ehemaligen Jugoslawien eingerichtet wurde – keine realistische Option. Auch hierfür wäre eine Resolution des UN-Sicherheitsrats erforderlich.
»Bis heute musste sich kein syrisches Regierungsmitglied vor einem Gericht für seine Taten verantworten.« Während es sich bei der Ausbürgerung von Terroristen um eine aus rechtsstaatlicher Sicht fragwürdige und allein am nationalen Interesse orientierte Maßnahme handelt, stellt die Festnahme der Geheimdienstmitarbeiter Anwar R. und Eyad A durch Beamte des Bundeskriminalamtes einen Meilenstein in den internationalen Bemühungen dar, syrische Kriegsverbrecher strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges im Jahr 2011 erreichen uns nahezu täglich Nachrichten über schlimmste Kriegsverbrechen in Syrien; Menschenrechtsorganisationen berichten seit Jahren über die Folter und Tötung von Frauen und Männern in den Gefängnissen des Assad-Regimes. Und dennoch: Bis heute musste
Das Weltrechtsprinzip in Aktion Angesichts der gelähmten internationalen Strafjustiz sind Verfahren in Drittstaaten wie Deutschland die einzige Möglichkeit, um die Straflosigkeit in Syrien zu beenden. Nationalen Ermittlungsbehörden und Gerichten kommt eine Auffangrolle zu.
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verantwortlich, Demonstranten und Deserteure festzunehmen und zu dem von Anwar R. geleiteten Gefängnis zu verbringen. Diese Art von Fällen spiegeln das Ausmaß und die Systematik der Verbrechen des syrischen Regimes wider und können den Opfern zumindest ein kleines Gefühl von Gerechtigkeit verschaffen.
Möglich ist dies durch das sogenannte Weltrechtsprinzip. Dieses völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtsinstitut erlaubt es Staaten, Völkerstraftaten wie Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen, auch wenn die Taten keinen Bezug zu dem ermittelnden Land haben, also die Tat weder dort stattgefunden hat, noch Opfer oder Täter Angehörige des ermittelnden Staates sind.
Die Festnahmen sind auch über den konkreten Fall hinaus für die internationale Strafjustiz von großer Bedeutung. Sie zeigen, dass Ermittlungen nach dem Weltrechtsprinzip in Drittstaaten zu echten, greifbaren Resultaten führen können und nicht nur symbolische Bedeutung haben. Freilich, Festnahmen wie die von Anwar R. und Eyad A. sind nur möglich, wenn die Täter Syrien verlassen. Aber so unwahrscheinlich ist dies gar nicht. Gut situierte Regimemitglieder können ihre Kinder im Internat in Großbritannien unterbringen oder sich im Ausland einer medizinischen Behandlung unterziehen. Erst im Februar diesen Jahres soll Deutschland vom Libanon die Auslieferung von Jamil Hassan gefordert haben, dem ehemaligen Chef des für seine besonders brutale Folter bekannten syrischen Luftwaffengeheimdienstes. Medienberichten zufolge hielt er sich für eine medizinische Behandlung in dem Nachbarland Syriens auf. Anwar R. und Eyad A. hatten in Deutschland gar Asyl beantragt.
»Nur wenige Staaten haben das Weltrechtsprinzip umfassend in nationales Recht gegossen. Deutschland ist einer davon.« Dahinter steht die Idee, dass diese Straftaten so gravierend sind, dass sie sich nicht nur gegen die einzelnen Opfer richten, sondern gegen die gesamte Menschheit und deshalb auch alle Staaten das Recht haben sollen, diese Taten zu verfolgen. Nur wenige Staaten haben das Weltrechtsprinzip umfassend in nationales Recht gegossen. Deutschland ist einer davon. Seit 2011 führt der Generalbundesanwalt Ermittlungen zu Verbrechen, die im syrischen Bürgerkrieg stattfinden. Einige der Verfahren haben bereits zu Verurteilungen geführt. Bislang standen jedoch lediglich rangniedere Mitglieder von Terrororganisationen vor Gericht. Viele von ihnen wurden zudem ausschließlich für ihre Zugehörigkeit zu einer Terrororganisation verurteilt – und nicht für die eigentlich begangenen Taten als solche. Selbstverständlich gehören auch diese Taten vor ein Gericht. Die Verfahren leisten allerdings nur einen geringen Beitrag zur strafrechtlichen Aufarbeitung des Syrienkonflikts. Denn Ziel internationaler Strafjustiz ist es, systematisch begangene Verbrechen aufzuarbeiten und diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die hierfür die größte Verantwortung tragen.
»Mit der Erschaffung des sogenannten IIIM begegnet die Generalversammlung der Untätigkeit des Sicherheitsrates.« Neue Mechanismen der internationalen Aufklärung Selbstverständlich kann Deutschland nicht sämtliche Verbrechen aufklären, die im syrischen Bürgerkrieg begangen wurden. Aber darum geht es auch gar nicht. Die UN-Generalversammlung hat im Dezember 2016 einen Ermittlungsmechanismus ins Leben gerufen, den sogenannten IIIM, der damit beauftragt ist, Beweise für Verbrechen in Syrien zu sammeln und zu analysieren. Die in Genf ansässige UN-Behörde ist eine neuartige Institution, mit deren Erschaffung die Generalversammlung der Untätigkeit des Sicherheitsrates begegnet. Anders als im Sicherheitsrat kann hier kein Staat Vorhaben durch ein Veto blockieren.
In dieser Hinsicht stellt die Festnahme von Anwar R. und Eyad A. einen Wendepunkt dar. Beide Männer waren Mitglieder des syrischen Geheimdienstes. Anwar R. leitete dort die sogenannte Ermittlungsabteilung einschließlich eines Gefängnisses, in dem die Gefangenen brutal und auf systematische Weise gefoltert wurden. Eyad A. war an einem Kontrollposten beschäftigt und dafür
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»Ermittlungen nach dem Weltrechtsprinzip können in Drittstaaten zu echten, greifbaren Resultaten führen und nicht nur symbolische Bedeutung haben.« Allerdings ist es der Generalversammlung nicht möglich, einen „richtigen“ Gerichtshof einzurichten, der verbindliche Urteile fällen kann. Die Idee hinter dem IIIM ist daher eine andere: Die von der Behörde zusammengetragenen Beweise können in Verfahren vor nationalen Gerichten – zum Beispiel in Deutschland – genutzt werden. Natio nale und internationale Strafjustiz greifen hier also in einem kooperativen System ineinander. Der IIIM liefert die Vorarbeit für Gerichtsverfahren in Drittstaaten und entlastet damit deren Justizinstitutionen. Gleichzeitig trägt die Bündelung der Ermittlung durch eine internationale Institution zu deren Effizienz bei. Bisher ist das Budget des IIIM nicht Teil des regulären UN-Etats und der IIIM auf freiwillige Beiträge angewiesen. Deutschland hat den IIIM in der Vergangenheit unterstützt und sollte dies auch weiter tun.
über ihr Martyrium vor einem Richter auszusagen und die Angeklagten erhalten die Chance, sich gegen die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu verteidigen.
»Deutschland hat die historische Chance, erstmals Mitglieder des syrischen Regimes vor Gericht zu stellen.« Anders als der Entzug der Staatsangehörigkeit stellen solche Strafprozesse eine einem Rechtsstaat würdige Reaktion auf die Gräueltaten in Syrien dar. Deutschland hat die historische Chance, erstmals Mitglieder des syrischen Regimes vor Gericht zu stellen und damit einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Straflosigkeit in Syrien und zur Stärkung des internationalen Strafrechtssystems zu leisten.
Es bleibt zu hoffen, dass die Festnahmen von Eyad A. und Anwar R. rasch zu Gerichtsverfahren führen. Dann werden Opfer die Gelegenheit haben,
Pauline Brosch, LL.M. ist Juristin und auf Fragen des Völkerstrafrechts spezialisiert. Während ihres Referendariats absolvierte sie Stationen unter anderem beim Auswärtigen Amt sowie beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Zuletzt arbeitete sie als Carlo Schmid Fellow im Büro der UN-Sonderbeauftragten für Sexuelle Gewalt in Konflikten.
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Wenn Lobbyregister, dann bitte richtig!
Ein Vorschlag mit win-win-Potenzial
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Von Patrick Sensburg
Lobbyisten bringen benötigte Kenntnisse in Gesetzgebungs prozesse ein. Gleichzeitig muss die Unabhängigkeit und Integ rität der Gesetzgebung gewahrt bleiben. Patrick Sensburg über dieses Spannungsfeld und konkrete Vorschläge für ein Lobbyre gister des Deutschen Bundestages. Demokratie braucht Lobbyismus
Lobbyismus doch oftmals verborgene oder gar illegale Einflussversuche partikularer Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter assoziiert. Die Gründe hierfür sind zwar vielfältig, allerdings erscheint ein hohes Maß an Transparenz bei der Interessenvertretung als zielführend, um die notwendige, gesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen. Umso wichtiger ist es, eine Lösung zu finden, mit der sich möglichst viele Beteiligte identifizieren können, Interessenvertretung wieder eine positive Bedeutung bekommt und damit das Vertrauen in die am Gesetzgebungsprozess beteiligten Organe erhalten bleibt beziehungsweise gar gestärkt wird. Trotz der grundlegenden Akzeptanz des Bedürfnisses nach mehr Offenheit und Nachvollziehbarkeit, muss an dieser Stelle aber auch betont werden, dass die Transparenz des Bundestages bereits jetzt als sehr hoch eingestuft werden kann. Alle Debatten im Plenum, alle Anhörungen, alle Anträge und auch alle Ausschussberichte sind öffentlich für jedermann und jederzeit abrufbar.
Seit jeher sind Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter unterschiedlicher Art an demokratischen Willensbildungsprozessen beteiligt. Dies hat auch seine Berechtigung, denn die Anzahl und Komplexität der politischen Entscheidungen erhöht sich ständig. In der 18. Wahlperiode wurden beispielsweise insgesamt 555 Gesetzesbeschlüsse nach der zweiten oder dritten Beratung im Deutschen Bundestag verabschiedet. Das sind mehr als sieben Gesetzesbeschlüsse pro Sitzungswoche. Berufsverbände, Gewerkschaften oder Verbrauchervereinigungen besitzen Sachkenntnis und das Praxiswissen, das in den Gesetzgebungsprozess eingebracht werden sollte. Sie vertreten vielfach die Basis vor Ort, die dann mit den gesetzlichen Regelungen arbeiten und auskommen muss. Gerade bei der Formulierung von Gesetzen ist es daher wichtig, Einwände der Betroffenen anzuhören und denkbare Umsetzungsschwierigkeiten oder Anwendungsprobleme von vornherein zu vermeiden. Daher ist das Engagement bei der Verbändebeteiligung oder den Anhörungen auch sehr hoch. Die Partizipation von Unternehmens- und Berufsverbänden, Gewerkschaften oder Verbrauchervereinigungen ist für eine gute Gesetzgebung zwingend.
Bitte registrieren – Zur Praxis von Transparenz- und Lobbyregistern im Ausland Um die Vertretung von Interessen gegenüber der Legislative und Exekutive sichtbar zu machen, wurden in vielen Staaten sogenannte Transparenzoder Lobbyregister eingeführt. Diese sehen eine Eintragung der Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter in ein Register vor und beinhalten teilweise auch Sanktionen, wenn entsprechende Angaben falsch sind oder unterbleiben.
Was auf Seiten der Politik, der Verbände und der Wirtschaft begrüßt wird, stößt jedoch bei Teilen der Bevölkerung immer wieder auf Skepsis und sogar Misstrauen, werden mit dem Begriff
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Anlage 2 der Geschäftsordnung des Bundestages (GO-BT) eine öffentliche Liste, in der sich alle Verbände eintragen sollen, die Interessen gegenüber dem Bundestag oder der Bundesregierung vertreten. Zu den Angaben, welche gemacht werden können, gehören Name und Sitz des Verbandes, Zusammensetzung von Vorstand und Geschäftsführung, Interessenbereich des Verbandes, die Mitgliederzahl, die Namen der Verbandsvertreter sowie die Anschrift der Geschäftsstelle am Sitz von Bundestag und Bundesregierung. Eine Offenlegung ihrer Finanzierung wird von den Verbänden bisher nicht verlangt. Es ist also faktisch ein freiwilliges Register mit einem bedeutsamen Anreiz: Dem Wortlaut der Geschäftsordnung des Bundestages zufolge dürfen bei Anhörungen des Bundestages nur Vertreter derjenigen Verbände zugelassen werden, die auch registriert sind – und dies ist Verbänden natürlich wichtig.
Über die längsten Erfahrungen mit einer solchen gesetzlichen Regulierung von Interessenvertretung verfügen die USA und Kanada. In den Vereinigten Staaten reichen erste Regulierungsansätze bis ins Jahr 1876 zurück. Seit dem Jahr 1995 gibt es dort mit dem „Lobbying Disclosure Act“ auf der Bundesebene ein Gesetz, das eine allgemeine Registrierungspflicht von Lobbyisten in eine öffentliche Datenbank mit umfangreichen Informationen verbindlich vorsieht. Seit dem Jahr 1989 existiert auch in Kanada mit dem „Lobbying Registration Act“ eine gesetzliche Verpflichtung mit vergleichbarem Umfang. Diese wurde im Jahr 2008 umfassend novelliert und in „Lobbying Act“ umbenannt. Falschangaben können in beiden Ländern mit empfindlichen Geldbußen und mittlerweile sogar mit Haftstrafen geahndet werden. Auch auf europäischer Ebene bemüht sich die Kommission seit den 1990er Jahren darum, das Verhältnis zu Interessenvertretern möglichst transparent zu strukturieren. In Brüssel nehmen schätzungsweise bis zu 30.000 Lobbyisten Einfluss auf die Institutionen der Europäischen Union. Der erste Anknüpfungspunkt ist dabei die Europäische Kommission, da von ihr Gesetzesvorschläge erstellt werden. Aus diesem Grund hat die Europäische Kommission im Jahr 2008 ein „Register der Interessenvertreter“ eingerichtet. Seit dem Jahr 2011 gibt es ein nicht verpflichtendes „Transparenzregister“, welches auf einer interinstitutionellen Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission basiert. Verpflichtende Transparenzregister mit umfangreichen Eintragungspflichten und Sanktionsmöglichkeiten gibt es weiterhin zum Beispiel seit dem Jahr 2013 in Österreich, seit dem Jahr 2014 im Vereinigten Königreich und seit dem Jahr 2015 in Irland.
»Die Verbändeliste spielt derzeit faktisch im Parlamentsalltag keine große Rolle.«
Dies unterstreicht: Lobby- und Transparenzregister sind in vielen Demokratien ein zeitgemäßer Ansatz, um die Akzeptanz der Arbeit von Regierungen und Parlamenten zu erhalten und zu stärken. Folgerichtig sind solche Register und deren Gestaltung auch in Deutschland immer wieder ein Thema und Gegenstand der politischen Diskussion.
Laut einer älteren Auslegungsentscheidung des Geschäftsordnungsausschusses aus dem Jahr 1979 sind die Ausschüsse jedoch nicht gehindert auch Vertreter von nicht registrierten Verbänden zur Anhörung zu laden, soweit es im Interesse des Bundestages liegt. Die Verbändeliste spielt somit derzeit faktisch im Parlamentsalltag keine große Rolle. Dies sieht man schon, wenn man die Teilnehmerlisten einzelner Anhörungen mit den Eintragungen vergleicht. Der Verbändeliste ist es in den vergangenen Jahrzehnten nicht gelungen, den öffentlichen Transparenzerfordernissen im Miteinander von Parlament, Regierung und Interessenvertretern gerecht zu werden. Neben der mangelnden Kontrolle und Sanktionierung der Liste muss als weitere Schwäche angesehen werden, dass sie sich nur auf Verbände und damit nur auf einen Teil der „professionellen Lobbyisten“ erstreckt.
Nicht Fleisch noch Fisch – Die aktuelle Situation in Deutschland
Irrungen und Wirrungen – Eine Kritik ausgewählter Vorschläge für ein Lobbyregister
Seit dem Jahr 1972 führt der Bundestagspräsident in Deutschland entsprechend der Vorgabe in
Vorschläge und Initiativen mit dem Ziel, die Interessenvertretung durchsichtiger zu gestalten, haben
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»Lobby- und Transparenzregister sind in vielen Demokratien ein zeitgemäßer Ansatz, um die Akzeptanz der Arbeit von Regierungen und Parlamenten zu erhalten und zu stärken.«
soll das Lobbyregister unter anderem Angaben zur mitgliedschaftlichen Struktur, zum Gesamtbudget und zu den Hauptfinanzierungsquellen bei Institutionen enthalten, deren Haupttätigkeit in der Einflussnahme auf politische Entscheidung besteht. Des Weiteren wird eine Kennzeichnung der Mitwirkung von Lobbyisten in für das Parlament bestimmten Vorlagen der Exekutive gefordert.
in den vergangenen Jahren immer wieder Eingang in die Diskussion gefunden. Die Fraktionen Die Linke und Bündnis90/Die Grünen halten an ihrer Forderung nach Einführung eines verpflichtenden Lobbyregisters fest und haben hierzu eigene Vorschläge vorgelegt. Der Entwurf der Fraktion „Die Linke“ deckt sich weitgehend mit dem gemeinsamen Entwurf eines „Lobby-Transparenzgesetzes“ von LobbyControl und abgeordnetenwatch.de aus dem Jahr 2017. Die Kerngedanken hierbei sind: Akteure müssen Angaben über sich und ihre Aktivitäten zur politischen Interessenvertretung machen und über ihren finanziellen Hintergrund Auskunft geben. Ziel ist es, Transparenz darüber herzustellen, welche Interessenvertretung in wessen Auftrag und mit welchem Budget auf die Gesetzgebung oder andere politische Entscheidungen einwirkt oder einzuwirken versucht. Die Fraktion „Die Linke“ will dafür eine zusätzliche Behörde mit einem Bundesbeauftragten für politische Interessenvertretung schaffen. Dieser Lobbybeauftragte soll mit exekutiven Prüfrechten ausgestattet werden und zu diesem Zwecke unter anderem sogar ein Betretungsrecht für Grundstücke und Geschäftsräume der Lobbyisten während der üblichen Geschäftszeit erhalten.
Beide Fraktionen wollen durch ihre Gesetzesentwürfe den sogenannten legislativen Fußabdruck einführen. Hiernach soll eine Beeinflussung durch Lobbyisten - beispielsweise bei Gesetzentwürfen der Bundesregierung, die dem Bundestag zugeleitet werden - "dokumentiert und für den weiteren Beratungsprozess transparent gemacht werden." Erreicht werden kann dies durch die Vorschläge allerdings nicht, da sie zum einen nur die Registrierung von Lobbyisten regeln, erheblich sensible Angaben einfordern und einen Lobbybeauftragten einsetzen möchten. Allein durch die Kontrolle von Budgets würden wir eher ein „blame-game“ eröffnen, wer die größeren Ausgaben tätigt oder mehr für politische Kommunikation ausgibt. Für einen legislativen Fußabdruck ist das wenig aussagekräftig. Die Beeinflussung des Gesetzgebungsprozess regeln die Vorschläge der Fraktionen Bündnis 90/ Die Grünen und Die Linke nicht, da sie auch nicht den Prozess der Interessenvertretung abbilden können, was aber hierzu absolut notwendig wäre. Vielleicht macht es aber gerade auch Sinn, in einem ersten Schritt ein funktionsfähiges und aussagekräftigeres Lobbyregister zu etablieren.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen möchte, dass Angaben zu den Lobbyisten, zu ihren Arbeitgebern und zu den finanziellen Aufwendungen, die in die Interessenvertretung investiert werden, in ein öffentliches Register aufgenommen werden. Auch
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Ein Lobbyregister in der aktuellen Wahlperiode?
Weiterhin darf es bei den Abgeordneten keinen administrativen Aufwand geben. Eine Dokumentationspflicht von Gesprächen oder Kontaktaufnahmen von Lobbyisten und dergleichen für Abgeordnete darf es nicht geben. Das Lobbyregister kann beim Präsidenten des Deutschen Bundestages geführt werden. Er hat auch die Aufgabe, gegebenenfalls Sanktionen zu verhängen und durchzusetzen.
Ein Lobbyregister war zwar Gegenstand der Koalitionsverhandlungen, sowohl des gescheiterten „Jamaika-Bündnisses“, als auch von CDU/CSU und SPD. Einen Einzug in den aktuellen Koalitionsvertrag der Großen Koalition hat das Thema aber nicht gefunden. Trotzdem wird auch innerhalb der CDU/ CSU-Fraktion über das Thema nachgedacht. Zwei Regelungsansätze sind möglich: Entweder eine „schlanke“ Regelung in der Geschäftsordnung des Bundestages und eine dann notwendige Anpassung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) zur Regelung der Sanktion bei einem Verstoß gegen die Registrierungspflichten. Der zweite Ansatz wäre die Schaffung eines neuen separaten Lobbygesetzes in dem dann ein Ordnungswidrigkeitstatbestand direkt aufgenommen werden könnte. In einem solchen Gesetz könnte dann nicht nur ein Lobbyregister für den Bundestag, sondern auch für die Bundesregierung in einem geregelt werden.
Die Sanktionen könnten darin bestehen, dass Lobbyisten bei einem erstmaligen Verstoß gegen Registrierungspflichten zuerst den Hausausweis für ein Jahr entzogen bekommen, wobei dies bei Wiederholung auch in einem Entzug für die gesamte restliche Legislaturperiode gipfeln kann. Bei groben Verstößen kann als nächste Stufe der Ausschluss von öffentlichen Anhörungen erfolgen. Als härteste Sanktion könnten Geldbußen verhängt werden. Notwendige Angaben für den Aufbau eines solchen Registers sind Namen und Anschrift der Lobbyisten, deren Auftraggeber und finanzielle Angaben wie etwa Rechenschaftsberichte. Dies trifft dann auch zum Beispiel die Verbände stärker als bisher, die sich als eingetragene Vereine oder nicht eingetragene Vereine engagieren.
»Der lokale Handwerker, Unternehmer, Dienstleister oder Arbeitnehmer muss sich in keinem Register eintragen lassen, um mit seinem Abgeordneten in unmittelbaren Kontakt zu treten. «
Fazit und Perspektiven Wir befinden uns derzeit in der Diskussion um ein verpflichtendes Lobbyregister, als einem ersten Schritt zu mehr Transparenz. Damit ein solches Register seinen Zweck erfüllen kann, bedarf es einer insofern zweckmäßigen Ausgestaltung, dass klar nachvollziehbar ist, wer als Interessenvertreter aktiv ist. Wenn ein solches Register gewollt wird, müssen sich die Fraktionen im Deutschen Bundestag zum anderen entscheiden, in welcher Form der Aufbau eines solchen Registers anzugehen ist.
Unabhängig davon, welchen Weg man präferiert, sind einige Aspekte bei der Ausgestaltung zu berücksichtigen. Zum einen darf der direkte Austausch zwischen den Abgeordneten mit Bürgerinnen und Bürgern des Wahlkreises nicht eingeschränkt werden. Dies selbstverständlich auch dann nicht, wenn der Bürger ein Unternehmer ist. Der lokale Handwerker, Unternehmer, Dienstleister oder Arbeitnehmer muss sich in keinem Register eintragen lassen, um mit seinem Abgeordneten in unmittelbaren Kontakt zu treten. Die Demokratie braucht doch schließlich diese Unmittelbarkeit. Folglich sollten sich also nur „professionelle Lobbyisten“ registrieren müssen. Eine sehr prägnante Definition des „professionellen Lobbyisten“ wäre daher sinnvoll, wobei Anwälte oder Anwalts kanzleien hierbei übrigens grundsätzlich einzuschließen sind. Eine besondere Rechtsstellung zu den Abgeordneten, die sie aufsuchen möchten, haben sie nicht.
Pragmatisch und am schnellsten umzusetzen erscheint eine Regelung in der Geschäftsordnung des Bundestages und die Aufnahme der Sanktion im Gesetz über Ordnungswidrigkeiten. Denkbar wäre hier etwa eine Anpassung des § 112 „Verletzung der Hausordnung eines Gesetzgebungsorgans“. Zwar betrifft dieser Weg dann nicht auch die Einbeziehung der Bundesregierung unmittelbar, denn der Bundestag kann in seiner Geschäftsordnung nur seine eigenen Dinge regeln. Jedoch muss davon ausgegangen werden, dass die Bundesregierung zeitnah eine entsprechende Regelung in ihrer Geschäftsordnung implementieren wird. Schon der Blick auf die EU-Kommission hat schließlich
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»Pragmatisch und am schnellsten umzusetzen erscheint eine Regelung in der Geschäftsordnung des Bundestages und die Aufnahme der Sanktion im Gesetz über Ordnungswidrigkeiten.« gezeigt, dass gerade die Organe, welche die Gesetzesvorschläge erarbeiten, ihre Arbeit transparent gestalten müssen und auch wollen. Der alternative Weg wäre die Verabschiedung eines eigenen Gesetzes – eines Lobbygesetzes. Dieses könnte dann die Bundesregierung selber mit erfassen und auch Regelungen zur Sanktionierung enthalten. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Widerstände gegen eine Regelung in einem neuen separaten Gesetz deutlich größer sein werden und das ganze Thema zum Scheitern bringen könnten. Der Weg über eine Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages erscheint somit sinnvoll und zielführend. Mit ihr wäre ein erster Schritt in Richtung Transparenz erreicht und eine win-win- Situation für Verbände, Wirtschaft, Politik und Bürgerinnen und Bürger geschaffen.
Prof. Dr. Patrick Sensburg MdB ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages und dort Vorsitzender des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. Seit 2008 ist er Professor an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW in Münster, seit 2009 Gastprofessor an der Universität Wien. Seit 2017 ist Sensburg auch Mitglied des Ältestenrates des Deutschen Bundestages. Der CDUPolitiker vertritt den Hochsauerlandkreis als direkt gewählter Abgeordneter.
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III. Grundrechte Das Grundgesetz sieht einen Prozess der politischen Willensbildung von »unten« nach »oben« vor. Darin und in seiner Freiheit vor Eingriffen des Staats wird der Bürger durch die Grundrechte geschützt. Drei Beiträge über die Grundpfeiler der Menschenwürde, der Gleichheit der Menschen und der Meinungsfreiheit.
Menschenwürde Ein neuer Schliff für das Kronjuwel
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von Dominik Meier und Christian Blum
»Die Würde des Menschen ist unantastbar.« So steht es wortwörtlich im Grundgesetz gleich im ersten Artikel. Doch was bedeutet das kon kret, für unseren Staat und seine Entscheidungsträger? Der Artikel wird nicht selten als unscharfer „Gummiparagraph“ eingestuft. Do minik Meier und Christian Blum zeigen in diesem Beitrag eine mögli che klarere Konturierung und praktische Umsetzungsvorschläge auf.
Wer die Menschenwürde hochhält, ist gegen Embryonenforschung – oder dafür; verurteilt Werbung für Schwangerschaftsabbrüche – oder begrüßt sie; macht sich für die wehrhafte Demokratie stark – oder fordert ein Ende geheimdienstlicher Überwachung; will rechtsextreme Parteien verbieten lassen – oder lehnt ein Verbot vehement ab. Nach und nach hat sich die Menschenwürde zum Platzhalter für grundverschiedene politische und persönliche Werte gewandelt. Sie ist das Etikett, das jeder Protagonist der Willensbildung seinen Argumenten verpasst, um deutlich zu machen: „Es ist mir ernst!“
Der Artikel 1 gilt als Kronjuwel der deutschen Verfassung. Jedes Schulkind kann die Sentenz von der unantastbaren Menschenwürde hersagen. Kaum jemand wäre so verstiegen, die universelle Geltung des Würdeprinzips in Zweifel zu ziehen; jedenfalls öffentlich. Denn: Im grundgesetzlichen Postulat des gleichen, unverletzlichen, intrinsischen Wertes aller Personen – ganz gleich welchen Geschlechts, welcher Hautfarbe oder Religion – verbinden sich Aufklärungstradition und Vergangenheits bewältigung. Wer mit Kant daran festhält, dass der Mensch stets als Zweck, niemals jedoch als Mittel gebraucht werden dürfe, ächtet die Verbrechen der NS-Zeit und verpflichtet sich gleichsam dazu, alles zu tun, dass sie sie sich niemals wiederholen. Der Artikel 1 ist das moralische Fundament der Bundesrepublik. Soweit die Verfassungslyrik.
Diese diskursive Abstumpfung ist eng verknüpft mit dem rasanten gesellschaftlichen Wandlungsprozess durch die Globalisierung und Digitalisierung. Wir erleben einerseits eine noch nie dagewesene fortschreitende Ausdifferenzierung sozialer Prozesse zur Steuerung der Gesellschaft. Andererseits befinden wir uns im Turboschritt auf dem Weg zu einem Zustand der Hyper-Individuali sierung. Gewinner und Verlierer lassen sich in dieser globalisierten Welt schnell bestimmen. Das „anything goes“, die Relativierung oder gar Auflösung wohlvertrauter Werte- und Rollensysteme macht Angst. Viele Gewissheiten, Traditionen und Erinnerungen verlieren an Wert. Die Unsicherheit des Einzeln über die großen Lebensfragen „Wer bin ich? Wo stehe ich? Was wird aus mir?“ steigt rapide.
»Viele Richter, Politiker und Rechtsphilosophen stufen den Artikel 1 als ›Gummiparagraphen‹ ein, mit dem man alles und nichts rechtfertigen kann.« Die politische und juristische Wirklichkeit sieht leider anders aus. Viele Richter, Politiker und Rechtsphilosophen stufen den Artikel 1 als „Gummiparagraphen“ ein, mit dem man alles und nichts rechtfertigen kann. Das liegt zum einen an der inflationären, bedeutungsfremden und abstrakten Verwendung des Würdeprinzips in der öffentlichen Debatte.
Deshalb sollten wir uns der Bedeutung des Artikel 1 wieder bewusst werden. Denn dieser hat im Kern nichts von seiner Relevanz eingebüßt. Dies gilt umso mehr für unsere politische Gegenwart,
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Leistungen von Bürgern, die ihren Ort pflegen und hegen oder von Müttern, die Kinder großgezogen haben, ohne für diese Arbeit jemals entlohnt worden zu sein. Andere Länder wie Frankreich oder die USA haben große Traditionen zur Würdigung von Lebensleistungen mit Riten und Abzeichen. Deutschland hingegen ist eine zeremonielle Ödnis. Anerkennung heißt aber auch: alle Bürger und ihre politischen Sorgen ernst zu nehmen, sie nicht als Pöbel zu diffamieren oder Wahlen hochmütig als „Intelligenztest“ einzustufen. Hier würde nicht nur dem politischen Establishment, sondern auch den Medien und dem akademischen Milieu mehr Reflexion und Demut gut zu Gesicht stehen.
in der die verunsicherte deutsche Gesellschaft durch zahlreiche Antagonismen – Ost gegen West, alt gegen jung, Stadt gegen Land, Volk gegen Establishment – zerrissen wird. Es kommt jetzt darauf an, den Begriff wieder scharf zu stellen, dem Kronjuwel der deutschen Verfassung neuen Schliff zu verleihen. Für diese Aufgabe bedarf es nicht der scholastischen Perspektive der Rechtstheorie, sondern der pragmatischen Sicht der alltäglichen Politik. Die Unsicherheit und Ängste der Menschen zu beseitigen, bedeutet für die Politik, eine Antwort auf die vermeintlich einfache Frage zu geben: „Was heißt es heute, ein Leben in Würde zu führen? Und wie kann der Staat hierzu einen entscheidenden Beitrag leisten?“
Anerkennung, so viel sei zuletzt gesagt, bezieht sich aber nicht nur auf Individuen, sondern auch auf Regionen und Gemeinschaften. Anerkennung muss – über alle Gräben hinweg – ein Wir-Gefühl hervorbringen können. Dass beispielsweise der DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn nach der Wende niemals eine Ehrung der deutschen Regierung erfuhr, ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht des Weltraumhelden, sondern in das aller ehemaligen DDR-Bürger. Entwürdigung ist ein Garant für gesellschaftliche Spaltung wie kein anderer.
»Anerkennung und Selbstachtung sind das ›Außen‹ und ›Innen‹ der Menschenwürde.« Zwei Dinge sind entscheidend: Anerkennung und Selbstachtung. Wem gesellschaftliche Anerkennung verwehrt bleibt – sei es als gleichwertiges Mitglied des Gemeinwesens oder als mündiger, zur politischen Entscheidung fähiger Bürger –, fehlt es auch an Würde. Dasselbe gilt für all jene Personen, die sich nicht mehr im Spiegel anschauen können – weil sie sich nutzlos, abgehängt, verängstigt, fremd, verloren fühlen. Anerkennung und Selbstachtung sind das „Außen“ und „Innen“ der Menschenwürde.
»Entwürdigung ist ein Garant für gesellschaftliche Spaltung wie kein anderer.«
Artikel 1 politisch wirksam zu machen, erfordert von Entscheidungsträgern, den Fokus auf die Grundlagen von Anerkennung und Selbstachtung der Menschen zu richten. Natürlich sind diese Grundlagen keine starren, für immer festgelegten Regeln und Werte. Sie sind politisch umstritten und Gegenstand permanenter Auseinandersetzungen um Deutungshoheit. All das ändert nichts daran, dass die Grundlagen von Anerkennung und Selbstachtung durch Politikgestaltung konkretisiert werden müssen.
Selbstachtung, die zweite Säule der Menschenwürde, fordert von der Politik die Schaffung menschenwürdiger Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Wer glaubt, diese allein mit Milliardengeschenken zu erreichen, irrt gewaltig. Weder eine Gießkannenpolitik noch ein Überborden des Sozialstaats sind die Lösung. Das zeigt sich an der Entfremdung zwischen Bevölkerung und Staat in zahlreichen Regionen Ostdeutschlands. Der soziale Raum, der die Selbstachtung ermöglicht, fußt vielmehr auf drei Prinzipien.
Wie kann das gehen?
Das erste Prinzip ist die Vermittlung eines Gefühls von Sicherheit. Voraussetzung dafür sind geschützte und anerkannte Grenzen des Territorialstaates sowie eine einsatzfähige, mit adäquaten Kompetenzen und Ausrüstung versehene Polizei. Diese Voraussetzungen müssen durch einen fairen
Anerkennung, die erste Säule der Menschenwürde, ernst zu nehmen heißt etwa: Lebensleistungen zu würdigen – sei es die Leistung alter Menschen, die dieses Land wiederaufgebaut haben oder die
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»Nicht erst seit Franz Kafkas Dystopien wissen wir, welches Potenzial zur Entmenschlichung und zur Untergrabung von Selbstachtung Verwaltungsabläufe haben.« und vor allem funktionierenden Rechtsstaat flankiert werden, dessen Entscheidungsträger willens und in der Lage sind, geltendes Recht effektiv und effizient umzusetzen.
und in Notzeiten nicht allein lässt. Daher fällt unter dieses Prinzip die soziale Sicherheit nach einem einfachen, verständlichen Bedürftigkeitsprinzip und ebenso der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum, zu sozial durchlässigen Bildungseinrichtungen sowie zu einem leistungsfähigen Gesundheitssystem.
Das zweite Prinzip ist die Vermittlung eines Gefühls von Bürgerlichkeit. Menschen stehen beinahe täglich in Kontakt mit der staatlichen Administration, sei es bei der Ausstellung einer Geburtsurkunde, der Begleichung eines Strafzettels oder der Beantragung sozialer Hilfsleistungen. Nicht erst seit Franz Kafkas Dystopien wissen wir, welches Potenzial zur Entmenschlichung und zur Untergrabung von Selbstachtung Verwaltungsabläufe haben. Umso wichtiger ist eine Bürokratie, die für den Menschen da ist, die schnell, lebensnah und unkompliziert hilft und Probleme löst. Das dritte und letzte Prinzip ist die Vermittlung eines Gefühls von Daseinsvorsorge. Dies ist der entscheidende Faktor für das Zutrauen der Bürger in den Staat – die begründete Gewissheit, dass das Gemeinwesen jeden einzelnen von uns, egal ob arm oder reich, die Chance zur Selbstentfaltung bietet
Diese Auflistung praktischer Schlussfolgerungen aus dem Prinzip der Menschenwürde ist nicht einmal näherungsweise vollständig. Aber sie gibt eine Richtung vor. Würde ist eine, wenn nicht die Voraussetzung für gesellschaftliche Versöhnung. Nur wenn es der Politik gelingt, die Grundlagen für Anerkennung und Selbstachtung zu stärken, werden die gesellschaftlichen Spannungen, die unsere Demokratie auf die Probe stellen, zurückgehen. Dabei geht es, wie zuvor erwähnt, nicht primär um Umverteilung oder staatliche Wohltaten. Es geht darum, allen Bürgerinnen und Bürgern wieder die Zuversicht zu geben, dazu zu gehören, Mitglieder einer Gemeinschaft zu sein und etwas zu einem gemeinsamen Projekt beizutragen, dessen Wert und Bedeutung sich über Generationen und Epochen erstreckt.
Dominik Meier
Dr. Christian Blum
ist Inhaber und Geschäftsführer der Strategieberatung Miller & Meier Con-
ist Consultant bei Miller & Meier Consulting und berät internationale
sulting und Vorsitzender der de'ge'pol - Deutsche Gesellschaft für Politikbe-
Firmen bei der politischen Strategieentwicklung und Positionierung. Als
ratung. Er veröffentlicht regelmäßig Beiträge in international renommierten
promovierter Philosoph hat er zahlreiche Beiträge über Demokratie und
Medien zu den Themen Interessenvertretung, Macht und Politik.
Gemeinwohl in wissenschaftlichen Fachmedien publiziert.
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Menschen nicht in Schubladen zwingen Sieben Fragen, sieben Antworten – mit Susanne Baer: über die manchmal repressive Normalität der Mehrheit, das Versprechen der Grundrechte und die institutionelle Kultur des Konsenses am Bundesverfassungsgericht
CIVIS: Wie weit haben das Grundgesetz und der deutsche Rechtsstaat dazu beigetragen, das Gleichheitsgebot des Art. 3 GG mit seinen verschiedenen Ausprägungen zu verwirklichen? Wie würden die Mütter und Väter der Verfassung in dieser Hinsicht heute auf das Grundgesetz und „seine Errungenschaften“ blicken?
Grundgesetzes gar nicht erst gedacht oder sie nicht schützen wollen. Auch da hat dann manchmal das Bundesverfassungsgericht geholfen, auch da haben soziale Bewegungen gekämpft, aber auch da gibt es – gegen Behinderung, gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, auch gegen Sexismus – noch viel zu tun. Also: eine durchwachsene Bilanz.
Baer: Verfassungsrecht allein kann die Welt nicht verändern, aber einen Beitrag zu mehr Chancengleichheit in Deutschland hat das Grundgesetz – das die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für den Einzelfall konkretisiert – sicher geleistet. Genauer: Die großen Versprechen der Grund- und Menschenrechte, auf die sich die politisch Verantwortlichen in Deutschland nach 1945 und nochmals nach 1989 geeinigt haben, müssen von vielen in die Hand genommen werden, um sie zumindest teilweise Wirklichkeit werden zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat da eine zentrale Aufgabe, aber es ist nicht allein. Und diese Aufgabe ist in Fragen der Gleichberechtigung, wo es letztlich auch darum geht, angestammte Privilegien zu beenden, besonders anspruchsvoll. So musste damals von den wenigen Frauen im Parlamentarischen Rat – und sehr vielen Bürgerinnen und Bürgern mit Körben voller Postkarten – erkämpft werden, die Gleichberechtigung im Geschlechterverhältnis überhaupt im Grundgesetz zu verankern. Danach musste das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber immer wieder zwingen, das auch ernst zu nehmen – im Familienrecht, im Eherecht, im Sozialrecht, im Steuerrecht usw. Bis heute ist das Ziel echter Chancengleichheit allerdings nicht erreicht. Und an andere, die unter Diskriminierung leiden, haben die Eltern des
CIVIS: Es scheint, die #metoo Debatte hat in Deutschland nicht die Wirkung erzielt, wie in manch anderen Ländern. Womit erklären Sie sich das? Was folgt daraus für die gesellschaftliche, politische und rechtliche Debatte in Deutschland? Baer: Da spielen viele Faktoren eine Rolle. Wo angeblich alles schon geschafft ist, fällt es besonders schwer, anhaltende Diskriminierung zu adressieren. Wo ein hohes Niveau des Arbeitsplatzschutzes erreicht ist, fällt es schwer, auf sexuelle Belästigung durch Vorgesetzte oder Kollegen schnell sehr entschieden zu reagieren. Wo heteronormativ-sexistische Rollenklischees akzeptiert sind, stehen Menschen, die den alltäglichen Sexismus anprangern, schnell selbst am Pranger. Wo ganze Branchen Kampagnen organisieren, um Antidiskriminierungsrecht zu bekämpfen, ist es schwer, eine Rechtskultur zu entwickeln, in der klar ist, dass wir alle ein Recht darauf haben, mit Respekt behandelt zu werden. Und wo heute autoritärer Populismus diffuses Unbehagen mobilisiert, gegen „Gender“ oder „Fremde“, ist es sehr schwer, gegen Ausgrenzung vorzugehen. Es braucht Mut, sich hier nicht einschüchtern zu lassen – dafür steht #metoo gegen Sexismus und #metwo gegen Rassismus, und ich hoffe, dass dieser Mut sich weiter verbreitet.
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CIVIS: Sie haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Personenstandsrecht, zur dritten Möglichkeit bei der Geschlechtseintragung, selbst einmal international betrachtet als „Avantgarde“ bezeichnet. Wie kam es zu diesem Urteil und welche Ausstrahlwirkung geht womöglich von ihm aus?
Grundgesetz kommuniziert, aber das ist eine politische, soziale und kulturelle Frage, die sich in Entscheidungen nicht stellt. Vielmehr ist gerade deutsches Verfassungsrecht genau dafür so hoch angesehen, dass es ausgefeilt juristisch – dogmatisch – arbeitet. Wir sollten uns wohl eher fragen, welcher gesellschaftliche Wandel im Versprechen der Grundrechte angelegt ist – und ob die Kritik, die Sie nennen, dann eher ein Rückzugs gefecht zugunsten einer alten, aber nicht gleichberechtigt freien Ordnung ist.
Baer: Die Entscheidung des Ersten Senats erging auf eine Verfassungsbeschwerde, wo also ein Mensch den langen Weg auf sich genommen hatte, ein Recht nicht nur für sich einzufordern, sondern für viele, die unter Ausgrenzung und Stigmatisierung leiden. Dazu kamen in diesem Themenfeld sehr versierte Anwältinnen und die fachlichen Stellungnahmen vieler Organisationen, die dem Gericht helfen, hier alle Aspekte zu berücksichtigen. Der Senat hat dann mit 7 zu 1 Stimmen entschieden, also mit einer sehr breiten Mehrheit. Das ist Teil der Stärke des Gerichts, im Kompromiss gemeinsam zu arbeiten. Und so eine Entscheidung entwickelt Maßstäbe weiter, die in langen Jahren geformt wurden – hier zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der sexuellen Identität. Schließlich ist der Fall strukturell ein verfassungsrechtlicher Klassiker: Eine sehr kleine benachteiligte Minderheit braucht Grundrechtsschutz gegen die eben manchmal repressive Normalität der Mehrheit. Deshalb war es auch sehr wichtig, sich die Realität hinter gängigen Argumenten genau anzusehen. Dann wird schnell klar, dass Gesetze Menschen nicht in Schubladen zwingen dürfen, in denen sie nicht sein wollen und können. Typisch ist auch, dass die Entscheidung dem Gesetzgeber überlässt, wie er das Problem löst. Er kann auf Schubladen ganz verzichten – was vielen das Leben leichter machen würde – oder sich für den kleineren Schritt der dritten Option entscheiden. Das hat er jetzt getan.
CIVIS: Am Supreme Court der USA stehen sich Originalisten und Pragmatisten mit ihren verschiedenen Methoden der Verfassungsinterpretation scheinbar unversöhnlich gegenüber. Woran mag es liegen, dass in Deutschland und in Bezug auf das Bundesverfassungsgericht diese Lagerdiskussion – zumindest in der Öffentlichkeit – keine so große Rolle spielt? Verfolgen die Richter des Bundesverfassungsgerichts eine gemeinsame Methode der Interpretation? Baer: Ich zögere, diese Beschreibung für das US-amerikanische Verfassungsrecht zu akzeptieren, denn mir scheint das Spektrum vielfältiger, auch im Supreme Court. Zudem: In einer kontinentaleuropäischen Rechtstradition ist die Auslegung von Normen eine sehr ausgefeilte Angelegenheit, wo als Dogmatik sehr viel konsentiert ist, was auch in wissenschaftlichen Kommentaren zum Grundgesetz gesichert wird, die es so in den USA gar nicht gibt. Die ausgefeilte Dogmatik ermöglicht uns, Dissens in der Sache sehr genau zu fassen, statt pauschal in „Lager“ zu zerfallen. Natürlich können auch in Deutschland Welten zwischen dem jeweiligen Vorverständnis schon im Zugriff auf den Fall liegen. Dann unterscheidet sich das Bundesverfassungsgericht von vielen Gerichten auf der Welt, weil wir eine institutionelle Kultur des Konsenses pflegen, weit weniger individualisiert als in den Vereinigten Staaten.
CIVIS: Aus der Politik erfährt die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung besonders dann Kritik, wenn Art. 1 Abs. 1 oder Art. 3 GG vermeintlich „als Hebel“ genutzt werden, um gesellschaftlichen Wandel im Rahmen einer wertorientierten Auslegung im Grundgesetz widerzuspiegeln. Was kann dieser Kritik entgegnet werden?
CIVIS: Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Gefüge der Gewaltenteilung wird als relativ stark wahrgenommen. Das gilt nicht für alle Verfassungsgerichte in anderen Rechtsstaaten, auch aktuelle Entwicklungen in europäischen Staaten sind insofern besorgniserregend. Das Bundesverfassungsgericht tauscht sich regelmäßig mit anderen Verfassungsgerichten aus. Welche Einschätzungen im Hinblick auf die Entwicklungen von Verfassungs- und Rechtsstaat-
Baer: Das Bundesverfassungsgericht hat sich auf eine Werteordnung anfangs und nur selten bezogen und tut das schon lange nicht mehr – es arbeitet juristisch, nicht weltanschaulich oder theologisch. Natürlich ist die Frage wichtig, welche Werte das
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Rechtsstaatlichkeit teilt man dort? Wo werden vielleicht auch – vermehrt – Bruchlinien sichtbar?
fassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde mag als Wort der Mahnung gelten, wenn es darum geht, die politischen Bedingungen für einen funktionierenden Verfassungs- und Rechtsstaat zu schaffen: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Kann sich auch eine Verfassung überleben? Wie ist dem – mit besonderem Blick auf das Grundgesetz – vorzubeugen?
Baer: In der EU, im großen Europa des Europarates und in der Welt diskutieren wir ja gerade sehr intensiv, was Konstitutionalismus bedeutet. Genauer: Die Autorität des Rechts – notfalls auch gegen die Wünsche einer politischen Mehrheit – und die Unabhängigkeit und Autorität der Gerichte stehen stark unter Druck. Dazu nimmt die Venedig-Kommission des Europarates sehr informiert Stellung, darüber muss der Gerichtshof der Europäischen Union entscheiden, und darüber sprechen auch wir als Richter und Richterinnen des Bundesverfassungsgerichts mit Gerichten aus ganz Europa. Es ist sehr wichtig geworden, auch über unsere Entscheidungen hinaus zu erklären, wie Verfassungsstaatlichkeit funktioniert und wer eigentlich auf der Strecke bleibt, wenn sie fehlt. Ein Bruch mit den Grundlagen gerade der EU, aber auch mit dem Konsens des Konstitutionalismus nach 1945 entsteht daher, wenn behauptet wird, es gebe auch eine „illiberale Demokratie“ oder es stehe im Belieben einer Regierung, eine gerichtliche Entscheidung umzusetzen oder nicht. Das dürfen wir nicht akzeptieren.
Baer: Die im weltweiten Vergleich junge und eher wortkarge deutsche Verfassung hat jedenfalls das Potenzial, sehr lange als Grundlage für unser gesellschaftliches Miteinander und unser Handeln in der Welt zu funktionieren – deshalb ist sie auch für viele Länder weltweit ein Vorbild geworden. In Deutschland sollten wir uns wieder stärker bewusst machen, was das Grundgesetz uns bietet – und was es von uns verlangt. Künftig wird das durch eine neue und weltweit einzigartige Einrichtung des Bundes unterstützt werden können: Das FORUM RECHT in Karlsruhe mit einem Standort auch in Leipzig, und mit Angeboten für alle und überall dort, wo Menschen Fragen an das Recht und den Rechtsstaat haben und sich damit durchaus auch kritisch auseinandersetzen wollen. Auch das zeigt: Es ist Aufgabe von uns allen, dafür zu streiten und sich dafür zu engagieren, dass wir in guter Verfassung leben.
CIVIS: Das berühmte „Böckenförde-Diktum“ des kürzlich verstorbenen, früheren Bundesver-
Die Fragen stellte Carl-Philipp Sassenrath. © Fotovorlage für die Illustration: Britney Majure.
Prof. Dr. Susanne Baer, LL.M. ist seit 2011 Richterin des Bundesverfassungsgerichts. Sie ist zudem Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie ebendort Co-Direktorin des Law and Society Instituts.
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Die Medienmacht in uns Wie kommunikative Selbstbestimmung in einer vernetzten Gesellschaft verfassungsrechtlich gesichert werden kann
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von Steffen Hindelang
Wir alle sind so medienmächtig wie nie zuvor. Dank Internet und Web 2.0 besitzen wir mehr Freiheit zur selbstbestimmteren Teil nahme und Organisation öffentlicher Debatten. Diese droht je doch unter dem Eindruck von Angstkampagnen um „Fake News“ und Filterblasen wieder zu verschwinden. Ein bewährtes Schild ge gen die drohende Herstellung „alter Übersichtlichkeit“ ist unsere Verfassung. Diese braucht allerdings selbst dringend ein Update.
I. Der Verlockung alter Übersichtlichkeit widerstehen
posten darf. Wer schützt uns vor der drohenden Betreuungskuratel, die die vermeintlich Unreifen vorsorglich von verwirrenden Informationen auf ihren Kommunikationsinstrumenten befreit?
Vielleicht haben wir es noch nicht gemerkt, aber wir alle sind mächtig geworden: medienmächtig. Früher saßen wir weitestgehend stumm vor Zeitungen und Mattscheiben. Darin wurde uns die Welt durch einige Wenige erklärt, die stets wussten, was falsch und richtig war. Heute sind wir aus unserer massenmedialen Unmündigkeit entlassen. Dank des Internet und Web 2.0 können wir nicht nur selbstbestimmter unsere eigenen Gedanken mit jedermann teilen, sondern wir können auch an der öffentlichen Debatte teilhaben und diese gar selbst mitorganisieren.
Ein bewährtes Schild gegen drohende staatliche wie private Herstellung „alter Übersichtlichkeit“ ist unsere Verfassung. Diese braucht jedoch dringend selbst ein Update. Denn: Die Verfassung ist immer noch im Wesentlichen darauf aus, uns vor der Medienmacht von Zeitungsverlagen und Rundfunkanstalten zu schützen. Dabei muss sie uns dringend auch in unserer neuen Medienmacht wahrnehmen.
»Wir haben die Aktivierung eines bisher weitestgehend Stummen erlebt: des Bürgers.«
So viele bunte Töne, sicherlich auch ein paar reichlich schiefe, müssen Angst machen, vor allem den Großsprechern der vergangenen Tage. Plötzlich wittern Presse und Rundfunk im Netz überall „Fake News“, Echokammern und Filterblasen. Sie würden uns von der einen Wahrheit fernhalten – als wären Zeitungsente, Propaganda und Borniertheit eine Erfindung des Internets.
II. Nicht mehr verdammt zu schweigen: alte Großsprecher und viele neue Kleinsprecher
Schon ist da der unvermeidliche Ruf nach „alter Übersichtlichkeit“: gefordert werden Wahrheitsfilter in sozialen Plattformen, horrende Haftungssummen, die zum (über-)gründlichen Reinemachen anhalten und, wenn es nach manchen ginge, am besten einen „Internetwahrheitsbeirat“. Aber auch Private „regeln“: Sie entscheiden darüber, was im Netz gefunden wird oder wer auf einer Plattform
Bis vor wenigen Jahren waren es allein Rundfunk und Presse – die „klassischen“ Massenmedien –, die die öffentliche Debatte in unserer modernen Massengesellschaft prägten. Mit der Ausbreitung der Netzinformationsökonomie haben wir die Aktivierung eines bisher weitestgehend Stummen erlebt: des Bürgers. Der Begriff der Netz informationsökonomie steht dabei als Sinnbild für
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formt die Basis für einen gestärkten und umfassenderen Willensbildungsprozess in unserem Land.
den radikalen Wandel der realen Bedingungen, unter denen wir öffentlich kommunizieren. Internet und Web 2.0 sind immer und überall verfügbar. Smartphone, soziale Plattformen und die zur Erstellung von Websites genutzte Software wie WordPress bringen eine bisher ungeahnte Vielfalt an Möglichkeiten mit sich, wie wir Informationen für die öffentliche Debatte produzieren, verteilen und konsumieren.
»Eine öffentliche Debatte allein durch Rundfunk und Presse ist ärmer.« Eine öffentliche Debatte allein durch klassischen Rundfunk und Presse ist dagegen deutlich ärmer an Themen und individuellen Sichtweisen. Das liegt vor allem an deren typischen Organisationsstrukturen. Nicht jeder von uns erlangt Zugang zu einer Zeitungsredaktion. Und eine Zeitungsredaktion mag sich nicht für jedes unserer Themen interessieren. Auch der fleißigste professionelle Journalist – der Gatekeeper – erreicht irgendwann die natürliche Grenze seiner Aufmerksamkeitskapazität. Damit geraten viele potentiell politisch relevante Themen gar nicht erst in den Blick von Rundfunk und Presse. Unter den gewandelten kommunikativen Bedingungen dagegen kann jeder Einzelne heute die für ihn relevanten Informationen einem Massenpublikum wesentlich selbstbestimmter zugänglich machen. Nicht mehr nur die Logik der Einschaltquoten entscheidet über eine Chance auf Aufmerksamkeit, sondern wir entscheiden nach unseren individuellen Präferenzen.
Früher erfolgten Recherche, Analyse und Berichterstattung allein durch wenige Zeitungen und Rundfunkveranstalter. Deren Betrieb war und ist teuer, auch weil Redaktionen mit hauptberuflich tätigen Journalisten bezahlt werden wollen. Derartige Summen kann kaum jemand individuell aufbringen. Neben diese Institutionen ist nunmehr eine internetbasierte, dezentralisierte, kaum koordinierte öffentliche Produktion und Verteilung von Informationen getreten. An dieser Produktion und Verteilung können wir uns alle in großer Zahl beteiligen, fast unabhängig von unseren finanziellen Möglichkeiten oder unserem politischen Einfluss.
»Viel mehr als im Zeitalter klassischer Massenmedien ist es heute unsere eigene Entscheidung zu sprechen.«
Hat früher die Redaktion einer Zeitung die Auswahl unter den Themen getroffen und diese verdichtet, erfolgt dieser Prozess heute auf einer netzbasierten öffentlichen Debattenplattform gleichsam gemeinsam durch uns alle. Zentrales Instrument dieser „dezentralen Redaktion“ ist das Linking, das Setzen von Hyperlinks etwa beim Retweeten, Liken oder Posten. Damit lenken wir die Aufmerksamkeit anderer Kommunikationsteilnehmer. Vereinfacht gesprochen: Je mehr Links wir für ein bestimmtes Thema setzen, desto mehr Aufmerksamkeit erhält es.
Ohne Hindernisse lassen wir die Rolle des schweigsamen Publikums hinter uns und sprechen selbst aktiv zu den Massen. Viel mehr als im Zeitalter klassischer Massenmedien ist dies heute unsere eigene Entscheidung: Angesichts von Millionen Websites haben wir mehr Freiheit, die Informationen auszuwählen, zu denen wir Stellung nehmen wollen. Wir entscheiden mit unseren Post-Buttons, Blogs und Links freier darüber, was wir weiterverbreiten. Auf Wikipedia oder in Facebook Groups produzieren wir allein oder in loser Verbindung mit anderen die Informationen, die wir selbst am spannendsten finden und teilen sie mit unserer Umwelt. Dabei kommt Neues, Herausforderndes, Triviales, Schrilles und sicherlich auch Widerliches ans Tageslicht. Wir sehen eine Gedankenwelt, die weder anbetungs- noch verabscheuungswürdig ist. Wir sehen schlicht eine vielfältige Welt der Gedanken, die wir individuell ausgewählt haben, um sie mit unseren Mitmenschen zu teilen. Dieses Mehr an realer kommunikativer Freiheit
Freilich wird eine netzbasierte öffentliche Debatte nicht alle bisherigen Defizite von klassischen Massenmedien beheben. Auch geht es nicht darum, eine Attacke gegen den professionellen Journalismus zu reiten. Dieser wird ohne Zweifel gebraucht. Worum es geht, ist der Schutz der zentralen Voraussetzungen der neu gewonnenen kommunikativen Freiheit für den Einzelnen. Andere sollen nicht weniger, der Einzelne jedoch in seiner neuen Medienmacht auch geschützt werden.
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»Die heute noch vorherrschende Verfassungsinterpretation hat sich den Organisationsstrukturen von Rundfunk und Presse angepasst. Jene Strukturen weichen jedoch stark von der Art und Weise ab, wie wir heute zusammen netzbasiert debattieren.«
III. Die „Ersatzordnung von Freiheit“ überwinden
kommunikative Selbstbestimmung in der massenmedialen Debatte spielen folglich in der Verfassung nur eine untergeordnete Rolle.
Damit kommt unweigerlich auch die Verfassung in den Blick. Wie reagiert unser Grundgesetz auf „die Neuen“, die nun neben Presse und Rundfunk unkonventionell öffentlich debattieren? Nimmt sie eine auch durch viele Einzelne organisierte und selbstbestimmter gestaltete, chancengleichere Öffentlichkeit in ihren Schutzumfang auf? Können etwa Plattformen dazu verpflichtet werden, bestimmte unserer Debattenbeiträge „prophylaktisch“ zu löschen und anderenfalls mit hohen Strafen bedroht werden? Lassen sich beliebig Upload-Filter und Leistungsschutzrechte einführen? Diese und andere Fragen werden angesichts der stärker werdenden Rufe nach staatlichen Eingriffen in die netzgestützte öffentliche Kommunikation, aber auch augenfälliger privater Regulierung durch Betreiber sozialer Medien und Suchmaschinen immer drängender.
Verfassungsrechtlich soll es beispielsweise genügen, wenn in der medialen Öffentlichkeit gewichtige gesellschaftliche Gruppen auftreten können. Es reicht, wenn größere Parteien, Kirchen und Gewerkschaften sowie andere organisierte gesellschaftliche Gruppen von einigem Gewicht in der öffentlichen Debatte zu Wort kommen. Die aktive bürgerschaftliche Teilhabe eines jeden Einzelnen von uns an der öffentlichen Debatte unter Einbezug unserer individuellen Erfahrungen und Sichtweisen ist nicht Zielgröße. Kurz gesagt: Es genügt ein Mindestmaß an Vielfalt. Solange wir nicht Teil einer gewichtigen gesellschaftlichen Gruppe sind, wird sich das Grundgesetz in seiner heutigen Auslegung wohl kaum dagegenstemmen, wenn wir durch staatliche oder private Eingriffe faktisch (wieder) verstärkt von der öffentlichen Debatte ausgeschlossen würden. Es verwundert daher nicht, dass manche Stimmen das gegenwärtige verfassungsrechtliche Schutzmodell als ein „Ersatzmodell der Freiheit“ bezeichnen.
»Es verwundert nicht, dass manche Stimmen das gegenwärtige verfassungsrechtliche Schutzmodell als ein ›Ersatzmodell der Freiheit‹ bezeichnen.«
Das soeben geschilderte Maß an Vielfalt ist eng verbunden mit dem Gehalt der Grundrechte, die uns vor Eingriffen schützen sollen, wenn wir gegenüber einem Massenpublikum sprechen wollen. Auch hier wird in Strukturen gedacht, wie wir sie vor allem in Rundfunk und Presse finden. Diese sind typischerweise hierarchisch auf einen Chefredakteur oder Intendanten zugeschnitten. Was in diese Hierarchie eingebunden ist – etwa Journalisten, Druckhäuser, Redaktionen, Kamerafahrzeuge –, wird umfassend durch die Verfassung geschützt.
Rundfunk und Presse haben über Jahrzehnte die öffentliche, massenmediale Debatte allein betrieben. Die heute noch vorherrschende Verfassungsinterpretation hat sich ihren Organisationsstrukturen angepasst. Jene weichen jedoch stark von der Art und Weise ab, wie wir heute zusammen netzbasiert debattieren. Der Einzelne und seine
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» Wir sollten nicht länger davon abhängig sein, wie sich ein Gesetzgeber eine ideale öffentliche Debatte vorstellt. «
Wesentlichen nur professionell tätige Journalisten sowie vergleichsweise finanzstarke Zeitungen und Rundfunkstationen. Eine breite netzgestützte öffentliche Debatte getragen von nicht-finanziellen Motivationen ist ihr weitgehend unbekannt.
Wenn wir dagegen unsere Debatten im Netz führen, fehlt es häufig an diesen klaren hierarchischen Strukturen. Das ist einerseits positiv: Als unser „eigener Chefredakteur“ entscheiden wir selbst, wann wir was, wo, mit wem kommunizieren. Andererseits fehlt dem Grundgesetz gerade für jene losen Netze, die kaum hierarchische Strukturen aufweisen, der Blick. Während ein recht klares Bild davon besteht, wie eine Zeitung funktioniert, ist die netzgestützte Debatte von einer fast unüberschaubaren Vielfalt von einander abhängiger Elemente geprägt: Zugang zum Netz, Websites, Browser, Plattformen, Software, Smartphones – hier ist fast alles mit allem verbunden, und unscheinbare Stellschrauben können enormen Einfluss darauf haben, wie frei und selbstbestimmt wir schlussendlich öffentlich debattieren.
Auch eine andere verfassungsrechtliche Besonderheit im Bereich der Massenkommunikation gibt Anlass zur Sorge: Typischerweise schützen Grundrechte wie ein Schild gerade vor dem Zugriff des Staates auf unsere Freiheit. Der Staat muss sich rechtfertigen, wenn er unsere Freiheit einschränkt. Die grundrechtliche Freiheit des Rundfunks nach heutigem Verständnis stellt die Dinge jedoch auf den Kopf. Hier teilt der Staat uns Freiheit zu. Anders ausgedrückt: Wir haben nur die Freiheit, die der Staat uns durch Gesetz vorher aufgezeichnet hat. Auch in Ausübung unserer Meinungs- und Pressefreiheit werden wir von vornherein eigentümlich in den Dienst des Staates beziehungsweise des „demokratischen Prozesses“ gestellt. Was diesen „demokratischen Prozess“ genau ausmacht und wie er unsere kommunikative Selbstbestimmung reduziert, ist vielfach umstritten.
Viele von uns schreiben im Netz in ihrer Freizeit: ein kleiner Post auf Facebook hier, ein Video über ein Event da. Alles das sind Beiträge zur öffentlichen Debatte. Weil das ohne viel Aufwand geht – in radikaler Arbeitsteilung mit vielen anderen –, entsteht eine Diskussion, die in großen Teilen ohne Entgelt auskommt. Wenn man nun künstlich die individuell aufzubringende Zeit vergrößert, werden mehr und mehr Bürger verstummen. Technisch ist das recht einfach. Ein Beispiel: Die Netzgeschwindigkeit lässt sich nahezu beliebig und punktgenau drosseln oder erhöhen. Es geht um Sekunden. Es reichen ein paar mehr, die es braucht, eine Website aufzurufen, einen Link zu teilen oder ein Video hochzuladen, um uns in der Summe vom öffentlichen Kommunizieren abzuhalten und die netzgestützte öffentliche Debatte massiv zu schwächen.
Rechtfertigen lassen würde sich all dies damit, dass so diejenigen wenigen unter uns keine „kommunikative Poleposition“ erhalten, die über klassische Verlage und Fernsehstationen verfügen. Dafür werden die zuvor genannten Grundrechte in ihrem Schutzumfang sogleich gekürzt. Sie schützen – anders als sonst üblich – nicht einfach den Raum, in dem wir uns als Einzelne mit anderen gemeinsam kommunikativ entfalten können. Der Raum wird vielfach durch den Gesetzgeber erst erschaffen.
»Heute muss der Einzelne nicht nur vor Medienmacht, sondern in seiner Medienmacht geschützt werden.«
Auch rechtlich lässt sich der Zeitaufwand für den Einzelnen leicht erhöhen. Eine voranschreitende Ausweitung von Urheberrechten im Netz im Vergleich zur Analogwelt – Stichwort „Leistungsschutzrecht“ – zwingt den Einzelnen nun zur aufwändigen Klärung komplexer rechtlicher Fragen. „Übersensible“ oder dysfunktionale Upload-Filter von Plattformen können Beiträge zurückweisen, obwohl diese urheberrechtlich zulässig sind. Denjenigen, die vormals freiwillig und kostenlos zur Debatte beitrugen, geht Stück für Stück die Zeit aus, da sie diese für andere Dinge benötigen, etwa zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts. Ob derartig freiheitsgefährdendes Verhalten in den schützenden Bereich des Grundgesetzes fällt, ist nicht klar. Unsere Verfassung kennt bisher im
Die mit der realen Verfügungsgewalt über Presse und Rundfunk einhergehenden Gefahren von Meinungsmacht stehen außer Zweifel. Allerdings haben sich die kommunikativen Bedingungen in der massenmedialen Debatte dramatisch gewandelt. Heute muss der Einzelne nicht nur vor Medienmacht, sondern in seiner Medienmacht geschützt werden. Während zu Zeiten klassischer Massenmedien nur wenige zu einem Massenpublikum
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»Will man Schutzlücken für die uns mittlerweile zugewachsene Medienmacht vermeiden, braucht unser Grundgesetz ein Update.« Blick auf den Einzelnen, darauf wie wir über das „Ob“ und das „Wie“ unserer Kommunikation entscheiden und die öffentliche Debatte selbst organisieren. Wir sind nicht länger davon abhängig, wie sich ein Gesetzgeber eine ideale öffentliche Debatte vorstellt.
sprechen konnten, sind wir heute nahezu alle mittels Blogs, Facebook und Twitter dazu in der Lage. Ordnet man nun unsere Kommunikation verfassungsrechtlich dem Grundrecht der Rundfunkfreiheit zu, würde im Ausgang der twitternde oder bloggende Einzelne in gleicher Weise der gesetzgeberischen Allmacht ins Gesicht blicken wie die Dickschiffe der öffentlichen Debatte. Anders gesprochen: Der twitternde Einzelne könnte genauso reglementiert werden wie ARD, ZDF oder der private Rundfunk.
1. Schutz beginnt beim ersten Link In der netzgestützten Massenkommunikation ist der Einzelne regelmäßig auf Beiträge und Hilfsdienste anderer angewiesen. Er benötigt etwa einen WLAN-Anschluss oder Zugang zu einer Social- Media-Plattform. Mit Hilfe von Suchmaschinen muss er das finden können, was er sucht. All dies ist durch einen grundgesetzlichen Vorfeld- bzw. Umfeldschutz abzusichern, der an unserem konkreten Verhalten ansetzt. Bildlich gesprochen beginnt der Schutz beim einzelnen, individuell gesetzten Link und sichert insgesamt, dass der Kommunikationsprozess durch den Einzelnen autonom gestaltbar bleibt.
Ein dem bunten Treiben von öffentlich kommunizierenden Einzelnen nicht wohlgesonnener Gesetzgeber könnte unsere neu gewonnenen Freiheiten zur stärkeren kommunikativen Entfaltung schlicht durch Gesetz „hinwegmajorisieren“. Denn die Rundfunkfreiheit muss nach heutigem Stand erst durch den Gesetzgeber „geschaffen“ werden. Aber selbst wenn man die netzbasierten massenmedialen Aktivitäten des Einzelnen nicht der Rundfunk-, sondern der Meinungs- oder Pressefreiheit zuordnen mag, bestehen nach der herrschenden Lesart des Grundgesetzes immer noch viel zu große Spielräume, unsere Freiheit zur Teilnahme und eigenständigen Organisation der netzbasierten öffentlichen Debatte einzuschränken.
2. Mit Freiheit gegen Angstkampagnen Schließlich: Die vorgeschlagene, wieder umfassend dem Schutz des Einzelnen zugewandte Sichtweise der Kommunikationsfreiheit adressiert Gefahren für die kommunikative Selbstbestimmung, die sowohl vom Staat als auch von Privaten – etwa Betreiber von Plattformen und Suchdiensten – hervorgerufen werden können. Ebenso wenig blendet sie die mit einer Realisierung dieser Gefahren einhergehenden Folgen für die Prozesse einer öffentlichen Debatte insgesamt aus. Nicht hinnehmbar ist jedoch, den Einzelnen aufgrund der Fortschreibung überkommener Verständnisse von „vornherein“ unter eine staatliche Betreuungskuratel zu stellen.
IV. Am Anfang steht der Einzelne Will man Schutzlücken für die uns mittlerweile zugewachsene Medienmacht vermeiden, braucht unser Grundgesetz ein Update. Die (Rück-)Besinnung auf eine einheitliche Kommunikationsfreiheit, die allein uns in unserer kommunikativen Selbstentfaltung als Ausgangspunkt nimmt, hilft dabei am ehesten, das neue massenmediale Kommunikationspotential zu schützen. Es zwingt zum
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V. Unsere neue Stimme nicht verspielen
gottgegeben. Vielmehr droht diese unter dem Eindruck von Angstkampagnen um „Fake News“ und Filterblasen wieder zu verschwinden.
Die gegenwärtig hitzig geführte Debatte um „Fake News“, Leistungsschutzrecht und „Upload-Filter“ zeigt eines: Wir sind unsicher im Umgang mit neueren, komplexen Phänomenen netzgestützter massenmedialer Kommunikation. Das liegt auch daran, dass ein wichtiger Maßstab – unser verfassungsrechtlicher Kompass – noch stark in der Vergangenheit verhaftet ist.
»Wollten wir uns nicht wieder zum Schweigen verdammen lassen, ist es höchste Zeit für ein grundgesetzliches Update.«
Ein veralteter oder unsteter Kompass ist nicht ohne Gefahr: Im Laufe der gesellschaftlichen Aneignung eines Mediums – hier des Internets – wird eine Auswahl aus möglichen Verwendungen getroffen, die sich dann verfestigt. Die reale Freiheit zur selbstbestimmteren Teilnahme und Organisation öffentlicher Debatten, die wir dank Internet und Web 2.0 gegenwärtig genießen, ist nicht
Die Geschichte lehrt, dass durch technologischen Fortschritt gewonnene neue Freiheitsräume nicht selten wieder verspielt werden, wenn regulatorisch oder ökonomisch in den Adaptionsprozess in die eine oder andere Richtung eingegriffen wird. Wollten wir uns nicht wieder zum Schweigen verdammen lassen, ist es (auch) Zeit für ein grundgesetzliches Update.
Prof. Dr. Steffen Hindelang, LL.M. lehrt öffentliches Recht sowie Europa- und Völkerrecht an der Süddänischen Universität. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören das Kommunikationsverfassungsrecht sowie das europäische und internationale Wirtschaftsrecht. In diesem Zusammenhang berät er auch deutsche, ausländische und internationale Institutionen und Unternehmen.
Steffen Hindelang Freiheit und Kommunikation
• Beschreibt Charakteristika einer massenmedialen Diskursplattform unter den Bedingungen der Networked Information Economy
Zur verfassungsrechtlichen Sicherung kommunikativer Selbstbestimmung in einer vernetzten Gesellschaft
• Benennt Gefahren und formuliert notwendige Rahmenbedingungen für die Aufrechterhaltung der dem Potential selbstbestimmterer öffentlicher Kommunikation des Einzelnen zugrundeliegenden kommunikativen Bedingungen
446 Seiten, Springer 2019
• Richtet sich zuvorderst an Lehrende und Praktiker im Verfassungsund Medienrecht, aber auch an Kommunikations-, Medien- und Sozialwissenschaftler
ISBN 978-3-662-57686-1
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von Nina Keim
KI und Ethik: Wendepunkt fĂźr die Technologiebranche Verantwortung als strategisches Ziel
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Wir befinden uns inmitten einer Revolution, der vierten industriel len Revolution. Bedingt durch den rasanten technischen Fortschritt sind derzeit alle Lebensbereiche im Umbruch. Während digitale Technologien wie das mobile Internet oder die neue Art der Auto matisierung der Industrie 4.0 den Wandel für viele Menschen eben noch (be-)greifbar und handhabbar erscheinen lassen, übersteigt der nächste große Entwicklungsschritt der Künstlichen Intelligenz das Verständnis vieler. Die KI stellt Unternehmen, Gesellschaft und Regierungen – und nicht zuletzt auch die Grundrechte unserer Ver fassung – vor die Herausforderung, den Rahmen für einen ethischen Umgang mit Technologie neu zu setzen.
• Schutz der Bürgerinnen und Bürger: Die Sicherstellung, dass KI und die von KI getroffenen Entscheidungen der Gesellschaft und dem Menschen dienen. Insbesondere werden hier die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Transparenz, Haftung und Verantwortlichkeit von KI betrachtet.
Die maschinelle Replikation menschlichen Denkens in Computern wirft Fragestellungen weit über prozessuale und technische Ebenen hinaus auf. Künst liche Intelligenz (KI) verschafft den Menschen unzählige Vorteile. Sie hilft, effizienter und produktiver zu werden sowie komplexe Fragen schneller und unter Berücksichtigung von weit mehr Daten und Fakten zu beantworten als der Mensch es vermag. Auch kann uns die KI von monotonen, gefährlichen oder wenig wertschöpfenden Tätigkeiten entlasten. Dies nützt nicht nur Branchen wie der Fertigungs- oder Prozessindustrie, sondern auch der Medizin beispielsweise bei der Diagnose und Bekämpfung von Krankheiten zum Wohle aller.
• Im Wettbewerb bestehen: Die Erschließung wirtschaftlicher Potenziale, um erfolgreich im internationalen Wettbewerb zu bestehen. So sollen KI-Geschäftsmodelle nicht zur Entstehung neuer Monopole führen oder Innovationen ersticken. Ein Augenmerk liegt hierbei beispielsweise auf dem Zugang zu, der Hoheit über und dem Einsatz von Daten in komplexen Lieferketten.
Die vier größten Herausforderungen • Arbeitsmarkt von morgen: Die Bewältigung der tiefgreifenden Veränderungen von Beschäftigungsmodellen und Berufsbildern, die durch die Fortschritte der KI hervorgerufen werden. Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt durch die Automatisierung industrieller Prozesse sowie potenzielle Gefahren für sichere Arbeits- und Beschäftigungsformen stehen hier im Fokus.
Gleichzeitig existieren vielerlei Bedenken, dass sich die neue Technologie nachteilig auswirken könnte und weitaus mehr Risiken als Chancen mit sich bringt. Neben den Ängsten des Jobverlusts sind es vor allem die gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen beim verantwortungsvollen Umgang mit solch einer mächtigen Technologie. Wie kann also die rasche technologische Entwicklung im Bereich KI ganzheitlich betrachtet werden, um einerseits das Wirtschaftspotenzial zu entfalten und andererseits sicherzustellen, dass gesellschaftliche Grundwerte und individuelle Grundrechte gewahrt bleiben? Deutschland fokussiert sich dabei wie auch andere führende Industrienationen weltweit im Wesentlichen auf die vier folgenden Bereiche:
• Ethik und Transparenz: Das Unterbinden von vorurteilsbehafteten, KI-basierten Entscheidungen zum Nachteil von Individuen sowie die Sicherstellung der Transparenz der zur Entscheidungsfindung eingesetzten Algorithmen. Hier gilt es, diskriminierungsfreie KI-Systeme zu fördern und einen geeigneten ethischen und rechtlichen Rahmen zu erarbeiten.
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Technologie meets Grundgesetz
gesellschaftlichen Zusammenlebens und die Sicherung des Wohlstands im Informationszeitalter zu entwickeln. Hierbei prüft die Datenethikkommission etwa, ob es nach wissenschaftlicher und technischer Expertise bestimmte Merkmale, Kriterien oder Datenpunkte gibt, die nicht in algorithmenbasierte Prognose- und Entscheidungsprozesse einfließen sollten.
Den ethischen Rahmenparametern der Künstlichen Intelligenz kommt eine zentrale Bedeutung zu, die auch im Grundgesetz fußt. In Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes ist das Diskriminierungsverbot fest verankert: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Das Diskriminierungsverbot stellt somit eine unumstößliche Voraussetzung für das Handeln von Personen, Organisationen und Regierungen in der Bundesrepublik Deutschland dar. Wenn also Algorithmen Entscheidungen treffen können, ist es nur folgerichtig, dass auch diesen ethischen Grundprinzipien die Diskriminierungsfreiheit zu Grunde liegen sollten.
Verstehen, was passiert Auch führende Forscher weisen dem Thema “Bias” hohe Bedeutung zu. Dr. Richard Socher, Chief Scientist von Salesforce, fasst es folgendermaßen zusammen: „Wir leben nicht in einer fairen oder unvoreingenommenen Welt, also müssen wir die Diversität beim Aufbau von Datensätzen manuell berücksichtigen und darauf achten, dass wir die Technologie nicht als Ersatz für das menschliche Verständnis einsetzen.“ Bei der Kreditvergabe hieße das zum Beispiel, die Informationen zum Geschlecht aus den Trainingsdatensätzen zu entfernen. Wenn Maßnahmen dieser Art die negativen Auswirkungen abmildern, trägt dies auch dazu bei, KI-Systeme transparenter und begreifbarer zu machen. Menschen müssen verstehen können, was warum passiert – hier: warum ihr Darlehensantrag abgelehnt wurde.
»Die Vorurteile in menschengemachten Datensätzen kann eine KI nicht selbstständig beseitigen.«
Doch das Erstellen ethischer Leitlinien kann nicht allein Aufgabe der Politik sein. Stellvertretend für zahlreiche andere Anwendungsfälle macht das Beispiel deutlich, dass diejenigen Unternehmen, die KI-basierte Lösungen entwickeln und bereitstellen, besonders in der Pflicht sind. Daher haben sich Technologiefirmen weltweit in dem Konsortium „Partnership on AI“ zusammengeschlossen, um einen Konsens über den verantwortungsvollen Einsatz und die Entwicklung von KI-Technologien zu erzielen und danach zu handeln. Wesentliche Bausteine sind dabei die Aufklärung über KI und die Etablierung von sogenannten Best Practices.
Doch Algorithmen sind nur so gut wie die Daten, mit denen sie trainiert werden. Es ist keineswegs ein vorurteilsbeladener Programmierer, der einen „diskriminierenden Code“ schreibt. Er schreibt einen Algorithmus, der wiederum einen Datensatz für das Training erhält. Die Vorurteile in menschengemachten Datensätzen – in diesem Zusammenhang auch oft Bias genannt – kann eine KI nicht selbstständig beseitigen. Vielmehr muss das KI-System so trainiert werden, dass es Stereotype nicht verstärkt und Vorurteile und Verzerrungen algorithmische Entscheidungen nicht beeinflussen. Wenn beispielsweise Frauen bei Kreditzusagen einer Bank in der Vergangenheit unterrepräsentiert waren, könnte ein Algorithmus auf diesen Informationen aufbauen. Er nimmt die Information aus diesem Datensatz auf und verstärkt oder verlängert somit die Verzerrung.
Selbstverpflichtung für ethischen Einsatz Die Salesforce KI-Plattform „Einstein“ liefert täglich mehr als eine Milliarde KI-gesteuerter Empfehlungen und Prognosen. Diese geben beispielsweise dem Vertriebspersonal Empfehlungen für E-Mail-Antworten oder helfen Servicemitarbeitern, indem Supportanfragen automatisch klassifiziert und für die Bearbeitung weitergeleitet werden. So kann der Kundenservice eines Unternehmens
Auch die Bundesregierung greift in ihrer „Nationalen Strategie für Künstliche Intelligenz“ die Herausforderung Diskriminierungsfreiheit auf. Darüber hinaus hat die Bundesregierung eine Datenethikkommission beauftragt, Leitlinien für den Schutz des Einzelnen, die Wahrung des
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»Der ethische und humane Einsatz von KI kann nur auf Grundlage eines soliden Wertefundaments sichergestellt werden, auf das sich alle Teilnehmer des Marktes stützen.« proaktiv agieren und eine rechtzeitige Wartung oder Reparatur veranlassen, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. Im Marketing wiederum gibt die KI automatisch eine Bewertung der Wahrscheinlichkeit ab, mit der E-Mails geöffnet oder Newsletter abonniert werden. Das verbessert letztlich das Kundenerlebnis, da die Kommunikation an diese Bewertungen angepasst und individuell nach Wunsch des Kunden gestaltet wird.
• Verantwortlichkeit: Die Entwicklung und der Einsatz von KI müssen rechts- und gesetzeskonform gestaltet werden sowie den höchsten Sicherheitsstandards gerecht werden. • Nachvollziehbarkeit: KI-basierte Systeme müssen transparent und nachvollziehbar sein. Sie benötigen integrierte Mechanismen, die für deren Überwachung und Anpassung sorgen sowie schädliche Ergebnisse von vornherein vermeiden können.
Das sind nur einige Anwendungsfälle, die schon heute täglich umgesetzt werden. Daraus erwächst eine hohe Verantwortung. Um dieser gerecht zu werden, hat Salesforce die ethische und humane Nutzung von Technologie zu einem strategischen Ziel des Unternehmens erklärt. Es mündet in einer Selbstverpflichtung, die im Wesentlichen die von der Politik benannten Herausforderungen schon adressiert:
Künstliche Intelligenz ist schon heute Teil des alltäglichen Lebens und das vielleicht sogar mehr, als vielen bewusst ist. Bei allen Vorteilen, die Technologien dieser Art mit sich bringen, stellen sie Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vor neue Herausforderungen. Der Aufstieg von KI markiert damit einen Wendepunkt nicht nur für die Technologiebranche sondern für uns alle. Der ethische und humane Einsatz von KI kann nur auf Grundlage eines soliden Wertefundaments sichergestellt werden, auf das sich alle Teilnehmer des Marktes stützen. Denn Technologie selbst ist nie gut oder böse. Sie ist, was Menschen aus ihr machen.
• Gemeinwohlorientierung: KI muss sich an den globalen Werten und Rechten, wie den universellen Menschenrechten und dem Respekt vor Diversität, orientieren sowie Gleichberechtigung und Gerechtigkeit fördern.
Nina Keim leitet als Director Government Affairs & Public Affairs die politische Interessensvertretung von Salesforce in Deutschland. Zuvor arbeitete sie bei dem Berliner Elektomobilitäts-Startup ubitricity, war als Politikberaterin tätig und forschte am Center for Social Media der American University in Washington DC zum Einsatz sozialer Medien für den gesellschaftlichen Wandel. Sie studierte Sozialwissenschaften, Informatik und Psychologie in Duisburg und in Washington, DC und absolvierte einen Master of Law in Medienrecht an der Johannes Gutenberg Universität Mainz.
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Der Präsident, der mich wie einen Sohn behandelte Erinnerungen an George Bush senior
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von Timothy J. McBride
Ein rücksichtsloser politischer Führungsstil ist auf dem Vormarsch. Dass amerikanische Präsidenten dagegen als Vorbilder taugen können, zeigt George Bush senior, der mit Demut, Integrität und verbindenden Wanderungen in Camp David maßgeblich Weltpo litik beeinflusste.
George H. W. Bush zur Vereidigungsplattform geleitet werden, bemerkte der noch nicht vereidigte Präsident, dass Nancy Reagan Präsident Reagan sorgsam seinen Mantel umlegte, obwohl es draußen milde 10 Grad Celsius waren. Präsident Bush wandte sich eilig an mich und sagte, er brauche ebenfalls seinen Mantel. „Präsident Reagan trägt seinen und ich möchte mich nicht von ihm abheben“, sagte er. „Ich kann nicht da rausgehen und staatsmännischer aussehen als der amtierende Präsident.“
Von 1985 bis 1990 war ich der persönliche Assistent von George H.W. Bush, damals zunächst Vize-Präsident und ab 1989 der 41. Präsident der Vereinigten Staaten. Meine Aufgabe bestand darin, ihn vom Morgengrauen bis hin zum späten Abend auf Schritt und Tritt zu begleiten. In einem Moment verwaltete ich seine Unterlagen und trug seine Taschen, im nächsten Moment musste ich die Entscheidung fällen, ob ein Anruf dringend genug war, um den Vizepräsidenten bei seiner Arbeit zu unterbrechen.
Das Problem war, dass sein Mantel in der Limousine im Capitol Plaza vier Stockwerke tiefer eingeschlossen war. Die Zeit reichte Minuten vor der Vereidigung nicht aus, um seinen Mantel zu holen. Da George H.W. Bush jedoch darauf bestand, einen Mantel zu tragen, bot ich ihm meinen an. Der passte ihm glücklicherweise gut genug, um ihn für den Weg nach draußen zu tragen und ihn unmittelbar vor der Vereidigung abzulegen.
»Ich kann nicht da rausgehen und staatsmännischer aussehen als der amtierende Präsident.« George H.W. Bush hat sein ganzes Leben lang das „Wohl der Anderen“ im Sinn gehabt – ein Charakterzug, der stets von allen bewundert wurde, die ihn gekannt haben. Ein gutes Beispiel hierfür ist der wohl wichtigste Tag im Leben von George H.W. Bush: seine Amtseinführung im Januar 1989. Als wir im Zentrum des Kapitols in Washington standen und darauf warteten, dass Barbara und
Auch in Zeiten großer Veränderungen durfte ich aus erster Hand erleben, mit welchem Geschick George H. W. Bush auf die vorher kaum vorstellbaren Verschiebungen der Weltordnung in dieser Zeit reagierte. Eines dieser Ereignisse war der Fall der Berliner Mauer. Ich bin überzeugt, dass sein
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vom Präsidenten beabsichtigte Wirkung – es schuf eine enge persönliche Bindung zwischen den beiden Regierungschefs, die sich erneut dazu verpflichteten, die schwierige diplomatische Mission der Wiedervereinigung zu bewältigen.
Engagement für die Wiedervereinigung Deutschlands als die bedeutendste Errungenschaft seiner Präsidentschaft in die Geschichtsbücher eingehen wird. Sie war nicht nur für das deutsche Volk, sondern auch für Europa und die ganze Welt von entscheidender Bedeutung. Denn Präsident Bushs Vision eines vereinten und freien Europas hätte ohne ein wiedervereinigtes Deutschland nie verwirklicht werden können.
Im Juni 1990 empfing Präsident Bush den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow zu einem Gipfeltreffen in Washington, bei dem die Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands den wichtigsten Tagesordnungspunkt darstellten. Bestandteil des Besuchs war auch ein informelles Treffen – ohne Anzug und Krawatte – in Camp David zusammen mit Barbara Bush und Raisa Gorbatschow. Es war der perfekte Rahmen für Präsident Bushs besondere Gabe der „persönlichen Diplomatie“. Während ihrer Wanderungen über die Waldwege von Camp David sprachen die beiden Präsidenten locker über die unterschiedlichsten Themen – über Sport und Sportschießen, heimische Giftpflanzen, wie Amerikaner ihre Häuser kaufen und verkaufen – und über Frieden.
»Bundeskanzler Kohl schien gemeinsame Wanderungen eher als ›Gewaltmärsche‹ zu sehen.« Nach dem Fall der Berliner Mauer und trotz des Widerstandes einiger beunruhigter europäischer Nachbarn waren Präsident Bush und Bundeskanzler Kohl fest entschlossen, die beiden deutschen Staaten zu vereinen. Im Februar 1990 war ich mit den beiden Regierungschefs in Camp David, als sie „den Weg zur Wiedervereinigung geebnet haben“. Dies war der erste Besuch eines deutschen Bundeskanzlers in Camp David. Zwischen den Arbeitstreffen gab es informelle Mittag- und Abendessen mit ihren Ehefrauen Barbara Bush und Hannelore Kohl sowie kalte und schneereiche Wanderungen auf dem Gelände von Camp David.
»Camp David war der perfekte Rahmen für Bushs besondere Gabe der ›persönlichen Diplomatie‹.« Präsident Bush überreichte Präsident Gorbatschow zum Abschied das Hufeisen, mit welchem dieser zuvor beim Werfen den Pfahl im Spielfeld getroffen hatte: ein Glücksbringer in den Vereinigten Staaten. Auch wenn während des Besuchs nicht alle Meinungsverschiedenheiten zwischen ihren beiden Ländern in der „deutschen Frage“
Präsident Bush liebte das Wandern bei Minusgraden. Bundeskanzler Kohl hingegen schien gemeinsame Wanderungen eher als „Gewaltmärsche“ zu sehen, die er in schlechtsitzender geliehener Winterkleidung absolvierte. Trotz der Kälte hatte der gewählte Rahmen des Treffens in Camp David die
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»Seine Demut und Integrität, sein Sinn für Humor und seine Aufrichtigkeit machten ihn zu einem Anziehungspunkt für die Menschen.« gelöst werden konnten, so wurden doch Fortschritte gemacht und einige Spannungen abgebaut.
leader“, ein dienender Anführer. Jemand, der stets darauf achtete, dass sich alle um ihn herum wertgeschätzt fühlen, in ihrer Arbeit und als Person.
Eine der großen Stärken des Präsidenten war seine Fähigkeit, eine Verbindung zu Menschen aufzubauen, sie zu ermutigen und Trost zu spenden. Humor spielte dabei eine wichtige Rolle. Er liebte es zu lachen, und er liebte es, die Leute zum Lachen zu bringen. Er und seine Frau waren voller Humor und lachten viel.
»George Bush war jemand, der stets darauf achtete, dass sich alle um ihn herum wertgeschätzt fühlen.«
Seine Demut und Integrität, sein Sinn für Humor und seine Aufrichtigkeit machten ihn zu einem Anziehungspunkt für die Menschen, die sich ihm näherten. Alle, die wir für George Bush arbeiteten, wussten, dass er angetrieben wurde von dem Gedanken des Dienstes an seinen Mitmenschen. Er war ein – wie wir es auf Englisch nennen – „servant
Jeden Abend dankte er seinen Mitarbeitern und Leibwächtern, die ihn an diesem Tag unterstützt hatten. Seine fortdauernde Sorge um andere, von den führenden Persönlichkeiten der Welt bis zu den Bescheidensten im Raum, wird nicht in Vergessenheit geraten.
Timothy J. McBride war von 1985 bis 1990 der persönliche Assistent von George H.W. Bush in dessen Zeit erst als Vizepräsident und dann als 41. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Seit 2015 ist er Senior Vice President of Government Affairs der United Technologies Corporation.
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Von der Newa an den Dnepr. Vom Potomac an die Spree. Nico Lange portraitiert von Sebastian Hass
Foto: Jens Oellermann
Nico Langes Büro befindet sich im vierten Stock des Berliner Konrad-Adenauer-Hauses. Dass er eines Tages dort Quartier nehmen würde, daran dachte er zu Beginn seines politischen Arbeitens wahrscheinlich noch nicht. Sein Weg dorthin war ungewöhnlich. Eine Straßenkreuzung in Ostvorpommern im Wahljahr 2002: Der Wind ist rau, die Stimmung auch. Der Kanzlerkandidat der Union heißt Edmund Stoiber, der den Osten des Landes gerade mit unvorsichtigen Äußerungen verärgert hat. Kein leichtes Terrain. Mittendrin kämpft Nico Lange. Nicht für Edmund Stoiber, sondern für Susanne Jaffke, die den Wiedereinzug in den Bundestag schaffen will. Wenn Lange heute über die Härten des Straßenwahlkampfes spricht, merkt man, dass er sich auskennt.
mehrere Auslandseinsätze, sieht Dinge, die den Augen der meisten verborgen bleiben. Er weiß um die Gefahren des Berufs, im Gelände, aber auch im Privaten. Als sich die Bundeswehr umstrukturiert, verabschiedet er sich aus dem aktiven Dienst und bricht zu neuen Ufern auf. Lange will studieren. Sein Weg führt ihn an die Universität Greifswald. Bei der Wahl der Fächer verbindet er Politikwissenschaft und Informatik, eine gleichermaßen ungewöhnliche wie spannende Kombination. Die Frage liegt auf der Hand: Lässt sich die Logik der Informatik mit der Analyse des Politischen erfolgreich verbinden?
Nach dem Abitur in den frühen 90er-Jahren verpflichtet sich Lange bei der Bundeswehr. Es ist die Zeit der Kriege auf dem Balkan. Er absolviert
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den Menschen des uns scheinbar fremd werdenden Landes im Alltag wichtig ist.
Lange bejaht das. Ein anderer Blickwinkel sei das; einer, der beim Strukturieren auch komplexer Sachverhalte helfe. In dieser Zeit arbeitet er weiter für Jaffke und lernt das Politikgeschäft auch abseits der Wahlkämpfe kennen.
Die Hauptstadt des wichtigsten Partners der Deutschen, einer der spannendsten Orte der Weltpolitik und überdies idyllisch gelegen am Potomac River. Der Posten des Leiters des Washingtoner KAS-Büros ist ein Traumjob. Wer ihn freiwillig aufgibt, weiß wofür oder für wen er das tut. Lange weiß es – und kehrt zurück nach Deutschland. An die Saar, zu Annegret Kramp-Karrenbauer.
Nach der Bundestagswahl 2002 arbeitet Lange im Bundestag. Ein attraktiver Arbeitsplatz in der Hauptstadt, doch er sehnt sich nach etwas Neuem, nach Abenteuer. Er belädt seinen Kleinwagen und bricht auf nach Sankt Petersburg, wo er für die Robert-Bosch-Stiftung tätig wird. An den Ufern der Newa, an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg bildet er u.a. Nachwuchsjournalisten aus und ist fasziniert von der politischen wie gesellschaftlichen Widersprüchlichkeit Osteuropas.
Kennengelernt haben sie sich schon Jahre vorher während einer Klausurtagung der saarländischen CDU. Analytisch und konzeptionell sind sie auf derselben Wellenlänge, die Atmosphäre stimmt. Lange arbeitet mittlerweile in den USA, aber der Austausch währt fort. Für beide ist klar: Sollten sich in der CDU Dinge bewegen, kann die saarländische Ministerpräsidentin auf Langes Unterstützung zählen. Und die Dinge bewegen sich: Nach der Bundestagswahl 2017 ist die politische Lage schwierig und eine rasche Rückkehr in ruhigeres Fahrwasser ist mit dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen nicht zu erwarten.
Das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kiew übernimmt er 2006 und wird dort sechs Jahre bleiben. Er dringt tief ins politische Leben der Ukraine ein; sein Netzwerk, darunter Vitali Klitschko, Petro Poroschenko und Julija Tymoschenko, pflegt er bis heute. Doch seine entschiedene Unterstützung für die demokratischen, proeuropäischen Kräfte und die deutliche Kritik an Präsident Janukowytsch stört: Im Juni 2010 wird Lange auf Anweisung des Geheimdienstes festgenommen und verbringt einige Tage in Haft. Nach Intervention der Bundesregierung, allen voran der Bundekanzlerin, kommt Lange frei. „Nicht sonderlich gut überlegt“, nennt er heute die Aktion der damaligen Machthaber und lächelt. Einfacher wurde seine Arbeit danach allerdings nicht.
Als Innovationsbevollmächtigter des Saarlandes mit Sitz in der Staatskanzlei wird Lange zu einem engen Berater der Ministerpräsidentin. Dass er ihr nach ihrer Wahl zur CDU-Generalsekretärin nach Berlin folgt, überrascht niemanden. Das Tempo ist hoch, die ersten Monate stehen ganz im Zeichen der von Lange und seinen Kollegen konzeptionierten Zuhörtour. Darauf aufbauen soll der Grundsatzprogrammprozess. Als Angela Merkel ihren Verzicht auf eine neue Kandidatur für den Parteivorsitz erklärt, muss es wieder schnell gehen. Lange räumt sein Büro im Konrad-Adenauer-Haus und zieht mit den engsten Mitstreitern in ein Co-Working-Office in Charlottenburg. Gemeinsam mit Kramp-Karrenbauer erarbeiten sie ihr Konzept für den innerparteilichen Wahlkampf, aus dem sie als Siegerin hervorgeht.
Von den Ufern des Dnepr zieht es Lange 2012 zurück an die Spree. In der Zentrale der KAS übernimmt die Funktion des stellvertretenden Hauptabteilungsleiters für Politik und Beratung und Teamleiters für Innenpolitik. Sein Verständnis für die politischen Zusammenhänge helfen ihm auch hier: Strukturen, Bedürfnisse und Möglichkeiten der von ihm beratenen Parteien kennt er nicht nur aus Briefings, sondern aus eigenem Erleben. Die US-Präsidentschaftswahlen im November 2016 lösen ein weltweites politisches Erdbeben aus; Washington D.C. ist das Epizentrum. Genau der richtige Ort für Lange, der kurz darauf die Leitung des dortigen KAS-Büros übernimmt. Er beobachtet scharf und tut das, was er auch in Osteuropa immer getan hat: Mit allen sprechen, ohne Berührungsängste und Vorurteile. Seine im September 2017 veröffentlichte Analyse zu Trumps Amerika wird ein Renner, Lange analysiert darin anschaulich, was
Lange kehrt zurück ins KAH. Formal ist er stellvertretender Bundesgeschäftsführer und Abteilungsleiter, für den Zugang zur neuen Parteivorsitzenden bedarf es gleichwohl keiner Umwege. Die Erwartungen der Partei aufzunehmen, sie zukunftsfest zu machen und strategisch neu zu kalibrieren, das sind drei Aufgaben, die Lange am Herzen liegen. Ist er erfolgreich, wechseln Kramp-Karrenbauer und er irgendwann wohl wieder die Büros.
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