Mallorca Moments (de) 2016 Kay Muller

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By Kay

Mallorca Moments Männlichkeit als Wackeldackel, Hollywood & Büchsenbier, Aliens auf Rädern, MörderwellenRomantik, Papa-Gefühle im Wolkenbruch und mehr Auswanderer-Erlebnisse auf „Malle“.

Neue Ausgabe mit Fotoart-Bildern


Mallorca Moments Autor: Kay Müller Verlag: Unique Stuff S.L., Calle Pujol 7, 1b, E-07141 Marratxi, Illes Balears Erste Auflage:

Juni 2014

ISBN - 13:

978-84-608-8025-7

Überarbeitete Auflage: Juni 2016

Bildnachweis:

Umschlagtitel-Foto Yvonne Otto

Fotos und Fotoart-Bearbeitung Yvonne Otto

Foto Seite ... Kay Müller

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Druck, Verbreitung durch Funk, Fernsehen und Internet sowie Vervielfältigung und jegliche gewerbliche Nutzung auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors. Alle Fakten wurden sorgfältig recherchiert und entstammen seriösen Quellen. Die Angaben erfolgen jedoch ohne Gewähr für Vollständigkeit, Richtigkeit und Genauigkeit. Der Autor und der Verlag übernehmen dafür keinerlei Haftung.

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Vorwort

ยกGracias!

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Vorweg Wie das alles kommt „Jetzt schreib doch endlich mal dieses sch… Buch“, platzte es vor etwa einem Jahr mit einem herzhaften Lachen aus meinem Schwager heraus. Auch andere wollten, dass ich meine Idee vom humorvollen Abspeckleitfaden verwirkliche. Und ich spürte ja selbst, dass es nach all den Jahren der Auftragsarbeit für Werbe- und Eventagenturen höchste Zeit war, mein ganz eigenes Ding zu machen. Ein Freund und Kunde formulierte es so: „Es wäre schade, wenn Du Dein Talent irgendwann mit ins Grab nimmst.“ Das war drastisch. Und hilfreich. Stärker jedoch als alle Appelle in mir und um mich herum, wirkte die Stimme der Insel. An den Stränden, in den Bergen, unterwegs in Altstadtgassen, beim Wandern und auf Radtouren, aber auch in vielen Momenten des alltäglichen Lebens – überall und immer wieder lag es in der Luft: „Schreib. Jetzt bist du da, also schreib.“ ¡Vale! (ok). Vale. Vale. Vale. Hier ist es, Leute, allerdings ein ganz anderes Buch. Claro (klar). Was hätte mich mehr inspirieren können als unser neues Leben (Veränderung) auf Mallorca. Ich denke, ihr werdet es lieben. Ich hoffe, ihr werdet es auch ein bisschen leben.

Mai, 2013

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Inhalt Vorwort Vorweg – wie das alles kommt------------------------------------------------ 4 Vorsätze – was das alles soll--------------------------------------------------- 9

Mallorca Moments: Wenn du lachen kannst, obwohl vieles erst mal anders ist. Sa Font de sa Cala: Gestrandet. Rattenkalte Tage in tosender Stille------------------------------------------- 17 Wenn du das Licht siehst und den Schatten. Cap Blanc: Tief berührt. Begegnung am Kap der Hoffnungslosen----------------------------------- 25 Wenn du die Welt umarmen kannst, so wie sie gerade ist. Santa Ponsa, Illetes, Puerto Portals, Ciudad Jardin: Losgestürmt und festgeregnet. Ein verrückter Vater-Tochtertag---------------------------------------------- 33 Wenn wieder jemand weiterzieht. Ciudad Jardin: Verabschiedet. Ein kurzes Innehalten im Kommen und Gehen--------------------------- 49 Wenn die Natur es schafft, dich rauszuholen. Port de Sóller: Weggetreten. Wandern zwischen Lottoglück und Schlangenpanik--------------------- 59 Wen du dich wie ein Frischling fühlst. Son Vida (Palma): Umzingelt. Schwitzen, stammeln, staunen beim Business-Lunch------------------- 73

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Wenn du einem Erlebnis wie verrückt entgegenfieberst. Cala Deià: Reingebrettert. Wilde Wogen in der Winterbrandung--------------------------------------- 85 Wenn komische Vögel mit dir fliegen. Süddeutschland: Ausgerollt. Mal wieder Komödie nach der Landung------------------------------------ 97 Wenn du an Deine Grenzen stößt. Santa Catalina (Palma): Abgeblitzt. Business as usual----------------------------------------------------------------- 103 Wenn du im richtigen Film bist. Parque del Mar (Palma): Hingerissen. Großes Kino unter freiem Himmel------------------------------------------- 115 Wenn Nächte sind wie Träume. Portixol: Verzaubert. Schmetterlinge im Bauch statt „Schmerzen im Hintern“ bei der Fiesta Sant Joan---------------------------------------- 127 Wenn eine Existenz im Möbelwagen verschwindet. Port Cala d`Or: Gescheitert. Das harte Brot der Gastronomie--------------------------------------------- 137 Wenn die Fahrrad-Tour ein Fest im Sattel ist. Mancor de la Vall, Moscari, Inca: Angetreten. Mit dem Bike durch das Land der Mallorquiner-------------------------- 149 Wenn Weihnachten ohne Schnee und ohne Stress abläuft. Andratx, Alaró, Puigpunyent, Pueblo Español (Palma): Eingestimmt. Oh-livenbaum, Oh-livenbaum, wie fremd sind deine Blätter---------------------------------------------------------------- 169

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Wenn du anfängst, diese andere Art zu lieben. Paseo del Borne (Palma): Reingestolpert. Ein überraschend „erstklassisches“ Konzert auf gewohnt entspannte Weise---------------------------------------------- 183 Wenn du spürst, dass es nicht Deutschland ist. Palma: Aufgelaufen. Anstehen für die Eintrittskarte in das Paradies--------------------------- 199 Anhang Über die Fotografin-------------------------------------------------------------- 236 Über den Autor------------------------------------------------------------------- 237

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Vorsätze Was das alles soll Was denkst du über Mallorca? Und denkst du, du liegst damit richtig? Hast du aufgehört, dich mit deinem Leben zu beschäftigen, oder bist du offen für Impulse? Was kannst du von diesem Buch erwarten? Was, glaubst du, möchte ich dir mit meinen Erfahrungen, Gefühlen und Gedanken geben? Sortieren wir mal ein bisschen, bevor Mallorca dir in den 16 Geschichten dieses Buches etwas näher kommt. Mallorca und das Leben, über das nachzudenken, wir nie aufhören sollten. Also, dann komm mal eben mit auf die Insel: „Hallo, ich bin der Kay.“ Zum Namen ein Lächeln, ein „Wer bist du“ im Blick und die Hand grätscht unausweichlich in die Greifzone des Gegenübers. So oder so ähnlich kommst du rein, hier auf Mallorca. Ins Gespräch, in den Beginn einer Freundschaft oder in Teufels Küche. Mallorca, sagen auffallend viele Zuwanderer, sei Himmel und Hölle. Ob`s stimmt? Drei Jahre leben wir hier. Himmel unterschreibe ich. Hölle? Sagen wir mal so: Höllisch aufpassen musst du schon. Viele, heißt es, wollen nur dein Bestes. Der erste fette Spruch, den uns dazu ein langjähriger Inselbewohner beim Café con leche um die Ohren grinste, macht auch nicht gerade Mut: „Du kannst auf Mallorca zum Millionär werden. Wenn du als MultiMillionär ankommst.“ Pointen dieser Art häufen sich. Und einige Leute hier wirken tatsächlich finanziell angeschlagen bis abgebrannt. Die Behörden können dir richtig Feuer unter`m Hintern machen. Zudem ist so mancher Steuerberater offensichtlich abartig unfähig. Lass das Wort Steuerberater fallen und jeder Dritte verdreht die Augen ... Auf der anderen Seite gibt es diese richtig guten Geschichten über und mit richtig guten Leuten auf Mallorca. Da haben wir zum Beispiel 9


unseren „Santa Klaus“: Ein Typ wie Weihnachten ist das, geradezu ein Geschenk des mallorquinischen Himmels. Initiativ, klar, engagiert – Dienstleistungsverständnis Made in Germany, kombiniert mit Steuerberatungskompetenz für Spanien. Gefühlt ist er eine Rarität. Ein Unternehmer erzählte uns, er habe in acht Jahren sechs Steuerberater gehabt, bevor er mit „Santa Klaus“ endlich die richtige Adresse gefunden hatte. Mehrere Anläufe braucht auch das gute Gefühl beim Auftauchen der „Guardia Civil“ und „Policia Local“. Anfangs wirkt es etwas beunruhigend, wenn sie an einem Kreisel gleich mit mehreren Fahrzeugen stehen und – manchmal schwer bewaffnet – Fahrzeuge kontrollieren. Wohl der Frommste hätte in einem derartigen Razzia-Szenario schnell mal erhöhten Kreislauf. Das kann sich bis zur Panikattacke steigern. Gerade willst du das Fenster runter kurbeln und rufen „Ich war das nicht!“, da winken Sie dich durch. Im Laufe der Zeit wirst du gelassener, weil du durch die Inselnachrichten ein Gespür dafür entwickelst, welche Kaliber sie da gelegentlich so suchen. Das hat nichts mit verkackten Steuerstundungsraten zu tun oder einer zugepackten Heckscheibe. Gehst du ihnen dann irgendwann mit deinem defekten Rücklicht ins Netz, wandelt sich der coole Cop-Look sogar in erlösenden Freund-und-Helfer-Charme. Einmal sahen wir sogar, wie am Straßenrand zwei Männer in PolizeiUniform einer Autofahrerin den Reifen wechselten. Absolut tranquila (ruhig). Und das war nicht in der Faschingszeit. Überall kann es dir begegnen: Spürbares Wohlwollen und Glück in der Panne So wie in Santa Maria nach dem Wochenmarkteinkauf. 10 Sekunden Hilflosigkeit und Stammel-Englisch für den solo un poco (ein bisschen) ingles (Englisch) sprechenden Mann der Policia Local genügten, dass er unseren Strafzettel zerriss. Allerdings sollte man sich von guten Erfahrungen nicht versauen lassen. Andererseits nämlich wimmelt es nur 10


so von Parkuhren-Observatoren der O.R.A., die dir bei Ablauf deines Parkscheins gleich mal 60 € Strafe aufbrummen. Der Scheibenwisch dürfte vielen unter die Haut gehen. Es ist ein Hammergeld, gemessen am niedrigen Lohnniveau Mallorcas. Hohes Bußgeld und entgegenkommende Polizisten, nachlässige Steuerberater und zuverlässige Vollprofis – das sind gute Bilder dafür, was dich als Zuwanderer hier wie wohl überall auf der Welt erwartet. Wechselbäder der Eindrücke und Gefühle. Die Tausenden Motor- und Segeljachten in den Nobelhäfen des Südwestens und Ostens gehören natürlich nicht den Bedürftigen, den Arbeitslosen oder herumdümpelnden Obdachlosen, von denen auch immer mal wieder die Rede und mal was zu sehen ist. Mallorca ist Schauplatz bei großen Filmproduktionen, während in der gleichen Kulisse mancher nur noch alleine mit sich und seinen geplatzten Träumen irgendwo haust oder mit Schicksalsgefährten eine Bude teilt. Internationale Stars treten auf im Teatre Principal oder dem Auditorium in Palma. Auf deinem Weg dorthin hingegen jongliert ein viertklassiger Kleinkünstler eine Ampelphase lang vor deiner Kühlerhaube, voller Hoffnung auf ein paar Cent. Klar gibt es Leute, die mit fast leeren Taschen ankamen und heute etablierte Unternehmer sind. Das junge Paar aus Rumänien wiederum, das wir gleich zu Beginn kennengelernt hatten, zog wenige Monate später wieder enttäuscht ab. Trotz Startkapital und ihrer Qualifikation hatten der Computer-Spezialist und die Physiotherapeutin beruflich nicht Fuß fassen können. Also was jetzt? Haifischbecken der Gestrandeten oder doch Spielwiese der oberen Zehntausend? Oder Beides? Voll Klischee die ganze Pracht in Hochglanzmagazinen und Boulevardblättern? Claro, auf den ersten Blick wirken die Häfen Mallorcas tatsächlich wie all` die Bilder, die uns sehnsuchtsvoll und ehrfürchtig seufzen lassen. Aber: Noch mal hingucken und hier und da und da auch 11


noch mal blitzt ein „Se Vende“-Schild am Heck in die Sonne ... „Zu verkaufen“. Aha. Träume zu verkaufen! Beim Träumen verraten und verkauft worden? Pech gehabt oder alles falsch gemacht? So oft siehst du „Se Vende“ an Häusern und Booten, dass es sich irgendwann tatsächlich anfühlt wie ein anderes Wort für „ausgeträumt“. Aber trifft es das wirklich? Könnte ja auch das Abstoßen von Besitz sein, den jemand nicht mehr braucht, weil er sich jetzt noch größer, schöner, beeindruckender leisten kann ... Wie klingt das denn? Überall schicke Mickies und monströse Miezen? Nicht wirklich. Den Big Boss und seine Deko-Puppe, die sich gut aber knapp betucht Testosteron triefenden Passanten entgegen rekelt, suchst du eher vergebens. Auf den Brettern, die viel Geld bedeuten, hocken nämlich meistens Typen, die aussehen wie du, ich und deine bessere Hälfte. Na ja, vielleicht wie wir alle in unseren besten Tagen. Das entspannt und irritiert. Und all das macht dich hilflos bei der Suche nach dieser einfachen, glatten Meinung oder treffenden Aussage über Mallorca. Der Griff in Schubladen bleibt unbefriedigend. Es gibt einfach alles hier. Arme Schweine, reiche Ritter und wahrscheinlich umgekehrt. Fleißige Normalos, Genügsame, Raffgierige, authentische Persönlichkeiten, selbstinszenierte Scheinriesen, Horrorgeschichten von zerstörten Existenzen, beeindruckende Erfolgsbeispiele, glanzvolle Partys und das einfache Glück. Zum Beispiel in 1 Euro-Latschen durch den Sand zu flippen und zu floppen, mit einer vergammelten Kühltasche und einem Weißbrot von der Tanke unterm Arm ... Shit. Also ein Buch über das „furchtbar“ schöne Mallorca? Über den Himmel? Die Hölle? Noch eine zweihundert Seiten starke Ambition, knapp über 3.600 Quadratkilometer Inselfläche als Reiseerlebnis vorzustellen? Nein. Keine typischen Reiseführerbeschreibungen. Kein Lamentieren. Kein Nörgeln. Anders. Ein Cocktail, der schüttelt, rührt und ein bisschen berauscht. Genau den will ich dir vor die Nase halten. Zieh` ihn dir rein und lass dich reinziehen. Zu Orten und Situationen, die dir – bekannt oder nicht, 12


spektakulär oder banal – in die Seele stampfen oder dich mal eben, sorry, an den Eiern packen. Lass` dich ein auf tief empfundene Momente auf Mallorca. Einen Mix aus mediterranen Farben, sagenhaftem Licht, hinreißenden Düften, Puls treibenden Landschaften, interessanten Typen, witzigen Situationen, Melancholie und Hundescheiße am Hacken. Die könnte übrigens durchaus von der Nobelmeile Jaime III in Palma stammen. Hab` Spaß und gute Gedanken mit der Art Geschichten, die man teilen möchte. Und wo immer du bist, was immer dich treibt – nutze die Chance auf mehr Erlebnis im Alltag durch einen einfachen Vorsatz: Entdecke deine Augenblicke neu, die du verkennst, weil du sie zu kennen glaubst. Schärfe deine Sinne für Wertvolles, Wegweisendes, Beflügelndes, das dir unaufdringlich und unbeachtet begegnet. Lass dich von „Mallorca Moments“ dazu inspirieren, künftig ein richtig gutes Lebensgefühl zu zelebrieren: Mit Leib und Seele dabei, statt weg vom Fenster. Nehmen wir das Fliegen. Schon mal aufgefallen, wie wenig Leute noch zum Fenster rausschauen, obwohl alle Hunderte von Tonnen schwer mit dreifacher Formel 1-Geschwindigkeit zwischen Wolkendecke und Kosmos Tausende von Kilometern zurücklegen? Mal eben. Hättest du vor 100 Jahren jemandem erzählt, dass man eines Tages auch auf diese Art seinen Tomatensaft trinken kann – sie hätten dich weggeschlossen. Wir dürfen dabei sein. Also sollten wir die Wunder unserer Zeit auch – erleben. Bewusst. Intensiv. Warum nicht mit feuchten Augen, Gänsehaut und sich sträubenden Haaren! Und mit Humor natürlich! Gut 50 Flüge hatte ich inzwischen von bzw. nach Mallorca mit unterschiedlichen Airlines. Jedes Mal schaue ich viel zum Fenster raus und immer geht mir Etliches durch den Kopf, manches durch und durch. Das Gefühl von Heimweh war auch schon dabei. Es packte mich kurz nach dem Start, während sich die Insel langsam so um die 1000 Meter tiefer unter dem Flugzeug wegschob. Keine Wolke dazwischen, kein Zweifel unter der Haut. Ein klares eindeutiges

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„Verdammt, ich will nach Hause.“ Seit ein paar Monaten erst lebten wir damals auf Mallorca. Wir fingen gerade an zu begreifen, dass wir nicht umgezogen waren, sondern ausgewandert. Noch völlig fremd eigentlich, naiv, unbeholfen, ziemlich daneben irgendwie – kein Spanisch, keine Ahnung, kein Plan was da im Supermarkt auf all diesen Verpackungen steht ... Aber auch keinen Zweifel hatten wir, wie gut dieser Schritt für uns gewesen war. Und noch sein sollte. Dein Verstand kann dir viel erzählen. Aber keine Zahlen, kein vernünftiger Gedanke, keine Diskussion kann kraftvoller sein, als eine erfüllende Überzeugung tief in dir. „Ich bin so glücklich, dass wir das gemacht haben.“ Oder auf ballermanisch: „Was für ein geiles Gefühl, hier zu sein.“ Während du liest, wirst du spüren, warum die Insel längst in uns gewurzelt hat. Jeder wird aus diesem Buch etwas mitnehmen von dem Gefühl, das mich damals im Flugzeug auf dem Weg nach Deutschland packte, wo ich zu diesem Zeitpunkt 51 Jahre lang gelebt hatte: „Verdammt ich will nach Hause. Nach Hause, nach ... Mallorca.“

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Der Mallorca Moment Wenn du lachen kannst, obwohl vieles erst mal anders ist ... Wir Menschen leben die meiste Zeit in zwei Welten: Die eine besteht aus Bildern im Kopf, die andere aus der Realität vor Augen. Mit der gleichen Unbekümmertheit, mit der Kinder blühende Fantasien auf das Papier kritzeln, malen wir uns aus wie die Dinge sein sollen. Nein müssen, wie sie sein müssen. Oder wir beamen Erinnerungen direkt aus unserem Gedächtnis in den Teil des Gehirns, der für unsere Erwartungen zuständig ist. Natürlich unter Umgehung des Verstandes. Wir sind dann überzeugt, alles wird so sein wie wir es kennen – von früher, aus dem Fernsehen oder durch die Erzählungen von anderen. Tendenziell ist es gut, die Dinge positiv zu sehen und mit einer guten Energie heran zu gehen. Allerdings sollte man unterscheiden lernen zwischen Optimismus, Verblendung und gefährlichem Realitätsverlust. So oder so wird es immer dann im Leben besonders spannend, wenn Vorstellung und Wirklichkeit nicht geschmeidig zusammenfließen, sondern unsanft aneinander stoßen. Mal rumpelt es mehr, mal weniger. Wie schön, dass man die Kollision manchmal einfach ziemlich witzig findet ...

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S a F ont

de sa

C ala

Gestrandet.
Rattenkalte Tage in tosender Stille Es gibt so einen gruseligen Film, wo ein Mensch oder eine Handvoll Menschen in einem menschenleeren Flughafen an einem eigentlich ganz normalen Tag herumirren. Es ist als stünde die Zeit still. Nichts passiert in dieser plötzlich so ganz anderen Welt, die niemand mehr versteht. Später steuert irgendwie alles auf eine Art Endzeit zu. Etwas Undefinierbares kommt – quasi wie ein Virus über eine Festplatte – gnaden- und seelenlos über die Erde gewalzt, löscht einfach alles aus. Krass. Als seien Wälder, Felder, Häuser, einfach schon immer nur ein gut sortierter Haufen Pixel gewesen. In Sa Font de sa Cala, ein vornehmes Zweitwohnsitz- und Touristengebiet bei Capdepera im Norden der Insel, passiert im Winter Ähnliches. Schaufensterauslagen, ja komplette Ladeneinrichtungen verschwinden. Die Verkaufsstände vor den Shops scheinen weg gebeamt. Keine Busse, keine Strandliegen. Viele Fensterflächen in den Ladenzeilen sind mit Zeitungspapier pietätvoll zugekleistert, damit keiner in die leblosen Hohlkörperwelten gafft. „Traspasa“-Schilder an einigen Restaurants und Bars lassen einen rätseln, ob der Wirt zu reich oder zu arm geworden ist, um in der nächsten Saison weiter zu machen. Das Wetter bläst dazu im Januar und Februar häufig volle Kanne Trübsal in die leeren Straßen. Da treibt es auch mal Strauchzeug vor sich her, dass du denkst, du bist im Wilden Westen. Ghost town pur. Hier bist du um diese Zeit froh, wenn du im Laufe eines Tages wenigstens eine Handvoll Leute antriffst. Prospekte über den Badeort wirken jetzt wie Steckbriefe. Beachvergnügtes Treiben verzweifelt gesucht. Heulen kannst du in dieser Atmosphäre dennoch vor Freude – wenn du gerne ein einsamer Wolf bist, ein Melancholiker oder mal richtig in dir drinnen aufräumen willst. Ich schätze, drei solche Monate und du fängst an, mit den Straßenlaternen zu reden. Das war unser Auftakt in Mallorca. 18


Von der heiß ersehnten Insel kalt erwischt. Zwar wussten wir in etwa, was das Klima da anstellt, aber die Schocker Movie Stimmung hat uns dann doch ziemlich überrascht. Die ausgefallene Heizung in der Ferien-Villa meines Schwagers, die wir erst mal bewohnen durften, ging zusätzlich unter die Haut. 70 Minuten Fahrtzeit einfache Strecke täglich zum Kindergarten nahe Palma ließen uns zudem viel früher nach einer Wohnung im Süden geiern als geplant. Nach der ersten Woche schon. Und doch lag über allem der wundervolle Zauber des Neuanfangs, die packende Spannung des Ankommens und ein gesunder Schuss Humor. Oder hätte ich damals sonst dieses E-Mail an meinen Schwager geschrieben? Ein E-Mail, das mehr sagt als Zehntausend andere Worte. Und das uns nach drei Jahren klar macht, dass wir mit unseren paar Koffern damals in der Villen-Siedlung von „Sa Font de sa Cala“ direkt bei Capdepera eher gestrandet waren als angekommen. Hallo Thomas, hallo Sarah! Morgen fliegen wir für eine Woche zurück nach Deutschland und vielleicht treffen wir uns dann mal. Vorab ein paar News ... Supi: Haben eine Traumwohnung gefunden, drei, vier Kilometer von der Schule entfernt, super klasse und bezahlbar. Mit Gemeinschafts-Pool und Spanner-Balkon. Mitte März oder vielleicht schon Anfang März ziehen wir um. Dann sind wir mit eigener Wohnung und dem kleinen Mallorca-Macken-Mobil so richtig angekommen. Schwierig: Trotz peinlicher Sauberkeit und permanentem Verteidigungseinsatz – die Ameisen kommen, immer mehr, immer frecher. Ich hätte doch zur Bundeswehr gehen sollen. Deine Putzfrau sagt, ein typisches Problem der Insel; wenn es regnet kommen sie, wenn`s gemütlich warm ist, bleiben sie. Du denkst es ist dein Haus, aber eigentlich gehört es ihnen. Ich bin überzeugt, alles wiedergeborene Ex-Banker. 19


Wir saugen und sprühen noch mal vor der Abreise. Die Putzfrau schaut Montag nach dem Rechten und den Biestern und lässt ihren Mann ggf. mit einem Spezialmittel aus Arta einen Sondereinsatz machen rund ums Haus. Die wohl hier gängige Underground-Methode. Rattenscharf: Die Zähne der kleinen Nager, die laut Heizungsmonteur die Kabel vom Heizungsofen durchgefressen haben. Zwei Spanier (die Monteure) waren da. Einer sagte nur „atención, ratas“ und zeigte mir die vielen kleinen abgefressenen Brocken. Wir haben zwar nicht miteinander reden können aber uns gut verstanden. Deine Putzfrau hatte den Wartungsdienst mit dem ihr eigenen Hartspülerton herbeifegen lassen. Ich hatte sie um Rat gefragt, weil trotz 2.000 Litern Öl nichts in Sachen Heizung oder Warmwasser lief und ich wusste, du wirst es mir danken, wenn ich die Finger von der Technik lasse. Witzig: Der Pool war eines Tages leer. Wenn die Ratas ihn nicht ausgesoffen haben, war wohl einer der Handwerker hier, die du angekündigt hattest. Das war`s. Ich nehme an, er kommt wieder, um weiter zu machen. Irgendwann. Bemerkenswert: Deine Putzfrau wird jetzt giftig – an die Ratten rangehen, bzw. ihr Mann. Sie hat zugegeben, dass es doch Dinge gibt, die Männer besser können als Frauen. Vielleicht denkt sie auch, wir können mit bzw. gegen Ratten besser, weil wir ihnen so ähnlich sind. Ich frag` sie lieber nicht. Cool: Gestern hat`s geschneit. Ich schwöre es. Kein Brandy! Was ich gesehen habe, war die Realität, Yvonne kann`s bezeugen. Wenn nicht auch noch auf deinem Dach ein Drogen-Junkie wohnt, der ausflippte, dann war das die gleiche Art Schnee wie sie derzeit an einem Berghang des Dramatouri?Kamasutra?-Gebirges thront. Kritisch: Ein kleiner Problemjunge im Kindergarten, der schon öfters Kinder attackiert hat, hat Kayleen verdammt nah am Auge gekratzt. Wir haben ein ernstes Gespräch geführt und die Erzieherinnen zusätzlich in die Verantwortung genommen. Hoffentlich löst sich das Problem in Kürze. Wenn`s noch mal vorkommt, müssen wir Kayleen rausnehmen. Prima: Das Arbeiten hier läuft. Ich bin in Form, meine Kunden gut drauf, krieg` gutes Feedback auf die Sachen, die ich abliefere. 20


Toll: Das Leben erwacht wieder rund ums CapderPenner. Die Engländer von drüben sind da – und beobachten uns. Sonst wäre jetzt die Batterie vom Auto leer. Dein Nachbar hier direkt nebenan kam neulich kurz zu uns und sagte ganz ambitioniert Hallo. Als er merkte, dass ich nicht der Doc bin, ist er gleich wieder gegangen. Find` ihn trotzdem nett. Und ich sage dir, ich habe das bunte Licht gesehen. Am Ende des Tunnels hat diese eine kitschige Bar wieder aufgemacht. Es scheint, einer nach dem anderen zieht nach. Ermutigend: Neulich nachts in der Apotheke in Cala Rad, Radsch, Rad - ja da war sie wieder die Unsicherheit mit den spanischen Namen. Also neulich nachts da drüben in der winterlichen Ghost City konnte die Apothekerin ziemlich gut Deutsch und ich stolz mit einem selbst organisierten Mittel gegen Ohrenschmerzen wieder nach Hause gehen. Kayleen hatte zuvor mal wieder im kalten Wind die Kapuze verweigert ... Typisch: Halb Cala Motoradjada von Rockern bevölkert und Kayleen fährt ihnen mit ihrem Miniroller zwischen den Füßen rum. Während ich so tat, als sei das nicht mein Kind, haben die Schränke locker reagiert – vielleicht doch keine Nieten. Da hab` ich dann mitgelacht, ich Held. Katastrophal: deine Telefonrechnung. Nehme ich jedenfalls an. Bitte komplett an mich. Oder an den vorangegangenen Gast. Wir könnten sagen, wir mussten ständig irgendwelchen Frauen absagen, die hier um erotisches Asyl gebeten haben. Sonderbar: Keine fremden Schlüpfer mehr aufgetaucht. Allerdings benutzen wir auch nur ein Schlafzimmer. Was soll ich sagen, 51... Tja, wir sind mitten drin im Alltagsleben auf Mallorca, bereits nach 14 Tagen. Jetzt sind wir gespannt auf die nächsten 14 Jahre. Und ich hoffe, ihr konntet ein bisschen schmunzeln, trotz der tierisch nervigen Mitbewohner-News. Wir melden uns! Hasta Lego aus der WG, Hombre Sapiens Kay 21


Gut drei Jahre ist das her. Gut drei Jahre lang haben wir erlebt was für ein schönes und herrlich gelegenes Fleckchen Sa Font de sa Cala ist. Gerne sind wir zu Besuch in dem eleganten Haus, um das Ambiente und die Gegend im größeren Familienkreis zu genießen und den fantastischen Blick auf die Küste. Einige Male schon haben wir uns in der Badebucht nebenan gesonnt, erfrischt und mit einem Schmunzeln erinnert an die Eindrücke von damals. Eine kleine, angenehm lebendige Idylle ist das, viele Sommermonate lang und in der Nebensaison eine Oase der Ruhe. Deshalb klopfen wir der charmanten Gegend schon lange gerne und aufrichtig auf die kalte Schulter, die sie uns im mallorquinischen Winter gezeigt hatte.

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Der Mallorca Moment Wenn du das Licht siehst und den Schatten ... Glaubst du an mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als man wahrnimmt? Kannst du dir vorstellen, dass manche Orte wunderbare Kräfte bergen und andere das Unheil anziehen? Und wie sehen diese magischen Extreme in deiner Fantasie aus? Das Böse, Verhängnisvolle, begegnet uns als Fratze, als bedrohliche Landschaft oder angsteinflößende Kreatur? Alles Glück bringende hingegen umarmt uns schon von Weitem mit einem guten Gefühl und erfreut mit seiner Anmut das Auge? Wohl kaum. Es ist ein bisschen komplizierter. Ein Landstrich kann schön sein wie eine Ansichtskarte. Und tödlich. Immer wieder. Auf merkwürdige Weise ...

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C ap B lanc

Tief Berührt Begegnung am Kap der Hoffnungslosen Nennen wir sie Blume. Ihren richtigen Namen kenne ich nicht. Ob sie inzwischen ganz auf Mallorca lebt oder noch immer zwischen den Welten? Keine Ahnung! Vielleicht ist sie auch wieder ganz zurück in Deutschland. Es wäre ein weiteres Beispiel für die Wahrheit hinter einem geflügelten Wort, das einem hier mehrfach begegnet: „Die Insel ist ein Durchlauferhitzer“. Viele kommen aufgeregt an, kochen über vor Begeisterung und Plänen. Dann wird aus dem Blubbern und Brodeln schnell wieder eine kühle Distanz. Und weiter geht die Reise durch das Leben. Zurück oder an einen anderen Ort. Wo Blume jetzt wohl steckt? Einsame Wege. Obwohl sie mir nie wieder begegnete, ist sie da. Menschen, die voller Farben sind aber wenig froh erscheinen, hinterlassen bleibende Eindrücke. Umso stärker, wenn man durch das schillernde Äußere nach innen blicken durfte. Und sei es nur für einen Moment. Ein Moment wie jener Sommertag im Osten. Ich hatte mich mit Blume verabredet, weil ich mich als Neuling für andere Zuwanderer und PendlerResidenten interessierte. Eine Frau in den zweiten besten Jahren, die ihren Mann Hals über Kopf verlassen hatte und sich gerade ein neues Leben irgendwo zwischen S`Arenal und Santanyi aufbauen wollte; das klang spannend. Und dann war sie auch noch so ein liebevoller, schlagfertiger Wonneproppen. Der Typ Mensch, wo du gut gelaunt wieder gehst, egal wie du vorher angekommen warst. Aber, das wurde mir durch Blume einmal mehr klar: Es ist ein großer Unterschied zwischen fröhlich sein und froh, zwischen Glück haben und glücklich sein. Wir fuhren in ihrem Wagen die etwas entlegene Küstenstraße im Südosten entlang. Wie meistens, taten das an diesem Tag nur wenige andere 26


auch. Eine flache Gegend, einsam, Natursteinmauern, niedrige, knöchrige Bäume, Sträucher. Endlos erscheint hier die Natur und interessant für fast nur Einheimische, deren Bauernhäuser weit verstreut in der Landschaft liegen. Hier und da taucht mal eine schöne Finca auf wie ein vertrautes Zeichen von Wohlstand, meist ohne jegliches Zeichen von Leben. Wieder einmal dachte ich, wie viele Gesichter Mallorca doch hat. Dass wir auf dieser Insel leben und immer mehr ihre Facetten kennenlernen würden, unter diesem sanft blauen Himmel wie auch zu anderen Jahreszeiten, fühlte sich klasse an. Gleichzeitig war mir ein bisschen mulmig, denn es ging Richtung Cap Blanc. Über diesen markanten Punkt nahe der bekannten Bucht Cala Pi spricht merkwürdigerweise niemand. Nur in den Nachrichten ist hin und wieder die Rede davon ... Erinnerungen auf der Klippe. Angekommen an der gut 40 Meter hohen Steilküste nahe des Kaps, setzten wir uns in respektvollem Abstand zum Abgrund auf den Felsboden. Blume fing sofort an zu erzählen. Ihr Leben in Deutschland, die feine Gesellschaft, in der ihr Mann sie unfein behandelte und vieles mehr. Ihren Aufprall in S`Arenal hier in ihren ersten Wochen in einem „absolut NullsterneHotel“ schilderte sie in schillernden Farben. In ihren Erinnerungen kam auch die erbrochene Promillesuppe anderer Hotelbewohner hoch, die sie allmorgendlich vor dem Eingang im Spreizschritt überwand. Aber am meisten schüttelte sie beim Blick zurück das unfreiwillige Public Viewing ins Treiben auf anderen Balkonen. Wüste Szenen der Ausgelassenheit bis hin zu „beinahe schon Vergewaltigungen“, wie sie es nannte. Wahrlich Geschichten zum Kotzen. Aber wenn der Himmel dich so unbeteiligt anstrahlt und dein Blick auf 180° Panorama vor sich hin schwelgt, fühlst du dich immer noch gut in deiner Gänsehaut. Vielleicht lag das auch an Blumes Art. Mit schätzungsweise 50+ verkörperte sie das blühende Leben. Immer ein schmutzabweisendes Lächeln auf den Lippen, klimperte sie aus kleinen, wachen Augen unter der gewagten Frisur in den Tag. Von allem, was hätte an ihr nagen können, sprach sie als läge es weit zurück, als ginge es sie irgendwie gar nichts mehr an. Außerdem trug sie die Altlasten mit der Vitalität eines Sportlers vor. So ähnlich muss es sein, wenn jemand beim Joggen neben dir herläuft und bei bestem Atem von seiner schweren Krankheit berichtet. Du denkst „schlimm eigentlich, aber das ist ja wohl Schnee von gestern“. 27


Ich hörte Blume mitunter nicht sonderlich aufmerksam zu, weil mir immer mal wieder das Kap durch den Kopf ging. Wenn man weiß, was für ein Ort das ist, reißt er die Gedanken brutal an sich. Erst als Blume aufhörte, gedanklich fröhlich durch ihr Leben zu rennen, war ich wieder voll bei ihr. Sie war ins Stocken geraten. Sie berichtete plötzlich weniger, sprach jetzt eher als Betroffene. Der Abstand zwischen den verkorksten Dingen ihres Lebens und ihr schien über die Klippe ins Meer gerutscht. Alles Peinliche, Unangenehme und Unmögliche gehörte jetzt wieder unmittelbar zu ihr. Der Bruch hatte etwas Ergreifendes. Gedanken zwischen Horizont und Abgrund. Nachdenklichkeit füllte mehr und mehr die Seeluft um uns herum. In kleinen Schritten tastete Blume sich in Bereiche vor, die nicht so greifbar waren wie im Vollrausch poppende Jugendliche auf dem Hotelbalkon. Ich folgte ihr in die unendlichen Weiten der Esoterik. So redeten wir unter anderem über mehrere Leben. Dabei klebte Ihr Blick am Horizont. Meine Augen tasteten die wenigen Meter felsigen Boden bis zur Steilkante ab, hinter der es unbremsbar nach unten ging. Gut zwanzig Minuten saßen wir mittlerweile in der Sonne am Abgrund. Im weiteren Verlauf des Gespräches wurde die Situation für mich immer stärker zu einem Symbol. Wie in Blumes Schilderungen und genau wie an diesem Ort an diesem Tag, so liegt im Leben alles ganz dicht beieinander: die Sonnenseite und der Abgrund. Alles existiert gleichzeitig. Ein paar wenige Schritte in die falsche Richtung können entscheiden. Aber auch deine Einstellung bestimmt den Weg. Du kannst dich am Cap Blanc sonnen oder sorgen. Du kannst in der Ferne Schiffe anschauen und träumen oder dich über die Möwenkacke ärgern, in die du dich gerade gesetzt hast. Allerdings: Eine gute Einstellung garantiert nicht, dass du alles richtig machst. Wir müssen damit rechnen, dass sich Dinge verselbstständigen können, dass wir außer uns geraten. Du kannst dich betrunken wie ein Arschloch benehmen oder Gentleman sein. Eben noch warst du vielleicht ein Unternehmersohn mit AbiTraumnote und im nächsten Moment kübelst du im Hotel vor die Tür. 28


Du kannst jahrelang als Politiker eine gute Figur machen und dann über Nacht das Gesicht verlieren ... Das Leben ist zu bunt, zu verrückt und der Mensch zu sensibel, als dass wir immer in der gleichen Rolle oder in dem gleichen Bewusstsein bleiben können. Jeder Mensch ist so viel mehr, als man wahrnimmt. Wie oft habe ich das schon gedacht. Und wie sehr füllte mich dieser Gedanke aus, als ich sah, wie Blume sich am Cap Blanc in den unterschiedlichen Strömungen ihrer Erinnerungen und Gefühle hin und her wog. Ausgerechnet am Cap Blanc. Von über einem Dutzend Menschen weiß man, dass sie – vielleicht nach einer Zeit des Schwankens – an dieser Stelle der Insel scheinbar verhängnisvoll entschlossen nur eine Richtung eingeschlagen haben. Über die Klippe hinaus. Blume würde das nie tun. Damit du mich richtig verstehst. Sie hatte viele Facetten, viel Frust aber auch Lust aufs Leben, Pläne, Freunde ... Und wahrscheinlich fühlen Situationen von Menschen sich oft dramatischer an als es ist, wenn man die Oberfläche verlässt. Bei einigen hingegen, muss es anders gewesen sein. Sie wurden verkannt oder gar übersehen auf einem völlig falschen Kurs im Kopf. Boote sind hier zerschellt. Autos rasten an hellen Tagen ins Verderben. Eine Frau hat dabei nach stundenlanger Irrfahrt über die Insel ihr angeschnalltes Kind auf dem Rücksitz mit in die Tiefe gerissen. In manchen Fällen gibt es klare Hinweise auf Selbstmord. In anderen deutet vieles darauf hin. Manches bleibt mysteriös. Dunkle Ahnungen über die andere Seite. Auch jenseits der Klippe geschehen sonderbare Dinge. Immer wieder kommt es auf der schnurgeraden Straße zu Unfällen. 2012 starb ein Radfahrer, nachdem er von einem betrunkenen Polizisten angefahren wurde. Was macht dieses Kap mit den Menschen? Oder zieht es Menschen in besonderen Lebenssituationen genau dort hin? Ist es ein Kap der Hoffnungslosen? Und gibt es einen natürlichen Instinkt, der Menschen einen großen Bogen drum herum machen lässt? 29


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Wir haben einen Hinweis auf diesen sechsten Sinn hautnah erlebt. Bevor wir von den Geschehnissen am Cap Blanc erfuhren, war es das Ziel auf einer unserer Wanderungen. Meine Frau Yvonne, unsere Kleine und ich waren damals in der Postkarten schönen Cala Pi gestartet, östlich vom Cap Blanc in einem Traum aus erdfarbenem Fels und dem klassischen TürkisBlau-Ensemble unter glasklarem Wasser. Wie immer war unsere Tochter trotz ihrer gerade mal viereinhalb Jahre mit Eifer dabei. Sicher erlebte sie die Strecke wie wir als einen faszinierenden Weg: Ein bisschen kraxeln, dann ein Trampelpfad auf dem Plateau, verdammt nah an der steil abfallenden Felswand zur Bucht hin und schließlich eine Mondlandschaft aus zerklüfteten, wie ineinandergeschoben daliegenden Felsplatten. Puhh. Aber hier wurde es einfach. Und offensichtlich absolut ungefährlich. Weit bis zum Kap war es auch nicht mehr. Dann geschah trotzdem, was auf keiner Wanderung zuvor passiert war. Kayleen wollte nicht weiter. Yvonne und ich sahen uns an. Gibt`s doch nicht. Wir zogen alle Register: „Wo wir hingehen, gibt es einen Leuchtturm … lass uns spannende Steine finden, dahinten ... du wanderst so toll, komm, das Stück schaffen wir auch noch ...“ Die ganze Motivation endete in peinlichen Bettelappellen der Eltern an das Kind. Nichts konnte sie dazu bewegen, auch nur noch 50 oder 100 Meter weiter zu gehen. Na gut. Wir hatten ein kleines Picknick mit Blick aufs Meer und suchten winzige Muscheln, die wohl irgendwann mal ein höherer Wasserstand in den ausgewaschenen Felsbecken dagelassen hatte. Bei uns blieb die bohrende Frage zurück, was Kayleen geritten hatte, dass sie dieses Mal zum ersten Mal die Tour abgebrochen hatte. Störrisch wie ein Esel. Auffallend früh. Grundlos. „Ich mag nicht mehr.“ Was heißt, ich mag nicht mehr?! Vier Wochen später bekamen wir eine mögliche Antwort. Yvonne legte mir bedeutungsvoll einen Artikel hin. „Lies mal.“ Ich las. Dabei lief mir der Sommerschweiß über das Gesicht, während den Rücken Eiseskälte runterkroch. Der Artikel berichtete von den vielen Unfällen und Selbstmorden am Cap Blanc und dass es eine alte Seefahrerkarte gibt. Darauf wird dieser Ort bezeichnet als das Tor zur Hölle. 31


Immer, wenn wir in der Nähe des Cap Blancs sind, denke ich an unsere Wanderung und an das Gespräch mit Blume. Aber wir sind nur selten in dieser Kante und nicht gerne. Damals mit Blume zum Kap bin ich auch nur aus einem Grund gegangen: Es war ihr Lieblingsort.

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Der Mallorca Moment Wenn du die Welt umarmen kannst, so wie sie gerade ist ... Was sind die beglückenden Erinnerungen, wenn du 40 bist, 50 oder auch schon darüber hinaus? Welche Momente geben dir im Nachhinein und für alle Zeit das intensive Gefühl, gelebt zu haben? Was würdest du auf keinen Fall missen wollen? Worauf könntest du verzichten? Was gibt dir ein nachhaltiges Gefühl von Glück und Zufriedenheit? Und was im vergangenen Teil deines Lebens macht dich so dankbar, dass es dir eines Tages ein bisschen leichter fallen wird, zu gehen? Darauf gibt es bestimmt viele Antworten. Wahrscheinlich so viele, dass es kaum möglich ist, in allen Punkten sagen zu können. „Da ist es für mich gut gelaufen.“ Aber denkst du nicht auch, dass eine Sache schon mal sehr viel mehr wert ist als die meisten – wenn nicht alle – anderen: Viele wundervolle Momente mit denen, die dir viel bedeuten ...

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S anta P onsa , P uerto P ortals , C iudat J ardin

Losgestürmt und festgeregnet Ein verrückter Vater-Tochtertag Ich liebe unsere Kleine. Natürlich. Und wie. Wie alle Väter ihre Töchter lieben. Und noch ein bisschen mehr. Aber das tun ja auch alle. Oder? Schließlich geben die süßen Sprösslinge einem so viel. Sie sind Freude, Erlebnis, lassen dich ganz neu in die Welt und auf das Leben blicken. Und wenn du dein Kind anschaust, dann erkennst du so vieles darin. Dich selbst zum Beispiel; bei allem was es klasse macht. Wunderbar! Und wenn was voll daneben ist, kannst du dich mit Verweis auf die Gene deines Partners ganz salopp jeglicher Urheberschaft freisprechen. Wird die Diskussion darüber mit deiner besseren Hälfte dann zu heftig, müssen für Sturheit, Trotzreaktionen und andere Stimmungskiller der Kleinen eben die Verwandten herhalten. Ein Leichtes, denn oft genug rühmen sich Omas, Opas, Onkels und Tanten, sich selbst in der Nachkommenschaft zu erkennen. Aber lass dich nicht verunsichern: Im Wesentlichen bist natürlich du der Mensch, der mit seinem Kind quasi selbst noch mal auf die Welt kommt. Bedeutet: A Star is born! Dein Kind ist das Abbild deiner ganzen Stärken. Alles was stören könnte, hat es eben von jemand anderem. Ende der Geschichte. Und sage mir noch einen Menschen, der dich so liebt, wie diese kleine, sich mehr und mehr zeigende Persönlichkeit auf ihrem Stolperweg durch einen Kosmos aus Träumen und Realitäten. Für wen sonst bedeutest du so viel! Und was kann zärtlicher sein, als diese sanfte Seele, die schlaftrunken auf dem Weg ins Bettchen halbschlafschlaff an dir klettet und dich deine Bandscheibenprobleme gleichzeitig spüren und einfach mal vergessen lässt? Dass unsere Kleine hier ist, bei uns, die Luft nimmt uns das in manchen Momenten vor lauter Glück. Und den Atem. Vor Erschöpfung. Bei so vielen anderen Gelegenheiten. Wenn die ganze Kompetenz, Schaffenskraft 36


und Geschicklichkeit dieser tollen Erwachsenen von morgen erst noch voll in den Windeln liegt – heilige Scheiße, ist das anstrengend. Und du kannst ja gar nicht anders, als knietief mittendrin zu stehen, egal welches Kids-Chaos es ist. Kein Wunder, sind Eltern bei aller Liebe manchmal fies. Von der Erpressung mit dem Weihnachtsmann bis hin zum Bündnis mit finsteren Fantasie-Gestalten ist alles drin. Dabei hat das schlimmste aller Monster uns allesamt viel zu oft bereits im Griff. Der Alltag. Wehe, wenn er aufzieht, liebe Eltern (und Paare), dann können wir was erleben. Was Ungeheuerliches. Die ganze Liebe im Schatten. Weg erst mal, zugemüllt, zugeschissen, begraben unter einem Berg von Stress und Öde. Warum eigentlich sind wir Paare so blöd und lassen das im Umgang mit unseren Kindern wieder und wieder passieren? Wir müssten doch nach all dem Beziehungsfrust miteinander längst kapiert haben, was das Monster Alltag mit uns macht. Wie gut, dass es Allanderstage gibt. Tage, an denen alles anders ist. Tage, wo die Neugier herrscht, der Humor triumphiert und die Liebe alles erstrahlt, sogar bei Himmel, Arsch und Wolkenbruch. Tage, wie dieser. Strohwitwer-Sonntag im Herbst. Typisch Insel. Der Wetterbericht prophezeit dir das Graue vom Himmel herab aber statt im Regen erwachst du unter einem so was von verführerischem Blau. Den zweiten oder dritten Tag schon war ich mit Kayleen alleine, weil Yvonne kurz nach Deutschland gedüst war. Die Gelegenheit also, für ein richtiges, selbstbestimmtes Wochenend-Highlight. Mit mir zusammen schoss ein faszinierender Gedanke aus dem Bett: Bevor die Mama Anfang der Woche zurück sein würde, so richtig zeigen, dass es auch mal ohne sie geht. Ja es war tatsächlich eine prickelnde Mischung, die mich in den Tag hecheln ließ: der Wunsch, Kayleen fantastische Stunden zu bescheren, die ganze eigene Begeisterung für einen weiteren Tag in den Armen dieser Insel und dieser „Papa-ist-der-Beste“-Ehrgeiz. 11 von 10 möglichen Punkten wollte ich holen. 37


Also ein schnelles Frühstück, dann ein cooles Picknick in der Küche zusammengehechtet und straight vorwärts Richtung Herzenswunsch: der Klettergarten in Santa Ponsa. Die Strecke dahin führt auf der Ringstraße nördlich um Palma herum und dann weiter über die Autopista zwischen kleinen Städtchen am Meer und den Ausläufern des Tramuntana-Gebirges entlang. Und immer bringt sie eine phänomenale Erfahrung: 30 Minuten staunen statt stauen. Warum, staune ich immer wieder aufs Neue, nutzt sich dieses Erlebnis nicht ab? Rechts die Pinienhügel vor imposanten Bergen. Links die längst vertrauten Buchten am Rande der endlos wirkenden Weite vor dem afrikanischen Kontinent. Staunen statt stauen. Warum stören all die Häuser nicht den Gesamteindruck? Warum nicht verblassen die Grüntöne der Vegetation, die vielschichtigen Sandfarben der blanken Felsformationen im Laufe der Zeit im Auge des häufigen Betrachters? Staunen statt stauen. Und schmunzeln. Wie oft hatte ich in Deutschland festgesessen unter tausenden anderen Karren in einer Umgebung zum Nasebohren bei Wetter zum Abschiedsbriefe schreiben! Und auf der Straße hier, wo du einfach nur rumhocken und mit den Augen Kraft saugen könntest, läuft es, und läuft es und läuft es. Staunen statt stauen. Und schmunzeln. Und schon knirschten die Reifen über ein paar lose Steine die letzten Meter auf dem Parkplatz entlang. Kayleen packte beim Blick auf die Seile, Podeste und Hindernisse in den Bäumen die helle Freude. Mich erwischte der Video-Ehrgeiz, während ich dieses Klettergarten-Idyll schon mal mit allen Sinnen abschwenkte. Ein tolles Filmchen sollte es werden von unserer Queen in den Seilen, powered by Papa. Zwei Lungenzüge AleppokiefernDuft und ein inneres Nicken weiter war klar, dass der „Set“ kaum besser sein konnte: Starten statt warten. Noch nämlich lag der „Jungle Parc“ unbehelligt von Langschläfern in der Frühe des Tages. Nur ein paar Leute tasteten sich bereits andächtig auf schmalem Grat durch das Geflecht aus Seilen und Ästen. Die Sonne schuf mit flachem Licht genialen Kontrast. Ja! An der Kasse kein Drängeln, kein Warten, sondern hingehen und drankommen. Ja!

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So nahm das Bilderbuch seinen Lauf. Kayleen kletterte hervorragend. Ich war fleißig am Punkten mit psychologisch wertvollen Kommentaren und schönen Aufnahmen. Ja! Während Kayleen sich von Schwierigkeitsgrad zu Schwierigkeitsgrad empor- und weiterhangelte, mussten sich erste Wolken angeschlichen haben. Nein! Jetzt waren sie da, aus heiterem Himmel. Und sie gaben mir genauso zu denken, wie die Bekannten, die auch gerade aus dem Nichts aufgetaucht waren. Drei Seilparcours-Abschnitte hinter uns eskortierten sie ihre Kinder ganz entspannt. Auffallend entspannt. Verdammt entspannt! War ich vielleicht zu verbissen, mit meiner Videokamera und dem Superpapa-Zeichen in den Augen? Und warum hatten sie uns nicht gesagt, dass sie hier hergehen? Dann hätten wir es gemeinsam tun können. Damit kam der Gedanke hoch, dass auf der Insel gemeinsam und einsam nahe beieinander liegen. Aber vielleicht war ich gerade nur dabei, das über zu bewerten. So entschloss ich mich, nicht weiter nachzusinnen über die Intensität und Qualität von Freundschaften auf Mallorca. Es genügte mir, dass die Drei sehr sympathische Leute waren, denen man gerne begegnet. Warum nicht zufällig. Ich grüßte den Engländer und seine spanische Frau. Unserer anderen Bekannten ein paar Meter dahinter winkte ich ein fröhliches „high“ zu. Auf mich hatte sie bei den wenigen bisherigen Begegnungen meistens so gewirkt, wie sie jetzt im Kletterwald in unsere Richtung schaute. Auf sympathische Weise zurückhaltend bei zugleich interessiertem, wachen Blick. In Kenia geboren und aufgewachsen, lebte sie seit vielen Jahren mit ihrem britischen Mann und den beiden Kindern am Fuße des Tramuntana-Gebirges. Dort betrieben sie ein kleines Finca-Hotel. Mit den steinalten Gebäuden und der Ursprünglichkeit der Umgebung ist das ein Ort, den viele Mallorca-Urlauber auf einem anderen Stern vermuten würden. Dabei ist es umgekehrt. Wenn du ein paar Jahre auf der Insel in ca. 543ster Meereslinie lebst, wirken die Badeorte im Sommer mit den vielen Touristen auf dich wie aus einer anderen Welt. Wettlauf mit dem Wind. Bald hatten unsere Bekannten uns eingeholt. Das kostete mich einen wertvollen Punkt und Selbstvertrauen.

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Nicht ich, sondern der Engländer nämlich entdeckte, dass eines seiner Kinder das nächste Podest hochgegangen war, ohne sich mit den beiden Karabinerhaken zu sichern. OK, dachte ich, das streichen wir aus dem Protokoll. Auch anderweitig wich das Wohlgefühl einer leichten Brise Unbehaglichkeit. Irgendwas lag in der Luft. Und es würde da nicht einfach liegen bleiben. Kurz darauf kam Wind auf. Die Böen wurden zunehmend nervöser. Der Gedanke, dass uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung machen könnte, trieb uns nun voran. Wenig später begannen die Wolken zusammenzurücken. Dabei sahen sie entschlossen aus, was Wildes zu veranstalten. Bereits Minuten später hatte sich eine dichte Decke formiert. Also musste alles noch ein bisschen schneller gehen. Mein Blick wechselte jetzt öfters zwischen Kayleens ambitioniertem Weiterkommen und der Unruhe im Himmel. Als wolle der Wind uns mit Nachdruck vertreiben, fegte er uns plötzlich ganz massiv in heftigen Böen um die Ohren. Verstanden. Roger. Over. Abbruch am Aufgang zum Podest von Level 7. Das kam mir gar nicht so unrecht. Bis hierher war es gut gewesen. Schwierigkeitsgrad 7 hätte mich Nerven gekostet und Kayleen wahrscheinlich die Erfahrung einer tränenreichen Zitterpartie. Kaum hatten wir das Klettergeschirr abgelegt, kam ein Guide angelaufen, um das Ganze offiziell zu beenden. „Aha“, dachte ich, „Lage richtig eingeschätzt.“ Erste Blitze. „Der Regen ist nicht das Problem, sondern das Gewitter“, hörten wir am Eingang noch eine Angestellte einem Kunden sagen. Dann fuhren wir mit feuchtem Kragen genau dorthin, wo der Regen ein Problem war. Auf die Autobahn. Innerhalb weniger Minuten hatte es so gegossen, dass flächendeckend Wasser die Fahrbahn herunterlief. Das erklärte, warum keiner mehr so richtig fuhr. Staunen und stauen, dieses Mal also. Es sah auf dem Asphalt aus wie bei einem Wasserrohrbruch, aber in Deutschland wären sie da mit hundert Sachen durchgenebelt. Ganz sicher. 40


Das hätte ich hier vielleicht auch gemacht, denn Kayleen hatte längst Hunger angemeldet. Aber keine der beiden Fahrbahnen bot eine Chance für den Wahnsinn, hier noch Gas zu geben. Monsun über Mallorca. Ein paar Kilometer Schritttempo mit zuckenden Blitzen im Genick, dann nahm ich die Ausfahrt nach Portals Nous. Aus dem Regen unmittelbar in der Traufe angekommen, stauten und staunten wir noch ein bisschen mehr. Über den abschüssigen Autobahnzubringer stürzten links und rechts kleine Bäche in Fahrtrichtung den Asphalt hinab. Wir standen jetzt komplett. Noch. Würden wir bald schwimmen? Kayleen klebte abwechselnd mit den Augen an der Fensterscheibe und zurückgekrümmt auf dem Kindersitz. Ich beruhigte mich, indem ich ihr beteuerte, dass man im Auto vor Gewittern sicher sei. Warum? Das überhörte ich. Dabei schielte ich in den Rückspiegel und fragte mich, ob es wirklich mehr wird, was da von oben auf uns zufließt oder ob ich mir das nur einbildete. Das war kein Regenfall. Das war Wasserfall. In den Tropen, um die 15 Jahre zurück, hatte ich so etwas das letzte Mal erlebt. Alle anderen schienen das gar nicht zu kennen. Denn als wir schließlich doch unten am Kreisel angekommen waren, bot sich uns ein fast mystisches Bild: Ehrfürchtig erstarrt verharrten alle Autos in langen Schlangen aus allen Richtungen vor der Verkehrsinsel und den Wassermassen, die sie umspülte. Die Stunde des Papas. Was sahen die, das ich nicht sah? Wo war die Absperrung? Wo die Polizei? Warum fuhr denn keiner? War da ein Loch unter der schlammbraunen Brühe oder was? Waren wir am Bermuda Dreieck und jeder verschwindet, der reinfährt? Nein. Natürlich alles nur ein bisschen Wasser, so ca. 20 cm hoch, aber da, wo man es nie vermutet hätte. Also stauten sie. Und staunten. Alle. Die Breiten, die Teuren, die SUVs. Und sie staunten noch mehr, als wir einfach so hindurchfuhren. Der kleine blaue Wagen, unser Mallorca-Mobil. 41


Was für ein Auftritt. Bonuspunkte. Beifall von Kayleen. Ich liebte Regen, Sturzbäche. Ich liebte diesen Tag. Der Kerl in mir war zum Vorschein gekommen. Chacka! Ich hatte es immer gewusst – da ist noch was ... Und was für ein Gefühl, dieser Vorstoß des Nichtrauchers in das Männerabenteuerland, fest im Sattel, mit dem Trophy-Blick am Steuer und so mucho Macho, dass mein Testosteron die Scheiben beschlagen ließ. Oder war`s nur die Aufregung? Jedenfalls blieb das Gefühl von Abenteuer und Freiheit, obwohl der Regen uns im Auto gefangen hielt. So parkten wir an der Hafenmole in Puerto Portals mit Blick auf das Meer und das Gewitterinferno darüber. Düster, grau, gierig trieb eine schrecklich dichte Masse groß wie eine Kontinentalplatte mit der Geschwindigkeit eines Tagebaubaggers über Mallorca. Gewaltige Blitze zuckten mehrfach in unveränderter Gestalt auf wie wutentbrannte Fabelwesen. Über uns prasselte der Regen. Um uns herum rüttelte der Wind am Auto. Von rechts schob sich ein auslaufendes Löschboot ins Bild. Perfekt. Es fehlte nur das Popcorn. Immerhin, wir packten unsere Picknick-Boxen aus und genossen das Spektakel mit Käsebrot und Limo. Im Abstand von 5 bis 10 Minuten eilten drei, vier Hochseejachten aus dem offenen Meer in den Hafen zurück. Draußen auf See schien es noch ungemütlicher zu sein. Beeindruckt von all dem, sprachen Kayleen und ich nicht viel. So schlug schließlich jener Ruf in die Stille ein, der dich an jedem Ort der Welt und zu jeder Zeit trifft wie ein Blitz: „Pipppppiiii!“ Nach einem einminütigen „Jetzt-nicht-doch!“-Gefecht sah Kayleen ein, dass Pinkeln gerade wirklich ausgeschlossen war. Glücklicherweise tröpfelte es wenige Minuten später draußen nur noch, sodass unsere Kleine ihren Beitrag an der Mauer dazu leisten konnte. Nur eine kurze Gewitterpause? Oder würde tatsächlich in Kürze wieder Spätsommer herrschen an diesem Herbsttag?

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Auf der Jagd nach dem Regenloch. Kayleen und mich überkam eine Art Expeditionsfieber. Wir brachen auf, das kleine Stück gelobtes Land zu finden, wo kein Regen mehr floss aber Kakao und Café con leche. Und wo die Sonne schien. Der Himmel wies uns den Weg. Da hinten über Illetes, senkrecht unter der Stelle, wo das Regenmonster an ein zartes Blau stieß, da musste doch unser geliebter Comtessa Strand sein. Wir folgten der verheißungsvollen Konstellation da oben. Während Kayleen stoßgebetsartig Schönwetterprognosen abgab, hing ich mit dem Oberkörper halb über dem Lenkrad, um durch die Frontscheibe ehrfürchtig zum Himmel zu blicken. Dabei ließen mich meine Knochen spüren, wie wenig geeignet für derartige Verrenkungen Nichtsportler und Atheisten sind. Oberhalb der kleinen Bucht des Comtessa Strandes angekommen, fanden wir nur ein paar Jugendliche unschlüssig an ihrem Wagen herumstehen. Eine Familie daneben packte ihre Sachen ins Auto. Game over. Rien ne va plus. Unter Blitz und Donner fuhren wir gleich weiter. Diesmal sollte es ein größerer Bogen um die Gewitterfront herum werden. „Mina-Strand!“, hieß der Jubelruf, mit dem Kalyeen diesen weiteren hoffnungsvollen Vorstoß Richtung Schönwetter-Beach begleitete. Hoffnungsschimmer an der Playa Ciudad Jardin. Der breite, lange Sandstrand zwischen Palma und S`Arenal ist einer unserer beliebten Treffpunkte für Verabredungen mit anderen Eltern. Irgendwann hatte Kayleen dieses reizvolle Fleckchen nach einer ihrer Freundinnen benannt. Am Mina-Strand bieten sich den Kindern viele Möglichkeiten zum Spielen. Für die Erwachsenen ist es ein inspirierendes Umfeld, um sich gut zu unterhalten. Hier gibt es einen Platz mit Geräten für leichte FitnessÜbungen, einen Spielplatz gleich daneben, einen Kiosk mit Eis und Crêpes und einem netten deutschen Paar als Besitzer sowie zwei spanische Bars mit kleiner Karte. Und es gibt ganz viel davon zu sehen, wie Einheimische das Aufleben im Küstenkick genießen: Sie gehen mit ihren Hunden spazieren, sitzen diskutierend auf der niedrigen Mauer zwischen Strand

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und Promenade, joggen, skaten, radeln, schieben einen Kinderwagen oder eine ruhige Kugel, trinken Bier und Kaffee, lesen, lachen, labern … Spektakulär unspektakulär pulst auf dieser Meile das Leben in einer Atmosphäre inniger Zufriedenheit. Man könnte glauben, der Wind sprühe mit der Seeluft Glückshormone herüber. So ist das da. Sonst. Als unsere Jagd nach dem schönen Wetter uns hier stoppen ließ, gab es kaum etwas von all dem. Der unvergängliche Blick in die Bucht von Palma natürlich, hatte nichts von seiner Kraft verloren. Aber ein Tummelplatz war das heute nicht. Tour de Trance. Ein paar Müllsäcke auf Rädern eilten die Promenade entlang. Daraus erstrahlten die gewohnten Glückgesichter in die Welt, allerdings merkwürdig verklärt irgendwie. So viel Spaß kann unschick machen,

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wenn man nur trocken bleibt und sich seine Radtour von Wolkenbrüchen nicht vermiesen lässt. Neben den kondomhaften Biker-Gestalten sahen wir uns auch so manchen vor Nässe und Stolz triefenden Speichen-Hero an, der sich wie im Sauwetterrausch aufrecht dem ungeschützten Fahrradverkehr hingab. Wir genossen das rollende Figurenkabinett, während wir bei heißem Kakao und Milchkaffee den ausklingenden Regen in einem der beiden erwähnten Bars absaßen. Im überdachten Außenbereich perlte und pieselte der Regen noch an vielen Stellen, aber längst war die blaue Fläche am Himmel größer geworden, die Flut daraus ganz deutlich abgeebbt. Stell dir vor, wie du an deinem Heißgetränk nippst. Es dampft lieblich aus deiner Tasse in die glasklare, frisch gewaschene Luft. Fernab jeder Eitelkeit, frei von jeglichem Streben, atmest du Zufriedenheit, Zug um Zug. Das Wetter, die Welt, das Leben, die anderen sind der Hero oder der Depp. Wie gut. Du darfst dabei sein, ohne eine Rolle spielen zu müssen. Du kannst sehen, riechen, spüren, genießen, kannst darüber sinnen, darin träumen. Ein ganz großer Augenblick ist es, wenn du ganz deutlich wahrnimmst, dass auch dein Kind berührt ist, von allem was gerade in der Luft liegt an Charme, Chaos und Komik. Stolz, mit dir unterwegs zu sein in diesem Abenteuer, umklammern die kleinen Finger den Becher Kakao. Die Geduld, die es jetzt zeigt, gibt deinem Kind etwas von der Anmut eines Erwachsenen. Für einen Moment siehst du den Teenager dort sitzen, die Mutter, die Kinder daneben, kannst du dir auch vorstellen. Oh Gott, ich will so sehr dabei sein, bitte lass mich das erleben. Dann bist du wieder ganz bei ihr, der Kleinen, hier und jetzt und sie sagt aus der Unversehrtheit ihrer Gedanken heraus einfach nur: „Papa, können wir Ball spielen?“ In der Ruhe nach dem Sturm. Ich weiß nicht mehr, ob die paar letzten Regentropfen tatsächlich noch immer zu viel waren oder ob ich einfach noch einen Moment weiter die Gefühle fließen lassen wollte. Ich verschob das Ballspielen auf „nachher“. 45


Hättest du vielleicht auch getan. Hast du das schon mal erlebt, wenn die See nach stundenlangen Turbulenzen ganz smooth, vergnüglich und friedlich gleichmäßig kleine Wellen an den Strand schuppst? Du sitzt in dieser wieder eingetretenen Ruhe und lässt Dinge auf dich wirken, die du so noch nicht gesehen hast. Schau mal. Schau mal da hinten. Drei große Kreuzfahrtschiffe dominieren unter Tausenden von Yachten und Booten das Bild des Hafens. Wirkt er jetzt nicht wie ein Zufluchtsort? Ein Stück Geborgenheit, in der alle gleich sind, alle. Trotz unterschiedlicher Bootshautfarbe und egal ob reich oder arm ausgestattet, sind sie am Ende nichts als menschengemachte Winzlinge im Schatten der Naturgewalt. Stell dir vor, wie du lachen musst, weil zweihundert Meter von dir die grüne Flagge am Hochsitz uneingeschränkte Badeerlaubnis signalisiert, und zwei Rettungsschwimmer darunter in dicken roten Strampelanzügen stecken, mit beiden Ohren unter den Kapuzen. Auf der anderen Seite strahlt hinter dem Palma-Panorama die Spitze des 1.240 m hohen Puig Galatzó aus einem bildschönen Wolkengürtel. Der Rest des Himmels gibt ein Festival der Grautöne. Kleinlaut und tapfer liegen bläuliche Schleier darin, wohl wissend, dass ihre Stunde schon bald kommen wird. Wie für unsere Strandtasche. Andere müssen warten. So die herumstehenden Stapel aus Liegestühlen, dort, wo es sich erst mal für ein paar Monate ausgetummelt hat. Dieser Melancholie und eigenwilligen Inszenierung gibt die Barbeschallung mit lateinamerikanischen Rhythmen einen Hauch von Leichtigkeit. Dann würde wohl auch dir ein stummes, verliebtes Ahhhhh aus der Seele rutschen, weil ein Nat King Cole-Song jeden und alles im Umkreis von 15 Metern weichspült. Und wahrscheinlich würde dich dieser plötzliche schrille Schrei aus der inneren Hängematte kippen, genauso, wie er es bei mir tat: „Die Bagage kimmt!“ 46


Uff. Zwar hatte ich die Radfahrer flüchtig wahrgenommen, aber nicht damit gerechnet, dass sie gleich loslärmen. Nur mäßig plastifiziert, waren sie unter das Vordach der Bar geflüchtet. Dort hatten sie begonnen, über den weiteren Verlauf der Radtour zu spekulieren. Nach ihrem Aufschrei in Richtung ihrer gerade heranradelnden Bekannten war ich voll bei ihnen. Glücklicherweise bestand die „Bagage“ aus nur diesem weiteren Pärchen. Und überhaupt, was soll`s? Jetzt wurde es lustig. Wenn Menschen sich schon länger kennen, werden Sätze kürzer. „Ei ... Hierbas?“, begrüßte Paar 1 das ankommende Paar 2. „Glühwoi!“, lautete die Antwort. „Würstchen mit Glühwoi?!?“ setzte der Mann von Paar 1 noch einen drauf. Daraufhin Paar 2 dann doch ausführlich: „Lass mal gut sein. Wir fliegen in fünf Stunden.“ Die Getränke- und Essensfrage für 4 Personen geklärt in 13 Sekunden. Ich war begeistert. Jeder Spanier wäre entsetzt gewesen. Südländer sind einfach lebhaft, nett und äh ... sehr ausführlich. Wenn du dich mal aussprechen möchtest, brauchst du nicht zum Frisör gehen. Der Spanier und die Spanierin am Nebentisch, beide 50 tripple plus, waren gemessen daran erstaunlich schweigsam, aber im Übrigen absolut Klischee treu: Pan amb Oli, das typische katalanische, ölige TomatenKnoblauch-Brot, ein Bier dazu und der Ausdruck seliger Entspanntheit. Aufbruchsstimmung. Hin- und hergerissen zwischen einem merkwürdig dunklen großen Fleck oder Schatten im Wasser und den weiteren Vorbereitungen der Radfahrer, erklärte ich Kayleen noch, wie man anhand des Donners die Entfernung eines Gewitters abschätzen kann. Das nun ferne Rumpeln aus dem Westen mischte sich mit dem Brüllen der Triebwerke im nahen Osten. So etwa drei Kilometer links von uns starteten und landeten auf Palmas Aeropuerto de Son Sant Joan wie an jedem Tag kurz vor, nach und in der Saison die Flugzeuge fließend vom Band. Wir wurden in der knappen Stunde vor der Bar von geschätzt bis zu 20 der jährlich rund 190.000 Flugbewegungen auf Palmas International Airport beschallt. Nicht belästig! Im Gegenteil: Kayleen und ich spielten Airline-Raten. Sowie eine Maschine hinter den Häusern von Can Pastilla verschwunden ist, muss 47


man schnell tippen, zu welcher Fluggesellschaft die nächste eintreffende Maschine gehört. Bei unseren Radfahrern ging derweil die Unterhaltung weiter. Und das Rumkramen. „Hast du noch ein paar Strümpfe dabei? ... „Nylonstrümpfe.“... „Ich meine richtige Strümpfe.“ Wühl, stopf, wühl … Das spanische Pärchen war bei der Zigarette danach angelangt. Die meiste Zeit glommen die Stängel zwischen den Fingern vor sich hin. Der gelegentliche, gedankenverlorene Zug daran wirkte wie ein Ritual in einer Meditation. Bei den Radfahrern kamen schließlich Müllsäcke zum Vorschein. Orange und viel zu eng. Der wortkarge Mann mit dem sprachgewaltigen T-Shirt (Watch out for Party? You will find a Party ...) erwies sich jetzt als Schittwetter-Surviver. Einen Pionierblick im Gesicht wie reingeschnitzt, schnitt er kurzerhand Schlitze für den Kopf und die Arme ins menschenverachtende Plastik. Wir hatten Glück und durften die Anprobe miterleben. Die Spanier zogen weiter gelassen an der Zigarette. Ein Zeichen von Routine im Miterleben von „manchen“ Urlaubern. Eine Eigenschaft, die mir noch fehlte. Es gibt einen Drang zu lachen, so stark, dass du mit inneren Verletzungen rechnen musst, wenn du`s nicht rauslässt. Ich quetschte es trotzdem irgendwohin, Hauptsache weg damit. Auch Kayleen zeigte mit ihren 5 Jahren erstaunliches Taktgefühl. Sie sah mich nur mit großen, fragenden Augen und einem Ausdruck grenzenloser Heiterkeit an, ohne einen Ton von sich zu geben. Die Vier machten sich schließlich auf den Weg wie siedende Bockwürste, die jeden Moment aufplatzen. Ich wollte wirklich nicht in ihrer Plastikhaut stecken. Das gigantische Gewitter driftete eindeutig weiter ab nach Südosten raus aufs offene Meer. Das spanische Paar, wenn sie denn eins waren, bekam seine Kaffees. Kayleen und ich packten den Ball aus, kickten im nassen Sand mit nackten Füßen. Aufregend schön war es gewesen, die vielen ungewöhnlichen Stunden zu erleben. Schön war es jetzt zu spüren, wie sich die Normalität wieder einstellte. Ein Kind, das so einen Tag so sensibel, neugierig, duldsam und ausdauernd mit dir verbringt, das verdient doch deine ganze Größe und Güte, wenn es sich bei anderen Gelegenheiten von einer anderen Seite zeigt. Oder? 48


Nein. Nicht nur so ein Kind verdient Geduld und Nachsicht. Alle Kinder. Wenn es mal eng wird im verdammten Alltag, denken wir an solche Allanderstage, die Spaß machen, Mut und leicht. Und gehen wir auch mit uns selbst nicht all zu hart ins Gericht. Außer vielleicht, wir tragen hautenge Müllsäcke, die uns so richtig scheiße aussehen lassen.

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Der Mallorca Moment Wenn wieder jemand weiterzieht ... „Es ist schwierig hier mit den Freundschaften“, erklärte mir in unserem dritten Jahr Mallorca ein deutscher Inselbewohner bei einer gemeinsamen Wanderung, „weil man im Laufe der Zeit zu oft erlebt, dass Leute die Insel auch wieder verlassen.“ Nach ein paar dieser Erfahrungen werde man zögerlicher. Man strenge sich nicht mehr wirklich an, jemanden öfters zu treffen, weil man nicht wisse wie lange es hält. Das klang plausibel. Wer baut schon gerne auf Sand. Wir aber waren von dieser Art Resignation noch weit entfernt. Bis wir dann aus ein paar Gesprächen bei dem einen oder anderen heraushörten, dass auch für sie Mallorca noch nicht unbedingt die letzte Station sein könnte. Und dann brachen auch noch Freunde ihre Zelte ab, bei denen an so was nie zu denken gewesen war ...

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P alma

Verabschiedet Ein kurzes Innehalten im Kommen und Gehen Die Sonne blendet mich wie blöd. Ich frage mich seit zwanzig Minuten wie das wirken muss, wenn jemand einen ständig mit völlig verkniffenen Augen ansieht und dann auch noch mit dem Kopf diese tänzelnden Ausweichbewegungen macht wie ein Boxer. Ricardo scheint es nicht zu stören. Schon von Weitem hatte man sehen können, dass er richtig gut drauf ist. Jetzt sitzt er Yvonne und mir direkt gegenüber, frisch, lebendig, strahlend. Er spricht laut, klar, überzeugt. Die Mimik ist lebhaft aber spiegelt dabei Ausgeglichenheit wieder. Ana hingegen wirkt eher ruhig und verhalten suchend – vielleicht nach einer Antwort auf die Frage, ob der Schritt der richtige ist. Volle Kraft zurück. 8 Jahre waren sie in Madrid, fast 4 Jahre auf Mallorca. In 5 Tagen fliegen sie nach Lima, die Hauptstadt von Peru. Für immer? Das wissen sie nicht. Es ist die Heimat. Es ist dank des neuen Arbeitsvertrages die Garantie für ein höheres Einkommen. Ricardo, viele Jahre bei einem Mineralölkonzern in Spanien, wurde von einer anderen Firma gerufen, um in Peru das Gasgeschäft mit aufzubauen. „Wenn du in diesen Zeiten solche Chancen hast, musst du sie nutzen“, erklärt er den überraschenden Sprung auf den anderen Kontinent. Die Landung wird weich werden. In Lima ist die Familie von ihm und ihr. Beide berichten begeistert, wie sehr die alle sich freuen und wie engagiert sie schon von ihnen unterstützt wurden. Ein eigentlich gar nicht mehr verfügbarer Platz in der Privatschule hatten Verwandte für ihren Sohn Diego klargemacht. Eine Wohnung war mithilfe der Familie schnell gefunden. Die ersten Wochen werde bei Verwandten gewohnt. Ricardos und Anas Erinnerungen an ihre Jugend sind auch in Lima. Aber die letzten 12 Jahre immerhin waren sie nicht dort und in dieser langen Zeit auch 52


gut dran und gut drauf. Der kleine Diego ist in Madrid auf die Welt gekommen. Auf Mallorca wuchs er fast vier Jahre lang heran. „Das ist ein toller Platz hier zum Leben“, begeistert sich Ana in ihrem gebrochenen Englisch. „Du triffst so viele unterschiedliche Leute aus verschiedenen Ländern, alle zusammen auf kleinem Raum“, schwärmt sie weiter, während ich in ihr jetzt strahlendes Gesicht blicken kann, ohne das gleißende Nachmittagslicht direkt in den Augen zu haben. Ricardo meint, beide Plätze hätten ihre tollen Seiten. An Madrid schätze er das viel größere kulturelle Angebot. Auf Mallorca sei so viel Natur, das Meer, alles entspannter. Stopp-over oder Endstation? Alles entspannter also. Yvonne und ich sind es gerade nicht. Wenn jemand geht, den du sehr magst, so weit weg und so überraschend, dann bricht immer ein bisschen die Welt zusammen. Hier auf Mallorca ist es schlimmer. Es kommt eine leichte Verunsicherung hinzu, wie lange man selbst bleiben wird. Und ob es womöglich doch nicht der ideale Platz zum Leben ist. Zudem empfindest du den Verlust groß, weil der Kreis der Freunde klein ist. Verdammt. Auf der anderen Seite reißt so geballte Aufbruchsstimmung in ein neues Leben dich auch mit. Du spürst die Power und Begeisterung der anderen und willst gleich auch wieder mehr bewegen. In dieses Schwanken zwischen den Gefühlen mischt sich noch eine Kraft: Freiheit. Wir spüren in dieser Situation, dass wir auch wieder gehen und was Neues anfangen könnten. Es liegt nicht unbedingt wirtschaftlich nahe. Wegen Kayleen würden wir Veränderungen langsam angehen und erst mal nicht so oft. Aber unser Herz gehört Mallorca und der Welt. Mallorca ist unser Zuhause. Aber kein Land, keine Stadt, auch keinen Kontinent empfinden wir als Heimat. Die Erde ist die Heimat. Dieser wunderbare Planet. So gesehen gehen Ricardo, Ana und Diego jetzt mal eben eine Straße weiter. Die Möbel im Container benötigen dafür 3 Wochen. Das zeigt, dass es doch viel mehr ist als mal eben um die Ecke. Der kleine Hund, der 53


sich gerade wieder an Ricardo schmiegt wie ein Baby, fliegt natürlich mit. Und wir kommen bestimmt mal zu Besuch. Wirklich? Hoffentlich! Oder wird uns das bald egal sein? Irgendwann bei diesem Gespräch sagt Ana einen Satz, der viele Gedanken und Statements über Lebensräume und Veränderungen auf den Punkt bringt. „Es ist wichtig, dass man sich gut fühlt und dass die Familie sich gut fühlt. Der Rest ist der Rest.“ „Geld ist nicht das Leben“, ergänzt Ricardo. „Es hilft“, wirft Yvonne ein. „Ja es hilft“, wiederholt Ricardo und nagelt dann noch einmal diesen gewichtigen Satz in unsere Erinnerung: „Geld ist nicht das Leben“. Und das Leben in Lima mit mehr Geld? Es wird ein gutes Gefühl sein für die beiden, das Apartment in Madrid bequemer abzahlen zu können. Und was weiter? Perus Hauptstadt liegt auch direkt am Meer, die Zeit der Terrororganisation „Der rote Pfad“ weit zurück. Ana muss sich jetzt nicht mehr wie früher fragen, ob sie vollständig wieder nach Hause kommt, wie sie es nennt. „Eine Bombe hätte mir jederzeit einen Arm oder ein Bein nehmen können“, schildert sie das ganz andere Leben als Jugendliche in Perus Hauptstadt weiter. Aber viel Security gebe es immer noch, meint Ricardo. Wegen Diebstahl und so. Da tut es mir ein bisschen leid, dass das Gespräch diese Wende nimmt. Dabei fällt auf, dass Ricardo und Ana so gar nicht ins Schwärmen von Lima kommen. Innerlich drängt sich die Frage auf: Wenn alles nicht mehr so schlimm ist, ist es dann automatisch gleich gut? Dort? „Peru würde euch auch gefallen“, äußert sich Ricardo überzeugt und malt eine Südamerika-Skizze auf die Serviette, als ich zugebe, über dieses Land kaum etwas zu wissen. In sentimentalen Gedanken an ein Wiedersehen beschließe ich sofort, diese Serviette aufzuheben.

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Kayleen und Diego spielen die ganze Zeit so ausgelassen und harmonisch wie nie. Ich frage Dinge wie nie. Ob sie schlechte Erfahrungen auf Mallorca gemacht hätten, zum Beispiel, und was ihnen am Besten gefallen hat. So lernen wir unsere Freunde auf die letzte Minute noch sehr viel näher kennen als in den gesamten drei Jahren zuvor. Verrückt. Es war mal wie-der passiert: Viel zu wenige Treffen trotz ganz viel Sympathie. Erinnerungen blitzen auf. Wir hatten uns von der ersten Begegnung in der Schule an gemocht. Schon nach nur drei, vier Wochen hatte der tägliche small Talk im Kreise der Spanier bei der Abholung der Kinder eine erste Verabredung ergeben. Wir trafen uns im Festival Park, einem OutletCenter mit Kinos, Restaurants, Cafés und einigen Attraktionen für Kinder. Ricardo rettete wenig später Kayleens Geburtstagsfeier: Während wir damals am vereinbarten Treffpunkt tief im Westen ohne HandyEmpfang nach stundenlangem Starkregen auf die Gäste warteten, machte er von Palma aus einen Rundruf: „Hey, das sind Deutsche“, trommelte er die anderen zusammen, „wenn die sich verabreden sind die da, ob es regnet oder nicht.“ Tatsächlich waren daraufhin alle gekommen und wir konnten schließlich bei herrlichem Sonnenschein durch „La Reserva“ bei Puigpunyent bis zum Camp des Naturparks wandern, wo wir dann feierten. Yvonne verbrachte noch einige Male ein paar Stunden mit Ana und den Kindern auf dem großen Spielplatz im Parc de Sa Riera, nahe der Wohnung der beiden und im Parc de les Estacions neben der Plaza de España in Palma. Dann hatte es noch einen gemeinsamen Strandtag an der Cala Vicente nördlich von Pollensa gegeben. Ein weiteres Mal teilten wir Strand, Sonne und Ausgelassenheit in Alcudia. Der lange, breite Sandstrand und das „ewig“ flache Wasser davor,machen diesen Küstenstreifen zu einem begehrten Ziel für Familien. Ana und Ricardo hatten hier für den Sommer ein Apartment gemietet. So hatte er nur einen kurzen Weg zum Arbeitsplatz und die Familie viele schöne gemeinsame Ferienstunden.

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Soweit die Bilanz unserer Begegnungen. Ein paar nette, sehr nette Treffen, auch voller Vertrautheit und Ehrlichkeit, zum Beispiel als es Ricardos Vater richtig schlecht ging. Aber das war`s dann auch schon. Eine gemeinsame Zeit, die sich mit den fünf Fingern einer Hand aufzählen lässt in drei Jahren Mallorca? Das erscheint erschreckend wenig, jetzt wo feststeht, dass wir uns so schnell nicht wiedersehen würden, vielleicht nie wieder. Freunde und doch Fremde. Und wie konnte es sein, dass wir trotz dieser Begegnungen kaum etwas von den beiden wussten? Stell dir vor, du fragst deine Freunde auf ihrem Weg in ein neues Leben, wie viele Jahre sie da gewesenen sind und was sie vorher gemacht hatten! Was ist denn mit uns los, verdammt, dass so was so läuft!? Menschen, die du magst, in deren Nähe du dich wohlfühlst, triffst du selten. Mit anderen verbindet dich weit weniger aber irgendwie kriegen sie mehr ab von dir und deiner Zeit. Passiert das einfach so? Oder pflegen wir öfters mal hartnäckigauf Versäumnisse und Ungereimtheiten aus irgendwelchen Gründen unbewusst hin zu arbeiten? Fest steht: Alles hat seine Zeit. Mit oder ohne dich. Und jede Zeit vergeht. So wie du vergehst. Erkenne den Augenblick und lebe ihn. Aber mach es so, dass du ihn nie bereuen musst. Ich setze mich schließlich um und kann nun auch Ricardo einigermaßen unverkrampft ansehen. Ich glaube zum ersten Mal mache ich das so intensiv. Die Promenade im Hintergrund, das Meer, die Leute – nichts lenkt ab. Die beiden da vor uns in diesem klitzekleinen Moment eines großen, langen Lebenslaufes, sind so präsent wie nie. Werden wir uns im Laufe der Jahre wiedersehen? Auf Mallorca? In Peru? Oder hören wir kurioserweise nie wieder etwas voneinander? Merken wir womöglich eines Tages irgendwo auf der Welt völlig überraschend, dass wir in der gleichen Warteschlange stehen? Und werden wir uns dann in die Arme fallen oder verschämt wegschauen?

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Undenkbar. Aber auch unmöglich? Und kann man sich überhaupt erkennen, nach 10, 15 Jahren? Wie gut wird das Leben es meinen in all der Zeit dazwischen, mit ihnen. Mit uns? So ein Abschied ist immer ein Moment der großen, ganz großen Fragezeichen. Ein Augenblick, wo das Leben dich anspringt und brüllt: „Sieh` mir ins Gesicht!“ Vergänglichkeit, Ungewissheit, die ganzen bisherigen unbekümmerten Irrfahrten oder gezielten, angestrengten Expeditionen auf dem Weg ins Glück kommen hoch. Sind wir nicht alle permanent unterwegs, in einem Sammelsurium der Horizonte, ob wir uns von der Stelle rühren oder nicht?! Auf jeden Fall verändern wir uns innerlich und äußerlich, gewollt und ungewollt, dezent oder massiv. Jahrelange Ansichten schmeißen wir über Bord. Fixe Ideen, geboren aus dem Nichts, machen wir zu unserem Evangelium. Wir verlassen den Pfad der Vernunft, um abwegigen Träumen zu folgen. Ein anderes Mal klammern wir uns bei einer aussichtsreichen Sache ängstlich an Haken und Ösen, die man immer findet, wenn man nur lange genug danach sucht. Schon morgen wissen wir nicht mehr, was wir gestern gesagt oder gepredigt haben. Aber übermorgen könnte es sein, dass wir darauf bestehen, eine plötzlich erwiesenermaßen gute Einstellung von Anfang an gehabt zu haben. Was für ein Kasperletheater. Und doch ist etwas Beständiges in uns. Etwas Undefinierbares, das dich im Kern immer du bleiben lässt. Au Mann, der Mensch, die Welt, das Leben, was für ein Stoff. Wie oft liebst du alles und jeden. Wie oft könntest du dieses Puppenhaus im All mit Anlauf in die Tonne treten. Mad in Germany. Massive Gefühlsschwankungen, denke ich, sind normal. Egal wo du hingehst, ganz gleich, woher du gekommen bist. Ricardo sieht uns plötzlich mit einem forschenden Blick an. Ob wir uns vorstellen könnten, irgendwann nach Deutschland zurückzugehen? 57


„Man soll niemals nie sagen“, überrascht mich Yvonne mit authentischer Gelassenheit. „Vielleicht mal für ein halbes Jahr oder ein Jahr, als irgendein Übergang“, sortiere ich das für mich. „Aber endgültig nach Deutschland zurück, um da zu leben? Nein.“ Nach Deutschland zurückzugehen erscheint mir verrückter, als nach Spanien ausgewandert zu sein. Diese Meinung teilen die meisten Auswanderer, denen du begegnest. Einige sind sicher, dass sie in Deutschland „verrückt“ werden würden. Ricardo schaut nachdenklich, zögert. Dann gesteht er, dass er so eine Aussage nie verstehen könne. Er findet Deutschland großartig. Ich relativiere: „Damit du mich nicht falsch verstehst. Ich auch. Aber ich hatte es schon 50 Jahre lang. Das reicht jetzt mal, irgendwie.“ Wir reden noch eine Zeit lang weiter. Dann kommt Aufbruchsstimmung hoch. Jeder hat noch was zu erledigen. Die Kinder kriegen noch einen Lutscher. Wir drücken uns mit guten Wünschen. Der Weg zum Auto führt uns in entgegengesetzte Richtungen. Wie unsere weiteren Lebenswege auch. Wir schauen den Dreien hinterher. Ana, Ricardo und der kleine Diego verschwinden ohne Blick zurück hinter der Biegung. Und wohl auch ohne Kloß im Hals. Wahrscheinlich weil feststeht, dass wir uns vier Tage später noch mal bei Diegos kleiner Abschiedsparty sehen werden. Mir ist in diesem Moment nicht klar, was für einen Ricardo ich dann vorfinden werden würde. Schweigsam. Nachdenklich. Nicht im Entferntesten denke ich daran, dass er mitten in der Abschiedsparty völlig verunsichert auf seinem Stuhl zu mir rüber rücken und sagen wird: „Kay. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich morgen mit meiner Familie nach Lima fliege und in vier Tagen meine neue Arbeit bei einer neuen Firma beginne.“ Solche Sätze bleiben. Und auch an Anas Worte denke ich seit diesem Abschied immer wieder: „Es ist wichtig, dass man sich gut fühlt und dass die Familie sich gut fühlt. Der Rest ist der Rest.“

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Danke Ana, dass du uns das mit auf unseren Weg gegeben hast. Wir werden es bewahren. Ich habe eine zweite Version daraus gemacht: Wenn du dich mal nicht gut fĂźhlst und sich die Familie nicht gut fĂźhlt, dann ist es fantastisch, wenn der Rest Mallorca ist. Im Moment jedenfalls.

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Der Mallorca Moment Wenn die Natur es schafft, dich rauszuholen ... Wandern macht den Kopf frei. Stimmt. Aber manche Sachen sind so eingeschädelt, dass du ans Ende der Insel laufen könntest und wieder zurück – du würdest sie einfach nicht rauskriegen aus der Birne. Geld gehört dazu. Geld, das du hast. Geld, das dir fehlt. Und Geld, das du in Kürze bekommen könntest ...

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P ort

de

S óller

Weggetreten Wandern zwischen Lottoglück und Schlangenpanik Geld ist immer ein Thema. Das ist normal. Blöd ist es, wenn Geld zum beherrschenden Gedanken wird. Und genau so kam es an einem dieser milden Mallorca-Sonntage, ausgerechnet. Das war nämlich so ein Tag, den man gerne mit freiem Kopf der Bilderbuchnatur widmet. Außer, man ist schon resistent geworden gegen diesen heilsamen Virus namens MallorcaFieber. Mallorca-Fieber lässt dich fantasieren, in einem karibischen Farbenrausch schwelgen, postet dir Bilder von Felsformationen über glitzernden Meeresbuchten ins Hirn und nötigt dir wilde Schwüre ab. Alles willst du am Ende dafür geben, könntest du mit dem Finger schnippen und noch in derselben Sekunde dort sein, wohin es dich unwiderstehlich zieht. Mallorca-Fieber beschleunigt den Puls und verlangsamt dich in allem, was du in deinen vier Wänden machst. Es verwandelt Pflicht- in Flücht-Gefühle, lässt dich Versprechen brechen, Hunger, Durst vergessen. Mallorca-Fieber drängelt, schuppst und schüttelt dich, bis du endlich aus dem Hause bist, nie mehr vergisst, was du vermisst, jeder Kummer sich verpisst und ... ähm, lassen wir das. So oder so ähnlich war`s schon oft, nur diesmal nicht. Ein anderes Kino beherrschte den Kopf, allerdings auch ein krasses, ähnlich einem Fieberwahn. Cava oder Cola? Ist das E-Mail mit der Gewinn-Nachricht ein Werbe-Gag? ... War dieses merkwürdige Zeichen auf dem Fenster eine Prophezeiung? Wie sonst kommt auf der beschlagenen Scheibe ein quadratisches Kästchen mit Zahlen zum Vorschein – am Abend der Ziehung der Lottozahlen?! Wenn das 100.000 € sind, dann. Oder nein, stopp, stopp! Lieber nicht! Lieber nicht das Glück provozieren. Ich würde mich doch auch über weniger freuen. Oder? Aber über wie viel weniger ...?“ 62


So eierte ich die ganze Zeit rum bis wir mit dem Auto in Port de Sóller unterhalb des neuen Spitzenhotels geparkt hatten. Uhh, 5SterneLuxus – schon mal die richtige Umgebung für gerade reich Gewordene. Vielleicht. Gleich nach der Begrüßung unserer Wanderführerin ging das unbeherrschbare Gedankenspiel weiter. Was los war? Nun, gerade kaum Geld in der Tasche, mal wieder kein Geld auf dem Konto, bescheidene Auftragslage noch dazu und schon beunruhigend lange offene Forderungen an Kunden. Aber: in dieser misslichen Lage am Vorabend die Bestätigung im E-Mail-Eingang bekommen, fünf Richtige im Lotto zu haben. Das war los! Und das machte unseren Aufbruch zu dieser schönen kleinen Wandertour hinter dem malerischen Jachthafen- und Badestädtchen an der Westküste zu einem ganz besonderen Moment unserer 3 Jahre Mallorca. Mit Gerlinde, das war nach wenigen Minuten klar, hatten wir schon mal das große Los gezogen. Drahtig, erfahren, sympathisch, vielwissend, unaufdringlich und gekleidet wie eine richtige Wanderin, schlug sie sich nach wenigen Straßenmetern mit uns in die Büsche. Kayleens Herz hatte sie bereits erobert, weil sie gleich zum Auftakt die Führung an unsere Kleine abgegeben hatte: „Schau mal auf der Karte hier ... da gehen wir hin, hier geht`s lang ... Hast du Lust uns auf dem Weg zu zeigen, wie wir weiter gehen müssen?!“ Trampelpfade unter den Füßen, Lebenswege im Kopf. Für heute war also alles klar. Aber welche Richtung würde unser Leben nehmen, wenn die Gewinnquoten feststanden? Würden wir weiter angestrengt durchs Leben kraxeln müssen oder würde uns ein massiv hoher Gewinn von einer Party zur anderen chauffieren? Wandern werde ich immer, dachte ich gerade noch, als ich beim leichten Aufstieg im Gelände das erste Mal nach Luft schnappen musste wie ein Karpfen auf dem Trockenen. Oder würde ich als rich man die Finger von solchen Anstrengungen lassen? Mit einem Super-Quad bequem durch die Gegend fetzen, konnte ja auch schön sein. Außerdem: Ich hasse es, wenn sich der eigene Atem anhörte wie ein Sturm in den Gehörgängen. Ich kannte diesen Ohr-Gasmus mit dem 63


überdrüssigen Stöhnen ja schon von unseren rund 20 anderen MallorcaWanderungen: Am Anfang winde ich mich einem jämmerlichen WurmTod entgegen. Dann durchlebe ich in wenigen Minuten Millionen Jahre Evolution. Aus dem Kriechtier wird ein Wesen mit gebückter Haltung, die sich bis hin zum aufrechten Gang entwickelt. Kurz darauf endet es mit einem stolzen Menschen, der wie ein Uhrwerk geht. Stundenlang. So sollte – und musste – es bei dieser Wanderung wieder sein. Gerade jetzt sterben, wo vielleicht der Reichtum hereingebrochen war? Ausgeschlossen. Und was würde Gerlinde denken, über einen kläglich japsenden Mann! Im Gegensatz zu meiner Frau war sie das ja nicht gewohnt. Oder doch? Wie wohl die anderen so mit ihr wandern? „September und Oktober und Ostern“, definierte Gerlinde mit ihrer langjährigen Erfahrung die Hauptwanderzeit. „Im September“, setzte sie dann noch nach, „wird mehr gestöhnt als gewandert. Die Leute haben nicht damit gerechnet, dass es noch so warm ist.“ Eine Anspielung? Nee, nicht Gerlinde. Aber trotzdem alles klar. Ich wusste, ich werde mir den Rest des ansteigenden Weges auf die Lippen beißen, mich am Riemen reißen und zog schon mal verschämt die Jacke aus. Auch ums Herz wird`s einem warm auf dem Weg zur Anhöhe über dem Jumeirah Beach Hotel. Beim Blick herunter kannst du ein paar Villen am Hang bewundern, von Leuten, die wahrscheinlich mehr als fünf Richtige hatten. Oder eine richtig gute Idee, oder die richtige Erbschaft oder ... Richtig toll tröstet dich im Angesicht dieser Pracht ein Gedanke: Was die jeden Tag vom Pool und meist mehreren Terrassen aus sehen, kannst du dir wenigstens gelegentlich aus dem Gestrüpp heraus auf der Seele zergehen lassen: Eine reliefartige Felslandschaft aus verschieden hohen, grünen Gebirgszügen und ein liebliches Tal bilden eine große, sichelförmige Hafenbucht. Von Port de Sóller`s Zentrum „Es Port“ aus verteilen sich kleine Siedlungen, teilweise bis in die Hügel hinauf. Frei von Neubauansammlungen und Hochhauskonzentrationen verströmen die Straßenzüge und Wohnviertel den Charme von gewachsener Substanz und einfühlsamer Bebauung. Mehrgeschossige aber nicht zum Himmel schrei64


ende Hotels erinnern an Urlaube in der Kindheit, als in fernen Ländern nicht Glanz- und Superbauten, sondern Land und Leute das Erlebnis prägten. Nahe des Küstenstreifens treffen kleine Sträßchen und Gassen auf die großzügige Promenade. Entlang des Strandes und des Hafens bietet sie mit vielen Shops, Bars und Restaurants ein vertrautes südländischesFlair, ganz ohne Prunk und Party-Zonen. Die Pracht des natürlichen Umfeldes dominiert das Antlitz des Hafenstädtchen. Aus seinem unangestrengten, wohltuend bescheidenen Treiben heraus pfeift von Zeit zu Zeit die nostalgische Straßenbahn auf den Gleisen von bzw. nach Sóller. Eingestimmt von Ruhe und Beschaulichkeit bummeln Einwohner und Touristen ihres Weges oder liegen unerschrocken faul am Strand. Hotels und Restaurants in erster Meereslinie werden zur Loge, wenn in der Abendvorstellung der Bucht die Lichter ringsherum mit den Sternen funkeln. Viel öfters sollte man abends in der Bucht von Port de Sóller in die Ferne blicken, zurück und nach vorne. Mit dem Geld aus dem Lottogewinn könnten wir vielleicht auch von einem Haus in dieser Gegend aus ganze Nächte mit diesem Panorama durchträumen ... Oder wohnen wir auf der Insel weiter zur Miete und behalten dafür unser Haus in Deutschland? Schaffen wir womöglich beides? Na bitte: Schon wieder dachte ich bei der kleinen Atempause mit Traumblick fast nur an das Geld. Und auch auf dem weiteren Weg in Richtung Turmruine ging wegen des Karussells in meinem Kopf das Mallorca dieses Oktobertages über weite Strecken spurlos an mir vorbei. War das schon der Anfang vom Ende einer segensreichen Sensibilität für alles, was Natur und Landschaft uns gratis geben? Hätte ich auch nur annähernd einschätzen können, wie viel Geld fünf Richtige bedeuten, wären meine Gedanken wenigstens in eine Richtung mitgewandert. Aber weder Yvonne noch ich hatten einen blassen Schimmer. Wir konnten wirklich nur wild spekulieren, wie die Aktien nach diesen fünf Richtigen für uns standen. Darum tobte ein nerviger Zick-Zack-Kurs im Kopf zwischen leidenschaftlichem Hoffen aufs große 65


Geld und angestrengten Glaubensbekenntnissen, dass das Leben toll ist, egal wo du zwischen Prunk und Pleite stehen magst. Zurück zur Natur. Gut, dass Gerlinde mich mit interessanten Mallorca-Fakten gelegentlich von meinen gedanklichen Börsengängen auf den Pfad der Tugend zurückholte: Hin zum brennenden Interesse an den Naturerlebnissen auf dieser Insel. Als sie einwarf, dass das aufregendste aller Wanderziele, der Torrent de Pareis, zurzeit schon nicht mehr begehbar sei, wurde ich besonders hellhörig. „Zu viel Wasser. Da wird jetzt schon Canyoning angeboten.“ Nein danke. Ich habe vor Mallorcas bekanntester Schlucht schon ohne Wasser viel Respekt. Auf 3.300Metern Länge wird sie an vielen Stellen zur Herausforderung. Man ist im steinigen Bett des nicht gerade kleinen Sturzbaches unterwegs, der vom Zusammenfluss seiner beiden Quellbäche bis zur Mündung ins Meer in regenreichen Zeiten bei Sa Calobra 180 Höhenmeter herabfließt. Wir hatten uns Monate zuvor an den Zugang von der Meeresseite aus heran gewagt. Da lagen gleich mal drei, vier Meter hohe Felsbrocken im Weg herum. Entgegenkommende Abenteurer-Typen in voller BergsteigerMontur verhießen alles andere als einen Spaziergang. Das Naturdenkmal ist teilweise nur wenige Meter breit. Seine Wände ragen bis zu 200 Meter steil in den Himmel. An manchen Stellen ist ohne kleine Kletterpartien kein Weiterkommen. In ausgewaschenen Felswannen steht hier und da auch bei leerem Bachbett noch Wasser. Der Boden ist übersät mit kleinen Steinen, Faust großen und zum Teil weit darüber hinaus gehenden Brocken. Es sieht aus, als ließe die Karst-Erosion nicht selten Kalkstein in allen Variationen hageln. Wenn du so was auf die Mütze kriegst, war`s das. In vielen Fällen dürfte nicht einmal ein Helm was nützen. Was so alles abgehen kann im Gebirge, wurde im März 2013 besonders deutlich. Da löste sich ein großer Brocken bei Bunyola, dem wunderschön 66


am Rande des Tramuntana-Gebirges gelegenen Ort. Er rollte den Hang herunter und schlug in ein Haus ein. Wer diese 10 Tonnen Felsen halb im Dach und halb auf der eingerissenen Mauer hat stecken sehen, schaut auf mancher Wandertour sicher öfters mal nach oben. Wo der Boden vom Regen gefurcht und das Gestein teilweise aus seinem Halt herausgewaschen ist, besteht erhöhtes Risiko. Aber haben wir das tagtäglich auf den Landstraßen und Autobahnen nicht auch? Und noch größer als die mathematisch betrachtet wahrscheinlich nur kleinen Gefahren ist der Reiz, Naturschönheiten zu erobern. Wunderbar, dass sie da sind. Ein Highlight wie den Torrent de Pareis würde man in den Alpen oder in Amerika vermuten. Wem die anspruchsvolle, mehrstündige Tour durch die zweitgrößte Schlucht des Mittelmeerraumes mit ihren anstrengenden Kletterpassagen eine Nummer zu groß ist, kann sich auf weit über 100 anderen, ausgewiesenen Wanderwegen der Insel erst mal warmlaufen. Dauer, Anstrengung und mentale Stärke im Umgang mit Abgründen oder Steinschlagrisiken lassen sich dabei Tour für Tour steigern. Das Routenangebot ist vielfältig, konzentriert sich jedoch stark auf den Westen mit seinem fantastischen Tramuntana-Gebirge. Der Haufen Steine, den wir mit Gerlinde als ersten markanten Punkt unserer Wanderung erreichten, war nicht vom Himmel gefallen. Torre Picada. Ein ca. 11 Meter hoher Natursteinturm auf einer kleinen Hochebene direkt an der Steilküste. „Bis zu 600 Jahre alt sind die Türme, die jetzt noch stehen“, ließ Gerlinde uns staunen. Auch der Torre Picada zeigt Spuren der Vergangenheit, obwohl er restauriert wurde. Aber so, wie er zu seinem Alter steht, ist er immer noch gut genug, einige weitere Menschengenerationen zu überdauern. Glücklicherweise gingen mir jetzt mal Gerlindes Erklärungen weiter durch den Kopf. Faszination scheint stärker zu sein als vermeintliches materielles Glück. Zumindest streckenweise. Zur Zeit der häufigen Piratenüberfälle, führte Gerlinde weiter aus, dienten diese Wach- und Wehrtürme dem Überleben der Inselbewohner. Diese einfachen Bauten standen auf der ganzen Insel so verteilt, dass jeder Turm vom nächsten aus zu sehen war. Näherten sich Piratenschiffe, wurde der Reihe nach Alarm signalisiert. Tagsüber mit Spiegeln, nachts mit Feuer. 67


Ein paar Minuten später schlug ein übler Gedanke in mir Alarm. Der Turm steht nur ein paar Meter von 160 Metern freier Fall entfernt. Wo verdammt sprang jetzt Kayleen wieder rum? Wenigstens gab es hier einen kleinen Steinwall zwischen Todeszone und Wanderspaß. Das ist eher selten. Wenn du mal eine richtig starke Dosis Adrenalin zapfen willst und keine Albträume in der gleichen Nacht scheust, wanderst du zur Teufels-Kanzel nördlich von Sant Elm, schräg gegenüber der Insel Sa Dragonera. Das niedliche U-förmige Mäuerchen, das tatsächlich an die Kanzel in einer Kirche erinnert, klebt gut dreihundert Meter über dem Meer am Ende einer senkrecht in der Brandung stehenden Steilwand. Ich wünschte, ich wäre da nie hingegangen. Noch mehr wünschte ich, ich hätte da nie heruntergesehen. Das gehört zu den Bildern, vor denen ich größte Ehrfurcht habe. Weiß der Teufel, was solche Eindrücke über die Jahre hinweg mit dir machen, ohne dass du es bewusst wahrnimmst. Und noch Tage später hatte mich damals schockiert, dass ich mich erst hinterher gefragt hatte, ob diese Kanzel möglicherweise schlampig gebaut worden sei ... Kayleen und Gerlinde fand ich bei dem Versuch, sich zu verstecken. Aufatmen, mentaler Klaps an den eigenen Schädel. Gerlinde ist Vollprofi; klar, kann man sein Kind in ihrer Obhut auch mal aus den Augen lassen. Mit der augenblicklichen Entspannung kam erneut der Lottokönig in mir hoch. Schon den ganzen Tag hatte ich immer wieder an einer witzigen Formulierung gebastelt, wie ich meine Mutter von dem sagenhaften Ereignis berichten würde. An dieser Stelle wollte ich gerade weitermachen. Auf dem Wanderweg herunter zu einem flachen Abschnitt der Küste holte mich allerdings schnell wieder Gerlindes Wissen ein. Es gäbe keine giftigen Schlangen auf Mallorca, hatte sie mich schon zu Beginn der Tour beruhigt. „Aber“, hatte sie im gleichen Atemzug wieder alles kaputt gemacht, „es werden jedes Jahr rund 200 Schlangen gefangen, die mit Containern aus der ganzen Welt nach Mallorca kommen.“ So zog mich der schmale Trampelpfad zwischen dichten Gräsern im wärmenden Sonnenlicht gleich einige Minuten am Stück in seinen

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Bann. Wenn das kein Reptilien taugliches Ambiente war! Geradezu ein „Großraum-Terror-Rarium“. Wir mittendrin. Ich weiß, lächerlich eigentlich. Aber so ist das eben mit übertriebenen Ängsten. Etwas fester mit den Füßen aufstampfen entspannt dabei die Psyche, denn Schlangen sind meistens scheu und nehmen kleinste Vibrationen wahr. Wenn dir also mal auf Mallorca so ein paar richtige Trampel entgegenkommen, haben die möglicherweise auch diese unbegründete Schlangenpanik. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Begegnung ist allerdings gering. Man trifft meist nur wenige Wanderer und die bewegen sich eher leichtfüßig, dezent, leise und freundlich. Nach 10 Minuten heimlichen Stampfens ohne irgendeinen Gedanken an Geld erreichten wir wieder einen breiteren Weg. Das gab uns Gelegenheit, nebeneinander zu gehen und zu reden. Aber besser nicht zu viel. Beim Wandern in der Gruppe, lernten wir durch Gerlinde, ist es wichtig, immer wieder zum Schweigen anzuregen oder zu erfreulichen Themen. Andernfalls komme man schnell in den üblichen Trott, haue sich gegenseitig Probleme um die Ohren und vergesse das Geschenk des Augenblicks. Durch den lichten Wald lächelte der Himmel hellblau zu uns herab. Ein Hauch von See schien bereits in der Luft zu liegen, so frisch wie jeder Atemzug sich jetzt anfühlte. Und wie gut das tat. Nirgends bist du dir näher, als in der Natur, weil du selbst nichts anderes bist. Ist es nicht immer ein bisschen wie nach Hause kommen, wenn man einen Strand entlang geht, einen Pfad am Berg oder durch einen Wald? Das einzige Unangenehme in dieser Idylle: Der beunruhigende Gedanke, dass ich mir dieses „Krawattenknotens“ nicht bewusst war, den Gerlinde ein paar Minuten zuvor erwähnt hatte. Irgendeine Stelle im SerpentinenMarathon von der Küstenstraße im Westen hinunter nach Sa Calobra. Ich meine, fast drei Jahre waren wir nun schon hier. Den Berg auf dieser 12,5 km langen Strecke mit fast 700 Metern Höhenunterschied herunter geschlängelt sind wir auch schon. Krawattenknoten. Hm. Peinlich 69


irgendwie. Die Bucht da unten kannten wir, den engen Fußgängertunnel von der Cala de sa Calobra durch den blanken Fels hinüber zum Beginn der berühmten Schlucht Torrent de Pareis waren wir gegangen. Aber was meinte sie mit diesem „Krawattenknoten“? Lieber nicht fragen. Es gibt eben so viel zu entdecken und zu erleben auf Mallorca, dass wir wahrscheinlich noch viele Jahre brauchen werden, um jeden Winkel der Inselzu kennen und zu wissen, was es mit jedem Stichwort auf sich hat. Wie können andere da nach zwei Jahren einen Inselkoller kriegen? Von mindestens drei oder vier Leuten, denen das widerfahren ist, hatten wir bereits gehört. Wird uns nicht passieren. Nicht, so lange es noch solche Fragezeichen gibt wie den Krawattenknoten. Und danach wohl auch nicht. Das Mallorca-Gefühl nutzt sich nicht ab. Der gleiche Strand zum dritten Mal, der gleiche Wanderweg zum zweiten Mal, zum xten Mal der Bummel durch die Altstadt – keine Wiederholungen sind das, sondern Vertiefungen. Mallorca hat das Zeug, im besten Sinne unter die Haut zu gehen. Immer wieder. Immer weiter. Sogar noch weiter als bis zu der Stelle, wo diese 5 Richtigen steckten ... Ja, da war er wieder, dieser – irgendwie „verdammte“ – Lottogewinn. Mit ausreichend Geld mal eine richtige Auszeit nehmen. Das wär`s. Oder doch nicht? Eine Freundin, berichtete Gerlinde, als wir nach diesen überall in den Bergen verstreuten, kleinen einsamen Häuschen fragten, habe sich mal drei Monate in so einer casita zurückgezogen. Aber das sei dann selbst dieser introvertierten Person zu viel gewesen. Der Weg wurde wieder schmaler und abschüssiger, wirkte wie ein wasserloses Bachbett. Die letzten 10 Minuten bis zum Meer gingen wir durch eine zwei, drei Meter breite Furche, die offensichtlich reichlich herabstürzendes Wasser in das Erdreich gerissen hatte. Ein paar natürliche Barrikaden aus umgestürzten Bäumen luden darin zum Klettern ein und zu „Baum-Eroberungs-Fotos“. Etliche Schicksalsgefährten standen links und rechts am Rande der Abrutschkante verdammt schräg Spalier im 70


aufgespülten Erdreich. Wie angetrunken sahen die aus und nur noch ein oder zwei Unwetter vom Absturz entfernt. Die angefressene Landschaft mündete in eine Felsbucht, wo ein bis zwei Meter hohe Wellen hektisch zwischen dunklen Gesteinswänden heranrollten. Nach der vergangenen Stunde im Wald weidete sich nun der Blick an der endlosen Weite vor dem Küstenstreifen. Die porösen, spitzen und bizarr geformten Felsen wirkten wie ein trocken gelegtes Korallenriff über einem Meer, das drauf hin zu arbeiten schien, es sich früher oder später zurück zu holen. Geborgen in bester Stimmung und Erlebnislust, ließen wir uns oberhalb der Brandung zum Picknick nieder. Das hier, war ein richtiger Platz, vielleicht mehr wert als fünf Richtige im Lotto. Und damit waren sie vergessen. Endlich. Endlich packte mich Mallorcas Natur mit Haut und Haaren. Ich war wieder hier. Ich war wieder jetzt. So blieb es eine wundervolle Stunde lang. Gerlinde und Kayleen türmten kleine Steinmännchen auf und malten sie bunt an. Yvonne und ich erkundeten die finster schöne Felslandschaft. Wo sie nass war, war sie schwarz, lag sie in der Brandung wie ein erkalteter Lavastrom auf Hawaii. Ich kletterte zu einem schmalen Plateau kurz über der Meeresoberfläche herunter, suchte in Felsspalten und kleinen Tümpeln nach was auch immer. Wir waren 40 Jahre jünger in diesem Augenblick, verspielt, neugierig und vollkommen zufrieden mit der Sinnlosigkeit unseres Treibens. Alles war leicht, der einsetzende Nieselregen furzegal. Später erst, auf dem Rückweg bergauf, kamen sie wieder über mich, meine Kilos auf den Hüften und Jahre auf dem Buckel. Entsetzliches Schnaufen und Schweiß wie in der Sauna ließen mich jede Gelegenheit für einen noch so kurzen Stopp innerlich bejubeln. Wie Tiere und Pflanzen nutzen auch Menschen Überlebensstrategien. Beispielsweise haben laut Gerlinde die immer grünen Steineichen „deutlich kleinere Blätter als Eichen, damit sie in der Hitze nicht vertrocknen.“ Mein Trick: Wanderpausen herbeiführen. Hier ein Foto, da eine schöne Aussicht. Und: „Guck mal hier, Kayleen ...“ So konnte es auch dieses Mal gehen – weiter nach oben, allmählich. 71


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„Kinder machen schlapp, wenn es langweilig wird“, hatte einmal eine andere Wanderführerin gesagt. Junge Leute hätten oft zwar viel Kraft aber wenig Ausdauer. Und bei den Senioren seien die Frauen mit Abstand die Zäheren. Ältere Männer kämen an ihre Grenzen, ohne es einzugestehen. Da müsse man dann helfen, ohne dass es wie Hilfe wirkt. Wo war ich eigentlich in dieser Steckbriefsammlung? Keine Ahnung. Aber glücklich war ich, als die Erde wieder eben unter den Füßen lag. So entspannt der Körper, so angespannt war erneut der Kopf. Zahlen machten darin die Runde. Alles drehte sich um Informationen der letzten Stunden und die Gewinnspekulationen seit dem vorangegangenen Abend. Rund 35.000 wilde Ziegen gibt es auf Mallorca. 5.000 dürfen jedes Jahr abgeschossen werden. 98 % von Mallorca ist in Privatbesitz. Überall gibt`s Jagdgebiete. Und wenn wir mit unserem Lotto-Fünfer den Vogel abgeschossen haben, kaufen auch wir hier was. Oder nicht. Oder wo? Oder was? ... Nass wie die Otter spülte uns auf den letzten 1.000 Metern ein Wolkenbruch in eine Bar nahe unserer geparkten Autos. Ein schöner Ausklang eigentlich bei Kaffee, Aussicht und Behaglichkeit. Aber längst fieberte ich dem Computer Zuhause entgegen – nachgucken, ob`s was Neues in Sachen Gewinnquoten gibt. Ein traumhafter Tag lag hinter uns. Aber mindestens die Hälfte davon hatte ich verpasst, weil ich ganz woanders war. So kann Geld dich versauen. Auch das Geld, das du zu haben hoffst. Ich frage mich, wie es sich wandert, wenn große Summen wirklich da sind. Gehst du dann durch die Landschaft und das Leben mit der Sorge es zu verlieren oder voller Gedanken daran, was du als Nächstes damit machst? Oder bist du gar stärker im Hier und Jetzt, genießt den Augenblick intensiv, weil dich keine Gedanken an unbezahlte Rechnungen oder eventuell platzende Aufträge ablenken?

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Vielleicht finden wir es ja noch heraus. Die 2.024 Euro, die wir drei Tage später auf dem Konto hatten, sind längst weitergewandert. Unser Leben hat sich nicht verändert, außer, dass wir jetzt öfters Lotto spielen.

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Der Mallorca Moment Wenn du dich wie ein Frischling fühlst ... Viele Menschen träumen vom Auswandern. Deutlich weniger denken ernsthaft daran. Wenn du es dann wirklich machst, bist du natürlich eine Zeit lang der Hingucker. Allerdings möglicherweise nur dort, woher du gekommen bist. Im neuen Land könnte es sein, dass du weitestgehend unbeachtet startest, als Nobody. Man hat nicht unbedingt auf das gewartet, was du kannst oder planst. Schon gar nicht hier, wo das Auftauchen von Zuwanderern zum Alltag gehört und es fast alles schon gibt, was der Mensch so braucht oder will. Gehst du nach dem Hörensagen, wirst du kaum als Anbieter sondern hauptsächlich als Kunde wahrgenommen bzw. als „Beute“. Das prägt dich natürlich. Wo du überschwänglich aufgenommen wirst, argwöhnst du unter Umständen, dass dich jemand zwischen seinen offenen Armen ausquetschen will. Bei Meetings von BusinessPlattformen denkst du in der plötzlichen Hahn-im-Korb-Rolle daran, dass dich jemand rupfen könnte. Ganz besonders prickelnd aber ist das Gefühl, neben all den Mallorca-Routiniers mit ihren etablierten Existenzen ein blutiger Inselschüler zu sein. Da bleibt schon mal in einem schönen Ambiente der gehobene Bissen im Halse stecken, weil du auch noch spürst, dass es so was gibt wie „Lunch-Justiz“...

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S on V ida (P alma )

Umzingelt. Schwitzen, stammeln, staunen beim Business-Lunch Das Konzept ist großartig: Freiberufler, Shop-Inhaber, Dienstleister – viele die Rang und Namen haben oder noch erwerben wollen, treffen sich zum Kennenlernen und gegenseitigen Austausch. Das Problem ist: Du kannst bei diesem Beschnuppern mangels Strahlkraft ganz schnell abstinken oder andere die Nase rümpfen lassen, falls du zu dick aufträgst. Community Meeting, Business Lunch, ... Alles wunderbar. Du musst sie nur beherrschen, die Kunst der vorteilhaften Selbstdarstellung oder bereit sein, sie dir anzueignen. Nicht mein Ding, gar nicht mein Ding. Zweimal habe ich`s probiert – nenn` mich Weichkay oder Feigling, mir egal, habe fertig. Es war ja auch gar nicht meine Idee. Yvonne hatte diese Einladung zu einem Business Lunch aufgegabelt. Natürlich hatte sie recht damit, dass es eine gute Gelegenheit wäre, mit unserem Verkauf eines Energydrinks ein bisschen voran zu kommen oder mich als Texter zu etablieren. Aber mein Lampenfieber ließ mich von Anfang an keine ermutigenden Szenarien fantasieren. Andererseits möchte man dazu gehören. Bis zum Vormittag des betreffenden Tages wankte ich zwischen „Chance nutzen“ und „sinnloses Unterfangen lieber gleich lassen“. Schließlich entschied ich mich – oder treffender gesagt – entschied meine Frau mich, da hinzugehen. Damit war ein Problem vermieden, andere aber begannen jetzt. Auf keinen Fall nämlich wollte ich „under dressed“ erscheinen, also unter Niveau gekleidet. Dress Code und Stress Code liegen für mich nicht nur vom Klang her dicht beieinander. Ja, auch manche Männer haben „ja gar nichts zum Anziehen“. Allerdings rufen sie es nicht vom brechend vollen Kleiderschrank aus durch die ganze Wohnung. Außerdem hatte ich nicht wirklich was zum Fahren. Also würde ich so parken müssen, dass aufgrund unseres Wagens kein richtiger Eindruck entsteht. Den Kopf voll Szenarien und schließlich doch einigermaßen vernünftig in Schale, fuhr ich reichlich nervös zu diesem Hotelpalast im Grünen auf 78


einer Anhöhe am Rande von Palma. Das Auto stellte ich so weit weg vom Eingang ab, wie es nur ging. Zwischen den beunruhigend vielen großen, noblen Karossen schrumpfte unser Kleinwagen gefühlt zum Keinwagen. Noch war mein Mallorca-Feeling nicht ausgeprägt genug, um das in dieser Situation anders zu sehen. Einmal tief Luft holen. „Was mach` ich hier?“... Am besten weiter. Mutterseelenallein kämpfte ich mich zum Eingang vor, gegen den Widerstand meines inneren Schweinehundes. Der war wie aus mir rausgetreten, hatte sich in mein Hosenbein verbissen und – rrrrrrrraoo – versuchte unentwegt, mich von dieser Castingshow wegzuziehen. Sprung ins kalte Wasser. Der üppige Automobil-Salon auf dem Parkplatz hatte mich befürchten lassen, was ich in der Lobby des Hotels sah: Viele erfolgreich aussehende Menschen, meiner Interpretation nach verdammt deutsch gekleidet und alle hoch erfreut über das bevorstehende Nett-together. Der Schweinehund heulte noch mal heftig auf, als ich meine Visitenkarte beim Einlass abgab. Dann trat ich auf die Terrasse, mit einem unentschlossenen Schritt, den ich irgendwie lässig aussehen lassen konnte. Jetzt zog der Schweinehund winselnd ab. Ich war wieder allein. Und wie. Alle kannten sich. Jeder redete mit jedem. Gesellschaftlich gesehen ist Mallorca winzig. Nach einer gewissen Zeit siehst du ständig bekannte Gesichter von dann aber nicht wirklich dir bekannten Personen. So ging es mir da auch. Während ich mich mit einem inneren Spiegel vor Augen umsah, dachte ich, wie blöd man doch als Nichtraucher mitunter rumsteht. Noch tausend andere Sachen gingen mir durch den Kopf. Normal. Bei vielen Begegnungen mit Zuwanderern kommt in dir viel davon hoch, was langjährige Residenten dir von Anfang an nachdrücklich mit auf den Weg geben. Immer wieder wird Mallorca als „Haifischbecken“ bezeichnet, in dem viel Futterneid herrscht. Auch kein seltener Rat: Seine Ideen solle man besser für sich behalten. Andernfalls dürfe man sich nicht wundern, wenn man später entdeckt, dass ein anderer die Idee mal eben verwirklicht hat. Auffallend oft bekommst du die Empfehlung, dich unbedingt korrekt zu verhalten. „Ein gravierender Fehler, und du bist weg, kannst einpacken“. 79


Die Insel sei so klein, dass man ganz schnell einen Ruf hat, einen guten oder schlechten. Zwei Geschäftsfrauen zeichneten wenige Wochen nach unserer Ankunft ein Bild, das wir aus heutiger Sicht als sehr treffend einstufen. Das klang in etwa so: „Es ist sehr schwer, sich auf Mallorca eine Existenz aufzubauen. Viele kommen schon mit der falschen Einschätzung hierher. Die denken, das ist ein Entwicklungsgebiet und alle stümpern nur rum. Manche haben dabei beinahe schon ein Helfer-Syndrom. Andere sind arrogant. Motto: Jetzt zeigen wir mal allen, wie es geht. Das ist Quatsch. Es ist schon alles hier auf Mallorca. Alles. Und die haben es hier richtig gut im Griff. Man muss sich nur mal vorstellen, die vielen Millionen Touristen Jahr für Jahr, die hier einfallen, wie reibungslos das abläuft. Ich weiß nicht, wie man das in Deutschland logistisch auf die Reihe kriegen würde – so ein Kommen, Dableiben und Gehen auf so relativ kleinem Raum. Stell es dir vor, in Stuttgart oder anderswo. Die machen das hier. Respekt. Wenn du hier lebst oder ein Business machst – denke immer daran, dass du nur Gast bist. Wenn du dich anständig verhältst und wenn du einen langen Atem hast, dich wirklich anstrengst, dann kannst du es schaffen.“ Auf der Business-Plattform, auf der ich an jenem unvergessenen Tag gelandet war, passte diese Beschreibung meiner Einschätzung nach auf die meisten. Die sahen aus wie, die bewegten sich wie, die waren unbekümmert wie – wie die, die es geschafft haben. Und nun ich. Der Dosen-Kay. Ein Texter, was ist das denn? Und was jetzt? Dosen verkaufen oder texten? ... Wenigstens also redete ich mit mir. Man muss immer aufpassen, dass man seine Selbstgespräche später nicht als Fazit feiert oder gar anderen in die Schuhe schiebt. Noch hatte mich ja keiner angesprochen, noch war alles nur Kino im Kopf. Insel der begrenzten Möglichkeiten. Hundert oder mehr erfolgreich wirkende Sommerlichtgestalten wie aus dem Freilandei gepellt mit Sekt in der Hand und einem fetten Habenkonto im Gesichtsausdruck – wahrscheinlich hättest du dich in dieser Situation 80


auch spontan solche Sachen gefragt wie: „Was willst du eigentlich noch auf dieser Insel aufziehen?“ Ich meine, es ist ja tatsächlich schon alles da: Unzählige Bars und Restaurants, jede Art von Shop, Freizeitparks, Baumärkte, große Industriegebiete mit zig Autohändlern, Möbelhäusern, Fachgeschäfte für Bastelbedarf oder Beleuchtungen. Deutsche Bäckereien – die Marktlücke im Weißbrotland – auch schon mehrfach vertreten. Deutsche Supermärkte, x-Mal, verteilt auf mehrere Standorte! Souvenirläden massig. Organisierte Ausflüge werden angeboten, zu Land, zu Wasser, in der Luft. Es gibt Outdoor-Aktivitäten und Kiddie Parks, Outlet-Center, Lebensberater, Künstler, Galerien, Spezialgeschäfte für Süßigkeiten und Schokolade, Eisdielen, charmante und originelle Shops. In Palma zum Beispiel existiert seit Jahren ein kleiner Laden nur mit Puzzle-Spielen. Ein anderer hat kleine, traumhaft süße Läden, spezialisiert auf Essig, Öl und Dips. Nach Bioläden musst du nicht lange suchen. Lange noch aber könnte die Aufzählung weiter gehen ... Mallorca – es ist keine entlegene deutsche Region, aber manche Gegend in Deutschland wäre froh, so aufgestellt zu sein. „Ich bin der Max“, zerschlug plötzlich eine Handkante meine Lethargie, nachdem ich mich an einen Stehtisch gewagt hatte. Max hieß er nicht, aber das ist ja auch völlig egal. Hauptsache du stellst ihn dir jetzt mal so vor, wie ich ihn gesehen habe: normal. Schlank, groß, offen, nett, harmlos. Harmlos? Jaaaa, ganz sicher. Bestimmt. Da kann man sich mal anlehnen. Wir redeten. Unter anderem über die etlichen Jahre, die er schon auf der Insel war. Das Übliche also. Als eine hübsche große Frau ins Bild trat, wurde Max vertraulich. „Das ist eine reiche Russin“, neigte er sich mir zu, so dicht, dass ich befürchten musste, man könnte die Zuwendung als was Schwules interpretieren. Ja danke auch, diese Einschätzung wäre das Letzte gewesen, was ich jetzt noch gebrauchen konnte. „Die stinkt vor Geld“, klärte er mich weiter auf, „die braucht weder Business noch sonst was. Die ist nur aus Langeweile hier.“ Wäre ich jetzt clever oder witzig gewesen, hätte ich gesagt: „So geht`s mir auch.“ Aber ich rechnete damit, jeden Moment nach Schweiß zu riechen und dann steckten mir auch noch der Parkplatz in den Knochen und die 81


langwierige Suche daheim nach den passenden Klamotten. Deshalb sagte ich mal lieber gar nichts. Die Russin langweilte sich kurze Zeit später woanders. Dafür kam jetzt ein Geschäftsmann zu uns, den ich schon von einer Party unseres Steuerberaters und einer weiteren flüchtigen Begegnung her kannte. Netter Typ. Der Stehtisch entwickelte sich somit zur Komfortzone. Geschäftsleute, verstehst du, aber so locker drauf, dass du mit ihnen bei Hochzeiten gerne Bräute entführen würdest oder nach zwei Gläsern in der Nase bohren könntest, ohne dass du dein Gesicht verlierst. Ich war nicht nur froh, ihn zu sehen, sondern auch reichlich verwundert. So sechs, acht Monate zuvor hatte er mir erzählt, dass er von der Insel muss, bevor er einen Vogel kriegt oder so ähnlich. Den nennen wir jetzt übrigens Moritz. Moritz hatte irgendwelche Probleme mit Mallorca, ich glaube in erster Linie mit den Leuten. Aber meine Erinnerungen daran war verschwommen. Die Insel war ihm auf die Dauer auch zu klein und eintönig. So in etwa hatte er sich geäußert. Seine Art hinterließ jedoch immer einen leichten Zweifel, ob er meinte, was er sagte, provozieren wollte oder bewusst überzeichnete, um unterhaltsam zu sein. Jedenfalls hatte er die Insel bis hierher weiter „aushalten“ müssen. Sein Geschäft ließ ihn vorerst – wie damals schon – nicht weg. Wie gut! In Gesellschaft von Max und Moritz nämlich wurde es irgendwie leichter. Als ich kurz darauf mit etwas Geschick an den gleichen Tisch wie er geriet, sah ich meine Chancen gestiegen, dieses Essen irgendwie zu überstehen. Small talk mit der Hoffnung auf big Business. Als der Tisch komplett besetzt war, blickte ich dennoch kleinlaut in die Runde. Wenn das hier Networking wird, dachte ich, sind die Rollen klar verteilt: Lauter Spinnen um mich und ich bin die Fliege. Da saß dieser blonde, große, kräftige Mittvierziger, mit die sem souveränen Kinn und glatten Haaren, so nach hinten über die Ohren weg, als wäre er gerade aus der Brandung heraus wieder auf sein Surfbrett gestiegen. Im Gegensatz zu anderen, auch an den Nachbartischen, redete er nichts oder nicht viel über sein Business. Ich denke, er betrachtete das als nicht nötig. So entspannt und offen wie er in die Runde und den ganzen Saal blickte, musste das sein 247zigstes Treffen dieser Art sein. Es hätte 82


mich nicht gewundert, wäre ihm heute ein Orden verliehen worden oder eine Uhr, gesponsert von einem der anwesenden Unternehmer. Neben dieser Bärenruhe wirkte die junge Frau zwei Plätze weiter wie ein Huhn, das seine Aufregung nicht verbergen konnte aber zumindest beherrschte. Gekonnt profilierte sie sich in ihren Aussagen von anderen Finca-Vermietungs-Vermittlungen. Während sie ihren Anspruch und ihre Servicestärke als Dienstleister darlegte, machte sie ein unglückliches Gesicht und leichte, ruckartige, absolut überflüssige Bewegungen mit ihrem Oberkörper. Vielleicht war es ihre Premiere auf einer solchen Bühne. Jede der kleinen Selbstdarstellungen beobachtete die andere Frau am Tisch mit dem Gleichmut einer Eule. Leicht in sich zwischen hängenden Schultern zusammengesackt, drehte sie weitestgehend regungslos ihr großes Gesicht mit den sehr aparten, gleichmäßigen Zügen in die Runde. Dann ruhten ihre ebenfalls großen Augen auf dem jeweiligen Gespräch, kommentiert allein von ihren Wimpernschlägen. Der junge Mann daneben war der Hecht in diesem tierisch interessanten Kreis. Einfach toll, wie er sich permanent freute, über alles und jeden. Sein völlig unbefangenes Lachen und irgendwas in Richtung Akne verjüngten seinen jungenhaften Charme noch zusätzlich. Er war es dann auch, der mich fragte, was ich denn eigentlich so mache. „Ich vertreibe hier auf der Insel den besten Energydrink der Welt“, versuchte ich in einem Anfall von Übermut, witzig zu sein. „Na ja, ich ... äh ... bau` das ... gerade auf“, schob ich holprig nach. „Eigentlich bin ich Texter.“ Für mein Gefühl ein peinlicher Auftritt. Jeder konnte an der Farbe und Nässe meines Gesichts sehen, dass ich mich in meiner Haut nicht wohlfühlte. Auf meinem zweifellos gerade angetretenen Weg zur intellektuellen Schlachtbank war mir wieder klar, warum ich Vegetarier bin. Was für ein Scheißgefühl zu spüren, wie um dich herum im Kopf die Messer blitzen. Aus mir sprach der Anfänger, was das Dosengeschäft betraf. Und so kreativ und interessant der Beruf Texter auch ist – man bekommt dafür keinen Beifall, weil sich kaum jemand darunter etwas vorstellen kann.

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„Was, was macht er noch?“, wollte wenigstens einer es genau wissen. „Er verkauft Dosen, aber eigentlich ist er Texter“, sprang mir Moritz hilfreich zur Seite. Wirklich hilfreich? Dieser Unterton im „eigentlich“ ließ mich wieder mal rätseln, wie er meinte, was er sagte. Das Huhn, der Bär, der weibliche Uhu, ... – alle Blicke waren jetzt bei mir armen Sau. Der tolle Hecht holte mich mit einem breiten Lachgrinsen und einem Vorschlag aus der Verlegenheit. Er habe gute Kontakte zur Gastronomie. Wir sollten uns mal treffen. Die nächsten 10 Minuten redete er über seine Dienstleistung, die Möglichkeiten, die er Kunden bietet und wie sich sein Erfolg damit entwickelt hat. Der Texter war vom Tisch. Ab jetzt war ich Kunde. So macht man das. Schlechte Erfahrungen mit guten Kontakten. Die Situation erinnerte an zwei typische Phänomene auf Mallorca: erstens, die „Quick Change-Nummer“. Jemand gibt vor, sich für dein Produkt oder deine Leistung zu interessieren. Man trifft sich und keine Minute später will er / sie dir was verkaufen. Zwei-, dreimal haben wir es erlebt, von anderen bestätigt wurde es uns öfters. Zweitens: die Kontakt-Hysterie. Die Insel ist voll von Menschen mit guten Kontakten. „Ich kenne den ..., ich kenne die ..., ich kenne sie alle“. Wie oft hörst du jemanden, der auf diese Art irgendwas in Aussicht stellt. Vieles davon mag lieb gemeint sein. Kaum etwas davon bringt dich weiter. Zweimal haben wir geschäftlich darauf gesetzt – emotional und wirtschaftlich – dass jemand bei seinen guten Kontakten etwas für uns erreichen wollte. In einem Fall hat derjenige sie überhaupt nicht genutzt. Im anderen Fall hatte er dabei keinen Erfolg. Nach einer kurzen, netten Ansprache wurde das Büfett eröffnet. Wieder dachte ich: nett gemacht, gute Sache eigentlich aber nichts für mich. Es kam Bewegung in den Saal. Der Tierkreis an meinem Tisch hatte nun das Essen im Fokus. Zu den Vorteilen eines Büfetts gehört zudem, dass man aufstehen kann, um sich

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was zu holen, wann immer man es will oder braucht. Deshalb unterscheide ich drei Sparten von Essen: Fast Food, Fine Food und Flucht-Food. Das Kommen und Gehen entspannte die Situation deutlich. Sowieso: Ist Essen auf dem Teller, werden alle etwas unverkrampfter. Allerdings hatte ich das Gefühl, das Urteil war längst innerlich gesprochen. Das Urteil über mich und über jeden anderen in diesem Kreis auch. Das passiert einfach so, denke ich, ohne dass man es vorhat. Man kommt eigentlich zum Plaudern und Essen zusammen. Doch jeder scannt jeden ab. Den tiefsten Eindruck hinterlässt du in den ersten Sekunden. Damit ist die Meinung über dich schon fast gebildet. Jetzt sagst du noch ein, zwei Worte, dann bist du in der Schublade verschwunden. Da kommst du so schnell nicht wieder raus. Und nur auf Bewährung. Dauerhafte Bewährung. Du kannst monatelang anders sein, als das Bild, dass man sich von dir gemacht hat – ein Schritt zurück in deinen anderen Ruf und zack, bist du wieder voll drin. Das vorschnelle Aburteilen und Wegsperren, es passiert in der Menge, am hellen Tage, beim Essen. Ich nenne es: Lunch-Justiz. Lunch-Justiz ist kein typisches Mallorca-Merkmal. Sie ereignet sich überall. Doch auf Mallorca wiegt sie etwas schwerer, wenn du frisch auf der Insel bist und noch dazu ein schlechter Selbstverkäufer. Von diesem Restaurant im Fünfsternehotel aus, lag mir beim Blick durch die großen Fenster, die Insel quasi zu Füßen. Sie zu erobern, als Naturfreund und Mensch, würde ein leichtes Unterfangen sein. Hier beruflich Fuß fassen, das war in diesen wie in anderen Momenten klar, würde eine große Herausforderung sein.

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Das Angebot, sich geschäftlich zu integrieren ist da. Doch viel stärker als in deinem früheren Leben empfindest du den Unterschied zwischen schon dazugehören und sich noch darum bemühen. Noch vor dem allgemeinen Aufbruch ging ich wieder. Gute Gefühle begleiteten mich dabei, obwohl ich mit meiner Vorstellung nicht zufrieden sein konnte. Aber: Ich hatte durch diesen Business-Lunch über alles Unken, über alle Schwierigkeits-Szenarien der ersten Monate hinweg an einer viel-versprechenden Welt des Erfolges geschnuppert. Am Ende nahm ich eine gute Gewissheit mit. Sie sind da: die Erfolgreichen, die Ausdauernden, die Etablierten. Du kannst es schaffen auf Mallorca. Sogar auf Mallorca.

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Der Mallorca Moment Wenn du einem Erlebnis wie verrückt entgegenfieberst ... Vergleichst du Mallorca mit einer Frau aus der Sicht eines Mannes, so hast du viel zu erzählen. Wie sie dich verwandelt, reizt, wie viele Seiten sie hat und dass du ihr verfallen oder nach einer gewaltigen Abfuhr für immer versagen kannst. Machst du diesen Vergleich mit dem Meer um die Insel herum, ist die Sache ziemlich einfach: Diese blaublütige oder türkisfarbene, packende, erfrischende See mit ihrer magischen Anziehungskraft hat nämlich in erster Linie zwei klare Seiten: Sie ist die Schöne und sie ist das Biest ...

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C ala D eià

Reingebrettert. Wilde Wogen in der Winterbrandung Wind Nordwest, über 30 km/h schnell und in der Cala Deià bricht ein Hauch von Hölle los. Auf diesen Tag hatte ich gewartet. Wochenlang. In mancher Nacht hatte ich in unserem Schlafzimmer mit dem Ohr an den Sturmböen draußen in der Wohnanlage geklebt und mich von den herumpurzelnden Plastikstühlen auf dem Balkon nicht weiter beeindrucken lassen. Viel spannender musste dagegen doch das Spektakel an der Küste sein. Immer und immer wieder war ich in stürmischen Nächten als Schlafloswanderer in Gedanken über das Tramuntana-Gebirge hinunter zu dieser einen Bucht ganz im Westen gepilgert oder besser gesagt: Ich war mental auf den einen oder anderen willden Luftzug aufgesprungen und hatte mich aus der kuscheligen Wärme meines Bettes wegreißen lassen. Ahhhhhh. Cala Deià, du schaurige Schöne. Kalt, nass, tosend hatte ich mir dann das kleine Inferno der Wellenberge vorgestellt. Wie sie getrieben von heranpeitschenden Windmassen in die schmale Bucht drängen als würden sie panisch Schutz suchen und wie sie dann in vermeintlicher Geborgenheit doch ein jähes Ende finden. Zerstobt, zermalmt beim Prall gegen die Felswände oder weil sie sich gegenseitig umrannten. Auch sah ich in meiner Fantasie wie Wellen den brodelnden Eingang der Bucht überwinden und pathetisch auf den Geröllstrand zurollen, um dort in anmutiger Resignation zu brechen. In Schönheit sterben oder in einem Moment der Orientierungslosigkeit dem Sekundentod am Felsen erliegen – auf keinen Fall wollte ich mir dieses Schauspiel der Natur entgehen lassen. Schließlich bedeutet es, die Hauptdarsteller dieses Dramas in einer sehr ungewohnten Rolle zu erleben. Als nette, harmlose Begleiter in der Daily Summer Soap waren Wind und Wasser uns längst vertraut. Die Suche nach dem richtigen Tag, an dem ihr ganz anderer Auftritt zu erleben sein würde, war für mich über Wochen zum Krimi geworden. X-Mal täglich hatte ich die Wettervorhersage abgerufen. Aber entweder war die Windprognose zu schwach gewesen oder mein Terminkalender zu voll. „Würde es diesen Tag noch geben, an dem alles passte?“, hatte 90


mich dann irgendwann schon der Zweifel beschlichen. Es war nun Anfang Februar. Während die Mandelbäume mit zarten, weißen und rosafarbenen Tupfen die Landschaftsbilder zu frischer Blüte trieben, drückten immer noch peitschende Regenschauer und starke Winde gelegentlich in die ersten Sommerfantasien. Also musste es noch klappen. Hoffentlich. Der Ruf der Wellenberge. Und tatsächlich sollte er plötzlich da sein: mein Cala Deià-Moment. Womit ich nicht gerechnet hatte: Wir fuhren dem Erlebnis nichts ahnend entgegen. Zwar war ausreichend Wind aus der richtigen Richtung angesagt. Doch zu spüren war er kaum. Bei gerademal einem lauen Lüftchen und frühlingshaftem Wetter fuhren Yvonne und ich durch den 1,3 km langen Tunnel nach Port de Sóller. Ich setzte Yvonne am Ortseingang ab, wo sie mit einer Freundin verabredet war, und besuchte anschließend ein paar Kunden in Sóller. Dabei kam ich sogar etwas ins Schwitzen. Unhandlich mit einem Karton beladen, irrte ich auf der Suche nach einem Kaffee durch alle Gassen rund um die zauberhafte Plaça Constitució im Stadtzentrum. Die eindrucksvolle Pfarrkirche würdigte ich kaum eines Blickes, denn: So schön dieses markante Ensemble verschiedenster Architekturstile und der Platz mit der langsam hindurch fahrenden Nostalgie-Straßenbahn auch ist – dieses Suchen zehrte an den Nerven und den Kräften. Und es ließ mich deutlich spüren, wie mild es war, gemessen an anderen Tagen in der letzten Zeit. Umso faszinierter war ich, als ich nach meinen Kundenbesuchen rüber fuhr nach Port de Sóller bis kurz vor die Platja d`en Repic. Da peitschte mir eine Seeluft entgegen wie ich es seit den Spaziergängen an der Nordsee mit meinen Eltern als Jugendlicher liebte. Schon von dem kleinen Weg zwischen Parkplatz und Promenade aus sah ich ein unverhofftes, einmaliges Spektakel aus weißen Wellenkronen auf einem wild zuckenden und unentwegt heranbrandenden Meer. Gleißendes Sonnenlicht schminkte die verrückt gewordene See in Türkis- und Blautönen zu einer rassigen Schönheit, impulsiv und ebenso verlockend wie beunruhigend. Da begriff ich, dass das Tramuntana-Gebirge das Inselinnere wie ein Bollwerk gegen heranfegende Westwinde schützt. Kein Wunder, war während der Fahrt hierher auf der anderen Seite kaum etwas spürbar 91


gewesen von dieser Gewalt in der Luft. Das sind Momente, wo du nicht in den Spiegel schauen brauchst, um zu wissen, dass deine Augen leuchten und du von ganz tief drinnen heraus lächelst. Wow. Wow. Wow. Wieder dachte ich an meine Eltern und die schönen Tage, Wochen, die wir auf Sylt verbracht hatten, gemeinsam gebannt, bis unter die Gänsehaut begeistert von der Wucht, mit der Wind, Wellen und salzige Luft dir durch die Seele stoben können. Die Erinnerungen und der Augenblick auf der menschenleeren Promenade peitschten mein Gefühl hoch wie der Wind die See. Aaaaach, wie liebte ich das Leben, wie sehr erfüllten mich meine Gedanken. „Wir haben eine wunderbare Tochter, leben auf dieser Insel und meine Frau – upps ... redet gerade mit einer anderen Frau. Oh ja, verdammt. Wahrscheinlich über Männer. Da wurde ich wohl nicht ausgelassen ...“ Bingo. Ich kam in diese Kaffee-Bar, sah zwei Sekunden in diese beiden Gesichter und – klar, bestimmt hatten sie drei Sekunden zuvor wen am Wickel gehabt. Mich. „Na wie siehst du denn aus“, lachte Yvonne mich an mit einem ungefilterten Heiterblick auf meine Sturmfrisur. „Ja, bin etwas durch den Wind“, kalauerte ich mich geschmeidig in die Frauenrunde. Es war noch ein bisschen Zeit, also noch mal Getränke und Smalltalk. Dabei erwähnte unsere Bekannte mit ihrem sanft stechenden Blick tief in mein Gewissen hinein, dass man einfach nur miteinander reden müsse, wenn`s Probleme gibt. Aha. Hatte ich`s doch gewusst. Wahrscheinlich hatten sie nicht auch, sondern nur über mich gesprochen. Nach 10 Minuten Kaffee und unbeteiligtem Brandungsblick durch die große Panoramascheibe begann ich an der Theke mit Händen, Füßen und gezielt daher gebröckeltem Englisch bei der Inselspanisch sprechenden Frau um die Rechnung zu kämpfen. Außerhalb der Saison, mein Freund, maßregelte ich mich innerlich selbst, ist in den dann noch offenen Läden Spanisch, Katalan oder Mallorquin angesagt. Katalan ist eine eigene, dem Spanisch verwandte Sprache, die nur in Katalonien und auf Mallorca gesprochen wird. Mallorquín wiederum ist ein katalanischer Dialekt. Ich stell mir diese Spanisch-Varianten immer so andersartig vor wie Plattdeutsch, Urschwäbisch und Absolutbayrisch im Vergleich zu Hochdeutsch. Will 92


heißen: Du musst es können oder rätseln. Das Rätseln aufseiten der Barfrau dauerte etwa eine Minute. War mir fast schon zu lang, weil ich es kaum erwarten konnte, dass wir nach Deià durchstarten würden. Es verzögerte sich dann zusätzlich noch ein bisschen, weil die erste Getränkerunde nicht berechnet worden wäre, hätten wir nicht ausdrücklich darauf hingewiesen und bestanden. Den halben Umsatz vergessen in einem fast leeren Lokal, das konnte vielleicht in Bayern auch noch passieren. Bei den Schwaben? Ausgeschlossen. Yvonne zeigte mir vor der Bar auf der Promenade noch die gut 12 m lange Segeljacht, die das Wetter drüben an einem anderen Strandabschnitt in den Sand gesetzt hatte. Für einen Moment sah ich da schon vor dem geistigen Auge, wie uns das hölzerne Terrassendach der kleinen Felsen-Bar in Cala Deià um die Ohren fliegt. Also los jetzt! Die Fahrt auf der Küstenstraße von Sóller nach Deià und weiter nach Andratx gehört für mich ebenso wie die Strecken nach Sa Calobra, die Gebirgsstraße nach Pollensa und der Kurven-Marathon zum Cap Formentor im Norden Mallorcas zu den herausragenden Landschaftserlebnissen auf der Insel. Es wäre vielleicht zu viel, diese fantastischen Abschnitte in einem Atemzug zu nennen mit den Traumstraßen der Welt. Die Faszination aber an der Schönheit und Ursprünglichkeit dieser mediterranen Gebirgsküste ist groß und nutzt sich nicht ab. Bestimmt zwanzig Mal sind wir die gut ausgebaute Straße an den Berghängen der Serra de Tramuntana hoch über dem Meer zwischen Sóller und Deià gefahren. Nie hatte es uns unberührt gelassen. Dieses Mal packte es uns noch heftiger. Wenn das Meer von hier oben schon so aussah, was würde uns dann erst unten erwarten! Kurz vor dem Ortseingang von Deià bogen wir voller Erwartungen und aufgeregt wie Teenager in die schmale Serpentinenstraße ein, die zur Cala Deià hinunterführt. Auch sprichwörtlich ließen wir dabei die vielleicht schönste Kleinstadt der Insel „links liegen“. Deià wirkt wegen des durchgängig traditionellen Baustils der Häuser wie ein Freiluftmuseum. Die wunderschönen, authentischen Natursteinhäuser drängeln sich entlang schmaler Gassen auf einem Hügel direkt am Rand der 93


Gebirgsausläufer zum Meer hin. Wegen der Maler, Schriftsteller, Musiker und Filmschauspieler, die bereits dem Reiz dieser Idylle erlagen, gilt Deià als Künstlerdorf. Weil Ruhm und Geld hier vielfach ein Zuhause fanden, ist die Schönheit in den Bergen ein gern besuchtes Pflaster mit gehobenen Preisen. Auf Außenwirkung scheint niemand Wert zu legen. Ein einziges Mal nur begegnete uns hier Pomp und Prunk in seiner üblichen Form: Ein schöner, großer Oldtimer schwebte im Dienste einer Hochzeit an uns vorbei eine schmale Gasse entlang. Für einen Moment hatte mich das betagte Prachtstück zwischen den alten Fassaden am Fuße einer großen Palme an den morbiden Charme von Kuba erinnert. Doch gleich darauf hatte ich darin etwas ganz anderes gesehen: Das kurze Aufblitzen irgendeiner der glanzvollen Karrieren und Reichtümer, die sich hier an vielen Stellen in Dorfgestalt verbergen. Damals hatte ich gehofft, einen Prominenten zu erblicken. In unserem Wogen-Wahn aber, konnte es nur einen Star geben, viel weiter unten. So kurbelten wir uns – ausnahmsweise von Deià unbeeindruckt – in die andere Richtung hinunter. Abwärts in das Hochgefühl. 1,9 malerische Kilometer und 25 Kurven später stellten wir das Auto auf dem fast verwaisten Parkplatz an dem Bett des Wildbachs ab, der nur ein paar Gehminuten weiter in das Meer mündet. Mit einem Gefühl wie Weihnachten riss ich die Autotür auf, um zu sehen, was der Sturm uns hier bescherte. Aber alles, was uns entgegen kam, war ein starker Wind und ein unbeschädigtes Paar. Ich steckte den kleinen Dämpfer für meine Sensationslust gleich wieder weg. Wo Wind ist, ist auch Schatten. Wer weiß ... Auf dem Weg Richtung Strand bündelten sich alle Sinne wie ein Laserstrahl auf das Meer, das jeden Moment auftauchen würde. Noch bevor wir es sahen, lagen Brandungsgeräusche in der Luft. Und tatsächlich schob sich kurz darauf vorne an der Ecke das Meer hin und her, wo man sonst trockenen Fußes rübergeht in die kleine Bucht. Ein paar Schritte noch, dann schoss uns gewaltiger Wind ins Gesicht. Auf jeden der zwei, drei Meter hohen Brecher, die in kurzen Abständen über den Geröll 94


übersäten Strand herfielen, folgte ein Schwall feuchte Luft. Dem galt es mit der Kamera blitzschnell auszuweichen. Gerade glaubten wir, unseren Rhythmus gefunden zu haben, da überraschte uns die Detonation einer größeren Welle. Wie in Zeitlupe stieg eine bizarre Gestalt aus fetten Wassertropfen und –schlieren in einem großen Sprühnebel über dem Felsvorsprung empor, um dann wieder in den gurgelnden, wabernden Wassermassen darunter zusammenzusacken und zu verschwinden. Pass auf dich auf. Die Natur tut es nicht. In solchen Situationen begreifst du, wie Leichtsinn funktioniert. Du wirst süchtig in diesem Spiel, willst noch näher ran, noch geschickter ausweichen, ein noch besseres Bild machen. Du beginnst regelrecht, dich mit der Natur zu messen. Sie ist aber kein Gegner, kein Sparringspartner. Die Natur macht weiter, wenn du am Boden liegst. Sie reicht dir am Ende nicht die Hand, weder, um dir zu gratulieren, noch um dich aus dem Schlamassel zu ziehen. Du bist ihr weniger als egal, weil sie dich nicht

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einmal wahrnehmen kann. Vollkommen seelenlos, vollkommen ohne Bewusstsein reißt sie dich einfach mit, zieht dich runter oder zerschmettert dich wie ein Boot, eine Kiste oder einen Picknickkorb, den irgendwer irgendwann irgendwo am Strand vergessen hat. Dennoch: Von einer Art Sturmjägergefühl erfasst, standen und sprangen wir noch eine Weile Auge in Auge mit dem Spektakel herum, so wie diese Tornado Freaks in Amerika. Na ja, beinahe so, so ungefähr. Die Cala Deià gehört zu den mittelgroßen Buchten der Insel. Halbkreisförmig bietet sie dem Meer einen weiten Zugang, der sich am Ende zu einem Kieselstrand vor einer Erdrutschkante deutlich verjüngt. In diese offenen Arme drücken Sturmwinde große Wassermassen. Sie türmen sich auf, werden von Felswänden teilweise wieder zurückgeworfen und bilden somit an vielen Stellen immer wieder eine heftige Rangelei. Logenplatz am Epizentrum. Das Wellenspektakel wollten wir uns unbedingt noch von einer höheren Ebene aus anschauen. Einen sicheren, leicht zugänglichen Platz dafür bietet das Fischrestaurant links oben auf den Felsen. Von der Terrasse über dem Meer aus bot sich das Schauspiel dann tatsächlich in einer gesteigerten Dimension. Hier, wo sich die Bucht zum Meer hin öffnet, schlugen voluminöse Fünf- bis Sechsmeterwellen teilweise schräg unter uns gegen den Küstenstreifen. Gelegentlich türmte der Rückstau dabei Wellenberge in die entgegensetze Richtung auf, die dann mit voller Wucht gegen die nächsten heranrollenden Wogen prallten. Stürmisch miteinander vereint, streckten sie sich dann als geschätzte sieben bis acht Meter hohe Gebilde wie Tänzer senkrecht nach oben. Auf der anderen Seite produzierte das Tangofestival den Donner heftiger Einschläge. Eine Ausbuchtung, die wie der haushohe Eingang einer Höhle aussieht, wurde dabei beinahe regelmäßig halb voll geflutet. Und der einsame, gut zwei Mann hohe Felsbrocken wenige Meter vom Ufer des Geröllstrandes entfernt, tauchte mit manchem Brandungsschub beinahe vollkommen ab. Bei ruhiger See war dieser Koloss sonst gerade mal im unteren Fünftel vom Wasser umspült. 96


Bereits im Spätsommer hatten wir mit einem Teil der Familie aus Deutschland das wilde Spiel des Meeres um diesen erhobenen Zeigefinger herum bewundert. Damals saßen wir auf der Terrasse der kleinen, in den Felsen gebauten Bar beim Strand. Gelegentlich hatte die Brandung ihre Gischt fast bis in unsere Kaffeetassen hineinnebeln lassen. Das zurückebbende Wasser hatte jedes Mal haufenweise Steine mitgenommen, begleitet vom Gemurmel des herumpurzelnden Gerölls. Aber im Vergleich mit dem Schauspiel, das sich uns jetzt bot, war das damals heiteres Sommertheater. Geradezu selbstzerstörerisch erhoben sich jetzt immer wieder aus der kochenden See Tonnen von Wasser zum Schlag auf den harten, aufrechten Fels. Als hole das Meer tief Luft, um gewaltig zu niesen. Am Strand zerfloss die gebrochene Urgewalt dann mitunter sanft und klanglos wie in einem langen, leisen, erlösenden Seufzer. Wusch, und schon prasselte wieder Wasser über meinen Buckel, das die aufgebrachte See in unsere Richtung gespuckte hatte. Auch Yvonne hatte sich rechtzeitig weggedreht. Trotz aller Ausweichmanöver waren wir längst stellenweise durchnässt. Die Ohren taten auch schon ein bisschen weh. Wegen eines Termins in Palma war es eh Zeit, allmählich zu gehen. „Wir müssen langsam“, rief ich Yvonne lauthals durch das Getöse zu. Bevor wir unserem Cala Deià-Moment endgültig den Rücken kehrten, schauten wir uns noch einmal gedankenvoll um. Die verwaisten, maroden Bootsschuppen an den zerklüfteten Felswänden erinnerten an verlassene Schwalbennester. Irgendwann hineingebaut, werden sie irgendwann auch wieder verschwunden sein. Es scheint niemanden zu kümmern. Dem Verfall preisgegeben, wirken die kleinen Höhlen auf ihrem hoffnungslosen Posten viele Meter über der Wasserlinie wie weitere Ruinen eines missglückten Bauvorhabens. Sehr gepflegte, gut erhaltene Natursteinvillen hingegen arrangieren sich auf der anderen Seite mit der Fels- und Waldlandschaft zu einem 97


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harmonischen Bild. Ein Stielleben zum Malen und Träumen. Aber auch zum Leben? Menschenleer waren diese Wohnparadiese an diesem Tag. So leer und dunkel und leblos wie das letzte Mal, das Mal davor und bei jedem anderen Ausflug hierher. Vielleicht sind Träume nur so lange reizvoll, bis man sie sich erfüllt hat. Sogar solche. Momentaufnahme in einer Ewigkeit. Cala Deià im Sturm. Urgewalt aus Wind und Wasser. Felswände, gezeichnet von Sturm und Erosion, voller Furchen über abgerutschten Steinmassen. Bootsschuppen wie Vogelnester in den steilen Wänden klebend. Traumhäuser im Dauerschlaf. Leere, kalte, winddurchpeitschte Restaurant-Terrassen, die schon bald wieder bevölkert sein werden von Menschen mit Sonnenbrillen und Schutzfaktor 30 auf der Haut. Der Hang hinter dem Strand wird weiter bröckeln, die Wunde in dieser Flanke aus Erde und Fels niemals heilen. Die Bucht wird ihr Gesicht über Jahrtausende verändern, aber bleiben. Häuser, Bootsschuppen, Restaurants und ihre Pächter werden kommen und verschwinden. Die Jahrhunderte werden über alles Menschengemachte hinweg walzen und es mitnehmen in dieses große Grab, das man Geschichte nennt. Nicht die Zeit vergeht. Wir vergehen. Unbemerkt in ruhigen Phasen genussvoller Sorglosigkeit. Und dann wieder ganz offensichtlich, wenn die Wolken dunkler werden, Zeiten stürmisch und Dinge an uns nagen. Wie viele Häuser baust du in deinem Leben, ohne zu merken, dass sie aus Karten sind. Wie viele Flügel wachsen dir und werden schon wieder gestutzt, bevor du fliegst. Der Moment ist das Geschenk. Und die Dankbarkeit dafür, dass du ihn erleben darfst. Egal, ob du gerade mächtige Schwingen trägst oder mit verschränkten Armen in der Ecke kauerst. Sechs Wochen nach unserem Cala Deià Erlebnis stellten sich im Osten der Insel zwei Männer für ein tolles Foto vor einer prächtigen Brandung 99


auf. Da kam die etwas höhere Welle, mit der kaum jemand rechnet. Drei Tage später fand man die beiden tot im Meer. Heulen möchte man, wenn man so was hört. Einfach nur heulen. Und Bruder sein, mit allen Menschen dieser Welt. Denn: So unterschiedlich wir auch sein mögen, wir haben alle eines gemeinsam. Ein Leben. Und das wollen wir verdammt noch mal behalten.

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Der Mallorca Moment Wenn komische Vögel mit dir fliegen ... Man sagt, wenn man mit einem Menschen reist, lernt man ihn richtig kennen. Mag sein. Wenn du mit vielen Menschen fliegst, ist es ein bisschen so, als lerntest du die Menschheit kennen. Die Lauten, die Leisen, die Forschen, die Zurückhaltenden ... Alle sind sie an Bord. Schon am Gate zeigen sich erste Wesens-Tendenzen. Da sind die Frühaufsteher, die aus ihrem Stuhl in Richtung Counter hasten, sobald das Personal auftaucht, das wenig oder viel später das Boarding startet. Dann die Gleichgültigen: Sie sitzen und sitzen und sitzen ... bis zum bitteren Ende an der Warteschlange. Beim Boarding geht es weiter. Schnäppchenjäger gehen meilenweit durchs Flugzeug, um einen Platz zu kriegen, wo ringsherum noch freie Auswahl herrscht. Der Typ „Bausparer“ spekuliert erst gar nicht mit der Chance auf seinen besten Platz, sondern nimmt den ersten möglichen, der gleich nach dem Einstieg noch frei ist. Während des Fluges ist dann erst mal Schluss mit verhaltenspsychologischen Interpretationen. Aber das ist nur so eine Art Ruhe vor dem großen Sturm. Der Knaller nämlich ist der Moment nach der Landung ...

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S üddeutschland

Ausgerollt Mal wieder Komödie nach der Landung Täterätähhh! Schon wieder bin ich Dank des On-Time-Fleißes dieser Airline überpünktlich angekommen. Irisch stolz bleibe ich sitzen, während ein paar Passagiere wie von der Tarantel gestochen aufspringen, noch bevor das Gurtzeichen erloschen ist. Kennt man. Ist immer so. Überall auf der Welt und völlig egal, mit wem man fliegt. Als Inselbewohner mit Kunden in Deutschland erlebe ich es bis zu dreißig Mal im Jahr. Neben der physikalischen gibt es ganz klar noch eine Fliehkraft tief drin in der Seele des Menschen. Dieser Drang, gegen Ende Hals über Kopf abzuhauen, so ausgeprägt er auch ist, überkommt die Leute nicht überall. Kneipen, Restaurants, Kirchen, Fußballplätze und Fernsehsessel sind dafür ungünstige Umgebungen. Besser entfaltet sich Fliehkraft in Beziehungen, bei Problemen und in gerade gelandeten Flugzeugen. Fliehkraft kann dabei Dimensionen annehmen, dass sie selbst Geschöpfe der Gewichtsklasse 100+ aus dem Sitz hochschießen lässt wie Korken aus dem Flaschenhals. Sogar dann, wenn sie erheblich vor der offiziellen Ankunftszeit gelandet sind. Immerhin, ein Großteil der Leute scheint wie ich unempfindlich gegen diesen mentalen Stromschlag, der immer wieder einigen Stresssüch-tigen mächtig in die Backen fährt. Eigentlich ein Tritt in den eigenen Hintern, oder? Spiel ohne Grenzen. Vielleicht ist das Ganze auch ein Match, bei dem es darum geht, wer als Erster am Gepäckband steht, um dort am längsten auf den Koffer zu warten! Regeln gibt es dabei jedenfalls keine. Man darf Koffer und Taschen über den Köpfen von Kleinkindern balancieren, den Trolley hinter sich so hektisch herziehen, dass er gegen jede dritte Sitzreihe bolzt oder – die Gang-Grätsche anwenden: Mit einem Fuß raus in den Strom der Leute und dann den Rest vom Körper kichernd oder glucksend hinterherziehen. Und dann kurz noch artig bedanken, dass man vorgelassen – werden hat müssen. Grrrrr.

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Eher selten ist die Wrestling-Technik: Mit einem Plattmacher-Blick demonstrativ Anlauf nehmen, um in einem einzigen Satz vom Fenster in den Gang zu prallen. Auch hilfreich: Derb-Shirts mit Begriffen wie Ballermann und Pullermann. Das schafft ebenso Platz wie der Auftritt als Penis-Proll mit eindeutigen Plastik-Accessoires. Hab` ich schon gesehen, echt, an einem Hut. Vielleicht hat „Sie“ ihm ja mal irgendwann gesagt, er könne ihn sich da hinstecken. Und dann hat sein Psychologe dem armen Kerl vielleicht so was gesagt wie: „Du musst dich mit diesem Trauma öffentlich konfrontieren.“ Ja aber muss man seine Probleme denn gleich so raushängen lassen? Hallo? Jedes Nicken, jeden Schritt, jede noch so kleine Bewegung hat das Ding mitgemacht. Männlichkeit als Wackeldackel. Ja geht`s noch. Entschuldigung, so was würde ich mir nicht einmal auf die Hutablage hinten im Auto stellen. Gegen welche Wand muss man gerannt sein, dass man so was auf dem Kopf trägt? Das macht doch jeden Adonis zum Sackgesicht. Tatsächlich wirken hin und wieder Mallorca-Flüge in der Hochsaison wie Therapie-Reisen irgendwohin, wo Gruppen was geschlossen veranstalten. Verhaltensauffällig sind auch die Krabbelmanöver, bei denen eigentlich vernünftig aussehende Menschen sich vom Fensterplatz aus in Rückenlage hart am Limit mit beiden Händen an den Gepäckboxen über dem Kopf festkrallen. Ist die Klappe schon offen, kann man sich ja schon mal vortasten. Auf jeden Fall wird der einmal gewonnene Vorsprung nie wieder aufgegeben. Der Nachbar muss nur noch Platz machen, dann ziehen sich diese GelegenheitsAlpinisten Richtung Gang. Da sichern sie sich dann mit senkrecht und breit aufgestellten Beinen. Ich vermute das Freiklettern wurde nicht in den Bergen erfunden, sondern in einem Flugzeug. Schräge Typen mit Stehvermögen. Wie lobenswert gebärden sich dagegen nach der Landung die unermüdlichen Schiefsteher: Voreilig aufgesprungen harren sie bandscheibenungünstig und tapfer unter den Gepäckboxen weggeduckt aus, statt sich wieder zu setzen. Entweder, weil sie sich nicht der Peinlichkeit einer offensichtlichen Resignation preisgeben wollen. Oder weil sie einer noch sitzenden Mitfliegerin auf diese Weise unauffällig von oben auf die 105


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sommerlich hervorstechenden Augen schauen können. Vielleicht folgen einige auch schlicht der Devise: „Stehen und gesehen werden.“ Es gibt zwei Techniken, um krümmerlich auszuharren: Die Ohrfeigen-Stellung, die aussieht, als sei man gerade einem hektisch rübergereichten Rucksack ausgewichen. Bei dieser Position ist der Kopf so sehr zur Seite geneigt, dass man mit dem Ohrläppchen die Schulter berührt. Idealerweise die eigene. Dabei erweckt mitunter die leicht rötliche Gesichtsfarbe der Betroffenen den Eindruck, sie wollten ihrem ansteigenden Blutdruck lauschen. Dieser Kopf auf Viertel nach ist gar nicht zu empfehlen, denn der Hals könnte anschließend ziemlich Wirbel machen. Dann lieber Technik zwei, der Demutsbuckel. Scheinbar von Geduld gesegnet, lässt man am Ende des geplagt geneigten Rückgrats den Kopf und die Schultern hängen, und hängen, uuuund häääängen ... bis – uahhh – noch vor der Gangway das Gähnen kommt. Aber Vorsicht: Bereits in nur leicht dösiger Verfassung könnte man vorne überkippen und möglicherweise ungewollt aufsetzen. Auf einem Ballermann-Penis, also einem Pullermann, zum Beispiel. Unangenehm, auch wenn er nur aus Stoff oder Buchstaben ist. Oder – upps – aus Plastik. Was lernen wir aus all dem? Mallorca Momente gibt es auch fernab der Insel. Abgefahrene Hutmode kommt nicht nur aus New York. Sie kann aus Mailand stammen oder Memmingen, aus Paris und tiefster Pfalz oder ... oder ... oder. Und: Wenn du mal irgendwo keinen leeren Sitzplatz findest, im Kino oder im Konzert, ruf einfach ganz laut: „Parking Position!“ Oder: „Wir bitten Sie, noch einen Augenblick sitzen zu bleiben.“ Vielleicht sind Vielflieger im Publikum. Die springen in derselben Sekunde auf und rennen zum Ausgang. Du hast sofort einen Platz. Und noch etwas fällt mir ein, wenn ich daran denke, was man mit Leuten um sich herum unterwegs so alles erlebt: Nimm sie und nimm dich selbst nicht zu ernst, denn du kannst dich noch so lustig machen, aufregen, urteilen, wundern, staunen ... Wenn du lange genug lebst, bist du mehr oder weniger, für längere oder kürzere Zeit, auch mal so wie diese „Anderen“.

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Wenn ich weiter darßber nachdenke, erinnere ich mich an Zeiten, da ... Hm. Verdammt – ja, wahrscheinlich sogar auf dem Niveau von so einem Hut. Also Peace, Bruder. Peace.

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Der Mallorca Moment Wenn du an deine Grenzen stößt ... Manchmal im Leben fühlt man sich ziemlich angeschissen. Manchmal glaubt man, im absolut falschen Film zu sein. Manchmal wünscht man sich sein Schaukelpferd zurück, um irgendwas greifbar zu haben, womit man alles um sich herum kurz und klein schlagen könnte. Und manchmal kommt das alles in einer einzigen Minute zusammen ...

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S anta C atalina

Abgeblitzt. Business as usual Stell dir einfach mal vor, du wärst ich gewesen: Ein Inselneuling, der sich eine zusätzliche Existenz auf Mallorca aufbauen will. Begeistert vom Produkt. Beeindruckt von einem vermeintlich gigantischen Kundenpotenzial aus Hotels, Bars und Restaurants. Gutgläubig. Hin und weg, weil du den Exklusivvertrieb für dieses Produkt so gut wie in der Tasche hast ... In dieser Euphorie hast du dir als angehender Zulieferer der Gastronomie 10 Paletten voll Dosen eines Energy Drinks verkaufen lassen. 10 Paletten! Zeeehhheeen! An jedem Finger eine. 120 Trays mal 24 Dosen. Mal 10 Finger. 28.800 Dosen. Noch am Ende deiner ersten Saison beginnst du zu ahnen, dass das womöglich ein geschäftlicher Griff ins Klo war. In der zweiten weißt du es, versuchst aber verzweifelt, den Flop nicht wahr werden zu lassen. Du hast ein herausragendes Produkt mit klasse Eigenschaften, wohlschmeckend, spitze aufgemacht aber ... Aber? Ein alter, kauziger Barbesitzer mit dem abgeklärtesten Gesichtsausdruck, der mich je durchbohrte, brachte dieses „Aber“ eines schönen Spätnachmittags auf den Punkt. Ich sehe ihn noch genau vor mir, spüre noch die Ruhe und Behaglichkeit, die der Hafen von Cala d`Or in dieser Tageszeit verströmte. Der Mann war mit seiner Gelassenheit ein Abbild dieser Stimmung. Undramatisch hervorstechend wie die kostbaren Jachten direkt vor der Restaurantzeile im glatten Wasser, so ruhten seine Augen über hageren Wangen. Regungslos aber nicht unbeteiligt sah er mich mit aller Geduld dieser Welt an. Seine leicht gegerbt wirkende, braune Haut, die das Leben schon vor Jahren interessant gefaltet hatte, schimmerte weich im flachen Licht der Sonne. Beflügelt von dieser spannenden Begegnung in einer vollkommen entspannten Atmosphäre präsentierte ich den Drink, dessen Alleinstellung und Überlegenheit. Eineinhalb Minuten lang tat ich das, in den schillerndsten Farben und gutem Englisch. „And“, setzte der Mann mit unverändert tiefem, ruhigen Blick in meine Augen ein nüchternes Ausrufezeichen hinter meinen Redeschwall, „nobody knows it.“ 112


Ich sah ihn an wie ein Auto nach dem Aufprall und wusste nicht, ob ich gleich weinen oder lachen würde. Er hatte ja Recht. Tatsächlich kannte noch kaum ein Mensch dieses Getränk hier auf der Insel. Deshalb war ja der Begriff Energy Drink längst für mich zu einem Synonym geworden, für die viele Energie, die man bei der Einführung eines solchen Produktes in einem neuen Markt aufwenden muss. Das ist mit Sicherheit bei allen Marken so, von ein oder zwei international etablierten mal abgesehen. Hinzu kommt: Was anderswo schwer ist, kann auf Mallorca geradezu unmöglich sein. Ein schlauer, visionärer Kopf, ehemals in der Hochfinanz unterwegs und seit einigen Jahren auf der Insel ganz anders erwerbstätig, formulierte den Härtegrad des mallorquinischen Marktes für Newcomer so: „Es heißt doch in diesem Song, wenn du es in New York schaffst, schaffst du es überall. Quatsch. Mallorca ist das Ding.“ Also: „Wenn du es auf Mallorca schaffst, dann schaffst du`s überall.“ Nun zurück zu dir. Du hast dir also mit etwas Ahnung von der Branche und ohne irgendeine Erfahrung im Getränkevertrieb 28.800 Dosen eines vielversprechenden Energydrinks aufgebürdet. OK!? Du hast begriffen, dass tatsächlich jeder im Leben sein Päckchen zu tragen hat und dass du ein richtig fettes Teil erwischt hast. Du hast gelernt, dass 90 % aller Gastronomiebetriebe ausschließlich Dinge parat haben wollen, nach denen über 90 % der Gäste von sich aus fragen. Was sollen die mit einem Drink, den man den Gästen noch vorstellen und sogar erklären muss? Im Zuge der fortschreitenden Desillusionierung hast du verinnerlicht, wie wenig Platz die alle haben – im Lager wie im Kühlschrank. Warum sollte ein Gastwirt wochenlang einen Energy Drink „einkühlen“, wie das servierfertige Vorhalten auf Trinktemperatur im Fachjargon heißt? Nur um mal hin und wieder einen Gast damit bedienen zu können? Zur falschen Zeit am falschen Ort. Du hast auch längst mit Schrecken festgestellt, dass du mit deinem neuen Drink gerade nicht auf Goldgräberstimmung unter den Bars und Restaurants stößt. Wer will sich in Zeiten des steigenden All Inclusive113


Tourismus und der krisenbedingten Konsumzurückhaltung Ware aufbürden, deren Absatz aufgrund eines geringen Bekanntheitsgrades auf der Insel erst einmal nur gering sein kann! Glasklar ist dir längst noch etwas anderes geworden: Egal wie die Umstände gerade sind – um wenigstens mal 24 Dosen zu verkaufen, musst du mit dem Entscheider sprechen. Die respektieren dich, hören dir zu, sind fast ausnahmslos nett im Ton aber in vielen Fällen fordernd oder ablehnend. Und um überhaupt diese Erfahrung zu machen, brauchst du zwischen zwei und fünf Anläufe. Die Chefs sind erstens nicht immer da und zweitens verdammt häufig zu anderen Zeiten, als dir genannt werden. Wie oft hast du schon nach 20 Minuten Anfahrt, 15 Minuten Parkplatzsuche, 5 Gehminuten und 3 Minuten Rumstehen von einem Mitarbeiter gehört: „Er kommt heute später, wahrscheinlich gegen 19:00 Uhr, aber genau wissen wir es nicht.“ Und last not least bist du bereits beinahe daran verzweifelt, dass es auch für Gespräche zur Listung in größeren Läden keine goldene Regel für das richtige Timing gibt. Die einen entscheiden über die Produkte für die neue Saison im November, die anderen im März. Gehst du im März hin, hörst du Mai, um dann im Mai zu erfahren, dass es für dieses Jahr zu spät ist ... Was für ein Marathon bereits hinter Dir liegt! Du hast Bedenken, Narben, Wunden, jede Menge Angst, die Teilhaber deiner Firma zu enttäuschen und bei all dem noch eine weite Strecke vor dir. Allzu lange dauert es nicht mehr, dann erreicht dein Dosenbestand das Mindesthaltbarkeitsdatum. Gäbe es das blaue Auge, mit dem du davon kommen kannst, du würdest es dir selber schlagen. Sofort. Bist du bei mir? Und jetzt stell dir weiter vor, wie da plötzlich dieser eine Kunde auftaucht, der gleich eine halbe Palette haben will. 60 Trays. 1.440 Dosen. Wahnsinn.

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Du siehst den Knoten platzen. Auf den Nachmittag, an dem du dich mit diesem Kunden triffst, fallen Weihnachten, Silvester und Geburtstag zusammen. Die Sonne geht auf in deiner untergehenden Dosenwelt. Die Erde steht still für einen Augenblick. Den, bist du dir sicher, hat nicht wirklich dein Dosenlieferant geschickt. Nein, das war der Himmel. Ein kurzes Kennenlernen, Beschnuppern, Termine absprechen und „Bingo!“. Er macht`s. Er macht es!!! Er kauft eine halbe Palette. Du lieferst sie ab. Du fliegst hoch in diesem Moment. Erleichterung und Jubel stülpen deiner Seele einen Wingsuit über. Sie baumelt nicht einfach nur glücklich vor sich hin. Nein, sie stürzt sich tief hinein in ein Hochgefühl. Und nichts, aber auch gar nichts ahnst du von der Wand, auf die du zusteuerst ... 13 Monate später. Aufprall. Noch sitzt du guter Dinge draußen an einem kleinen runden Tisch in der rustikalen mallorquinischen Bar an der Ecke einer dieser Straßen, die in das alte Viertel des Stadtteils Santa Catalina führen. Deine Situation ist gerade nicht die beste. Du passt gut ins Bild, verdammt gut. Palma knistert hier herrlich verwohnt, verlebt, fast morbide, echt. An das uralte, ursprüngliche Panama City fühlst du dich ein bisschen erinnert. Ein guter Platz zum Rumsitzen im Alltag, zum Sammeln. Eindrücke, Erfahrungen, Gefühle. Auf der großen Avenida Argentina flitzen die Autos in beide Richtungen vorbei. Schnell noch unten bei Grün auf die große Straße entlang des Hafens hechten oder mit Anlauf in die City. Direkt hinter dem geschäftigen Strom auf der großen Verkehrsader ruhen im Plätschern und satten Grün des Parque de la Feixina einige Leute scheinbar zeitlos in Gesprächen und Gedanken. Auch deine eigene Hektik legt sich gerade. Du bist zwar zu spät zu diesem wichtigen, herbeigesehnten Termin gekommen. Aber die anderen beiden sind noch später dran. Eigentlich hättest du darauf wetten können. Durchatmen. Du rührst nachdenklich in deinem Kaffee herum. Der Zucker hat sich schon vor zwei Minuten aufgelöst. Aber deswegen rührst 115


du ja gar nicht. Deine Gedanken kreisen weiter mit dem Löffel. Die halbe Palette, die du vor gut einem Jahr verkauft hattest, ist abgelaufen. Wochen schon liegt das Mindesthaltbarkeitsdatum zurück. Da geht nichts mehr. Hat er wenigstens etwas davon weiter verkaufen können und zumindest für diesen Teil das Geld dabei? Wird er vielleicht so fair sein und unabhängig davon alles bezahlen? Schließlich war es – im Gegensatz zu der ganzen Palette, die du ihm vor Monaten auch noch geliefert hattest, keine Kommissionsware. Dass diese 120 Packungen à 12 Dosen hinüber sind, damit hast du dich schon abgefunden. Die ganze Hoffnung liegt auf diesen einst umjubelten ersten 60 Packungen. Hat er vielleicht wieder Stories parat, warum er fast oder gar kein Geld zahlen kann? So, wie die anderen vier Mal in den letzten Monaten, als man sich getroffen hatte? Hoffentlich. Hoffentlich. Hoffentlich nicht. Du kannst dieses Gelaber inzwischen nämlich kaum noch ertragen, so wenig wie die großen Gesten und die blickdichten Sonnengläser, in denen sich dein aufgeschmissenes Gesicht spiegelt und die dir zu sagen scheinen: „Was geht mich das eigentlich alles an?“ Na ja, schauen wir mal, wenn es sein muss eben auch wieder in diese beiden dunklen Abgründe vor dem Gesicht Deines Gegenübers. Kinder spielen verstecken. Erwachsene tragen Sonnenbrillen. Immerhin: Heute ist Zahltag, hieß es dieses Mal halbwegs überzeugend. „Heute treffen wir ihn und er hat das Geld dabei“. So hatte dein Freund und Übersetzer es nüchtern gesagt. Im besten Glauben, nachdem er – wieder mal – mit deinem Kunden gesprochen hatte. Aber was bedeutet das schon? Etwa 90 % der Kunden, bei denen du nicht gleich kassiert hast, haben nie bezahlt. Dein großer Trost: Das Hinterherrennen und der Griff ins Leere sind kein Pech, sondern ein Anfängerfehler, den du aber nicht zu verantworten hast. Passiert vielen, die hier verwöhnt von alten Zeiten in Deutschland meinen, Lieferungen auf Rechnung liefen gut. Dabei hatte dir doch eigentlich schon vor mehr als 20 Jahren ein Guide beim Kassieren des Preises für eine Ausflugstour in Afrika gesagt, wie so kleine Geschäfte laufen: „We believe in god and we pay in cash. “ Das war in Soweto, Johannesburg. Ich hätte nicht gedacht, dass eine Philosophie aus dieser Kante der Erde etwas Wegweisendes für Europa 116


hat. Und schade, dass man manches hilfreiche geflügelte Wort zwar nie wieder vergisst aber in entscheidenden Momenten nicht beherzigt. 900 Euro hast du noch von dem Kandidaten zu bekommen, den du gleich treffen wirst. Hoffentlich kommt er überhaupt. Der Geschäftskontakt ist längst so verdorben wie die Ware. Schon das letzte Mal war es mehr eine Konfrontation als ein Meeting. Schon 10 Minuten über der Zeit jetzt. Gerade willst du dich aufregen, da fliegt dir eine Hand am ausgestreckten Arm entgegen. „Hi, how are you.“ Da ist er ja. Verändert, schlanker, ohne Sonnenbrille. Angeschlagen sieht er aus, gar nicht mehr souverän. Der Typ, auf den du eben noch stinksauer warst, entwaffnet dich allein mit seiner Aura. Ist er krank? Mein Gott, du hättest ihn wirklich nicht wieder erkannt. Du weißt nicht mal, wo er wohnt. Die Firma, die er mit einem Kompagnon hatte, existiert schon nicht mehr. Ein Leichtes wäre es für ihn gewesen, sich einfach ohne weiteres Treffen aus der Affäre zu ziehen. Meint er es also ernst? Doch ein Gutmensch? Trotz allem? Freude kommt auf. Womöglich zahlt er heute dann auch wirklich. Und womöglich alles. Da trifft auch schon sein Kaffee ein und quasi als Sahnehäubchen obendrauf gleich noch dein Übersetzer. Kleiner talk. Dann folgt die große Überraschung. Du wusstest ja schon, dass er am Stück reden und gleichzeitig Luft holen kann. Nur was er jetzt vom Stapel lässt, macht dich mundtot vor Verblüffung. Abwechselnd in Englisch dir zugewendet und in Spanisch in Richtung des Übersetzers erklärt er, warum es ihm nicht möglich war, viele Dosen weiter zu verkaufen und welche Probleme er hätte, das Geld von seinen Kunden zu bekommen. Natürlich tut er das mit großen Gesten. Jedes Fuchteln empfindest du wie einen Schlag ins Gesicht, wie einen Stich mit dem Florett. So oft hast du das alles von ihm schon gehört, dass du ihn in dieser Rolle doubeln könntest. Deine 900 Euro beginnen zusehends zu schmelzen. Geradezu erdrutschartig schwindet deine Geduld. Dann kritzelt er eine abenteuerliche Rechnung auf einen Fetzen Papier. Du bist schon so fertig mit den Nerven, dass dir nach dem dreiminütigen Zahlenmonolog die 570 Euro genügen würden, die er am Ende heftig unterstreicht. 570 statt 900 Euro akzeptieren – wenn das 117


nicht herunter gekommen ist, im doppelten Sinne. Also ... Einverstanden. Ja, einverstanden. Schande, denkst du, was für eine Schande. Aber vielleicht kannst du dir dennoch vorstellen, wie sehr ich trotz dieses finanziellen Erdrutsches den Moment herbeisehne, wo er in die Tasche greift, um das passende Bündel heraus zu holen. Und jetzt stell dir bitte wieder vor, dass du da sitzt und so alt aussiehst wie der charismatische Straßenzug, der solche Debatten, Schachereien, Ausflüchte und manch kleinen, unauffälligen Akt einer langatmigen finanziellen Tragödie wohl immer wieder mit ansieht. Wer weiß, zum wievielten Male und wie lange schon. Da fällt dieser Satz, der dich für einen Moment vergessen lässt, was für ein Weichei du bist: „OK. Darüber muss ich mit meinem Geschäftspartner sprechen, dann sehen wir weiter.“ Zack, steckt er den Zettel weg und – glotzt. Ja. Glotzt. Anders kann man das nicht nennen. Schlimmer noch: Die Beschreibung trifft auch zu auf meinen Gesichtsausdruck ... Hääää? Besprechen – nicht zahlen?! Ein Ergebnis, das keines ist. Eine weitere Laberei, die wahrscheinlich wieder zu nichts führt. Ich frage dich, was machst du? Was machst du nach dieser Vorgeschichte in genau dieser Situation? Vielleicht will ich es lieber nicht wissen. Ich jedenfalls bekomme so einen Druck im Kopf, der sich anfühlt wie etwas, das man möglicherweise später einem Sanitäter erklären muss. Ich richte mich auf wie eine Kobra und spucke ihm eine Drohung entgegen, die ich für giftig genug halte. „Hör zu: Wir haben uns heute das fünfte Mal getroffen innerhalb von acht Monaten. Es hieß wieder du bringst das Geld mit. Und jetzt wieder nur Gerede und ein neuer Termin! Weißt du was: Du hast fünf Tage, dann ist alles geklärt und das Geld bei mir. Wenn nicht, übergebe ich die Sache einem Anwalt.“ 118


Sein Gesicht gerät für einen Moment aus der Fassung. So ist das, wenn man mal keine Sonnenbrille trägt. Mit einer solchen Ansage von mir hat er nicht gerechnet. Doch während ich glaube, ihn erwischt zu haben, ist er nur überrascht über die plötzliche Wende in meinem Ton. Von Betroffenheit keine Spur. Plötzlich ahne ich das Echo anrollen. Und tatsächlich. Er kann nicht nur mithalten. Er übertrifft meinen Schlag auf den Tisch mit dieser verdammt höflich vorgetragenen Arroganz: „Mein Freund, ich versuche dir die ganze Zeit nur zu helfen. Mir kann es doch egal sein, ob mein Geschäftspartner dir noch Geld gibt oder nicht. Aber wenn du das nicht schätzt und mich unter Druck setzt! Sorry, unter Druck mach` ich gar nichts. Fünf Tage? Ohne mich.“ Von meinem Übersetzer wusste ich, dass er von seinem Geschäftspartner alles Geld bekommen hatte, um noch offene Dinge zu klären ... Mein Gegenüber lehnt sich demonstrativ zurück, schüttelt theatralisch den Kopf mit einer heftig gefurchten Stirn und blickt mit schmollend verzerrten Lippen an mir vorbei als sei ich in diesem Spiel die Persona non grata. „Und wenn du denkst“, lässt er im nächsten Augenblick das Schafott sausen, unter das ich mich selbst gelegt habe, „du musst zu einem Anwalt gehen – nimm dir einen. Der Prozess dauert vier Jahre. Du zahlst Tausende von Euro und ob du gewinnst?“ Mein Puls lässt meine Ohren rauschen. Mein Verstand sagt mir: So bitter es ist, die einzige Chance irgendetwas zu erreichen, ist weiter mit zu spielen. Das sechste Mal treffen, labern, große Gesten, vielleicht auch mal eine Sonnenbrille tragen. Ich hab` keine verdammte Ahnung und kriege mich lieber wieder ein. Erst mal kein Vorankommen. Für mich scheint die Zeit in dieser Angelegenheit still zu stehen, während andere in dieser Stadt wahrscheinlich ihr Ding durchziehen. Die Situation passt zu meinem Platz am Rande des verschlafen wirkenden Viertels, das nur wenige Meter weiter in eine Hauptschlagader von Palmas Puls mündet. Da hocke ich mit dem tröstenden Gefühl, wieder eine Lektion für`s Leben gelernt zu haben: Wenn du mit Gift spritzt, mach es nicht gegen den Wind. Wir vereinbaren, dass er mit seinem Geschäftspartner einen Termin arrangiert in den nächsten 10 bis 14 Tagen. Auf seine Art wirbt er noch 119


indirekt um Verständnis. Oder Solidarität? Er komme aus Südamerika und sei selbst vor den Kopf gestoßen von den geschäftlichen Erfahrungen, die er hier gemacht habe. Dann hat er es plötzlich sehr eilig. Einer seiner letzten Sätze klingt bis heute in mir nach: „Viel Glück mein Freund, wir leben auf einer wundervollen Insel.“ Meinte er das ehrlich? War es pure Ironie? Ich wollte und will darüber eigentlich nicht grübeln. Ich liebe Mallorca. Wie so viele andere auch. Nehmen wir seine Worte und machen ein eigenes Ding daraus: Es bedeutet ein großes Glück, auf dieser wundervollen Insel zu leben. Punkt. Niemand hat gesagt, dass Business hier leicht ist. Also suche dir auf keinen Fall als Anfänger ein Geschäft, das schon anderswo selbst für Profis eine Herausforderung darstellt. Denke in all deiner Begeisterung, Bewunderung und Unternehmungslust einfach daran, dass das Leben kein Wunschkonzert ist. Nirgends. Sei dir bewusst, dass eine Idee nur so viel Wert ist, wie gut du sie umsetzt, bzw. sie sich umsetzen lässt. Und kein Platz auf der Erde garantiert dir Erfolg. Keiner. Erfolg ist, was erfolgt. Aus deiner Arbeit, deinem Können, deinem Durchhalten, deinen guten Entscheidungen, überwiegend cleverem Verhalten, Begeisterung und Disziplin. Glück muss man haben, ja. Oder gestalten. Am besten beides. Und wenn du dich in deinem Leben auf einem viel versprechenden Weg wägst, wo es massiv nach Geld riecht und gehobene Glücksgefühle greifbar nahe scheinen, denke immer an eine wichtige Regel auf der Nobelstraße Jaime III in Palma. Dort, zwischen sehr guten Restaurants, ausgezeichneten Hotels und teuren Geschäften nützt sie dir so viel wie an allen anderen Stationen Deines Weges:

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Mach die Augen richtig auf und achte auf deine Schritte. Damit du nicht in die HundescheiĂ&#x;e trittst, die Ăźberall herumliegen kann.

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Der Mallorca Moment Wenn du im richtigen Film bist ... Wir alle mögen Filme, in denen viel passiert. Wir wollen lachen und traurig sein, nachdenklich und heiter. Die Handlung und die Personen sollen uns Dinge neu sehen lassen, uns fremde Welten vor Augen führen. Wenn es spannend wird, packt uns ein Film intensiv. Und sind es nicht vor allem Filme mit überraschenden Wendungen, die uns begeistern und noch lange schwärmen lassen? Filme, die so sind, geben uns ein intensives Gefühl von Lebendigkeit. Was gibt uns unser Leben, wenn es genauso ist wie die Filme, die wir lieben: spannend, ereignisreich, witzig, traurig, überraschend? Könnten wir uns an den Turbulenzen und Wechselspielen unseres Daseins genauso berauschen wie an den Situationen und Ereignissen in tollen Filmen – wir würden unser ganzes Leben so annehmen wie bestimmt einige Menschen diese Nacht vor der Leinwand unter Sternen in Palma empfunden haben: Als ein beeindruckendes Ereignis und mit einem großartigen Gefühl.

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Hingerissen. Großes Kino unter freiem Himmel „Die zeigen einen Film in Englisch in einem Freiluftkino vor der Kathedrale.“ So wie Yvonne ihre Entdeckung im Newsletter des Inselradios mir spontan vom Wohnzimmer aus ins Büro `rüber warf, war klar, dass wir da hingehen würden. „Die machen das kostenlos – kein Eintritt.“ Nun war es glasklar. Auch für mich. Es klang nach einem der vielen Gratis-Vergnügen vom Ajuntamente Palma, das man gerne mitnimmt. Und da es erst am Abend stattfinden würde, stand das Erlebnis einem beachvergnügten Tag nicht im Wege. Über den beliebten deutschen Radiosender auf der Insel und andere Quellen stieß Yvonne bei ihrer eifrigen Suche ständig auf interessante Freizeit- und Ausflugs-Tipps. Was sie für uns herausfilterte, war meistens gut. Nicht so die Sache mit dem Freiluftkino. Die war nicht gut, die war ... spitze, Hammer, auf ihre Art sensationell und eine Initialzündung. „Das machen wir öfters“, würde mir später noch während des Filmes klar werden. Zunächst aber war es eben nur ein Stichwort, das sich gut anhörte. Nun wussten wir auch, was wir neulich gesehen hatten, als wir den Paseo Maritimo zwischen dem Meer und diesem charakteristischen Altstadtpanorama entlangfuhren. Wir hatten uns erst gewundert, dass die Kathedrale nicht angestrahlt wurde und dann eine Leinwand erblickt, auf die irgendwas projiziert wurde. Sie zeigten da also nachts Kinofilme und schalten solange die Lichter der Kathedrale aus. Cool. Ich hätte eher gedacht, dass größere Ereignisse stattfinden müssen, bevor die Stadtverwaltung von Palma diesem Wahrzeichen seinen nächtlichen Glanz nimmt. Bereits in den abendlichen Stunden vor dem Film überkam uns sehr schnell das Gefühl dafür, welche Dimension diese Sache wirklich hatte. Schon nach der ersten Kinonacht war es für uns das sprichwörtlich Größte geworden ... Klingt vielversprechend? Dann komm mal eben mit in dieses Erlebnis und den Stoff, den man Leben nennt.

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Bemerkenswerte Szenen vor fantastischer Kulisse. Der Kinoabend beginnt sozusagen mit der alltäglichen Vorstellung in den Straßen von Palma, unwissentlich dargeboten von Besuchern aus der ganzen Welt. Und so herrlich anzuschauen, dass du dieses geballte Menschentum in keiner Saison versäumen möchtest. Du schlenderst am Ende eines wunderschönen Insel-Tags auf der alten Stadtmauer zwischen der Kathedrale und dem See des Parque del Mar entlang, zufrieden in den frühen Abend hinein. Um dich herum wimmelt es vor wunderschönen Bildern und entspannten Menschen. Überwiegend. Insulaner tröpfeln jetzt nach und nach aus der Siesta hinter dicken Mauern und geschlossenen Klappläden in die Straßen. Touristen strömen längst hindurch, gebräunt, verbrannt, abgeduscht oder noch ganz frisch vom Meer gesalzen. Wo mehrere zusammenstehen bildet sich schon mal die internationale Flagge des Sonnenkults – braun, rot, krebsrot. Für Kreuzfahrtpassagiere wird es langsam Zeit, zurück aufs Schiff zu gehen. Sie nehmen praktische oder dekorative Gecko-Abbilder mit an Bord, vielleicht auch einen Kringel des mallorquinischen Schweineschmalz-Gebäcks Ensaïmada in der Größe und Form eines kulinarischen Rettungsrings. Oder andere typische MallorcaSouvenirs. Und ganz sicher etwas Wehmut. Wer hätte nicht noch ein paar Stunden oder einen Tag mehr haben wollen von Palma de Mallorca. Verständlich. Das richtige Leben, es poltert, flüstert, singt und summt, blüht und herrscht, wohin du schaust, wenn du richtig guckst. Hier ist es süß, da hinten sauer, charmant und imposant oder heftig interessant. Einem älteren Ehepaar weht die leichte Abendbrise den Stadtplan um die Ohren. Wohin, warum und wie – rätseln bis der Streit kommt. Zwei Mädchen sehen Palma wahrscheinlich nur als Silhouette hinterm Smartphone. Die neue App, das Mail vom Depp? Es gibt immer was zu simsen, posten oder surfen. So flat kann Urlaub sein. Andere knutschen, knuddeln, lassens knistern. Normal. Mediterran macht an, die Lebenslust die Liebe zügig freier. Verkrampft allein die Kinderhand, die tapfer kämpft mit wackelig getürmtem Eis auf der triefenden Waffel. „Oma! Ich sagte eine Kugel. Eine.“ Erbarmungslosigkeit auch beim organisierten Zerbrechen: Ein Guide hält seine Gruppe wie Gänse im Marsch auf dem Weg zur nächsten Attraktion. Dabei wäre doch für mindestens zwei der Trabanten jetzt nichts in der Welt so anziehend wie eine Toilette. Für 20 andere wäre es ein Bier. 125


Halte ihnen ein Cerveza (Bier) unter die Nase und du siehst sie aus der Reihe tanzen. Vor einem uralten Olivenbaum macht Kurt zum 34. Mal die gleiche alberne Pose für die Kamera, doch Elke muss aufgeben. Dem Akku sei Dank. Kenner und Bewunderer sind unterwegs, Interessierte und Kulturbanausen, Schnäppchen- und Schürzenjäger, Junkfood-Junkies und Gourmets. Die einen haben Tapas auf dem Plan. Andere hoffen, ein Tagesmenü aus dem Sparstrumpf zaubern zu können. Der Nächste hat heimische Delikatessen im Sinn, zwei Backpacker vielleicht Plastikboxen für drei Tage im Kreuz. Hier und da schwallt der Duft von Knoblauch, Fleisch und Fisch aus den Küchen durch die Gassen, so lecker, dass sie grad allesamt hemmungslos sabbern könnten. Apropos sabbern. Während der verheiratete Max alias Bernd seiner lediglich geliebten Manuela in der Kutsche was vom Pferd erzählt, entgleitet ihr ein flüchtiger Blick auf den hastig vorbeischwitzenden Süßländer mit den olivendunklen Augen. Viel lieber würde sie sich jetzt von diesem Unbekannten auf seiner Sackkarre in den nächsten Vorratskeller schieben lassen. Zur rostigen Statue versteinert lässt ein Straßenkünstler all dieses Treiben erregungslos an sich vorüberziehen. Eins weiter gibt es Beifall für den Clown und große Augen vor noch viel größeren Seifenblasen. Es ist Sommer in Palma und alle gehen hin. Setz Dich mitten rein und „medibiere“: Ein vaso (Glas) Cerveza auf dem Tisch, reichlich Luft auf der Uhr und nix tun, gar nix außer: Zuschauen. Entspannen. Nachdenken. Der absolute ZEN-Tourismus! Aber versäume auf keinen Fall, von dieser Vorstellung in die nächste zu gehen. Das Freiluftkino im Parque del Mar vor der Kathedrale in Palma. Kurz: Hollywood und Büchsenbier. Bereits um die 1,5 Stunden vor Beginn des Filmes nehmen die ersten Besucher ihre Plätze auf der Tribüne ein oder entscheiden sich für den kleinen Plastikstühle-Dschungel vor der aufblasbaren Leinwand. Oberhalb der Tribüne auf gleicher Höhe mit dem Paseo Maritimo in den Ausläufern 126


der Grünanlagen des Parque del Mar haben Jugendliche den Rasen und Mauervorsprung zu ihrer ganz eigenen Lounge gemacht. Alle kommen. Kind und Kegel, Oma, Opa, Residenten und Urlauber, schicke Leute, Secondhand in Würde-Träger, Fetzen-Fans. Die meisten aber sehen aus wie mal eben aus dem Alltag hereingeplatzt. Manche treten auf, manche einfach nur ein. Auch sind die der Suche nach dem richtigen Stuhl nimmer Müden dabei. Manches im Leben braucht eben mehrere Anläufe und Zeit. Sich des richtigen Platzes sicher sein gehört dazu. Wenigstens versucht keiner, ihn sich Stunden vorher zu reservieren. Zumindest nicht mit dem Badetuch. Mindestens 3 Kontinente sind vertreten. Menschen unterschiedlicher Hautfarbe aus verschiedenen politischen Systemen, Kulturkreisen, mehr, weniger oder gar nicht religiös. Jeder hat eine Lebensgeschichte, alle haben Hoffnungen und Sehnsüchte. Nicht einer, der wirklich gar kein Problem hat. Davon kann man mal ausgehen. Dieser Abend ist die Chance: Vergessen was drückt, erinnern was beflügelt. Alle miteinander werden sie an den gleichen Stellen des Filmes lachen, schweigen oder träumen. Viele teilen schon jetzt eine internationale Tradition und Leidenschaft, die herrlich glücklich macht und furchtbar fett: „Cinnemampfen“ – knabbern und Filme gucken. Fürs Cinnemampfen gibt es reichlich Chips. Auch Kühltaschen kommen zum Vorschein. Hin und wieder balanciert jemand im Storchen-Trab eine Grundausstattung durch die Menge. Die verschränkten Arme sind voll beladen mit Getränken und Salzgebäck aus der Bar daneben. Und da wiederum sitzen Filmhungrige beim Dinner, schon mal mit dem Stuhl leicht in Richtung Leinwand gerückt. Bestimmt ist hier jede soziale Schicht und jeder Konsumtyp vertreten, den man sich vorstellen kann. Hin und wieder weht durch die warme Luft ein „New Fragrance“ von Kinobesuchern herüber, die ganz anders aussehen als die duften Typen in der Fernsehwerbung. Ein älterer Mann in noch älteren Klamotten mit roter Nase hält mit einer Brise aus noch nicht ganz verarbeitetem Alkohol dagegen. Starker Tabak auch von irgendwoher, wo jemand unverdrossen mit Zigarrenrauch ein Zeichen gibt, dass jetzt Genuss Programm ist. Für 127


jeden auf seine Art. Typisch Mallorca, dieses entspannte Understatement. Wobei man sich nie sicher sein kann, die Leute richtig einzuschätzen. „Manche, die eigentlich finanziell vollkommen am Ende sind“, skizzierte ein Kioskbesitzer das brisante Verhältnis von Sein und Schein, „steigen in den tollsten Klamotten aus protzigen Autos. Und dann gibt`s die richtig Reichen in abgewrackten Jeans und ausgelatschten Schuhen.“ Die reichen Mallorquiner, so die einhellige Inselweisheit, erkenne man schon gar nicht. Die Jahrhunderte alte Angst vor Piraten hat bei den Einheimischen Verhaltensmuster hinterlassen. Man trägt hier nichts zur Schau. Wer akzeptiert und gemocht sein will, hält es besser auch so. Blickt man an diesem Abend in die Augen, hört man das Kichern und Lachen, so spürt man bei allen Abendzeitgenossen die Zufriedenheit im Augenblick und das Ereignis in der Luft. Mehr und mehr nimmt es seinen Lauf. Kaum merklich dimmt ein unsichtbarer Regisseur den Abendhimmel ab. Die Lichter der Stadt melden sich nach und nach aus der gestrigen Nacht zurück. Im frühen Leuchten und Funkeln des Abends thront die große Kathedrale wie eine Lichtgestalt. Dahinter und daneben liegt Europas größte unversehrte Altstadt. Paläste, Shops, Bars und Restaurants, Innenhöfe, Jugendstil und Rolltore, zum Teil übersäht mit schamlos versprühten Kunstversuchen aus der Dose. Wie viele Geschichten mögen sich hier abgespielt haben, die ausreichend Stoff für Romane oder Filme liefern würden! Eine Welt für sich ist das. Liebenswert und voller Entdeckungen. Stunden kann man darin verbringen, in der immer neuen Atmosphäre an verschiedenen Plätzen. So dringt beispielsweise in viele Gassen kaum ein Laut der Stadt ein und schon 50 Meter weiter lacht und lärmt vielleicht ein Menschenstrom. Nun nimmt auch der Zulauf zum Kinoabend zu. Freie Plätze werden rar. Die alten Filmmelodien, die schon lange Menschen in die herbeigesehnte Melancholie und in die Stühle drücken, scheinen lauter zu werden, jetzt kurz vor Beginn. Unter Geigen, Pauken, Trompeten und Gebläse bäumt sich endlich die Leinwand auf wie eine Hüpfburg. Allmählich nur, aber Hoffnung auf ein großes klares Bild weckend, nimmt sie Gestalt an. Alle 128


machen Augen. Kinderaugen. Schließlich steht sie weiß und prall am Rande der plötzlichen Stille. Mittendrin hocken die Besucher wie gebannt und voller Erwartung. Nun erleben wir direkt, wie sich die Stadtverwaltung vor diesem Publikum mit einer wirklich großen Geste verneigt: Die Lichter der Kathedrale erlöschen. Ungeblendet soll man den Film anschauen können. Welchen Film, das war mir eigentlich vollkommen egal bei meiner Premiere. Das Erlebnis stand für mich im Vordergrund. Ich ahnte ja nicht, dass wir es mit dem amerikanischen Spielfilm mit Albert Finney und Audrey Hepburn aus den 60er Jahren nicht hätten besser treffen können. „Zwei auf gleichem Weg“. Diese Komödie mit Tiefgang im Freiluftkino vor der Kathedrale anzuschauen bedeutet, mitten im Leben einen Film über das Leben zu sehen. Wir platzen als Zuschauer in die Stationen eines Ehepaares vom Kennenlernen und Heiraten mit Schmetterlingen im Bauch über die unbeschwerten ersten Jahre in bescheidenen Verhältnissen bis hin zu späterem Wohlstand und tiefen Krisen. Die Handlung springt zeitlich hin und her. Eben noch sehen wir das Paar bis über beide Ohren als Verliebte. Dann befinden wir uns am gleichen Ort Jahre später und kaum etwas ist noch so zwischen den beiden, wie es mal war. Durch diese Erzählweise des Filmes wird besonders deutlich spürbar, wie wahrscheinlich das Unwahrscheinliche im Leben ist, wie wechselhaft die Dinge sich entwickeln. Ich glaube, die beste Art zu leben ist, sich einfach in diesem Auf und Ab und Anderskommen wohlzufühlen. Seien wir doch dankbar, dass wir überhaupt dabei sein dürfen. Die meisten Menschen sehen alles, was von ihren Plänen und Zielen abweicht, als Bedrohung. Viele messen ihr Glück an einem Idealzustand. Ein bestimmtes Haus muss es sein, dieses eine wahnsinnig tolle Auto, der perfekte Partner ... Alles muss top sein. Alles muss sich steigern. Kommt nach dem Gehabten nicht das Bessere, meinen wir, es stimme etwas nicht. Nicht aufwärts empfindet man als abwärts. Stehen bleiben ist Rückschritt. Wirst du selbst nicht immer besser, schaust du nicht so gerne in den Spiegel. Der Ablauf scheint vorgegeben: Spielen, lernen, können, profitieren, 129


repräsentieren ... Sprich: Kindheit, Schule, Ausbildung, Geld verdienen, mehr Geld verdienen, Status erreichen, halten, ausbauen. So muss es laufen – denken wir. Und wehe, es läuft anders. Wehe, wenn du verlierst – Ansehen, Geld, Macht, eine Position, deine Immobilie, Rente oder Perspektive. Fertig macht das einen. Ziemlich fertig, manch einen kaputt. Als einer dieser Verlierer gesehen zu werden, das ist der vielleicht größte Stressfaktor innerhalb eines schlechten Verlaufs. Ähnlich krass dürfte das Gefühl sein, für das Leben nicht gut aufgestellt zu sein, womöglich massiv benachteiligt im Vergleich zu anderen. Hey. Müssen wir uns selber fertigmachen, wenn das Leben nicht mitspielt, nach den Regeln und Maßstäben, die wir aufgestellt haben? Können wir wirklich davon ausgehen, dass unser Wille geschieht? Wie eigentlich können wir das Leben anders sehen, als etwas wenig Berechenbares? Wir können nur ein paar Dinge tun und müssen das Meiste lassen. Und wie sicher können wir sein, dass wir uns für das Richtige entscheiden? Definitiv in unserer Macht steht, dem Schicksal ein gutes Angebot zu machen. Oder besser: eines, das wir als gut einschätzen. Wird es ausgeschlagen, hey, machen wir ein neues! Das Leben ist ein Abenteuer mit ganz gewissem Ausgang. Irgendwann ist es zu Ende und erst dann sind wir raus aus der Nummer. Wenn du mit deinem Schicksal haderst, stell dir mal folgende Situation vor: Du kommst von einem anderen Planeten, namens „Egal“, Lichtjahre entfernt von uns und das in jeder Hinsicht. Auf Egal sind alle Wesen gleich. Gleiches Aussehen, gleiches Können, gleiche Bildung, gleicher Körper. Alle verdienen das Gleiche. Alle haben den gleichen Lebenslauf. Sie wohnen gleich, fahren das gleiche Auto. Es gibt nur wenige Berufe. Die werden von allen mit dem gleichen Einsatz ausgeübt, bei gleichen Arbeitszeiten. Und alle gehen in das gleiche Reisebüro. Alle haben das gleiche Reiseziel. Die Erde. Alle wollen das Gleiche: Einmal die Erde erleben! Einmal eintauchen in diese Vielfalt! Einmal dabei sein dürfen, als einer dieser vielen verschiedenen Menschen! Einmal drinstecken in einer dieser unterschiedlichsten Lebenssituationen! Alle Einwohner von Egal wünschen sich das so sehr. Bei der Zusammenstellung des Erde-ReiseArrangements wählt man eine bestimmte menschliche Persönlichkeit, eine aktuelle Lebenssituation und Perspektive. Es gibt alles bei diesem 130


Aufenthalt von Basic über Standard bis Luxus, von Erholungsreise bis Abenteuer-Trip. Da ist nur ein Problem: Die Zahl der Reiseteilnehmer und bestimmten Arrangements ist begrenzt. Was ist nun das Entscheidende für den Erdweltenbummler vom Planeten Egal? Ob er als 5Sterne-Reisender oder Rucksack-Tourist in diesem Erlebnis unterwegs ist? Ich denke, das Entscheidende ist, dass er diese Reise überhaupt machen kann, mit allen Erlebnissen und Erfahrungen, die sie mit sich bringt. Hauptsache, er bekommt noch einen freien Platz. Kannst du dir vorstellen, wie viele Bewohner des Planeten Egal auf der Erde genau in deiner Haut stecken wollten? Wie viele sich ganz schnell für dein Leben auf der Erde entscheiden würden, so wie es im Moment gerade ist? Was dir Kopfzerbrechen bereitet – die Wesen aus Egal würden darüber sehr wahrscheinlich nur denken: scheiß egal. Und jetzt gehe einen Schritt weiter: Auf dem Planeten Egal ist plötzlich kein Leben mehr möglich. Wer leben will, muss auf die Erde und dort eine Identität als Mensch haben. Irgendeine. Anders geht es nicht. Mensch auf der Erde sein oder tot. Das ist die Wahl. Jetzt stell dir noch einmal vor, wie viele Wesen vom Planeten Egal sofort mit dir tauschen würden. Und wie fühlt es sich jetzt für dich an, dass du deinen Platz auf Erden hast?! Ich glaube, es ist die Insel, die einen so empfinden und das Leben so sehen lässt. Das Klima, die Farben, die Landschaft und das Meer. Die Art, wie die Kinder hier im Sand spielen, im Alltag planschen, die meiste Zeit draußen rumspringen können. Die Ausstrahlung der impulsiven, netten, kinderfreundlichen Spanier spielt dabei eine Rolle, die ihre Mittagspause in einer der unzähligen Bars verbringen, statt mit dem belegten Brot vor dem Laptop, in der Werkstatt oder auf einer Palette im Lager. Es ist die Erfahrung, dass du dich heute am Strand bei Weißbrot und Oliven neben deiner Kühltasche so wohl fühlst wie morgen in der angesagten Bar 131


oder dem bekannten, exzellenten Restaurant. Und es ist das Gefühl, ein Stück Lebensqualität zu teilen, die unspektakulär zu dir kommt, leise und erfüllend, wenn du ihr nicht zu viel Gerümpel aus Bedingungen in den Weg stellst. Es sind Momente wie diese Filmnacht, die dich genügsam machen, dankbar, die dich mit viel Freude am Dasein bereichern. An diesem Abend in Palma geht es wohl den meisten so. Die Zuschauer lachen lebhaft und kommentieren ganz spontan manche Szenen. Ich glaube sie lieben diese Nacht regelrecht, weil sie warm ist und trocken, friedlich aber aufregend. Vielleicht auch, weil sie etwas Ehrliches an sich hat. Vieles, was da auf der Leinwand passiert, kommt den Besuchern offensichtlich bekannt vor. Die Komik, die über allem liegt, macht es ihnen leicht, sich in mancher Szene selbst zu erkennen. Vielleicht ahnen auch viele, dass die meisten Männer gerade Audrey Hepburn anhimmeln und sich dabei fragen, wie wohl ihre Begleiterin diesen Finney findet. Viele Kinobesucher dürften vor allem für das Leben schwärmen, das sich auf der Leinwand abspielt, um diesen Platz im Parque del Mar herum und im Kopf. Während du die beiden Hauptfiguren des Films auf ihrem Weg begleitest, denkst du an deine Stationen, Beziehungen, deine Leidenschaften. Du erinnerst dich an Reisen, Triumphe, Rückschläge. Wenn du an anderen Lebensläufen on Screen oder in echt siehst, was sich im Laufe der Jahre ereignet, erscheint dir alles, was dich in deinem Leben überrascht hat, als ziemlich normal. Du nimmst es dann vielleicht nicht mehr ganz so persönlich. Auch dieser aufziehende innere Frieden ist Teil des guten Gefühls an diesem Abend. Wir reichen uns Chips. Das Bier aus der Dose, selten hat es so gut geschmeckt wie in dieser Kulisse. So gut wie schon ganz oft, fühlt sich unsere Entscheidung für Mallorca an. Ganz tief und fest sitzen später auf der Heimfahrt dieses Erlebnis und ein schöner Gedanke in uns: Wir sind im richtigen Film. 132


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Der Mallorca Moment Wenn Nächte sind wie Träume ... Es ist die vielleicht romantischste Strandnacht des Jahres. Tausende Menschen verbringen sie im Sand mit Grillen, Picknick, Open Bar aus der Kühlbox ... Familien, Freunde, Bekannte. Die Jüngsten können noch nicht laufen, die Ältesten nicht mehr so richtig. Aber das ist auch nicht nötig. Man sitzt beieinander, schemenhaft beleuchtet von aufgefalteten Brottüten mit kleinen Kerzen darin. Wo Fleisch und Würstchen über knisternder Glut Barbecue-Düfte in die laue Luft verströmen, da herrscht kindliche Freude am heute erlaubten offenen Feuer. Jahr für Jahr, vom 23. auf den 24. Juni, ist die Sonnenwendfeier zugleich eine Nacht zu Ehren von Johannes dem Täufer. Viel mehr noch ist sie ein Kapitel Tradition und Lebensfreude, hier in der Bucht von Palma schön wie aus Tausend und einer Nacht. Märchenhaft züngeln oder stehen unzählige kleine Lichtpunkte zwischen der belebten Promenade und dem friedlich heranschwappenden Meer. Manche baden darin, manche waten verträumt hindurch, die hochgezogenen Hosenbeine zwischen den Fingerspitzen und schöne Dinge im Kopf. Wer könnte Böses denken in diesem Hippie-Moment für alle. Fiesta Sant Joan. Ein Bekannter aber beschrieb das Ereignis als „A pain in the as“. Da wollten wir erst recht wissen, wie dieses San Joan so läuft. Muy bien (sehr gut), kann ich nur sagen, muy bien und ohne jeglichen Schmerz im Hintern ...

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P ortixol

Verzaubert Schmetterlinge im Bauch statt „Schmerzen im Hintern“ bei der Fiesta Sant Joan Zweieinhalb Jahre auf der Insel, da bist du in einer merkwürdigen Situation: Gegenüber den Skeptikern in der alten Heimat, die fest mit deiner frühen Rückkehr rechnen, fühlst du dich wie ein Fels in der Brandung. Gibst du Residenten dein „Inselalter“ zu erkennen, wirst du als Frischling belächelt. Meistens in einer Weise, die schwer zu deuten ist. Aber egal wie angekommen oder inselerfahren du dich fühlst: Es ist wohl noch viele Jahre lang toll, was Neues zu entdecken und ein wirklich schönes Gefühl, wenn dich dazu jemand in seinen Kreis einlädt. „Wir feiern Sant Joan am Strand. Ein paar Freunde, ein bisschen Grillen, Salate und so, wir trinken was – kommt doch dazu.“ So locker wie Sarah es aussprach, so ehrlich gemeint durften wir es dann später die ganze Nacht über erleben. Aber bevor es soweit war, liefen wir erst einmal noch ein paar Tage lang mit diesem Wow-Gefühl herum. Diese freudige Aufgeregtheit über das was gerade „passierte“, ließ uns spüren, wie frisch wir tatsächlich noch waren: Eine Britin, Mutter einer Klassenkameradin von unserer Kleinen, hatte uns eingeladen. Uns. Einfach so. Ihr Lebensgefährte und sie waren quasi Inselprofis. Und spannende Leute. Sieben Jahre hier. Er Kapitän auf privaten Luxusjachten, sie selbstständig als Vermittlerin von Besatzungen für solche Boote. Service-Leistungen rund um Jachten sind ein weit verbreitetes Business auf Mallorca. Insofern war das vielleicht nichts Besonderes, aber für uns wirkte diese Konstellation aufregend abenteuerlich, eben Seemeilen entfernt von den Erwerbstätigkeiten und Lebenskonzepten, die einem in Deutschland begegneten. Richtig kennengelernt hatten wir die Zwei zuvor nicht. Und jetzt waren wir plötzlich bei so was dabei: nächtliches Barbecue am Strand mit Freunden – hallo! Das alles bedeutet einen schönen Trost dafür, dass unser schon erwähnter Bekannter sich einige Tage zuvor gegen einen gemeinsamen Sant Joan136


Abend mit ihm und seiner Familie entschieden hatte. Wir konnten ihn ganz gut einschätzen und wunderten uns nicht, wenn seine ganz eigenen Vorstellungen von den Plänen anderer abwichen. Ein liebenswerter Kerl ist dieser durchweg sympathische „Querkopf“. Er lebt auf seiner Finca nahe eines Dorfes und fährt meilenweit für einen entlegenen Strand ohne Touristenschwemme. Vor ein paar Jahren, auf einer wochenlangen Wanderung, wäre er fast verzweifelt daran, dass andere Wanderer ihm permanent Gespräche reindrückten. So einer. Die zurückgezogene Sorte. Da er aber als Mallorquiner sehr genau wissen musste, was Sant Joan am Strand bedeutet, gab uns sein Kommentar mit dem „Schmerz im Hintern“ (um es noch mal gepflegt zu übersetzen) dann doch ein bisschen zu denken. Also verlagerten wir unsere Erwartungen mehr auf die Party von Sarah und ihrem Mann als auf das allgemeine Drum und Dran. Auch versuchten wir nicht, noch viel über „Sant Joan am Strand“ zu erfahren. Dass da überall Leute Kerzen aufstellen und irgendwie feiern genügte uns, um uns einfach darauf zu freuen. Als wir dann am 23. Juni am frühen Abend, den die Spanier Nachmittag nennen, zwischen 18:00 und 19:00 Uhr gleich in Strandnähe einen Parkplatz fanden, steigerte sich der Optimismus. Die kürzeste Nacht des Jahres lag bereits zwei Tage zurück, aber wir wären nicht nach Spanien gezogen, wäre astronomische Präzision für uns das Maß aller Dinge. Hier wurde die Sommersonnenwende eben mañana (morgen) y (und) noch mal mañana – zwei Tage später – gefeiert. Außerdem: Wie kurz oder lang Nächte sich anfühlen, hängt sowieso stark davon ab, was man daraus macht. Auf jeden Fall stand die Sonne noch hoch genug, um die kleinen Straßen in Portixol, einem Stadtteil von Palma, in warmen Tönen leuchten zu lassen. Leicht besohlt schlappten wir mit Kühltasche und dezentem Lampenfieber Richtung „Party Zone“. Die war wie durch einen Türspalt am Ende der durchgehend bebauten Gasse gleich zu sehen. Nur eine Minute später standen wir mitten drin. Bingo. Volltreffer. Die Parklücke hatte uns beinahe unmittelbar zu Sarah & Friends gelotst. Küsschen links, Küsschen rechts, shake hands, nicken oder flüchtig winken – die Runde hatte uns. Durchatmen. Wohlfühlen. Ging mit dem schnell gereichten Bier in der Hand natürlich noch viel besser. Das Fünf-Minuten-Spiel begann. Kennst du. Statt ex und hopp das Nächste hinterher, nippst du 137


nur dezent. Deine Kehle schreit Durst aber du hörst allein auf deine innere Uhr. Fünf Minuten brauchen Menschen, um im Hochsommer bei einem Meeting das Jackett auszuziehen. Fünf Minuten dauert es, bis man im small talk nach dem Wetter und dem Urlaub auf den Hebriden bei den Hämorriden ankommt. Fünf Minuten süffeln reicht, um ohne Scham und unkommentiert zum Saufen übergehen zu können. Etikette und Schwindel liegen eben dicht beieinander. Was soll`s. Wer mitmacht liegt richtig. Auch schon nüchtern betrachtet, war die Welt um uns herum heftig klasse. Keine Frage, was hier seinen Lauf nahm: Ein großartiges Erlebnis an einem fantastischen Flecken der Erde. Ein seltenes noch dazu, trotz der über 200 Strände. Für Events am Beach braucht man Genehmigungen auf Mallorca, denn jeder Strand gehört dem Staat. „Du kannst ganz Mallorca kaufen, und das immer“, hatte ein Makler bei unserer Wohnungssuche mal das ständige Angebot an Immobilien und Grundstücken pointiert. Aber einen Strand wirst du nicht kriegen. Du kannst noch nicht einmal den Strand unmittelbar vor deinem 5SterneHotel deinen Gästen vorbehalten. Bemühst du dich als Veranstalter um die Genehmigung für ein öffentliches Event, besteht kaum Planungssicherheit. Wenn du überhaupt mit einem Ja rechnen kannst, bekommst du es erst kurz vor dem Termin. Was bleibt, ist dein ganz privates Fest am Strand und vielleicht das Glück, dass keine ungebetenen Gäste sich dazu gesellen. An diesem 23. Juni war alles öffentlich, alle waren irgendwie Familie. Und die wurde immer größer. Überall ließen sich Gruppen und Grüppchen nieder. Grills wurden aufgebaut, Decken ausgebreitet, Kühltaschen platziert. Der ganze Strand ähnelte mehr und mehr diesen öffentlichen Freizeitplätzen nahe der Gemeinden und in den Bergen, die an den Wochenenden von den Spaniern bevölkert werden. Darunter gibt es viele malerische Orte. Hier bot die Bucht von Palma mit ihrem Hafen und den Silhouetten der Berge im Hintergrund ein ganz besonderes Panorama. Die ersten Lichter der Stadt verschmolzen mit dem Kerzenteppich am Strand zu einem harmonischen Gesamtbild. Auf der Promenade war die übliche bunte Schar unterwegs, Jung, Alt und jünger Wirkende, mit Rädern, Skateboards, Inline Skates, Hunden und Kindern, schlendernd oder im 138


Laufschritt. Heute Abend schienen sie ihres Lebens noch froher als sonst. Vergnügt, wohlwollend schauten sie herunter auf den Beach und die Sant Joan-Gemeinde. Unsere Kleine war längst Teil der bedingungslosen Ausgelassenheit. Beim ersten Wodka Lemon on the Rocks mit einer genial hausgemachten Limettensaftmischung, sah ich ihr begeistert und zugleich betrübt beim Herumtollen zu. Der Gedanke, dass sie irgendwann in naher Ferne ihre eigenen Partywege gehen würde, während die Alten daheimgeblieben in Erinnerungen an vergangene Mallorca Moments schwelgen, schoss mir einen Kloß in den Hals. Der Versuch, ihn in Wodka Lemon aufzulösen, erwies sich als kontraproduktiv. Da half es schon mehr, nach und nach stärker in Gespräche verwickelt zu sein, bei denen ich mich anstrengen musste, um mit dem teilweise very british english klar zu kommen. Aber natürlich ließ mich die Melancholie nicht mehr los an diesem Abend. Zu stark die Eindrücke, zu lecker Sarah`s Gesöff. Stell dir vor, wie an diesem 23., nach diesem besonders langen Tag, die Sonne im Meer versinkt. Mach es ... Lehn dich zurück (bitte wirklich jetzt in diesem Moment). Schließe die Augen, verschränke die Arme hinter dem Kopf und schau` im Geiste hin: Der Horizont, der orangerote Ball, das Glitzern auf dem Meer ... Jetzt ... Sonnenuntergang ...! Na? Alles schön? Alles gut? Und alles falsch. Die Sonne geht nicht unter. So wenig wie sie aufgeht. Nichts macht sie, gar nichts außer scheinen. Sie klebt da auf ihrem Platz im Universum wie Kaugummi auf dem Mülleimer des Zugabteils und strahlt. Bis zu dem Tag, an dem irgendeine kosmische Katastrophe den gigantischen Feuerball einfach wegputzt. Dann wird`s ziemlich dunkel und kalt. Erfreuen wir uns doch bis dahin des imposanten Anblicks. Aber richtig! Immer, wenn es so aussieht, als sinke die Sonne zu Boden, passiert nämlich was ganz anderes. Und das ist noch viel beeindruckender. Du stehst da und bewunderst den Ball aus Glut, wie er schließlich das Meer berührt, sich seinen eigenen roten Teppich legt und dann schließlich komplett abtaucht. In diesem Moment hast du in Wirklichkeit etwas Gigantisches erlebt: Du drehst dich mit dem gesamten Erdball nach hinten weg! Ja!

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Du kippst nach hinten weg und verlierst die Sonne aus den Augen. Weil du weit schauen kannst, aber nicht bis unter den Horizont. Und dieses Wegdrehen machst du 24 Stunden am Tag. Jeden Tag. Du mit der ganzen Kugel. Und die musst dir mal geben: über 12.700 Kilometer Durchmesser. 5.975 Trillionen Tonnen Gewicht. 100 km dicke, labile Kruste über einer Hölle aus Gas und brodelndem Magma. Quasi ein Inferno wie die Glut in Sarah`s Grill, nur ein bisschen größer. Darauf stehst du. Damit fliegst du 29,78 Sekundenkilometer schnell durchs All. Und mit diesem Geschoss drehst du dich gleichzeitig um dessen eigene Achse von der Sonne weg und immer weiter, bis sie in deinem Blickfeld wieder auftaucht. Au Mann, bitte noch einen! Auf diese Nacht, in der jeder auf seine Art auf dem Vulkan tanzte. Viele badeten oder bastelten schon mal an den kleinen improvisierten Schiffchen, auf denen sie später Kerzen und Wunschzettel aufs Meer hinaus schieben würden. Dabei bediente man sich reichlich an den ausgebreiteten Schüsseln und Tellern voll Essen. Auch in unserem Kreis begann die große Schlemmerei. Yvonne und ich prosteten uns zu, nachdem wir das Angebot angenommen hatten, bei unseren Gastgebern im Garten zu übernachten: „We have a big tent, you can use it.“ Die Nachricht des Abends– das Auto konnte stehen bleiben. Ihr ganz eigenes Lager aufgeschlagen hatten wenige Meter neben uns drei Spanier. Mit weit aufgerissenen Augen hockten sie vor einem kleinen tragbaren Fernseher, den sie auf einem schiefen schäbigen Stuhl in den Sand gesetzt hatten. Einer von ihnen hielt in der einen Hand eine Büchse Bier, am anderen ausgestreckten Arm die Antenne. Das Viertelfinale der Fußball-Europameisterschaft beherrschte auch drüben auf der anderen Straßenseite hinter der Promenade ein paar Gemüter in der Bar. Am Abend und jetzt in der Nacht versprühte die erste Meereslinie dieses alten Fischerviertels besonders viel von seinem neuen Charme. Es entwickelt sich seit ein paar Jahren zusehends zu einem hippen BeachfrontAreal. Wohnhäuser unterschiedlichsten Charakters kleben aneinander wie Bücher in einem prall gefüllten Regal. Dazwischen gemütliche Restaurants, eigenwillige und moderne Bars und der kleinste Shop, den ich je gesehen habe.

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Wer hier hinter schmuddeligen oder Design orientieren Fassaden frisch renoviert oder abgewrackt wohnt, hat immer eine Menge Promenadenleben direkt vor der Nase und lauter kleine, schmale Strandabschnitte zum sofortigen Eintauchen. Wer hier was kaufen will, braucht richtig Geld. 1,2 Millionen Euro für ein leicht lädiert wirkendes 80m²-Häuschen solltest du schon mal beiseitelegen. Und dennoch: Nichts zum Angeben, dieses Viertel, nicht das klassische Postkartenmotiv, das für sich selber spricht, wenn du es für deine Freunde ins Web stellst. Aber eine Gegend mit Charakter, spannend, authentisch, facettenreich. Geschichte, Gegenwart und Zukunft geben sich hier jede Form von Türklinke in die Hand. Du und Portixol, ihr könnt was miteinander haben, das dich erfüllt, ohne dass der Rest der Welt das unbedingt verstehen muss. Noch stundenlang hätten wir da im Sand hocken können, ohne dass das Erlebnis verblasst wäre. Es war so ein Moment für die Ewigkeit und für verrückte Gedanken. Du stehst da mit Hunderten, Tausenden Menschen in der Nacht unter Sternen auf einem schmalen Streifen Sand zwischen der Stadt und dem Meer. Du hast deine Lieben um dich herum und Schmetterlinge im Bauch. Da hinten leuchtet die Kathedrale von Palma majestätisch herüber. Die fernen Lichter des Hafens erinnern an die Kreuzfahrtschiffe, die hier ein lohnendes Ziel anlaufen. Auf der anderen Seite bilden die Flugzeuge aus Deutschland, England, Frankreich, Spanien ... eine sich ständig erneuernde Lichterkette am Himmel. Sie kommen alle zu uns. Und sie müssen wieder gehen. Wir dürfen hier wohnen. Leben. In Nächten wie diesen. Und auch sonst. An einem privilegierten Platz dieser großen weiten Welt. Aber irgendwie erscheint unsere Mutter Erde wiederum ganz klein, wenn du für einen Moment länger und weiter nach oben schaust. Was ist das alles wirklich? Da, über unseren Köpfen. Ist es überhaupt wirklich? Oder ist es mehr in unseren Köpfen? Hebt womöglich jeden Moment jemand dieses scheinbar unendliche Schwarz über dir mit diesen Millionen Punkten darin einfach hoch wie eine Käseglocke? Plopp. Nur mal kurz, um nachzuschauen, was in diesem Gewächshaus aus der Millionen Jahre 141


zurückliegenden Idee geworden ist? Macht dieser Jemand vollkommen schockiert gleich wieder zu oder sagt er lächelnd: muy bien! Qué guapa ...! (Sehr gut! Wie hübsch!) Auf irgendeine Art sind in solchen Nächten wohl viele Menschen Gott oder ihrer Vorstellung davon ein bisschen näher als sonst. Bewegt und glücklich sahen wir noch zu wie ganz viele Menschen um Mitternacht zum Baden gingen und Kerzen auf Holzstückchen behutsam auf das Meer rausstießen. Die Wunschzettel darauf machten die leuchtenden Brettchen und Bretter zu einer Flotte der Hoffnung. Unterwegs in die tiefschwarze Nacht auf dem Meer, erinnerte das zarte Menschenwerk an die Ungewissheit, mit der wir alle täglich unseren Lebensweg beschreiten. Jetzt war ganz deutlich zu spüren, dass diese Stunden weit mehr bedeuteten als eine Party unter Sternen. Inzwischen wissen wir, dass die „Nit de Sant Joan“ das größte Fest auf allen Balearen-Inseln ist. In vielen Gemeinden auch fernab des Meeres finden aus diesem Anlass Feierlichkeiten statt, Partys, Konzerte, Volkstänze und Rituale wie der Tanz um das Feuer. Man trifft sich auf den Plazas, zieht mit Fackeln durch die Straßen, zelebriert das Fest mystisch auf einer Burg oder lauscht einer magischen Lesung. In Palma ziehen in der Nähe der Kathedrale Menschen als Feuerteufel durch die Altstadt-Gassen, schaurig schön verkleidet und mit wilden Gebärden. Während an anderen Orten der Insel wahrscheinlich noch immer Rockmusik und Pyrotechnik wüteten, krochen wir in Sarahs Garten in das schon aufgebaute, stabile und geräumige Zelt. Schnell schliefen wir ein auf den Betten, die für Campingverhältnisse ausgesprochen bequem waren. Aber nicht wirklich bequem genug. Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem unangenehmen, wenngleich nur leichtem Ziehen in der Rückseite. Allerdings saß das deutlich oberhalb der Stelle, die unser Bekannter bei seiner Sant Joan-Beschreibung genannt hatte. Statt eines Schmerzes hatte ich die sprichwörtlichen Hummeln im Hintern. Denn bereits an diesem Morgen konnte ich es kaum erwarten, dass nächstes Jahr wieder Sant Joan sein würde.

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Der Mallorca Moment Wenn eine Existenz im Möbelwagen verschwindet ... Wir beneiden sie, eifern ihnen nach, fühlen uns wie die letzten Spießer neben diesen Originalen, Typen, Lichtgestalten: Bar- oder Restaurantbesitzer in beliebten Ferienregionen. So einen Laden hätten wir auch gerne, Geld wie „die“ sowieso, noch dazu die viele Zeit außerhalb der Saison. Die großen Gewinner sehen wir in ihnen, clevere Abräumer, Glückspilze. Richtig gemacht haben die`s, ja, und es allen gezeigt. Und weil wir so denken, erwarten wir, dass sie großzügiger sind, preiswerter und trotzdem alles geben – vom perfekten Service über die alles umfassende Speisekarte bis hin zu den Öffnungszeiten, die uns passen. Wir werten und unken und urteilen und träumen und fordern und ... haben keine Ahnung. Gastronomie ist knochenhart. Knüppeldick treffen manch einen die Herausforderungen ...

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P ort C ala d `O r

Gescheitert Das harte Brot der Gastronomie Eigentlich war es eine „Dosen-Tour“ mitten in der Hochsaison wie jede andere. Ich besuchte meine Kunden, verkaufte hier und da meinen Energydrink, freute mich über das Wetter ebenso wie über das gute Klima zwischen mir und meinen Ansprechpartnern. Schade nur, dass ich zwei der besonders netten Kunden nicht angetroffen hatte. Wirklich schade und bedenklich. Geschlossen um diese Zeit? Hoffentlich ... Ein weiterer Kunde gegenüber auf der anderen Seite der Bucht bestätigte meine dunkle Ahnung: „Vorgestern war der Möbelwagen da.“ Das geht doch nicht, dachte ich, nein bitte nicht, das darf nicht sein. Nicht diese Beiden. Laden zu, Möbel weg. Vorgestern. Gerade mal wie gestern erschien es mir doch, dass dieses nette Paar aus Deutschland sieben Monate zuvor zu meinem Verkaufstand auf dem Weihnachtsmarkt in Son Bugadelles gekommen war. Vital, fast aufgekratzt, total nett, bis in die Zehenspitzen motiviert. „Dein Drink ist klasse. Wir machen daraus einen Aperitif, was ganz Eigenes“, schwärmte die sympathische, geschätzte Mittdreißigerin. Zusammen mit ihrem Mann, ein aufgeräumter, wacher Typ mit klarer Sprache und offenem Blick, erklärte sie dann noch, dass sie vieles anders machen als die anderen. Ihr kleines, feines Restaurant könne man gar nicht vergleichen mit dem, was so drum herum ist. Eine ganz andere Karte hätten sie. „Alles wird frisch gekocht aus guten Zutaten.“ Man wolle sich abheben. Als ich die beiden kurz nach Ostern, dem alljährlichen inselweiten Saisonauftakt, das erste Mal belieferte, traf ich sie in dem gleichen Enthusiasmus an. Sie begrüßte mich wie elektrisiert vom tollen Start in ihre zweite Saison und speziell vom Hipe der letzten Tage. Ihr Mann

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war als Küchenprofi hin und weg von der Mentalität seiner überwiegend britischen Gäste und ihrem Sinn für feines Essen. Mit vollen Segeln in die Flaute. Bei ihnen würde er den hohen Anspruch an sich selbst ebenso ausleben können wie seinen Drang, die Gäste zu begeistern. Die ganze Saison lang. Dachte er. „Die kommen rein und wollen weder die Karte sehen noch Preise wissen. Mach uns mal allen so sechs, sieben Tapas, sagen die dir. Du machst es. Sie lieben es. Keiner guckt aufs Geld. Sie bleiben Stunden. 300 Euro, fünf Personen.“ Da hatte auch ich schon Eurozeichen in den Augen, was meinen Dosenabsatz hier betraf. Das sind Geschichten, schwärmte ich gedanklich mit, die so ein Jachthafen schreibt. Hier kannst du was bewegen. Die Leute haben Geld, sind offen, entspannt, schätzen Qualität und Ambition. Jeder hätte so gedacht. Am Ende aber sollte es eine Geschichte sein, die nicht der Jachthafen und wohlhabende Briten schrieben, sondern das Leben. Und vor allem: die simplen Regeln des Erfolgs in dieser Branche. Durch meine fast regelmäßigen Kundenbesuche alle zwei bis drei Wochen in Cala d’Or erlebte ich alle weiteren Kapitel dieser überraschend traurigen Gastronomie-Episode mit. Nie wieder schwebten die beiden so wie nach dem vielversprechenden Erlebnis mit ihren britischen TapasGästen. Beim nächsten Besuch schon waren sie etwas heruntergekommen von Wolke 7. Es ginge so. Offensichtlich sei der Urlauber-Zustrom um Ostern herum nicht repräsentativ gewesen für die Folgewochen, erklärten sie die gerade ruhige Phase. Die Zwei lagen richtig mit dieser Einschätzung. Von einigen anderen, die länger im Geschäft waren, hatte ich das auch schon gehört. Mit und kurz nach Ostern boomt es los. Dann ist es wieder ein paar Wochen ruhiger bis die Sommersaison richtig beginnt. Aber sie beginnt nicht für alle richtig. Für das deutsche Paar sollte die Saison 2012 gar nicht anfangen. Der triumphale Auftakt erwies sich als Strohfeuer.

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Jedes Mal, wenn ich vorbeischaute, war die Stimmung etwas gedrückter als zuvor. Sie hatten schon bei ihrem Start im vergangenen Jahr einiges durchmachen müssen. Weil die Innenausbauarbeiten nicht vorangekommen waren, hatte sich die Eröffnung um drei Monate verschoben. Die halbe Saison 2011 war den beiden verloren gegangen. Jetzt hatte man eigentlich aufholen wollen. Kein Wunder, bröckelte nun mehr und mehr das Denkmal, das die Beiden ihrem Standort voreilig gesetzt hatten. Im Laufe der Wochen wurde aus Begeisterung abwartende Zurückhaltung in den Äußerungen, dann Zweifel, Unmut und schließlich Distanz. „Hier her zu gehen, muss man leider eingestehen, war ein VollFlopp“, hieß es im Hochsommer schließlich mit einem Bitterton, den ich mir bei den beiden gar nicht hatte vorstellen können. Sie sagte kaum noch etwas. Er berichtete wehmütig von goldenen Zeiten im Kultrestaurant seines Vaters, damals in Deutschland. Jeden Sonntag hätten sie da 250 Gäste gehabt. „Und hier ...“ Er sah sich um, als habe es in seinem Leben angefangen zu spuken. Bittere Wahrheiten in gähnender Leere. Bei jedem Besuch konnten wir, umgeben von leeren Tischen und Stühlen, völlig frei sprechen. Er meinte zu erkennen, dass sein Konzept der gehobenen Küche mit anderen als den üblichen Gerichten fehl am Platze sei. „Guck doch“, sagte er einmal, „die anderen haben Gäste. Rechts nebenan, links genauso. Alle haben die gleichen Sachen auf der Karte. Dann versuchen sie, sich gegenseitig durch niedrige Preise zu übertrumpfen. Aber da gehe ich nicht mit.“ Es sei nicht das Niveau, auf dem er Gastronomie machen wolle. Bei einer anderen Gelegenheit demontierte er das Image des Luxushafens, das er selbst dieser Ansammlung von schwimmenden Träumen gegeben hatte, darunter Millionen teure Prachtexemplare. Da sei nicht so viel Geld, wie man denke. „Weißt du wie viele Jachten hier schon lange nicht mehr bewegt worden sind und dass einige die Liegegebühren nicht aufbringen können!“ Jemand hatte ihm diese ganz neue Hafenskizze vor die Nase gehalten und er es so gleich abgekauft. Es passte in sein Weltbild, das er sich unter dem Einfluss des drohenden Niederganges ausmalte. Er habe auch nicht das Gefühl, dass die Leute in der heutigen Zeit Qualität suchen oder sich mit einem Restaurantangebot differenziert auseinandersetzen. „Die Rea148


lität ist: Die Leute haben Hunger. Sie wollen essen, werfen einen flüchtigen Blick auf die Karte und setzen sich irgendwo hin.“ Und womit er wohl am allerwenigsten gerechnet hatte: „Die Stadt oben ist der Magnet, nicht der Hafen. Wer sein Zimmer oder seine Wohnung da oben hat, der kommt nicht runter, um hier essen zu gehen.“ Ich teilte nicht alle seine Einschätzungen, denen er aus der Enttäuschung heraus freien Lauf ließ. Doch vieles, was er sagte, machte mich betroffen. Vor seinen Erfahrungen nämlich, dachte ich über die Chancen seines Konzeptes genau so positiv wie er es am Anfang getan hatte. Hätten wir eine Gastronomie aufgemacht, wir wären vielleicht den gleichen Weg gegangen. Dann würden es meine Frau und ich gewesen sein, die hier mit einer kraftvoll gestarteten Existenz an der Wand gelandet wären. Das hatten die Beiden nicht verdient. Ganz im Gegenteil. Erfolg stand ihnen zu. Zuspruch. Zulauf. Viele begeisterte Kunden, die von Ihnen schwärmten. So wäre die Welt an diesem kleinen Fleck in Ordnung gewesen. Bei einem der letzten Male, dass wir redeten, stand dieser erstklassige Koch, erfahrene Gastronom, reife, dynamische und kämpferisch wirkende Mann mit feuchten Augen vor mir. Obwohl ihm zum Heulen zumute war, wirkte er gefasst und aufrecht, bereit für die nächste Extrameile in seinem Leben. Früher oder später, war ich mir sicher, würde es in seinen Augen wieder einen ganz anderen Glanz geben. Dennoch blitzt das Bild dieses Momentes am Rande des totalen Gefühlsausbruchs bis heute bei vielen Gelegenheiten in mir auf. Wenn jemand enthusiastisch von seinen Plänen schwärmt zum Beispiel, wir ein Lokal betreten oder mal wieder jemand über seine guten oder schlechten Erfahrungen in einem Restaurant spricht. Gastronomie-Kritik mit Beigeschmack. Ich bin längst nicht mehr der, der spontan in den Chor der Nörgler einstimmt. Bevor ich Enttäuschungen mit anderen teile, hinterfrage ich mich selbst, ob die vorangegangenen Erwartungen möglicherweise überzogen waren. Ich meine, wer für eine Pizza nicht mehr als fünf Euro zahlen möchte, sollte es auch geil finden, wenn die möglicherweise nicht schmeckt, er lange darauf warten muss oder die Kakerlaken so tun, als sei er gar nicht da. Und wenn ich irgendwo doppelt so viel zahle als 149


anderswo, fällt mir heute viel früher und intensiver auf, dass allein schon der Platz es wert ist und das Ambiente zudem dreimal so aufwendig. In der Regel wachsen bestimmte Früchte nur auf bestimmten Bäumen. Auch Gastronomie folgt den Naturgesetzen der Wirtschaft. Wie du ausgehst, so wirst du ernten. Es gibt diese Locations auf Mallorca und jene. Reichlich. Jede Art von Gastronomie auf jedem Niveau: Einfache mallorquinische Bars, wo du mal eben im Vorübergehen ein Bier greifst, einen Kaffee mit einem Stück Mandelkuchen oder einem Croissant oder so und zuschaust, wie Einheimische mit dem Fernseher um die Wette quatschen. Oder zum Beispiel gemütliche Restaurants wie unsere Lieblings-Pizzeria in Bunyola. Gediegen geschmackvoll eingerichtet, gemütlich und so mittendrin in diesem typischen Haus-an-Haus-Straßenzug gelegen, fühlst du dich beim Blick durch die Fenster auf die nahe Nachbarfassade wie im Wohnzimmer eines privaten Gastgebers. Renommierte Restaurants gehören ebenso zur Gastronomievielfalt der Insel, bekannt für exzellente Küche und stilvollen Service. Du kannst dich für einen absolut hippen Laden entscheiden, reduziert, hochmodern. Eine Minute daneben findest du die Sports Bar zum Chillen, Chatten oder Glotzen. Disco, Club und Bingo – alles geht. Willst du dir die Ruhe und Natur eines kleinen schicken Finca-Hotels gönnen oder Eintauchen in den ländlichen Charme eines AgrotourismusHotels – du wirst nicht lange suchen müssen. Und warum nicht in einem umfunktionierten Stadtpalast von alten Zeiten schwärmen! Ach ja, oder mal wieder in der rustikalen Strandbar frühstücken? Warum nicht bayrisch Bier am Ballermann. Oder Strapse, Mädchen, Stangentanz in Magaluf? Claro. Alles da. Es ist deine Aufgabe, zu spüren, wie du gerade drauf bist, was du willst und wie viel oder wie wenig es dir wert ist. Aber warum zum Teufel fühlten sich so wenige Leute zu diesem netten, kleinen Restaurant in Port Cala d`Or hingezogen, wo den Gästen sehr 150


gutes Essen und Abwechslung zu den üblichen Speisekarten geboten war? Das alles von einem sympathischen Ehepaar, das sich leidenschaftlich gerne mit all seiner Schaffenskraft anspruchsvollen Gästen widmete! Warum hat es nicht funktioniert? Trotz aller Erklärungen blieb über diesem miterlebten Misserfolg ein großes Fragezeichen. Mein Kunde von gegenüber, der den Möbelwagen beobachtet hatte, erklärte das Phänomen, als spreche er von einem Gesetz: „Die Lage ist entscheidend.“ Es zählt der Platz an der Sonne. Die Touristen, führte er weiter aus, säßen am liebsten draußen, der Sonne wegen. „Außer vielleicht in den Wochen, wo es mittags so richtig heiß ist. Aber das reicht dir als Wirt nicht. Du brauchst die Gäste die ganze Zeit.“ Es klang wie ein Richterspruch, auch wenn er es gewiss so nicht meinte. Was für eine klare, einfache Erklärung für ein großes Rätsel, erkannt und ausgesprochen von der gegenüberliegenden Seite des Jachthafens. Würde das stimmen, war es wieder mal ein Beweis für zwei wichtige Dinge. Erstens: Sich selbst und seine Situation kann man alleine selten vollständig erkennen. Und zweitens: Man sollte öfters im Leben den Blickwinkel verändern. Dinge anders zu sehen, ist der erste Schritt, Dinge anders zu tun. Das kann mitunter wichtig sein, wenn nicht sogar entscheidend. Mein Kunde legte nach. „Die haben da drüben zu viel Schatten. Daneben sieht es schon anders aus. Und genau da sind auch die Gäste. Kannst du sehen. Jeden Tag.“ Wenn die Lage stimme, rundete er das Thema ab, man ein vernünftiges Preis-Leistungsverhältnis habe, ordentlich arbeite und auch sonst die Gäste nicht gerade vergraule, funktioniere es. Während er mit mir sprach, teilte er Anweisungen an das vorbeihuschende Service-Personal aus. Jede Kleinigkeit viel ihm auf und er reagierte sofort. Seine wache, dynamische Art erinnerte an den armen Kerl und seine Frau, 151


die das alles sicher genau so gut gemacht hätten aber dazu nun keine Gelegenheit mehr hatten. Eigentlich ein entsetzlicher Gedanke: Jemand nimmt Risiken auf sich, investiert Geld, Zeit, gibt alles, zerbricht sich den Kopf, bleibt sich treu und scheitert an Schatten. Einfach zu viel Schatten. Ob wirklich das der Grund war? So oder so, ich nahm für mich das hier mit: Der Blick fürs Wesentliche zählt überall im Leben. Wohl dem, der ihn hat. Aber selbst diese Gabe und die richtige Lage machen es noch nicht leicht, eine Gastronomie dauerhaft erfolgreich zu betreiben. Rock ‚n‘ Roll auf dünnem Eis. Du musst geschickt Ware und Personal disponieren, ohne irgendeine Garantie, wieviele Gäste kommen und was sie bevorzugt konsumieren. Das Personal gehört geschult, angeleitet, motiviert. Gesetzliche Auflagen sind zu erfüllen. Die Technik muss flutschen, ob Kasse, Schankanlage oder Küche. Gastronomie bedeutet arbeiten bis in die Nacht, fit, freundlich, führungsstark und präsent sein, egal wie man sich gerade fühlt. Mit dem Lebenspartner muss man sich in besonderer Weise arrangieren können. Auf Veränderungen gilt es zu reagieren. Durststrecken müssen gemeistert werden. „Wenn du einen gewissen Kostenapparat unterhältst und es eine Zeit lang schlecht läuft,“ sagte mir der Betreiber eines kleinen Bar-Restaurants in Puerto d’Andratx, „weißt du ab einem bestimmten Zeitpunkt der Saison, dass du im betreffenden Jahr gar nicht mehr ins Plus kommen kannst.“ Die langjährige Besitzerin einer Kaffee-Bar in Paguera berichtete mir von fünf Gästen, die zwar öfters kämen aber immer Stunden mit nur einem Getränk bei ihr verbrachten. Das an sich war nicht so tragisch. Tragisch war, dass ihrer Aussage nach immer mehr Gäste ihren Aufenthalt in dieser Form gestalteten. Andere äußerten sich total frustriert vom All-inclusiveEffekt. „Du siehst ganze Familien hier mit vollgestopften Taschen vom Frühstücks-Büfett zum Strand pilgern. Später gehen sie noch mal ins 152


Hotel, um von dort randvolle Getränkebecher den weiten Weg zum Strand zu balancieren. Hier bei mir werden sie nie auftauchen, nicht einmal, um eine Cola zu trinken.“ Das Geld bleibt auf der Straße. Ich erfuhr, dass einige Gastronomiebetreiber durch die Straßen gehen, um sich ein Bild von den Kunden zu machen, die gefühlt weniger werden und weniger konsumieren. So kursieren unter den Gastwirten auch Stories wie die vom „Public Zapping“: Ein Fußball interessierter Tourist nahm vom Straßenrand aus mit der Büchse Bier vom Supermarkt am Public Viewing einer Bar teil. Man konnte dann beobachten, hieß es, wie er von Zeit zu Zeit zum jeweils nächsten Lokal mit großem Screen ging, um auf diese Weise unauffällig letztendlich das ganze Spiel zu verfolgen. „Früher, als es in Spanien noch Peseten gab, war das alles ganz anders.“ So schilderte mir ein Deutscher die Lage vor dem Euro, der seinerzeit eine wie blöd laufende Currybude hatte. Goldgrube. Und Goldgräberstimmung überall. Die Urlauber konsumierten ohne Ende. Heimatwährung umgetauscht in Peseten bedeutete, ein Vielfaches der Kaufkraft zu haben. Aber vielfach war gestern. Einfach ist heute. Einfach ernüchternd zu sehen, spüren und zu hören, wie viel in der Gastronomie gebangt, gehofft, gerackert, riskiert und gekämpft wird. All diese Bars, Kaffees und Restaurants haben eines gemeinsam – dich als möglichen Gast. Sie warten auf dich. Sie hoffen auf dich. Ganz viele von ihnen haben nur diese vier, fünf, sechs Monate im Jahr. Sie wollen dir, jeder auf seine Art, das bieten, worauf du aufgrund des Preises und des Drum und Dran hoffen darfst. Manche mehr, ich glaube nicht so viele weniger. Etliche, denke ich, haben sich für so eine Existenz entschieden, nicht weil sie Dollarzeichen in den Augen haben, sondern so eine Art Gastgeber-Gen im Blut. Wohl nahezu alle im Servicebereich sind froh, ihren Job zu haben, auch wenn man es nicht immer allen anmerkt. Nicht selten ist der Job weg, weil das Lokal verschwindet. 153


Das tut dann nicht nur den Mitarbeitern weh. Auch manche Gäste dürften dem Nachtrauern, was sie dort erlebt, empfunden oder genossen haben. Und wer schöne Stunden in diesem eigentlich begehrten Lokal ewig verschoben hat, bekommt keine nächste Chance. Gar nicht schön. Aus Verzicht wird schnell Versäumnis. Das läuft so. Aus der Bar von gestern wird „über Nacht“ das Restaurant von heute. Im Südwesten Mallorcas hatte ich eine Sports Bar als guten Kunden. Vielleicht 50 Mal innerhalb von zwei Jahren war ich da entlang gegangen bzw. gefahren. Schon gut 20 Mal hatte ich diesen offenbar beliebten Tummelplatz von Residenten und Urlaubern beliefert. In meinem Kopf waren der große Schriftzug und die markante Einrichtung mit dieser Straße so verwachsen wie ein großer dicker Baum. Das verpflanzt man doch nicht mehr. So zweifelte ich für einen Moment an meinem Verstand, als die Sports Bar weg war wie gefällt und abtransportiert. Ich stand auf der anderen Straßenseite und schaute hin und her wie ein Idiot, um diese vertraute Stelle im Straßenbild doch noch zu entdecken, in neuem Look vielleicht oder ihre wirkliche Position, die mir womöglich für einen Moment entfallen war. Da kam schließlich aus „meiner“ Sports Bar, die jetzt tatsächlich ein Steakhouse war, ein Mann mit weißer Schürze auf mich zu. Der Vorbesitzer, erklärte er mir, habe sich entschieden aufzuhören. „Ach“, sagte ich, „er ist jetzt woanders!“ Der Mann lächelte nur und wiederholte: „Nein, er ist nicht woanders hin, er hat aufgehört.“ Warum, das konnte er mir nicht sagen. Nicht schon wieder! Mein Kunde hatte sich entschieden aufzuhören. In irgendeiner verdammten schlaflosen Nacht? Nach tagelangem Hinund Hergerissen sein? Als Ergebnis eines Meetings, wohl überlegt oder Hals über Kopf? Weil er wollte oder weil er musste? Die Antwort war so weg wie er. Ich mochte ihn. Das deutsche Paar in Cala d`Or hatte ich auch gemocht. 154


Der erneute Verlust einer gern angefahrenen Adresse meines Tourenplanes ließ mich echt ein bisschen durchhängen während der Fahrt zurück Richtung Palma. Ein trauriger Moment der Erkenntnis: tatsächlich. Sie kommen und gehen. Die einen, weil`s nicht läuft. Die anderen, obwohl es läuft. Oder hatte es nur so ausgesehen, diese 50 Mal zuvor? „Das Ding da oben ist noch nie gegangen“, winkte ein anderer Kunde im gleichen Ort in erster Meereslinie ab, als ich ihn kurz nach dem Verschwinden der Sports Bar auf meine Verblüffung ansprach. „In dem Objekt wurde schon alles Mögliche versucht. Da war sogar mal einer nur zwei Wochen drin, ein Italiener.“ Nur 10 Tage später fuhr ich erneut durch die Straße, in der ich „meine“ Sports Bar immer noch ein bisschen vermisste. Sehr genau schaute ich hin, während ich im Schritttempo an der vertrauten Stelle vorbeirollte. Der nette Mann mit der großen weißen Schürze stand nicht davor. Aus dem Steakhouse war jetzt nämlich eine Pizzeria geworden. Dieses Mal traute ich meinen Augen auf Anhieb.

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Der Mallorca Moment Wenn die Fahrradtour ein Fest im Sattel ist ... Man sagt, die heimlichen Herrscher der Welt sind die Insekten. Auf Mallorca gilt diese Beschreibung in der Biker-Saison für die Radfahrer. Sie sind den krabbelnden und fliegenden Plagen ja auch in vielerlei Hinsicht ähnlich. Sie sehen aus wie Hornissen, sind schnell und beweglich wie Mücken. Bars in Straßennähe belagern sie wie Ameisen. Vielen Autofahrern sind sie lästig wie die Fliegen. Fahren sie dreispurig vor dir her, sind es echte Spaßbremsen. Und sie sind überall. Hat man einen Schwarm abgeschüttelt, taucht schon der nächste auf. In etwa so dürften wohl viele ticken, die selbst noch nie per Bike auf Malle unterwegs gewesen sind. Dabei gebührt all den Profis, Halbprofis und Fahrradfreunden jede Menge Respekt und Interesse. Denn während andere am Strand das Sechstage-Pennen zelebrieren, demonstrieren sie Sportsgeist, Ehrgeiz und – wie reizvoll diese Insel auch im Innern ist. Allein dieser Gedanke sollte versöhnen. Und spätestens, wenn man selbst entdeckt hat, wie nahe einem Mallorca bei einem Streifzug per Fahrrad kommt, ist man bei ihnen. Garantiert. Also: Raus aus dem Auto, Haus, Hotel oder Apartment, rauf aufs Rad und rein in die Insel ...

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M ancor

de la

V al , C aimari , I nca

Angetreten Mit dem Bike durch das Land der Mallorquiner Wenn ich an unsere Radtouren auf Mallorca denke, fallen mir viele wahrscheinlich charakteristische Situationen ein für diese Art der Inselerkundung. Alles lässt sich jedoch nicht verallgemeinern. Dazu sind wir zu wenig repräsentativ. Ich würde sagen, über 90 % der Teams und Gruppen hier sind ganz anders aufgestellt als wir Drei: Eine taffe Mutter, ein behäbiger aber zäher Papa und eine kleine, quietschfidele Tochter, die am liebsten allen zeigt wo`s langgeht. Ein Amateurgespann sind wir, mit 20 Jahre alten Tourenrädern, wenig Erfahrung im Sattel und neben den Landschaftseindrücken immer auf der Suche nach der perfekten Art zu Wohnen. Zwar lässt die Kondition zu wünschen übrig, doch ein starker Stoff treibt uns gut voran – Emotionen: Neben dem üblichen PicknickKram haben wir nämlich eine Menge Neugier an Bord, Freude auf Entdeckungen und Spaß am Aufbruch ins „Hellblaue“, also mit Karte aber ohne detaillierten Tourenplan. Spielraum für die Wahl der Wege und der Richtung muss sein. Schließlich bewegen wir uns in Gegenden, die spontane Neugier wecken, weil sie auch für Residenten nicht unbedingt ein vertrautes Pflaster sind. Es ist das Land jenseits der Touristenströme ohne Strand und große Attraktionen. Da, wo das Leben unbehelligt plätschert wie ein Brunnen in der Siesta, wo hinter etwas Dorf viel Wald, viel Berg, viel Feld beginnt. Da, wo Supermärkte super klein sind, Schafe musikalisch und Ziegen was zu Meckern haben. Da wollen wir hin, Glöckchen im Ohr, Stallgeruch in der Nase. Wo spanische Bars den eher seltenen ausländischen Gast freundlich empfangen, wo schöne Häuser in der Landschaft stehen, als seien sie darin gewachsen. Da, wo der Landwirt am Trecker schraubt, der Polizist beim Kaffee in der Bar Pause macht und Kinder unbekümmert auf den Gassen oder kleinen Plätzen fröhlich durch die Gegend springen. Da wollen wir immer hin mit unseren Rädern, mit Bauchgefühl und Seele. Ins Land der Mallorquiner. Irgendwo da erleben wir unsere geliebten Mallorca BikeMomente.

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Auf einer Tour durch die Mandelblüte, von Llosetta nach Inca, an einem einladenden Tag im März, hatten wir gleich einige davon: Sich fühlen wie ein Abenteurer. Auf Entdeckungskurs in See stechen, umsiedeln in den Wilden Westen, flügge aus dem Elternhaus in die erste eigene Wohnung ziehen – die großen und kleinen Abenteuer des Lebens begannen schon immer mit dieser ganz bestimmten Art von Aufbruchsstimmung. Früher haben Menschen ihre sieben Sachen in einen Seesack oder einen Planwagen gepackt oder auf einen Karren und sich dann auf einen hunderte, auch tausende Kilometer weiten Weg gemacht. Sie verließen ihre vertraute Umgebung, um anderswo bessere Lebensbedingungen zu finden oder einfach Unangenehmes hinter sich zu lassen. Auch bei einer Urlaubsreise mit dem Auto steht am Anfang das Verstauen – Koffer, Taschen, Utensilien, Proviant für unterwegs. Und ist es auch nur das Nötigste, selbst vor der Fahrt ins Schwimmbad, zu den Verwandten, wie auch beim Flug zum entlegenen Geschäftstermin – ein paar Sachen gehören rausgesucht und auf möglichst praktische Art mitgenommen. Damit beginnt der Spaß, das Erlebnis, eine neues Kapitel, die Herausforderung, je nachdem wohin die Reise geht. So gibt es einfaches Wort, das einen großen emotionalen Moment beschreibt: packen. Für uns lag alles zusammen in der Luft, als wir Getränke, Brot, Käse, Oliven und Obst früh morgens zusammenlegten: der Spaß am Herumradeln. Das Erlebnis, neue Ecken und Pfade der Insel zu erkunden. Die Herausforderung, als Familie mit einem fünfjährigen Kind bei dieser tagesfüllenden Tour jederzeit sicher unterwegs zu sein. Und natürlich ein neues Kapitel Mallorca. Vor dem Zugang zu den Wohnhäusern unserer Community erwartete uns rund um die erdigen Ocker- und Dunkelrottöne der Anlage ein schöner Märztag, mild, hell, sonnig, mit einem Himmel aus blauen Flächen und vereinzelt Watte.

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Hier starten wir für gewöhnlich mit dem Auto nach einem gegenseitigen, freundlichen Hola. Einer der vielen freundlichen Nachbarn ist meistens da – Hecke schneiden, Hund ausführen, Plauderei und Tüten schleppen ... Für uns geht es meistens in östliche Richtung, um Kayleen zur acht Minuten weiter gelegenen Schule zu bringen oder von dort abzuholen. Fast täglich fahren wir auf die zwei Straßen weiter gelegene Autobahn, für Erledigungen, Einkäufe, Bade- oder Wanderausflüge im Süden oder Norden. Westlich zieht es uns von Zeit zu Zeit hin zum TramuntanaGebirge, zu seinen Dörfern und Küsten dahinter, erreichbar auf guten Straßen durch herrliche Gegenden. Eine Fülle der Möglichkeiten ist das, gerade mal 20 bis 40 Minuten von unserer Wohnung entfernt. Das Bewusstsein für diesen Reichtum macht jeden Gang vor die Tür zum kleinen Glücksmoment. Hier, wie überall auf der Insel, fühlst du dich immer auf Mallorca. Du bist nicht nur im Einkaufszentrum, nicht bloß an der Tankstelle, du bist – bei den banalsten Dingen des Alltags – immer im Zentrum einer mediterranen Welt. Weil sie greifbar nahe ist und du alles was du tust gedanklich oder emotional mit dieser Welt verknüpfst. Der Rest ist entrückt – Kriege, Katastrophen, Politik, Verwandtengedöns; weit müsste man schwimmen, um dort hin zu kommen. Durch den Fernseher lassen wir auch kaum was rein. Ignorant? Aber gerne. Als wir vor dem Tor noch einmal den Halt des Rucksacks kontrollierten, war dieses Inselgefühl besonders stark. Mit dem Fahrrad aufbrechen, um Mallorca noch ein Stück näher zu kommen, das hatte eben für uns nicht einfach nur etwas Abenteuerliches. Wir empfanden es als wertvoll. Im besten Sinne aufgeregt radelten wir zwei Straßen weiter in das kleine Wäldchen neben der Siedlung. Dort schoben wir mit dem charakteristischen Duft der Bäume in der Nase unsere Räder den abschüssigen, unebenen Weg hinunter und stiegen am Parkplatz vor dem Festival Park wieder auf. Dieses Outlet- und Vergnügungscenter öffnete gerade seine Pforten für den üblichen Ansturm am Wochenende. So erlaubten wir uns, behutsam zwischen den noch wenigen Besuchern hindurch zu wackeln. Kurz dahinter erreichten wir das erste Etappenziel: die Bahnstation „Els Caulls – Festivalpark“. Dann kam der Zug mit frühen Parkbesuchern. Während sie schnellen Schrittes ihrem Vergnügen entgegeneilten, hievten 160


wir die Räder rein und fuhren in Richtung Norden unserem Festival der Eindrücke entgegen. Der moderne, saubere Zug glitt geräuscharm durch die grüne Märzlandschaft rechts und links der großen Fernster. Kayleen`s Gesicht leuchtete unter ihrem knallgelben Helm. Sie sagte nicht viel. Ihr Ausdruck aber sprach Bände von der Freude auf das Erlebnis. In dem Panorama auf beiden Seiten entfaltete sich in wenigen Minuten nach und nach der ländliche Charme, in den wir gleich eintauchen würden. Bereits der nächste Ort, Santa Maria del Cami, lieferte als ca. 6.000 Seelen-Gemeinde mit ihrer markanten Pfarrkirche und zwei hervorstechenden Felskuppen im Hintergrund einen Vorgeschmack auf den Rest des Tages. Weiter auf den Schienen nahe der MA-13A zwischen Palma und Inca zog das kleinere Consell vorbei. Hier bestimmen Handwerk und Weinbau den Alltag, Gruppen von blühenden Mandelbäumen prägen um diese Jahreszeit den Anblick aus der Ferne. Es folgten Felder voller Weinstöcke bei Mallorcas bekanntestem Weinort Binissalem. Der Name lässt einen sofort an Bodegas denken, den malerischen Marktplatz und die „Festa des Vermar“, Binissalems berühmtes Weinfest zum Ende der Lese mit Umzug, Essen im Freien, Party und einer zügellosen Traubenschlacht. Alltag oder Fiesta – im Fahrradsattel ist Mallorca immer ein Fest, besonders einladend, wenn das Wetter dir einen mediterran herbstlichen, also frühlingshaften Tag beschert. Die ersten Häuser von Lloseta, einem ähnlich großen aber weniger anziehenden Ort, tauchten an der Bahnstrecke auf. Nun machten wir uns schon mal bereit. Der Zug hielt für gewöhnlich nur kurz an den Bahnhöfen. Unser Hantieren mit den Fahrrädern sollte ihn nicht aufhalten. Ein bisschen Ungeduld war wohl dabei, denn wir wollten rauf aufs Rad und raus aufs Land. Ohne uns groß in den Straßenzügen von Llosetta umzusehen, eierten wir über die Bordsteine auf den Ortsrand zu, ungefähr ...

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Ein Mallorquiner zeigte uns den Weg, wie gewohnt freundlich, leicht erheitert aber keinesfalls belustigt über das unbeholfene Gespräch mit Händen, Füßen und ein paar verunglückten spanischen Worten. Am hoffentlich richtigen Weg angekommen, lag vor uns Landschaft, soweit das Auge reicht. Waren wir durch Llosetta nur getrottet, richtete uns nun das Gefühl von Abenteuer und Freiheit auf im Sattel und wir ritten beherzt los durch Mallorca Country. Schon kurz darauf erlebten wir den zweiten typischen Moment einer Fahrradtour im Landesinneren: Wieder von der Finca träumen Sieh es dir an, nicht irgendwann, bald: Mandelbaumreihen stehen auf grünem Grund in heilsamer Ruhe. Leere, schmale Wege und kleine Sträßchen zwischen endlosen Natursteinmauern erinnern an einen verloren geglaubten Schatz. Zeit. Still und genügsam steht sie einfach so rum. Sie erwartet nichts von dir. Und auch niemand sonst wirkt gehetzt oder von der Zeit ermahnt, sich zu beeilen. Zum xten Male staunst du über den Stamm eines Olivenbaumes, der verwirbelt schräg im Boden steckt. Und wieder sagt dein kleiner Engel auf seinem winzigen Rad aus einer unvergessenen Erfahrung heraus, mit lachenden Augen vor festen grünen Blättern, dass Feigen Durchfall machen. Hinter dem Kacka-Baum verschlingen sich dicht bewachsene Hügel ineinander, wirken wie Kinder der Berge, die sich gleich dahinter über allem erheben. Ein Hund begrüßt dich hinterm Zaun, so aufgeregt, als sei schon Stunden kein anderer Spielgefährte vorbei gekommen. Häuser tauchen plötzlich auf wie aus dem Nichts und sehen aus, als stünden sie schon immer da. Sie sind nicht nur schön, sie sind Teil der ganzen Pracht, in der die Augen weiden. Sehr natürlich wirken sie, voller Charakter, reich an Geschichte. Sogar die neuen Häuser, bei denen der Naturstein in frischen, hellen Sand- und Ockertönen strahlt wie frisch geduscht. Palmen stehen vereinzelt davor oder gemeinsam Spalier. Manche Anwesen gönnen dem Passanten hinter hohen Mauern oder wuchernden Pflanzen nur eine flüchtige Ahnung von ihrem Charme. Viele präsentieren sich unbedeckt in ganzer Schönheit. Wer würde hier nur Fotos machen und nicht ins 162


Träumen kommen. Oder ins Zweifeln. Ist dies die beste Art zu leben? Vielem entrückt und sich selber ganz nah? Es dauert zwei, drei Jahre, ehe man sich seiner Wohnträume sicher ist. Das Gefühl und der Blick für Gegenden verändern sich. Die klassische Idealvorstellung vom Leben in erster Meereslinie schwindet mit der Erfahrung, wie bevölkert du dann vielerorts im Sommer bist und wie verlassen im Winter. Schlägt das Herz vielleicht nachhaltig für den Puls von Palma? Oder ist das statt wahrer Liebe nur ein Flirt, der so lange lockt, bis man sich auf ihn eingelassen hat? Würdest du dich auf Dauer in eine ländliche Gegend kuscheln, ohne Angst, was zu verschlafen? Man kann sich irren. Bekannte von uns hatten sich für einen netten ruhigen Ort ca. 30 km nördlich von Palma entschieden. Nach dem Einzug stellten sie mit Entsetzen fest, dass sie in der Einflugschneise gelandet waren. Sie zogen um in ein idyllisches Stadthaus in Binissalem. Eine Oase. Herrlich. In dieser typischen Haus-an-Haus-Linie trittst du ein

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wie durch eine magische Mauer in ein geheimnisvolles Reich. Ein paar schön geschnittene Räume weiter stehst du wieder im Freien, in einem grünen Innenhof mit überdachter Terrasse, kleinem Pool und malerischem Altstadtgemäuer um dich herum. Das sieht aus wie die Kulissen für einen romantischen Film und ist ein großartiges Umfeld zum Schreiben. Doch der Bekannte, ein Regisseur und Drehbuchautor, klagte mir eines Tages sein neues Leid: In der benachbarten Schule wurde nun täglich stundenlang getrommelt. Er werde wahnsinnig, aber niemand würde sich beschweren. Auch er nicht. Ein frisch zugewandertes Paar aus Hamburg lernten wir kurz vor dem Auszug aus ihrem ersten Domizil kennen. Ein 400 m²-Teil war das. Sie hatten schnell feststellen müssen, dass ein derartiges Platzangebot geradezu magnetisierende Wirkung auf Bekannte in Deutschland habe. Für Zeiten ohne Besuch wiederum empfanden sie die äußerst großzügige Wohnsituation als absolut überflüssig. Nur wenige Wochen nach ihrem Umzug in ein kleineres Haus hatten sie sich erneut zu einem Wechsel entschieden. Dort hatte der Alltag gezeigt, dass es in fast allen Zimmern zu dunkel war. Offensichtlich rückt erst die Verwirklichung so manchen Wohntraum ins richtige Licht. Die gute Nachricht: Richtig gutes Licht, draußen ist es Standard. Überall. Stell dich an einem sonnigen Tag auf dem Mittelmeer an die Reling eines Kreuzfahrtschiffes und schau dich um. Da siehst du das, was wir hier sehen, auf dieser Insel zwischen dem europäischen und afrikanischen Kontinent: eine helle Welt, sagenhaftes Licht. Wir wissen nicht, wie Urlauber darüber denken. Ob sie es wahrnehmen? Ob sie sich nur irgendwie viel wohler fühlen als Zuhause? Wer hier lebt, schwärmt vom Licht. Hier begreift man selbst als Laie, dass Licht auch Therapie sein kann. Wir waren nun bei unserer Radtour mitten drin in diesem Flair und hellauf begeistert – unterwegs nach Mancor de la Vall. Noch vor Erreichen

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der kleinen Gemeinde nahe Inca, hatten wir einen vermutlich typischen, weiteren Biker-Moment erreicht: Aufblühen mit Naturschönheiten. Ich finde es großartig, wenn man das eigene Leben an ein Seil hängt und sich senkrechte Felswände emporkrallt oder mit einem Kajak unterm Hintern wie auf einem Strohhalm zwischen riesigen Wasserwalzen nach Luft schnappt. Stundenlang könnte ich ... da zusehen. Persönlich bevorzugen würde ich jedoch jederzeit den mitreißend sanften Kick, bei einem Picknick in der Natur aufzuatmen und die Seele baumeln zu lassen, gesichert durch schöne Gedanken, Weißbrot, Käse und Oliven. Dieses Mal packte die Landschaft noch ein Sahnehäubchen aus Mandelblüten drauf. Immer wieder tauchten die filigranen Bäume und Bäumchen mit grazilen weißen oder rosafarbenen Blütenblättern an den gräulich-braunschwarzen Zweigen auf. Sie standen einzeln, gruppiert oder reihenweise ausgebreitet auf weiten Feldern in erdigen Böden und saftigen Wiesen. Dort gaben sie dem mediterranen Bild eine dezent asiatische Note, denn zart und weiß wie sie sind, erinnern sie immer an den Fernen Osten. Mit dieser Natur vor Augen entfaltet sich die Fantasie. Beim Blick auf Fincas, für die du stoppst oder einen kurzen Nebenweg einschlägst, bekommst du immer wieder aufs Neue Lust, dir auch so etwas Schönes zu erschaffen. Die befällt dich öfters an vielen Plätzen der Insel. Doch hier mit dem Bike im Inneren unterwegs, kommt dieses Gefühl irgendwie besonders auf Touren. Und stärker als sonst glaubst du daran, die eigenen vier Wände auf der Insel früher oder später hinzukriegen. Nach ein paar solchen inspirierenden Pausen und besonders kraftvollen Momenten trat Mancor de la Vall in das Meisterwerk der Natur. In aller Stille. So wenig los war da, dass du dir in den eher leeren Straßen vorkommst wie ein Eindringling. Die wenigen Menschen, die dir begegnen, scheinen das anders zu sehen, wenn sie überhaupt über dich nachdenken. Entspannt sind die Gesichter, in sich gekehrt und freundlich, wenn die Blicke sich streifen. Manche Ecken sehen aus wie aus herumliegenden Steinen gegossen.

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Neben ein paar Leuten in einer Bar und wenigen Kindern und Müttern auf einem Spielplatz war von den rund 1.000 Einwohnern wenig zu sehen. Vielleicht hatte die 4 km entfernte Ledermetropole Inca viele von ihnen aufgesaugt. Vielleicht machten einige gerade ihren Job in einem Restaurant, einer Bar oder einem Hotel in einem der Urlaubsorte im Norden oder Süden. Und sicher ließ manch einen die Krise im Schatten eines dunklen Raumes die Welt mit dem Gefühl vergessen, sowieso nichts zu versäumen. Auf ihre Art sind auch die ruhigen Momente in scheinbar unangetasteter Beschaulichkeit besonders spannend. Du weißt nie, was an der nächsten Ecke kommt. Eben noch von altem Gemäuer, Kreuzen und MadonnenFlair religiös stimuliert, kann der Blick auf pralle Brüste prallen. Gleich dutzende zum Beispiel, auf einer Werkstattwand, tapeziert mit Pin-up Girls, nackt bis auf die Nippel und darunter auf der Bank flachgelegt zum Mittagsschlaf ein alter Mann in Arbeitskleidung. Ein paar Dörfer weiter hatten wir Monate zuvor durch eine halb offene Tür genau diesen ungeahnten Ort der Verehrung gesehen. So regungslos hatte der alte Herr unter seinem Altar gelegen, als habe er drei Nächte durchgebetet. Seither rechnen wir bei jeder Tour mit allem. Das unkeusche „Bild für die Götter“ hat sich im Kopf fest eingenistet – auch als Symbol für einen Fahrrad-Moment, der uns bei jeder Tour gleich mehrfach „überrascht“. Schlapp machen, wo andere aufdrehen... Auch Berge in der Landschaft haben ihre Reize. Man kann sie bewundern, erklimmen und auf schönen festen Straßen heroisch hinaufradeln. Oder schieben. Das geht auch. Es schont Material und Mensch. Typen wie mich bewahrt es vor dem Kollaps. Nicht erspart bleibt einem die Schmach, wenn bei jedem noch so vorsichtigen Schritt das Wasser im Hintern siedet und dann plötzlich ein Schwarm Hornissen vorbeipfeift. Schlank, bunt, in hautengen ProfiHöschen, mit geräusch- statt atemloser Lunge und schneller als du es jemals abwärts schaffst. Voll das Alpenglühen auf den Wangen, das Herz in den Ohrläppchen und das Hemd wie einen Saunaufguss auf der Haut, fragst du dich wie die das machen. 166


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Ich glaube es sind ganze Gruppen von Außerirdischen in der Gestalt von Radfahrern unterwegs. Mit dem Raumschiff als Freak auf Ibiza landen und sich dann als Biker-Gruppe auf Mallorca unter die normalen Leute mischen – unauffälliger kann eine Invasion nicht sein. Und geschickt sind sie bis ins Detail. Den typischen, unförmigen Alien-Schädel verstecken sie unter einer Art Helm vom anderen Stern. Fällt nicht auf, weil unsere hier auf der Erde auch schon fast so aussehen. Mit Firmenlogos auf der Oberkörperlegierung täuschen sie ein Trikot vor und menschliche Züge. Sie wissen offensichtlich, dass wir für Geld alles tun. Um mit ihrem augenähnlichen, elektronischen Raser-Assistenten unter der aalglatten Stirn nicht aufzufallen, tragen sie Sonnenbrillen. Bis in die Dunkelheit hinein, dann wirken sie sogar wie Spanier.

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Auch die Sehnen, Muskeln und der ganze Kram sieht verblüffend echt aus. Aber wahrscheinlich könnte man darauf 30.000 Stunden Gitarre spielen, ohne dass was kaputt geht. Sogar Heavy Metal. Die Steuerung des synthetischen Körpers haben sie geschickterweise auf das Fahrrad verlegt, sodass es aussieht wie eine Gangschaltung. Ein bisschen enttäuschend aber spannend finde ich den Bereich rund ums vermeintliche Steißbein. Also Hintern sehen anders aus. Zumindest in S`Arenal und Magaluf. Vielleicht haben die Aliens nur praktisch gedacht: lieber `n kleines Kugellager als `ne Werkbank auf dem Sattel. Apropos Kugellager: Die Sache eins weiter, also ganz dicht dran am Hinterteil, die ist mir ein vollkommenes Rätsel. Ich meine, wie kann man mit zusammengequetschten Schenkeln so strampeln, ohne sich zu verletzen? Wo unsereins Hoden hat, muss bei denen ein I-Stone stecken oder so was ... Ja ich weiß, Unterlegenheit macht gehässig. Aber ehrlich, es ist doch auch deprimierend. Die müssen nicht nach Hause telefonieren, um sich abholen oder beamen zu lassen. Die treten einmal durch und wooooooaaaahhhhhp. Gut ist`s. Auch ohne unheimliche Begegnung mit Außerirdischen fühlten wir uns schon manches Mal auf dem Bike streckenweise mehr gerädert als geradelt. Wie schön, dass das Gelände nach Mancor de la Vall die Gedanken an gelegentliche Strapazen verfliegen ließ. Streckenweise konnten wir es ohne zu treten bis zu einer halben Minute einfach laufen lassen. Mit dieser Leichtigkeit wirkten die seichten, saftigen Hänge, Mandelbaumfelder, Bergrücken und Finka-Idyllen noch viel schöner. So müssen die Vögel sich fühlen, wenn sie nach ein paar Flügelschlägen gleiten bis zum nächsten Aussichtspunkt, hin und her oder immer weiter. Könnte man doch nur immer unbeschwert wie jetzt durchs Leben leben. Vorbei an Johannisbrotbäumen und immer wieder Mandelzauber erreichten wir in bester Laune die ersten Häuser und Olivenhaine nahe Caimari und sofort den nächsten typischen Fahrrad-Tour-Moment:

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Dorflebenslust entwickeln. Der 600 Seelen-Ort vor und an den bewaldeten Kalksteinhängen des hier deutlich ansteigenden Tramuntana-Gebirges empfing uns wieder mal mit einem ausdehnten Gähnen. Nicht, ohne die Arme auszubreiten. „Kommt her und lasst euch treiben.“ Danke, ländlich, beschaulich, brauch` ich. Wenige Minuten später bekam jeder was er sich jenseits der Etappenziellinie wünschte, um die Ankunft mit kleinen Freuden groß zu feiern. Yvonne den Con Leche, Kayleen das lange vereinbarte Eis und ich einen Stuhl unter dem Hintern, um gemütlich Hals über Kopf ins kalte Bier zu tauchen. Das alles gab`s in der kleinen Bar am Eingang zum Dorf, hinter einem Kettenvorhang zwischen alten Mauern. Ein Stück willkommene Zweckmäßigkeit, unaufgetakelt und in wirklich keiner Ecke der Versuchung erlegen, mehr zu sein, als man hier braucht, um sich wohlzufühlen. Dennoch oder deshalb – zumal nach Stunden im Sattel – ein wahres Paradies für uns: Eine große lange Theke zum Gläser schieben und Geschichten ausbreiten, die Wände voll mit Schnickschnack und Helden der Region. Kühltruhen und –schränke, die kaum brummten, viel Geplapper unter wenigen Gästen und ein schweigsamer Polizist mit dem Gesicht hinter einer aufgefalteten Tageszeitung. Voll in Montur und voller Haltung, selbst noch in dieser Kaffeepause, schien er zu allem Einsatz bereit, aber in einem Dorf wie das hier wohl eher selten gerufen. Kayleen bohrte sich noch durch mein Veto hindurch bis vor zu einer Tüte Salzgebäck von diesem brechend vollen Ständer mit Snacks. Dann hockten wir uns happy an einen schiefen Tisch auf der abschüssigen Straße. Die Drahtesel hatten wir gleich neben den Profirädern der beiden Französinnen abgestellt, die neben uns schon kurz am Ende ihrer Pause schienen. Noch war Zeit genug zum Staunen: in zwei Tagen von Pollensa bis Sóller, teilweise mitten durchs Gebirge?! Alle Achtung, so läuft das, wenn man Ende Dreißig ist, schlank und trainiert. Nachdem die beiden davon geradelt waren, schien der Ort noch leerer. Was für ein Kontrastprogramm zu den Trauben und Schlangen von Menschen beim alljährlichen Olivenfest. Da reihen sich in den Gassen 170


die Stände der 0liven-Öl-Produzenten, Gewürzverkäufer, Händler mit Haushaltswaren und Kunsthandwerk aneinander. Die Menschen tun es auch. Du schaust mit einem handwerklich gemachten Bier in der Hand dem beinahe mittelalterlich anmutenden Marktplatz zu, wo aus nachgebauten Köhler- und Natursteinöfen kleine Rauchschwaden in die Lüfte ziehen. Du kaufst Käse oder naschst was Süßes, das dich viele Meter breit ausgelegt anlacht, bis du schwach wirst. Gefühlt ist das ganze Dorf auf der Gasse, darunter Stimmen in Deutsch und Englisch. Irgendwann bei solchen Anlässen schaust du dreimal hin, weil jemand aus der Ferne aussieht, wie jemand aus dem Fernsehen. Einmal war`s ein prominenter Koch, an der Hauswand lehnend mit der Zigarette in der Hand, und er war es wirklich. Einmal stand ein deutscher Schauspieler neben mir an einer Bar. Mit einem der ersten Casting ShowStars machte ich einen Mini-Smalltalk und ein Erinnerungsfoto auf dem Weihnachtsmarkt. Die meisten Promis, denke ich, wirst du aber kaum erkennen, außer, jemand ist schon von Natur aus das Gesicht in der Masse. Trotz Promis, Urlaubern und Residenten aus anderen Ländern – in erster Linie sind diese Messen Heimspiel. Dabei kennen die Einheimischen keine Müdigkeit. Nix manjana, nix tranquila. Früh und ausdauernd sind sie dabei. Schmerzlich mussten wir das einmal erfahren, als wir selber Aussteller waren in Montuiri im Südosten: Den Rat, unseren Stand schon um 6:00 Uhr aufzubauen, weil es um 08:00 Uhr beginne, hatten wir nicht Ernst genommen. Dann erfror uns das Lächeln im Gesicht, als wir um 08:20 Uhr mit unserem randvoll bepackten Auto ratlos vor der Straßensperre hielten und zum Sprechfunk-Thema wurden. Der Polizist, der uns durch die belebte Marktzeile bis zu unserem Standplatz eskortierte, fand es auch nicht lustig. Wir fühlten uns wie die letzten Anfänger. Und waren es auch. Lektion gelernt: Wenn man sich von anderen sein eigenes Weltbild bastelt, haut man schnell mal ganz daneben. So unterschiedlich kann man Orte auf Mallorca erleben. Im Alltag, bei Festlichkeiten, in vier Jahreszeiten gehüllt, die gefühlt nur drei sind, als flüchtigen Eindruck vom Auto aus und gedankenvoll beim Bummel oder Streifzug mit dem Fahrrad. Es ist so, als entdecke man an einem 171


Menschen, den man mag und schätzt, immer wieder interessante neue Seiten. Es verbindet, mehr und mehr. Viele Entdeckungen macht man zufällig. Einige davon, wenn man mit dem Fahrrad unterwegs ist, ohne strikt den Strichen auf der Karte zu folgen. Dann passiert einem allerdings auch ein besonders prickelnder Mallorca Bike-Moment: Auf Abwege kommen. Während wir vor dieser Bar an diesem schiefen Tisch saßen und das Dorf im warmen Licht der bereits leicht zum Abend hin geneigten Sonne auf uns wirken ließen, kam leichte Unruhe in uns auf. Zumindest an der Bahnstation in Inca wollten wir angekommen sein, bevor es dunkel ist. Aufsitzen! Wir verließen das Dorf über eine kleine Straße in Richtung der umliegenden Felder. Damit begann eine entdeckungsreiche Schnitzeljagd, bei der wir ständig stoppten, um vermeintlich markante Stellen als hoffentlich hilfreiche Orientierungspunkte zu identifizieren. Gleichzeitig verliebten wir uns in viele Details am Rande der einbis eineinhalbspurigen Feldsträßchen. Also andächtig verweilen vor meterhohen Schilfkonzentrationen, einer riesigen aber schmucklosen Galopprennbahn mitten in der „Pampa“, zauberhaften kleinen Anwesen, einer Horde der berühmten schwarzen Ibérico-Schweine irgendwo in einer sich selbst überlassenen Koppel ... Fotos natürlich und mal Schnuppern an einer Pflanze, Fragen von Kayleen. Das Rätseln, Spüren, Bewundern und Kayleen`s unumgängliches Pinkeln summierte sich auf der Uhr. Dann verließen wir auch noch unseren ungefähren Inca-Kurs, um ein kleines, schönes Agrotourisme-Hotel in dieser Abgeschiedenheit zu finden. Nach dem zweiten Hinweisschild darauf brachen wir ab, denn schon wieder waren unsere Schatten auf der Erde gewachsen ... Nun traten wir etwas strammer in die Pedale. Doch nicht asphaltierte Abschnitte und steinige Feldwege hielten uns weiterhin im hastig 172


schöngerechneten Zeitplan zurück. Um so mehr freuten wir uns über einen vielversprechend direkten Feldweg in die eindeutig richtige Richtung, der uns viele Kilometer sparen würde. Doch leider entpuppte sich die Abkürzung als Zufahrt zu einer Finca. Wieder mal kamen wir mit Anlauf vor einem Tor in einer endlosen Mauer zum Stehen. Wahrscheinlich eines dieser Anwesen mit 20.000, 40.000 oder mehr Quadratmetern. Normal auf dem Land. Einer unserer Bekannten hat ein altes Landgut, so groß, dass man eine Stunde wandern könnte, ohne das Grundstück zu verlassen. Mehr als Wandern und das Land bewirtschaften geht dort nicht. Es besteht keine Aussicht auf die Genehmigung, ein zweites Wohnhaus zu bauen. Und ohne sollte man es nicht tun. „Sie fliegen von Zeit zu Zeit mit Helikoptern herum, um zu schauen, ob sich im Inselinneren was tut“, erklärte er uns die Brisanz der Situation. Unser Prickeln vor dem plötzlich in der Landschaft aufgetauchten Hindernis lag in Form eines vierbeinigen Soldaten in der Luft. Also zurück und immer mal wieder nach hinten schauen. Mallorca, hat Yvonne irgendwo mal aufgeschnappt, habe die größte Konzentration an Kampfhunden in Europa. Superlativ hin oder her, die starke Hundepräsenz gibt auf jeden Fall mitunter einen gewissen Biss für eine extra schnelle Meile auf dem Fahrrad. Auf einigen Fincas sind ganze Rudel unterwegs. Und weil viele Hunde bekanntlich nicht gut behandelt werden, sind höchstwahrscheinlich manche auch nicht gut drauf. Unsere Stimmung ging in den nächsten rund 90 Minuten leicht auf und ab wie das Gelände. Auf der Kuppe eines dezent ansteigenden Feldweges war, erneut anders als vermutet, von Inca weit und breit nichts zu sehen. Glücklicherweise wies uns eine Bewohnerin der dort verträumt thronenden drei Häuschen die Richtung. Zurück. Nee, echt? Zurück. Die Beschreibung erwies sich als richtig. Die tiefe Sonne, die das weite Tal mit dem Ort Selva vor den Abendbergen flutete, überschüttete uns mit ganz viel Trost. Auf der anderen Seite links neben uns leuchteten Bilderbuchfincas goldgelb. Es herrschte bildschöne Stille in dieser freundlichen, friedlichen Welt, die nur ein Bruchteil aller Touristen jemals sehen wird. Dennoch blieb die innere Unruhe.

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Mit Kayleen bei Nacht durch den unumgänglichen Straßenverkehr vor und in der Stadt – kein schöner Gedanke. Zwar war ich mit ihr schon einmal auf der durchgängigen Fahrradspur von der Plaza de España bis zur Promenade vor Palma unterwegs gewesen, aber eben am hellichten Tage. Ausgerechnet die Sorge um unsere Kleine war es dann wohl, die mich in meiner Obhut für sie auf einem matschigen Feldweg völlig versagen ließ. Hektisch und gedankenverloren führte ich uns drei in voller Fahrt auf den schmalen Streifen zwischen einem Anwesen und einer großen Pfütze. Ich schrammte haarscharf an dem dornenübersäten Wildwuchs auf der Mauer vorbei und brüllte nach hinten statt „Stopp!“ nur ein idiotisches „Mach die Augen zu!“ Schwachsinn! Was für ein Schwachsinn! Kayleen`s Schrei traf mich wie ein rotierendes Sägeblatt. Mit Panikpuls und innerlich zitternd dankte ich gleich darauf Gott für den glimpflichen Ausgang: ein paar heftige Kratzer an der Hand und an einem Bein. Wir beruhigten und verarzteten das kleine ahnungslose Geschöpf, das ich in einer Sekunde Hirnlosigkeit beinahe ins Verderben gerissen hätte. Noch lange war mir zum Heulen zumute. Jede jemals gefällte Kritik an anderen sei mir verziehen, dachte ich, und jede Verurteilung anderer in der Zukunft ausgeschlossen. Wie verdammt schnell machen Menschen Fehler. Wie unglaublich dumm kann man reagieren, obwohl man eigentlich seine Sinne beisammen hat. Und wie unendlich dankbar sollten wir alle sein, allein schon dafür, wenn wir mit einem blauen Auge einigermaßen durch`s Leben kommen. Das Glück blieb auf unserer Seite. Nach nun besonders vorsichtigem „Vorantasten“ und der kurzen Zitterpartie am Rande der Nacht auf einer viel befahren Zufahrtsstraße in die Stadt erreichten wir Inca bei Dunkelheit. Gerne tauschten wir jetzt den kurz zuvor erlebten Frieden im Tal mit der geräuscherfüllten Betriebsamkeit der zweitgrößten Stadt auf Mallorca. Die spürbare Nähe zum Bahnhof, Menschen, die sofort helfen könnten, Licht überall und befestigte Straßen ohne Matschfelder und dornenübersäte Wände – wie schön, das alles wieder zu haben. Von Karl

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Marx stammt der Satz: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Gebt mir einen Stift, ich unterschreibe … Einmal fragen genügte und wir fanden den Bahnhof, unser Sprungbrett nach Marratxi. Kayleen hatte tapfer mitgehalten bis zu diesem very happy end am Bahnsteig neben den schnurgeraden Gleisen. Auch das trug zur Geborgenheit dieses Augenblicks bei. Ohne Umwege und schnell konnte es jetzt weitergehen, gefühlt beinahe bis direkt in unsere Küche und das Wohnzimmer. So freuten wir uns auf ein bisschen Brutzeln und lecker gammeln vor der Glotze. Und aufs Bett. Auch Schlafen war plötzlich wieder voller Wert. Für uns gab es ja auch nun wirklich nach diesem Erlebnis nichts mehr zu versäumen. Da glitt der Zug vor unsere Füße und mit ihm der letzte typische Fahrrad-Tour-Moment: Das schöne Gefühl, wieder nach Hause zu kommen.

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Der Mallorca Moment Wenn Weihnachten ohne Schnee und ohne Stress abläuft ... Damit das mal klar ist: Die Heiligen Drei Könige kamen nicht mit Schlittenhunden daher und Jesus nicht im Iglu zur Welt. Was soll also das weinerliche Gejammer über jämmerliche Weihnachten unter Palmen. Genau da gehört es doch hin. Und wenn man das Fest der Liebe einigermaßen authentisch feiern kann, ohne sich in die Wüste zu jagen, ist es doch geradezu perfekt. Soweit die Argumente für fröhliche Weihnachten auf Mallorca. Gewöhnungsbedürftig ist es dann aber doch. Dabei hilft die ehrliche Erinnerung, wie es so in Deutschland war, als alle Jahre wieder das Christkind in uns Erwachsenen zum Vorschein kam ...

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A ndtrax , A laró , P uigpunjent , P ueblo E spañol

in

P alma

Eingestimmt Oh-livenbaum, Oh-livenbaum, wie fremd sind deine Blätter ... Wenn man Residenten fragt, was sie an Deutschland vermissen, fällt am Ende des Schweigens mitunter das magische Wort Weihnachten. Gemeint sind natürlich nicht die nassen Socken nach einer durchgestandenen Matschtour unterm Regenschirm oder Platzangst schaffendes Glühweinjonglieren in einer breiartig dahinwabernden Menschenmasse. Keiner denkt dabei an den unheiligen Konsum-Triathlon mit den Disziplinen „aussuchen, schenken, umtauschen“. Auch das stressige Anspruchsdenken der Besuch erwartenden Verwandtschaft ist in sehnsuchtsvollen Momenten so verdrängt wie jener kritische Punkt kurz vor dem Weihnachtskoller. Eindeutiges Zeichen: Die so sehr herbeigesehnten Weihnachtslieder gehen dir plötzlich nur noch so was von auf den Jutesack. Alle, die Weihnachten vermissen, denken ganz anders. Sie denken – nur an das Eine: das eine Mal, wo`s wirklich perfekt war, damals ... Harmonie ganz in Weiß mit einem Eisblumenstrauß. Glühender Wein in klirrender Kälte. Lichterpracht unter strahlblauem Abendhimmel. Unvergessene Augenblicke: Der Flirt am Überbrückungskabel mit diesem Knistern in der Luft, als die halb erfrorenen Finger beinahe zwischen die beiden Pole kamen. Das Bandscheiben-Desaster beim „Last-Minute-Schneeschaufeln“, das die nahende Bescherung noch schöner machte, weil dieser Vorfall die Nächstenliebe des Nachbarn zum Vorschein brachte. Weihnachtswunder überall. Ehepaare hatten wieder Sex, Einzelhändler erneut Rekordumsätze. Waren es auch nur ein paar beruhigende Prozent hinter dem Komma im Vergleich zum Vorjahr, 178


so hatte sich doch wenigstens noch diese Steigerung vollzogen, nachdem es eine Zeit lang gar nicht so ausgesehen hatte. Gäbe es den Weihnachtsmann wirklich, die Konzernspitzen würden sich um ihn prügeln. Nicht nur das Kaufen nahm religiöse Dimensionen an. Kinder vergötterten ihre Eltern, huldigten der Ordnung in ihren Zimmern und aßen artig ihre Teller leer. Spekulanten von Morgen? Oder die ganz normalen Zeichen wahrer Weihnachtswunder in der Zeit voll wunderbarer Waren? Ständig zum Essen verführte Männer entwickelten in nur wenigen Wochen Merkmale einer Schwangerschaft. Unterdessen arbeitete man in den Redaktionen der Illustrierten schon fieberhaft daran, in den Abspeckartikeln der letzten 10 Jahre irgendetwas Neues zu verwursten. Im perfekten Weihnachten in Deutschland fehlte auch das Schmücken des Baumes nicht. Stand er erst einmal im Wohnzimmer, lotgerecht ausgerichtet mit der Wasserwaage und ohne ins Heiligste zu ragen – das Fernsehbild – war es geschafft. Vergessen jeder Streit um die Farbe oder Art des Baumes, kein Wort mehr über die alljährliche Vergesslichkeit des Mannes und die Tausend unnötig verstreuten Nadeln auf den FlokatiTeppichen. „Überall!“ Man sah einfach diesen Baum an und besann sich auf Genügsamkeit. Es reichte doch vollkommen, einmal im Jahr Menschen auf diese Weise mit Form und Größe zu beeindrucken. Heute müssen Silikonkissen und Penisverlängerungen her, um Bewunderung oder Andacht auszulösen und um sich seines wahren Selbst bewusst zu sein. Aufblasbare Weihnachtsbäume gibt es im Gegensatz zu damals auch schon, auf dass jeder ohne andere Umstände seine weihnachtlichen Gefühle daran abreagieren kann. Heute erinnert mancher Kampf mit Lichterketten an die Auftritte von Entfesselungskünstlern. Damals, bei diesem einen perfekten Weihnachten in Deutschland, schmückte man noch mit Grazie und richtigen Kerzen. Dabei ließ man sich nicht jagen von sich selbst. Burn-out brachte jeder alle Jahre wieder in Zusammenhang mit abgefackelten Wohnungen. Also nicht mit den 179


riesigen Nebenwirkungen einer brennenden Leidenschaft für alles im Alltag was Leiden schafft. Damals konnte kaum etwas mehr beglücken als das andächtige Schmücken der Tannen. Zapfen konnte man daraus so viele gute Gefühle. Und darunter so starkes Bier aus dem Fünfliter-Fässchen, dass sich das Verpacken der Geschenke leichten Herzens an die Dame des Hauses delegieren ließ. Die Welt war einfach in Ordnung. Der beste Kumpel hatte noch immer seine ahnungslose zweite Frau, Opa noch seine dritten Zähne im Griff, der Lebenspartner keine Haare darauf. Wie konnte man sich freuen, wenn endlich kurz vor dem 24. Dezember Spekulatius und Dominosteine auftauchten, ohne dass man von den bereits geschossartig nahenden Ostereiern nervlich niedergestreckt wurde. Alles war gut. Sogar die Geschenke. Elektronik war nicht schon in dem Moment wieder veraltet, wo du sie ausgepackt hast. Neue Sachen, die einem nicht gefielen, konnte man zu einem guten Preis verkaufen, statt sie zu verschenken oder kostenpflichtig und verordnungsgemäß zu entsorgen. Das beste Weihnachten in Deutschland – auch hier auf Mallorca kannst du es in vielen Punkten wieder aufleben lassen. Die Frage ist nur: Was von all dem willst du wirklich? Es geht auch anders. Fünf Insel-Weihnachtsmärkte in drei Jahren steckten voller Momente, die uns das haben kapieren lassen. Allmählich. Und mit Freude. Wein achten bei Gitarrenklang und Tapas-Talk. Ich glaube, das Schlüsselerlebnis war unser Besuch einer Bodega bei Andratx. Mit Temperaturen zwischen nur noch 14 und 20 Grad und dem Monat Dezember war irgendwie klar, dass die Weihnachtszeit begonnen hatte. Also wollten wir ein bisschen was unternehmen. Irgendwas Nettes, das man mit dem Begriff feierlich oder beschaulich in Verbindung bringen

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kann. Ein Gitarrenspieler, Weinprobe, Bodega – das klang nach dem, was wir uns vorstellten. Also fuhren wir hin. Die alten, gepflegten Natursteingebäude gleich am Anfang wo wir parkten, wirkten verlassen aber verbreiteten im Licht des sonnigen Morgens ein gutes Gefühl. Hier gab es nur Rebenfelder und dieses Anwesen, gerahmt von üppig bewachsenen Hügeln und Berghängen, viel Ruhe und ein Gefühl von Wärme auf der Haut. Neugier packte uns. Wie würde es weitergehen? Und wohin? Eine Weihnachtsparade war hier nicht zu erwarten. Ob die Damen vom Service vielleicht als Rauschgoldengel daherkommen würden? Wir gingen gespannt und erfüllt von lieber keinen Erwartungen auf ein großes Gebäude aus mächtigen Natursteinblöcken zu. Aus dem dunklen Spalt hinter der massiven Stahltür klang zart und wehleidig eine Gitarre heraus. Unsere selbst verordnete Ehrfurcht brachte uns fast auf die Zehenspitzen. Jetzt bloß nicht eine dieser peinlichen Situationen, wo man in die Stimmung poltert und ein paar dieser Blicke erntet. Anderseits: Das hier war Spanien. Ein bisschen spät und unverkrampft reinplatzen geht immer. Durch die Riesentür auf der anderen Seite dieses Tages angekommen, tappten wir also etwas lockerer weiter im Dunkel der wenig prächtigen aber imposanten Halle. Hätten da keine lustig gestimmten Leute bei Tapas und Wein um große Fässer herum auf ihren Hockern gesessen, wir hätten uns für Momente wie im Bann einer morbiden Kathedrale gefühlt. Die Augen brauchten eine Weile, um aus Schatten und Silhouetten wieder richtige Menschen und Gegenstände zu machen. Schließlich tauchte vor ausnahmslos leeren Stühlen auch der Gitarrenspieler auf.Mit seinen „andabluesischen“ Klängen gab der etwa 40- bis 50jährige diesem lebenden Gemälde eines unbekannten Meisters einen melancholischen Anstrich. Eine ganz eigene Farbe brachten gleich daneben die weinseligen Genießer ein, mit eleganten Gläsern und ihrer heiteren Chatterei. Oh je, du fröhliche Runde, mochte man denken, wollt ihr in eurem vornehmen Sonntagmorgen-Gelage dem musikalischen Auftritt denn keinerlei Interesse widmen? Wenigstens begleitete ein dezenter Beifall das Ende jedes Stückes. Dem versunken wirkenden Virtuosen lockte er ein gütiges, zufriedenes Lächeln aus der Tiefe, obwohl der Applaus in seiner Beiläufigkeit etwas unangenehm Gönnerhaftes an sich hatte. Krass. 181


Wir traten in dieser Stimmung erst einmal kurz beiseite. Die diversen Weinlager neben der Haupthalle boten mit kleinen Infotafeln die perfekte Gelegenheit dazu. Leider schleppe ich, so lange ich denken kann, eine entartete Form der Schlafkrankheit mit mir herum. Alles, was nur ein bisschen Museums-Charakter hat, löst bei mir einen kaum beherrschbaren Müdigkeitsschub aus. Das diffuse Licht steigerte den Effekt und das unerwartete Quengeln unserer Kleinen besorgte den Rest. Nach nur fünf Minuten gesellten wir uns zu den anderen Besuchern. Ein paar Schluck Wein brachte uns ihnen schnell näher, zumindest emotional. Unsere ganze Solidarität aber galt dem Mann an der Gitarre. Wir setzten uns auf drei der dafür vorgesehenen fast 100 Plätze. Damit hatte er jetzt schon mal sieben oder acht echte Zuhörer. Auch Cool. Er spielte somit fast nur für uns. Jetzt hier doch noch irgendwo Weihnachten finden, das war plötzlich nicht mehr wichtig. Weihnachten witzig finden, das war auf einmal ganz leicht. Und es machte Spaß. Ein klappriger Kiefernast, am Ende seiner Säfte vor der gewaltigen Wand aus Stein – das hatte was. Darunter lagen zwei, drei Geschenkpakete. Natürlich nur kleine. Und so schmucklos wie die aussahen, konnte die eigentlich nur wer gepackt haben? Ja, genau ... „Ein Mann“, werden an dieser Stelle acht von 10 Leserinnen gerade gedacht haben. Nicht null Sterne, sondern immerhin einen und auch noch recht weihnachtlichen, gab es vor dem gigantischen Spiegel ein paar Meter weiter. Und ein einsamer Rauschgoldengel am Boden stellte das perfekte Sinnbild dar für den Stellenwert von Weihnachten bei diesem Event. Nein, das hier war wirklich nicht der Ort und nicht die Zeit für Weihnachtsglanz und Glamour. Umdenken. Hineinspüren. Reinfinden ... Das hier war der Moment schlichter Bewunderung. Bewunderung, dass jemand aus fünf Saiten mit 10 Fingern so ein Festival der guten Töne zaubern kann – großartig! Wow, was für ein kolossales Gebäude hier aus diesen monumental wirkenden, grobporigen Sandsteinen geschaffen worden war! Zu welcher Anmut, zu welchem charaktervollen Getränk man den Saft aus Trauben ausbauen kann! Und was für ein guter Stil, dass

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die Repräsentantin des Weingutes ihre Ansprache an die fast ausschließlich deutschen Gäste erst in Spanisch, dann in Deutsch hielt. Innerlich waren wir mit unserer Stimmung jetzt bei den Gästen angekommen, die wir bei unserer Ankunft vorgefunden hatten. Nach außen blieben wir dennoch die artigen Konzertbesucher. Nicht alle teilten diese Haltung. So machten wir eine Art Grenzerfahrung. Vor uns ergreifende klassische Musik live, hinter uns akzentuiertes Geschnacke in Norddeutsch über Hundekötteln in Santa Ponsa. Als der Musiker deutlich spürbar etwas stärker gegen den allgemeinen Geräuschpegel anspielte, steigerten sich auch die beiden Damen. Da hatten wir`s wieder: Schöne Musik und Hundescheiße – das richtige Leben eben, in dem jeder die Welt auf seine Art wahrnimmt und Gegensätze nicht selten dicht beieinander liegen. So dicht wie bei den beiden Kindern schräg vor uns: Der eine träumte im Buddha-Sitz mit der Musik auf dem Schoß der Mutter. Der andere hockte darunter auf dem Steinboden und scheuerte ihn unablässig mit einem Spielzeugauto. In 10 Jahren würde es vielleicht umgekehrt sein. Wir lauschten und flüsterten, sahen uns um, staunten und schmunzelten. So wurde es Mittag. Die Zahl der Besucher hatte sich inzwischen verdreifacht. Und es kamen immer noch mehr Leute dazu. Der Dezemberfrühling schien durch die nun weiter aufgeschobene Tür. Dennoch stand die Luft im Raum. Regungslos schimmerten die Kerzenflammen darin. Nur eine einzige züngelte von Zeit zu Zeit als wehe ein Geist durch das Gemäuer. Immer weiter steigerte sich der Geräuschpegel mit der Zahl der Gäste und Gläser. Ein kleines Pferd, das offensichtlich im Körper eines Hundes zur Welt gekommen war, galoppierte plötzlich durch die Menge, umsprungen von ebenso verspielten Kindern. Das Sonntagmorgen-Konzert verwandelte sich endgültig in ein Familienfest voller Genuss und Ausgelassenheit. Unser Erlebnis war nun rund und wir hatten noch etwas anderes vor. So machten wir uns in richtig guter Stimmung allmählich auf den Weg zum Auto. Draußen auf dem idyllischen Vorplatz waren die Tische auch schon rundum besetzt. Die Leute saßen halb im Fest, halb in der Natur und ganz beseelt vom Wirken lassen. Ihr Gesichtsausdruck ließ sich leicht übersetzen 183


mit einem einzigen Wort: Dankbarkeit. So reizvoll kann unspektakulär sein, so sehr das Leben an sich ein Fest der Liebe – Liebe zum Dasein. Am Ende eines Rebenhanges trottete ein schneeweißes Pferd ins Bild. Wir schauten noch mal genauer hin, ob es vielleicht ein Horn auf der Stirn trug. Irgendwie hätte es ja gepasst, wenn der Zauber des Tages und dieses Ortes ein fabelhaftes Wesen angezogen hätte. Und hier musste das wirklich kein Rentier sein. Ob dieser Dreiklang aus Tapas, Wein und Livemusik damals auf der Bodega überhaupt als weihnachtlicher Event gedacht war, weiß ich nicht. Auf jeden Fall passte er in die Weihnachtszeit auf Mallorca. Bei näherer Betrachtung lassen sich auf der Insel in diesen herbeigesehnten Wochen viele mehr oder weniger weihnachtlich geprägte Erlebnisse entdecken. Weihnachtsweltenbummel. Ein anderes Weingut beispielsweise, Castell Miquel, lohnt sich alleine schon durch seine Lage. Hier wächst der Wein tatsächlich am Berg. Die Bodega eines deutschen Pharma-Unternehmers bietet alljährlich neben einer gepflegt lockeren Weihnachtspartystimmung, Kunst, Kunsthandwerk und niveauvollen Artikeln einen Prachtblick hinunter in ein weites grünes Tal vor grandioser Bergkulisse. Enge Sträßchen, wo sich ein malerisches Townhouse direkt an das andere reiht, machen den Charme des Weihnachtsmarktes in Alaró aus. Hier, in der Ursprünglichkeit des kleinen Städtchens am Fuße des TramuntanaGebirges, wirkt der zurückhaltende Auftritt von Süßigkeiten, Schmuck und Kunsthandwerk angenehm familiär. Passend zu dieser schönen Atmosphäre aus Ambition und Tradition, erlebten wir, wie sich aus dem entspannten Weihnachtsmarkttreiben heraus ein paar Leute auf den Weg zu einer kleinen Freiluftbühne machten. Keine Uniform, keine Instrumente, keine Scheinwerfer. Nur mit diesem „Lasst` uns mal eben singen“-Flair und ihren Weihnachtsliedern zogen sie an der etwas breiteren Stelle der Gasse die Menschen zu sich. Manche aus dem Publikum sangen unter der Anleitung des Chorleiters mit. Andere trugen 184


stolz und heiter ihre Kinder auf den Schultern. Alte und junge Paare umschlungen sich mit den Armen oder ihren Blicken. Winzige Bars ragten mit einer Handvoll Stühlen und Tischen in die überschaubare, kuschelige Menge hinein. Daraus hallte immer wieder Lachen in die Nacht, mit Sprachbrocken darin und drum herum in Spanisch, Englisch, Deutsch. Weihnachten, hier ist es kein Konsum, keine Inszenierung, sondern eine Emotion, entstanden ohne Vorsatz oder Ziel. Improvisierte Verkostung, simpel errichtete Stände, ein bisschen Licht, schöne Produkte. Das genügt, um dem abendlichen Treiben in ursprünglichen Gassen einen neuen Reiz zu geben. Und es nährt das gute Gefühl, in kollektiver Harmonie eine gemeinsame Sehnsucht zu erfüllen. Frieden. Freude. Einigkeit. Vielleicht spielt in dieser Sehnsucht auch die Lust auf kleine, charmante Weihnachtswelten eine Rolle, ohne Menschenmassen und frei von einem erschlagenden Warenangebot. Weihnachten fast wie im Puppenhaus erlebten wir in einem traditionellen Luxushotel bei Puigpunyent. In einem Innenhof des Anwesens, das auf einer Anhöhe thronend mehr an ein Schloss als an ein Hotel erinnert, präsentierten fast ausschließlich Künstler einen Ausschnitt aus ihrem Schaffen. Sieben, acht, höchstens neun Stände waren da in Form schicker, weißer Partyzelte großzügig verteilt. Der offene Blick über die Dächer und Erker des Hotels hinein in den Nachthimmel, mit einem scheinbar neugierigen Mond und klaren Sternen darin, hätte geradezu biblische Andacht wecken können. Doch wie vielerorts – wenn nicht überall – triumphierte hier schwaches Fleisch über einen möglicherweise willigen Geist. So huldigten die etwa 20, 25 Besucher kaum etwas anderem als der kulinarischen Seite des Abends. Ein würziger Glühwein zählte dazu, fein genug, geschmacklich zu begeistern und ausreichend stark, um Sentimentalitäten zu fördern. Da hatten die Kunstwerke wenig Chance auf tiefer gehende Beachtung. Allenfalls die Schafe im nett gemachten Freiluftstall erfuhren Zuwendung. Zudem war fast keiner der Künstler zu diesem Zeitpunkt bei seinen Werken, um seine Streicheleinheiten entgegen zu nehmen. Wer weiß, vielleicht waren sie Teil der kleinen Menschentraube dort neben dem Zugang zum Innenhof. Da gab`s all das, wonach es auf diesem 185


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Weihnachtsmarkt-Winzling so großartig duftete. Und genau da zog es auffallend schnell alle hin, die nach und nach noch hereintröpfelten. Essen und Trinken, so scheint es, sind der absolute Kauflustkiller. Und Besucherströme wie auf deutschen Weihnachtsmärkten sind auf Mallorca nicht zu erwarten. Umsatz und Gewinn dürften hier also für erfahrene Marktkaufleute nicht die Motivation sein. Vielleicht funktioniert der Werbeeffekt. In Portals Nous, einem Luxushafen im Südwesten, könnte es zum guten Ton gehören, dabei zu sein. Dort, auf der schmalen FußgängerAllee in zweiter Meereslinie direkt hinter dem Hafen, präsentieren sich überwiegend umliegende Restaurants und Bars in einer Art Fünfsterne Weihnachtsmarkt. Hochwertige Produkte, vor allem Essen und Trinken auf gehobenem Niveau, bilden zusammen mit geschmackvoll ausgestatteten Holzhäuschen ein ausgesprochen appetitliches, einladendes Ambiente. Das Prädikat „schönster Weihnachtsmarkt“ ist dem Pueblo Español, westlich der Altstadt von Palma de Mallorca, in die Wiege gelegt. Als Freiluftmuseum im Stil eines spanischen Dorfes verfügt das Areal von Grund auf über eine unschlagbare Kulisse. Mit und ohne Weihnachtsmarkt: Du schlenderst wie im Traum durch ein Ensemble aus originalgetreu nachgebauten Gebäuden aus ganz Spanien. Häuser, Kirchen, Paläste und Festungen. So hoch, dicht und von einer starken Mauer umgeben stehen sie auf 26.000 m2 aneinander, dass der Rest von Palma nicht ins perfekte Bild ragt. Verteilt über mehrere Ebenen und Kopfsteinpflastergassen, in verschiedensten Ecken und Winkeln überschlägt sich hier – verglichen mit anderen Weihnachtsmärkten der Insel – geradezu das Angebot. Tapas, Bratwurst, China-Snack, Kerzen, Kunst und Haushaltswaren ... Auf Fans des Nürnberger Christkindlesmarktes und ähnlichen Ikonen weihnachtlichen Treibens in Deutschland, dürfte der dezente Kampf um gute Plätze an den „Buden“ beinahe wie ein Heimspiel wirken. Egal wie voll es in mancher Stunde sein mag – es lohnt sich einzutauchen in das weihnachtlich getrimmte Ensemble spanischer Sehenswürdigkeiten, voller Fresslust, Spaß und Livemusik. Ein Treffpunkt ist es allemal. 188


Schon am Eingang stießen wir auf Bekannte, die wir sonst eher selten sehen und dann meistens Zuhause oder mal am Strand: eine Schauspielerin und ihre Familie. Später drinnen begegneten wir dann trotz Getümmel gleich in der ersten halben Stunde weiteren vertrauten Gesichtern. Da, ganz ehrlich, kam für einen Moment das andere Weihnachtsmarktgefühl mit Freude in uns hoch. Mäßig ist klasse, aber Masse, hm, hat auch was. Und als es dann von oben noch haufenweise kleine Seifenschaum-Flöckchen auf uns nieder schneite, ertappten wir uns bei einer starken Dosis Wehmut. Die war dann aber doch nicht stark genug, um uns länger zu beschäftigen. Was blieb, war Heiterkeit über die spontane Faszination am Kitsch. Also bleiben wir dabei: Bodega, Luxushotel, Kleinstadtgassen, trockenes Wetter deutlich über Plus. Palmen und Olivenbäume, wenig Schmuck, viel Atmosphäre, selten Andrang, immer Stimmung. So anders geht Weihnachten. Hier auf Mallorca. Mediterran entspannt, ohne Skiunterwäsche und Lebkuchen189


Look, mit einem Flair, das in vielen Punkten an die übrigen Tage auf der Insel erinnert. Und wenn du das magst, kommt dir ein schöner Gedanke: Weihnachten – hier ist es immer. Und solltest du es doch mal anders empfinden, dann fliegst du halt rüber in das Christmas Winter Wonderland deiner hartnäckigen Träume.

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Der Mallorca Moment Wenn du anfängst, diese andere Art zu lieben ... Wer sagt, dass das Leben kompliziert ist? Wo steht geschrieben, dass man sein Können in einem Rahmen präsentieren muss, der nach Können aussieht? Müssen Dinge makellos sein, bevor wir sie aufrichtig bejubeln? Ist es nicht eigentlich Verschwendung, wenn wir der Suppe weniger Beachtung schenken als dem Haar darin? Was bringt es uns, wenn wir uns an jahrelange Vorstellungen klammern, statt uns voller Neugier hin zu neuen Horizonten treiben zu lassen? Kann es sein, dass klassische Orchester-Musiker mitten im Straßenverkehr während der Rushhour mal eben ein Konzert geben, ohne unter ihren schwarzen Sonnenbrillen mit der Wimper zu zucken? Ja, und wie, denn auch das ist Kunst – die Kunst, den Augenblick unbeirrt zu leben ...

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P aseo

del

B orne (P alma ):

Reingestolpert Ein überraschend „erstklassisches“ Konzert auf gewohnt entspannte Weise Dies ist eine Geschichte über etwas, das die meisten Menschen die meiste Zeit suchen: die richtige Art zu leben. Vielleicht tragen unser etwas anderer Konzertbesuch in Palma und ein paar ganz andere Erfahrungen im Alltag ein kleines Bisschen dazu bei, dass du dieser Kunst näher kommst. Die Chancen stehen gut, denn die Begebenheiten handeln von Gelassenheit. Und wer strebt bei der Suche nach der richtigen Lebensart nicht auch danach, etwas weniger gehetzt und seltener aufgeregt zu sein! Wie das aussehen könnte bzw. nicht aussehen sollte, dafür gibt es hier auf der Insel viele Beispiele. Mallorca entspannt. Mallorca versaut. Beides stimmt. Im Einzelfall ist es oft eine Frage der Interpretation. Und es gibt viele Einzelfälle ... In Deutschland kommst du als Junge mit dem Fensterleder und der Autopolitur zur Welt, in Spanien mit einem Achselzucken. Deshalb gehört hier ein Wagen nicht zu den Risikofaktoren für einen Herzinfarkt. In Deutschland wird poliert, in Spanien gelassen geschrammt. Eine Form dieser Lebenskunst ist das behutsame Kontaktparken. Schön anzusehen. Es erinnert an den ersten Kuss. Ganz zögerlich aber unausweichlich wird der eigene Kotflügel an das andere Auto herangeführt. Das schreckt dann in einer leichten Ruckbewegung zurück, bleibt aber standhaft, als habe dieser kleine Flirt die ganze Neugier geweckt. Wer dieses Spiel schon kennt, gibt sich ihm – der Schadensbegrenzung wegen – mit gelöster Handbremse bereitwillig hin. Beim zweiten zärtlichen Andocken liegt bereits so eine Art Kuschelerotik in der Luft. Das war`s dann aber meistens auch schon. Zweimal vor- und zurückstoßen, und der oder die Parkende hat bekommen, was er oder sie wollte. In der richtigen Position in der Nicht-Lücke angekommen, geht es weiter des Weges. Der Parkpartner wird, wie bei ähnlichen Kontakten im Leben, zurückgelassen als sei nichts 194


gewesen. Im Nachhinein fühle ich mich fast wie ein Spanner, weil ich mal direkt danebenstand, als es passierte. Doch ich konnte nicht anders als wie gebannt hinzuschauen. Tut mir auch leid, dass ich da auf dem Bordstein nach zwei Schocksekunden rumgefuchtelt und rumgeschrien habe. Mit der flachen Hand auf den Kofferraum schlagen, sorry, auch kein guter Stil, ist mir halt so rausgerutscht. Aber was würdest du machen, wenn es das eigene Auto betrifft? Da gibst auch du schon mal den Idioten, oder? Dabei hatte sie es doch nicht heimlich gemacht und wirklich ganz lieb. Bei anderen Gelegenheiten muss es wohl mehr wie bei einem Eishockeyspiel zugehen. Wo sonst, wenn nicht von heftigen „BodyChecks“ kämen all diese Lack- und Blechschäden her. Den tiefsten Eindruck in unseren ersten Wochen hinterließen nicht die Berge oder das Meer, sondern die Parkplätze. Manchmal mussten wir zweimal hingucken, weil wir glaubten, auf dem Firmengelände einer Karosseriewerkstatt oder Lackiererei zu stehen statt vor dem Supermarkt: überall Dellen, Beulen, angeschlagene Kotflügel und meterlange Schleifspuren an der Fahrzeugseite ... Was in Deutschland Persönlichkeitskrisen auslöst, scheint man in Spanien locker wegzustecken. Da ist eine Menge heldenhafte Souveränität im Spiel, wie man sie von diesen angeschossenen Typen aus Western- und anderen Movies kennt: „Es ist nur ein Kratzer“. In den Filmen brechen sie dann zusammen. Bei Blechschäden in Spanien brechen sie ab. 30 Sekunden großes Palaver mit Händen und Füßen, dann steigt jeder wieder in seinen Wagen und fährt davon. Mehr als einmal haben wir diese für Deutsche unerträgliche Leichtigkeit des Demoliert-Seins live erlebt. Irgendwann steckt sie an. Als ich nach zwei Jahren beim Einkehrschwung in der Tiefgarage an der Betonsäule langgeschrammt war, empfand ich eine Art Erlösung. Endlich war es passiert. Ich glaube es kam sogar eine leichte Freude in mir auf. Wahrscheinlich hatte nicht ich am Steuer gesessen, sondern mein Unterbewusstsein. Jedenfalls ging ich rauf in die Wohnung und dachte nur: „OK, jetzt gehören wir dazu.“ Schritt eins der Integration vollbracht.

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Fahr dein Auto an die Wand und geh` zur Tagesordnung über. Spanisch würden wir auch noch lernen. Die Schrammen am Kotflügel sah ich mir am nächsten Tag an. Du kannst dir denken, wie? Natürlich ... mit einem genussvollen Achselzucken ... Yvonne erzählte ich lange Zeit nichts davon. Ich war mir sicher, in diesem Punkt hatten wir noch einen unterschiedlichen Grat der Integration erreicht. Für mich war es bereits weniger als eine Bagatelle, nicht der Rede wert. Also ein Auto ist hier ein Mittel zum Zweck, nicht zum Schreck wie in Deutschland. Viel Entspanntheit herrscht auch bei anderen Dingen des täglichen Lebens. Kleidung: Wirklich viele gut angezogene Leute siehst du in bestimmen Straßen oder Vierteln in Düsseldorf, München oder Hamburg. Nicht so viele davon in Palma, schon gar nicht in Inca oder Manacor.

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Die große Ausnahme sind die Kleinen. „Ein Spanier läuft selber eher in Lumpen rum, bevor die Kinder nicht rausgeputzt werden können“, erzählte mir ein deutscher Mallorca-Veteran beim bewundernden Blick auf die Besucher eines Flohmarktes. Mit der sicheren Einschätzung aus 13 Jahren auf der Insel wertete er das als Ausdruck der enormen Zuneigung der Spanier für Kinder. Das deckte sich mit all unseren Erfahrungen vom ersten bis zum heutigen Tag. Die Spanier lieben Kinder und wir lieben die Spanier dafür und die Art, wie sie das zeigen. Nirgends auf der Welt haben wir so oft so leuchtende Augen bei der Begrüßung von Kindern gesehen. Die kleinen werden mit Worten, Gesten und Händen umarmt, in höchsten Jauchz-Tönen regelrecht zelebriert. So sieht das aus, wenn das Herz aufgeht. Dauern kann es eine Minute oder zwei. Bei der Verabschiedung dann das Gleiche. Als Erwachsener bist du da manchmal nur Beiwerk. Und total happy. Ja, sie zeigen uns wie`s geht, die Kleinen. Wir Erwachsenen bauen Kontakt auf, Kinder strahlen oder lächeln ihn einfach herbei. Von eben auf jetzt voll da, das gilt leider nicht für Leute, mit denen man sich verabreden will oder verabredet hat. Pünktlichkeit ist eine schöne Erfindung. Hier auf Mallorca kannst du damit beeindrucken oder zumindest auffallen. Aber übertreib es nicht. Am Anfang wirkst du vielleicht nur unentspannt. Bist du ständig überpünktlich, könnte es dahin umschlagen, dass man dich für verhaltensgestört hält. Engagement, Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit sind gute Werte. Wären sie bloß nicht so anstrengend. Unser erster Makler hat uns an einem Tag drei Wohnungen gezeigt und sich dann nie wieder gemeldet. Er hat nicht einmal angerufen, um ein Feedback einzuholen. Hier wäre etwas mehr Sportsgeist angebracht gewesen, um uns erfolgreich zu vermitteln und eine Provision zu bekommen. Die hat dann eben der zweite Makler eingesteckt, an den wir uns anschließend gewendet hatten. Solche Erfahrungen haben andere auch gemacht. Dass manche Makler nicht wirklich ambitioniert hinter dir her sind, liegt sicher auch oder hauptsächlich am System. Objekte werden nicht selten von mehreren angeboten. Die Wahrscheinlichkeit, etwas zu vermitteln, steigt wohl mit der 197


Zahl der Interessenten und nicht mit der Intensität der Betreuung. Diese Maklerbegegnung spiegelt ein gefühlt inseltypisches Verhalten wieder. Schnell wieder losgelassen werden, statt nachhaltig umworben. Diese Erfahrung machten wir auf vielen Gebieten. Eine Dame, mit der wir über zwei Stunden auf ihrer entlegenen Finca zusammensaßen, sollte uns wenige Tage später ein Angebot einreichen für die Unterstützung bei Behördengängen und ähnlichen Dingen. Das war vor drei Jahren. Wenn sie nicht gestorben ist, dann überlegt sie wohl noch heute. Mit einer Grafikerin hatten wir vereinbart, dass sie uns eine Musterseite gestaltet und ihren Preis für eine komplette Homepage vorher nennt. Über drei Wochen lang mussten wir sie immer wieder daran erinnern. Dann kam statt einer Musterseite der Entwurf für die komplette Homepage mit dem Hinweis, dass das jetzt schon 600 Euro Aufwand gewesen seien. Die Arbeit gefiel uns so wenig wie dieser Geschäftsstil. Sie verzichtete sofort darauf, die Leistung abzurechnen und das Projekt weiter zu führen. Es scheint auf Mallorca ein unausgesprochenes Motto zu geben: Leben, nicht kämpfen. Wahrscheinlich sind viele hergekommen, weil sie bereits reif für die Insel waren. Inspiriert vom Umfeld, lassen sie sich dann mehr und mehr gehen. Nicht alle. Ein IT-Profi betreut uns in allen Fragen rund ums Internet. Er macht einen klasse Job. Seine Honorare zahlen wir gerne. Wir empfehlen ihn weiter. Und wir freuen uns für ihn, dass er sich ein kontinuierlich lukratives Internet-Business aufbauen konnte. Noch mehr würden wir uns für ihn freuen, wäre er durch seine schon jahrelange Tag- und Nacht-Arbeit nicht meistens völlig fertig und von massiven Rückenproblemen geplagt. „Ich muss mehr für mich tun“, sagt er immer. Auch schon jahrelang. Wahrscheinlich ist genau das die Kunst, die wenige beherrschen: erfolgreich sein. Und entspannt. Und glücklich. Auch was das Privatleben betrifft, geht auf der Insel der Freigeist umher und spuckt dir ständig in die Suppe. Nur wenige Bekannte und Freunde lassen sich auf eine Zeit, einen Ort und eine Aktivität mehr als zwei Tage 198


vorher festlegen. Manchmal erscheint einem die Insel wie eine große Spielwiese, auf der sich lauter Freizeit-Vagabunden tummeln. Heute hier und morgen da ... mit wem und wann genau und was? Mal sehen ... (was sich sonst noch so ergibt!?). Manchmal lässt sich für einen Samstag nichts vereinbaren, weil jemand für Sonntag schon was vorhat. War man in Deutschland oder England noch stolz auf einen vollen Terminkalender – hier gilt er wohl eher als Indiz, irgendwas verkehrt zu machen. Dieser Spielraum-Fanatismus ist so gewöhnungsbedürftig wie der entspannte Umgang mit der Nachtruhe und der Sonntagsruhe. Das spanische Übersetzungsprogramm im Internet findet dafür keine Worte. So ging es uns in unserer rein spanischen Wohnanlage anfangs auch, wenn sonntägliche Garten- und Renovierungsarbeiten und das nächtliche Treiben im Sommer die beiden typisch deutschen Begriffe der Lächerlichkeit preisgaben. Schlaf- und sprachlos in Marratxi. Was das heißt? Die Kinder kommen im Sommer nach dem Abendessen noch mal raus, um Zurufen zu spielen. So gegen 22:00 Uhr. Zurufen. Einfaches Spiel. Jeder kann mitmachen. Jeder macht mit. Sie rufen sich unentwegt etwas zu, über den Pool hinweg, über die gesamte Wohnanlage oder sich gegenseitig über die Schulter, wenn sie alle dicht beieinander stehen. Das Zurufspiel dauert 60 bis 90 Minuten bei gleichbleibender Intensität. Spanische Stimmen sind kraftvoll und ausdauernd. Immer wieder kommt es zu Verlängerungen. Niemand pfeift ab. Auch nicht der Community-Präsident. Die Kids am Wochenende von den künstlichen Felsen am Pool herunterweisen, ist die einzige Maßregelung, die wir je mitbekommen haben. Wer parallel zum Zurufspiel auf der Dachterrasse feiert, grillt und rockt, muss sich keine Sorgen machen. Den Partypegel durchdringen die Kinderstimmen dann doch nicht. Zudem geben die Kids gegen Mitternacht Ruhe. Somit lässt es sich noch zwei oder drei Stunden feiern – ausgiebig und ungestört von den Halbschlafenden. Man hört viel von den Dächern über Mallorca, aber kaum Details. Spannend dagegen wird es an manchen Tagen noch mal zwischen 199


zwei und vier Uhr nachts. Da treffen sich zwei, manchmal mehr Leute, um unten vom Pool aus den rund 250 Anwohnern irgendeine Lebensgeschichte zu erzählen. Einfach gigantisch hört es sich an, wenn Stimmen die nächtliche Mauer des Schweigens und dein Moskitonetz vor dem offenen Fenster durchbrechen. Es ist als hast du sie direkt auf der Bettkante sitzen. Und sie sind nur gekommen, um dich noch mal daran zu erinnern, dass das Leben noch unter-haltsamer wäre, könntest du endlich spanisch sprechen. Diese lauen, lauten Sommernächte stellen unseren Gleichmut noch immer auf die eine oder andere harte Probe. Mit den sonstigen Alltags- und Allnachtsgeräuschen eines Mehrparteienhauses in einer geschlossenen Wohnanlage hatten wir uns bereits nach wenigen Wochen an einem denkwürdigen Abend arrangiert. Damals übertrugen die Wände wieder einmal ein interessantes Programm aus Stöckelschuhen, Stimmen, Hundegebell, Fernsehapparaten und irgendeinem temperamentvoll geführten Streit live in unser Schlafzimmer. Tugend aus der Not. „Weißt du was“, sagte ich zu Kayleen, „ich habe eine Idee: Wir spielen Geräusche hören.“ Jaaaaaaaaaaa. Dann versuchten wir, uns mit konzentriertem Blick durch das Dunkel auf die Zimmerdecke im Erraten all dieser Laute zu übertrumpfen. Seit diesem Abend waren wir nur noch manchmal verärgert, aber ganz oft enttäuscht, wenn nämlich mal so richtig Ruhe herrschte. Und froh war ich übrigens auch – dass Kayleen jedes Mal schlief, wenn irgendeine Frau ihrem Typ die Ohren vollbrüllte, vor Freude. Man muss die Geräusche einfach nehmen, wie sie kommen. Außerdem: Unsere Nachbarn sind ausnahmslos ausgesprochen freundlich und nett. Sie geben uns das Gefühl, willkommen zu sein. Das tut richtig gut und plötzlich kann man ahnen, was es bedeuten muss, wenn Ausländer Ablehnung erfahren, egal wo auf der Welt. Die gute Einstellung bzw. die richtigen Gedanken helfen auch bei einem Punkt, der Leuten wie uns nach 16 Jahren Landleben im freistehenden Einfamilienhaus hier nahe der Autopista zu schaffen 200


machen kann: Straßenlärm. Bei einer bestimmten Windrichtung hört es sich an manchen Tagen an, als sei die Autobahn, die unsere Urbanisation flankiert, vorübergehend auf die nächste Nebenstraße unseres Blockes umgeleitet worden. Irgendjemand sagte mal: „Wenn du das Problem nicht lösen kannst, löse dich von dem Problem.“ So registriere ich das gelegentliche Rauschen und Dröhnen seit drei Jahren mit aufrichtiger Begeisterung für die „starke Brandung, die wieder vom Meer herüberhallt“. Wenn du nicht genau hinhörst, gibt es da tatsächlich nicht viel Unterschied. Und du hättest mein Gesicht sehen sollen, als ich das erste Mal sonntags die Schlagbohrmaschine ausgepackt habe. Man, man, man, macht wummern Spaß, wenn es dir das Gefühl gibt mitzureden. Es ist so befreiend, Teil zu sein der sonntäglichen Tool Time, sei es mit einem Solo oder begleitet von Heckenscheren und Rasenmähern. So stecken in jedem vermeintlichen Problem immer Möglichkeiten. Man muss sie nur erkennen und nutzen. Die Siesta zum Beispiel. Zwischen ziemlich genau 14:30 Uhr und mas u menos (mehr oder weniger) 16:30 Uhr hast du den Gemeinschaftspool für dich alleine. Der geschlossene Rückzug der Bewohner kurz vor Beginn dieser traditionellen Ruhephase ist so unheimlich beeindruckend, dass du dich in dieser Zeit draußen beinahe beim Flüstern ertappst. Was immer sie in dieser Zeit machen – Geräusche verursacht es keine. Im Übrigen würde ich sagen, dass wir inzwischen generell lauter geworden sind. Integriert. Und pragmatisch. Ins Theater zum Beispiel gehen wir nicht zwingend im „Outfit“ sondern mit Klamotten. Unsere Garderobe ist keine Schrank berstende Altkleidersammlung mehr. Weil wir nicht viel brauchen, brauchen wir auch nicht zu suchen. Die dicken Wintersachen liegen griffbereit weggepackt, zum Beispiel für die nächste Frühlingsreise nach Deutschland. Zu spät kommen zu können, ist für uns inzwischen ein klasse Joker. Noch spielen wir ihn möglichst selten aus. Aber das könnte sich auch noch ändern. Viel Talent dafür hatten wir schon in Deutschland gezeigt. 201


Ich glaube, wir erleben hier auf Mallorca die typischen Phasen einer Entwicklung, die sich bei vielen Dingen überall auf der Welt abspielen kann: Das Umstellen von Ablehnen auf Annehmen führt dich allmählich zum Mitmachen. Erst bist du befremdet. Dann bist du dabei. Schließlich bist du begeistert. Wir haben festgestellt: Das Unkomplizierte, Gelassene, Unangestrengte entwickelt im Laufe der Zeit – wenn es dich nicht beschädigt oder massiv behindert – einen entwaffnenden Charme. Und wie oft musst du schmunzeln und genießt es, wenn du diese lockere Lebensart herrlich vorgeführt bekommst ... Mal eben ins Konzert. Samstagvormittag, Sommer, Sonne satt. Die Palmen am Paseo Maritimo winken im leichten Wind verhalten dem wachsenden Autostrom zu. Reihenweise demonstrieren die weißen Jachten im Hafen Eleganz und Wohlstand. Etliche Touristen ziehen bereits umher. Geschäftig gehen Einheimische ihren Erledigungen nach. Mit ihren Shops, Bars, Restaurants und Sehenswürdigkeiten entfaltet die Innenstadt auch an diesem Tag ihren Magnetismus. Die Tische unter dem blauen Himmel oder großen Schirmen fangen an sich zu füllen, mit stillen Beobachtern und gesprächigen Leuten. Auch wir würden jetzt einen Kaffee nehmen, in die Markthalle gehen, vielleicht mal nach Schuhen schauen, einen Abstecher in den Bioladen machen oder im Drogeriemarkt die Dinge besorgen, die man nur dort bekommt. Aber heute sind wir extra wegen des Konzertes nach Palma gefahren. Ein ganzes Orchester spielt auf dem Paseo del Borne. „Was heißt die spielen da?“, hatte ich ein paar Tage zuvor Yvonne gefragt, „einfach so?“ Yvonne hatte nur mit den Achseln gezuckt. Den Platz weiß sie noch. Ungefähr. Die Uhrzeit auch. Sehr genau. Also gehen wir schnellen Schrittes (wir sind spät dran ...) aus der öffentlichen Tiefgarage beim Parc de Mar in Richtung der Flaniermeile, die sich nahe der Kathedrale von der Plaza de la Reina zum Plaza Juan Carlos erstreckt. 202


Auf einer Breite von 15 Metern und auf beiden Seiten von mächtigen und prächtigen Bäumen gesäumt, schlägt der Paseo del Borne eine majestätische Schneise in das kommerzielle Zentrum der Altstadt. Rechts und links flankiert ein imposanter Straßenzug mit teilweise herrschaftlichen Fassaden den stark frequentierten Tummelplatz aller Generationen. Hier reihen sich Edelboutiquen aneinander. Schicke Kaffee-Bars für die kleine Shoppingpause zwischendurch gibt es reichlich. Ein würdiger Ort für ein klassisches Konzert, wäre da nicht diese viel befahrene Straße. Und überhaupt – wie soll es gehen? Mobile Bühne, wie bei anderen Open-Air-Veranstaltungen auf dem Paseo del Borne? Sauber drapierte Stuhlreihen auf dicken Teppichen? Werden sie für uns und andere spät herbeigeeilte Zuschauer die dicke, rote Kordel noch mal lupfen, um uns mit einer geflüsterten Bitte um Ruhe doch noch hineinzulassen? Dazu müssen wir sie erst mal finden ... Keine Spur von Klassik-Kultur. „Ist es wirklich heute?“ Yvonne lässt ein unwirsches „Ja“ ab, während sie Kayleen vorantreibt als habe sie es mit einer ganzen Herde Kühe zu tun. Merkwürdig. Auf dem Paseo sind nicht mehr Leute unterwegs als sonst. Das vertraute Bild: Jugendliche versuchen sich unermüdlich auf dem Skateboard. Ältere Herrschaften teilen sich die Bänke mit Jüngeren. Pärchen beim Flirten, junge Familien mit Kinderwagen. Alles ist unterwegs. Alles wie sonst. Keine Bühne. Keine Stuhlreihen. Keine Teppiche. Keine Kordel. Keine Ahnung. „Ist es wirklich hier?“ Keine Antwort. Reizschwelle erreicht. Es ist woanders, denke ich, ganz sicher, oder es ist ein anderer Samstag. Wir stampfen weiter durch die dicker gewordene Luft. Etwa in der Mitte des Paseo erblicken wir oben am anderen Ende eine auffällige Ansammlung von schwarz gekleideten Menschen. Die haben teilweise Instrumente in der Hand. Hoffnungsschimmer. Da das hier nicht New Orleans ist, ist es ganz sicher auch keine Beerdigung. Sieht fast nach dem Orchester aus, das wir suchen. Halb schräg steht ein schäbiger Möbelwagen daneben, wie 203


verirrt, vergessen, verleugnet in diesem feinen Straßenzug. Nicht wundern, weitergehen. Und Bingo! Es ist ein Orchester. Es ist das Orchester. Gut gestimmt zum Auftakt. Sie packen gerade noch ein bisschen aus und plaudern und so. Ein paar Musiker sitzen schon mit ihrem Instrument an der Lippe oder zwischen den Knien bereit. Noch mal blättern, noch ein paar Mal rumdrehen zum Hintermann. Ein Lachen, ein Kommentar, weiterstöbern auf dem Notenblatt. Noch formieren sie sich, aber in drei Punkten sind sie schon eine Einheit: Schwarze Anzüge, schwarze Sonnenbrillen, absolute Gelassenheit. Legere auch das ganze Drumherum. Man latscht rein und ist Zuschauer. So einfach geht das. Diese Stimmung überträgt sich schnell auf uns. Wir machen uns locker, heben lässig einen Plastikstuhl von einem der vier oder fünf Stapel. Ja, Plastikstühle. Wieder voll das Leben. Du schwelgst gedanklich in Prunk, und dann haben sie dich mit Plastik am Arsch. Aber Moment, habe ich die nicht schon mal irgendwo gesehen? „6,50 € das Stück oder die zu 9,25 € aus dem Baumarkt oder war es das Shopping Center?“ Ich finde keine Antwort. Mit einem ungläubigen Ausdruck auf der Stirn wandert mein Blick von den leicht schrägen Plastikstuhltürmen rüber zu den 30, 40 Männern des Orchesters, die dastehen wie eine Eins. Noch so schwarz können die gekleidet sein – es sind Lichtgestalten. Wie aus dem Ei gepellt, aber nicht aus irgendeinem. Ein richtig guter Stall muss das sein. Wär`s nur die Kleidung. Jung oder in den besten Jahren, kräftiges Haar, dunkler Teint, kernige Gesichter, Ausstrahlung, selbstbewusster Auftritt ... Die haben alles, was den Stühlen fehlt. Nicht nur den Stühlen. Scheiße sehen die gut aus. Daran ändert auch dieser angegammelte, schmucklose LKW direkt dahinter nichts. Ich schiele rüber zu Yvonne. Die hat die Typen schon im Fokus, claro, und ich im nächsten Moment das Klacken der Spiegelreflexkamera im Ohr. Um uns herum ist noch ein bisschen Stühlerücken angesagt, das etwas andere musikalische Vorspiel. Wer kennt nicht dieses charakteristische Geräusch von Plastik, das über den Boden geschoben wird. Immer 204


wieder schön, ganz schön ätzend. Kayleen mischt mit. Während sich die Zuschauer und die Musiker in Position bringen, setze ich mich hin und bin für einen Moment entrückt. Ich weiß noch nicht so genau, was das hier ist. Ich weiß aber jetzt schon, dass es mir gefällt. Und wahrscheinlich wird es einfach das, was wir gerade ahnen. Welthits aus dem Möbelwagen, Sinfonie in Plastik. Cool. Muss man sich mal vorstellen. Diese blitzblanken Orchester-Models schlappen in elegantem Schwarz mit fetten Sonnenbrillen mal eben auf den Paseo del Borne. Sie kramen die Instrumente aus einem LKW, der schon viele, sehr viele Umzüge gesehen hat, und machen ihr Ding. Denk ich`s doch: Aus einer Sekunde der totalen Stille heraus spielen sie auf das Zeichen des Dirigenten los. Waren eben nicht sogar die Vögel in den Bäumen ruhig? Der Sound flutet den Paseo. Wenn du jetzt die Augen schließt, denkst du, du bist in der Royal Albert Hall oder einem anderen legendären Orchesterhaus. Du wunderst dich nur ein bisschen, dass so viele Autos durch die heiligen Hallen fahren. Du machst die Augen wieder auf. Nix ist hier heilig. Alles ist schön. Und alles ist gut, so wie es ist. Klassische Musik live, hervorragend gespielt, soweit wir das beurteilen können. Später kommen weltbekannte Filmmelodien dazu. Als mit diesen ersten charakteristischen Klängen in den Köpfen des Publikums der „Rosarote Panther“ den Paseo entlang schleicht, keimt kurz ein wohlwollendes Lachen auf. Auch sonst sind die meisten voll bei der Sache. Das hindert einige Leute allerdings nicht daran, mittendrin zu gehen oder sich während eines Stückes durch eine Stuhlreihe zu einem freien Platz zu quetschen – mit diesem „Plastik-nervt-Stein-Geräusch“. Passanten verweilen für einen Augenblick. Touristen lehnen sich auf dem oberen Deck aus den roten, offenen Sightseeing-Bussen, um das „erstklassische“ Schauspiel zu fotografieren. Das Stop-and-go im bereits dichten Verkehr des Vormittags gibt Ihnen gute Gelegenheiten dazu. Die Autoschlange und Fassaden des Paseo spiegeln sich in den goldfarbenen, blanken großen Blechblasinstrumenten. Die Geräuschkulisse der Straße ist da, aber sie tritt neben dem Sounderlebnis des Orchesters in den Hintergrund. Hier zu spielen, am Rande der Samstagmorgen-Rushhour 205


hinter einem gleichgültig abgestellten Schmuddel-LKW vor einem Plastikstühle-Publikum, das beeinträchtigt die Musiker kein bisschen. Im Gegenteil: Der Kontrast lässt sie noch viel souveräner wirken als sie ohnehin schon sind. Auch coole Götter in Schwarz spielen nicht endlos. Plötzlich ist Pause. Ich gehe in die nächstbeste Bar in der Fußgängerzone, die auf der anderen Seite parallel zu der viel befahrenen Straße über die gesamte Länge des Paseo del Borne verläuft. Es ist einer jener Läden, die in ihrer altmodischen Art fest verwoben wirken mit den herrlichen Fassaden. Noch die Logos der Nobelmarken dieser Meile vor dem geistigen Auge, wundere ich mich, dass der Coffee to go hier gerademal 1,35 € kostet. Ein paar Orchestermusiker gesellen sich neben mich an die Theke, um ebenfalls zu bestellen. Lebhafte Gespräche entstehen unter den Männern in Gala-Eleganz und den Gästen der Bar. Der Kontrast wirkt, als habe bei einer Hochzeit ein

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Teil der Gesellschaft die Braut in eine Dorfkneipe entführt. Draußen vor den abgestellten Instrumenten das gleiche Bild. Typen nach Maß mischen sich mit Leuten von der Stange. Entspanntes Reden und Nippen am Glas. Man kennt sich oder nicht, mag sich, lacht und gestikuliert. Nach gut zwanzig Minuten nehmen wieder alle ihre Plätze ein. Noch einmal Weltklasse-Musik, ein begeistertes Publikum und überraschte Touristen von allen Seiten, die mit dieser zufälligen Entdeckung in Palma wohl nicht gerechnet hatten. Als wir gehen sind wir nachhaltig hoch erfreut und tief beeindruckt, dass das, Orchester bereit und ... bereit und in der Lage war, unter improvisierten Umständen professionell zu spielen. Genau das war das perfekte Palma-Erlebnis. In der Mitte liegt die Kraft. Es sind diese Situationen, die einem viel Orientierung geben in der Frage, was besser ist: Perfektion oder Improvisation. Verbissenheit oder Gelassenheit. Eine Antwort liegt in der Position, die das Orchester eingenommen hatte – zwischen der ruhigen Fußgängerzone und der pulsierenden Verkehrsader. Die Mitte, denke ich, ist meistens eine gute Wahl. Wenn du mit einer Sache wartest, bis es perfekt ist, machst du es wahrscheinlich nie. Begnügst du dich permanent mit Kompromissen und Halbheiten, entwickelst du dich nicht weiter und verfehlst deine Ziele. Versteifst du dich auf etwas, kannst du dich auch schnell darin verrennen. Und immer nur gelassen sein, das kann irgendwann bedeuten, viel zu viel gelassen zu haben. Es gibt nicht eine richtige Haltung im Leben. Die Kunst ist, mehrere zu beherrschen und zu wissen, wann dir welche guttut. Der beste Satz, den ich passend zum Thema „Lebensführung“ jemals gehört habe, bringt es ganz unromantisch auf den Punkt. Ein leitender Bankangestellter in Deutschland sagte ihn mir in einer mal wieder angespannten Situation: „Es ist ganz einfach, Herr Müller: Entweder sie gestalten oder sie werden gestaltet.“

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Der Mallorca Moment Wenn du spürst, dass es nicht Deutschland ist ... Es sind nur rund zwei Flugstunden. Ständig ist Mallorca im Fernsehen. Nur selten triffst du in Deutschland jemanden, der noch nie hier gewesen ist und auch nicht vorhat, mal hierher zu kommen. Mallorca ist so deutsch, dass es dieses geflügelte Wort gibt vom weiteren Bundesland. Noch immer wird dieses beliebte Ferienziel „Putzfraueninsel“ genannt. Millionen Touristen kommen hier Jahr für Jahr wunderbar klar. Tausende Deutsche wohnen längst auf Mallorca. Kann es da denn schwer sein, auf diese Insel auszuwandern? Was heißt auswandern! Eigentlich ziehst du doch nur um. Über das Meer halt, in diese Gegend Deutschlands, wo viele Spanier leben. Aber die scheinen sich ja ganz gut zu integrieren ... Du gehst mit dieser oder einer ähnlichen Einstellung, deinem Personalausweis/Reisepass und einem Antrag zur Ausländerbehörde – „Oficina de Extranjeros“. Da bekommst du deine Identifikationsnummer. Zusammen mit einer Anmeldung beim Einwohnermeldeamt bist du dann Inselbewohner mit offizieller Adresse. Das Leben dazu, gibt`s an keinem Schalter. Das musst du aufbauen, hinkriegen, führen. Und dabei könntest du ziemlich überrascht sein, wie fremd so ein „Deutsches Bundesland“ dir sein kann ...

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P alma

Aufgelaufen Anstehen für die Eintrittskarte in das Paradies In diesem Buch über das Leben, Mallorca und das Leben auf Mallorca liegt eine Frage besonders nahe, die uns im Blick zurück auch selbst beschäftigt: Wie ist das so, wenn man ausgewandert ist? Wie fühlt sich das an, speziell in der ersten Zeit? In wenigen Sätzen ist das nicht zu beantworten. Es gibt nicht dieses eine Gefühl und weder nur gute noch nur schlechte Emotionen. Am treffendsten beschrieben wäre der vielleicht häufigste und besonders stark empfundene Zustand mit den beiden Worten: Aufgeregt und aufgeschmissen. Viele Wochen, wenn nicht Monate lang, stehst du erst einmal ständig unter Strom, und das bei den banalsten Dingen. Wenn das Telefon klingelt oder es an der Haustür läutet, wenn du in eine Straße abbiegst oder einen Laden betrittst. Immer fragst du dich: Was kommt jetzt? Was begeistert, enttäuscht, überrascht dich jetzt wieder? Gibt es gleich eine Bestätigung, dass du etwas richtig eingeschätzt hast? Oder kommt an der nächsten Ecke alles ganz anders? Diese Aufgeregtheit steigert sich im Laufe der Zeit, weil sich die Situationen häufen, in denen du dastehst wie ein Idiot: im Supermarkt, an der Parkuhr, im Baumarkt ... Alles was du früher im Vorübergehen erledigt hast, ist plötzlich ein Projekt. Manchmal stehst du vor einer simplen Angelegenheit wie ein Kind vor einem Baukasten, den der Vater eigentlich für sich gekauft hat. Schlicht überfordert. Du gehst nicht mehr „mal eben schnell zur Post“. Weil du weißt, dass eine wartende Schlange Leute bei dem Mann oder der Frau am Schalter die Wirkung eines Schlafmittels entfaltet. Es überrascht dich nicht, denn du kennst diese stoische Ruhe nach wenigen Tagen ja bereits von den Kassen im Supermarkt. Fängt unter den Wartenden jemand an, offenkundig unruhig zu werden, hast du Glück. Das ist dann nämlich ein Deutscher. Wenn du an der Reihe 212


bist, könnte Der oder Die wertvoll für dich sein. Du kannst auf Hilfe dabei hoffen, dich zu verständigen – über das Porto deines Briefes oder wie das Einschreiben funktioniert bzw. wo und wie du die Rabattkarte für künftige Einkäufe kriegen kannst ... „Noch schnell“ das Medikament aus der Apotheke holen und bei dieser Gelegenheit „geschwind“ nach einem besonders hautfreundlichen Sonnenschutz fragen – vergiss es. Das gerät schnell zu einem ausgedehnten Auftritt. Bühne frei für den Deutschen, der hier leben will, aber nicht in der Lage ist, sich nach einer Sonnencreme zu erkundigen. Du fühlst dich hilflos und beobachtet. Und du fragst dich, wie man auf der anderen Seite der Ladentheke und in der Schlange hinter dir so nett bleiben kann, wenn man einen Trottel wie dich vor sich hat. Das gehört noch mal unterstrichen: Die Leute sind total nett und geben sich Mühe mit dir. Ob du`s verdient hast oder nicht. Angespannt bleibst du natürlich trotzdem. Beim Autoservice mit drei Zuschauern im Rücken am Counter den Kauf und Wechsel eines neuen Reifens klarmachen, da kannst du auch schon mal das Hemd mitwechseln müssen, weil du es ganz schnell durchgeschwitzt hast. Weil so vieles neu, fremd und ohne Spanisch schwer zu kommunizieren ist, neigst du auch dazu, Dinge vor dir herzuschieben. Das ist dann in manchen Fällen begleitet von dem unguten Gefühl, vielleicht aufgrund eines Versäumnisses ungeahnt schwere Folgen herauf zu beschwören. Sowieso: Stell dir vor, du weißt nicht wie die Behörden und die Justiz eines Landes ticken. Du willst aber auch nicht Zuhause rumsitzen, bis du es eines Tages nur noch mit Rollator vor die Türe schaffst. Das „Zurück-ins-Leben“-Gefühl. Ein bisschen ist die Situation, wie noch mal auf die Welt kommen oder Reha machen: Du musst Dinge neu lernen, die du eigentlich schon konntest. Du springst nicht selbstsicher im Leben rum, sondern tastest dich Schritt für Schritt weiter. Bei vielen Sachen bist du auf Hilfe angewiesen. Du brauchst jemanden, der weiß, wie es läuft und der beide Sprachen spricht. Deine und die Landessprache, besser auch die Inselsprache – Catalan, gesprochen auf Mallorca sowie in und um Barcelona. Catalan 213


ist mit Spanisch zwar verwandt, aber um es zu können, muss man es zusätzlich erlernen. Für Behördengänge kannst du gegen Bezahlung eine „Gestoria“ hinzuziehen. Das sind Unternehmen, die auf die Unterstützung von Ausländern spezialisiert sind. Aber dein alltägliches Leben hast du ja auch noch. Jeder Mensch ist Ausländer. Außer im eigenen Land. Vergiss den Ballermann, lass` dich nicht täuschen von Orten wie Arta im Norden oder Santanyi im Osten nahe der Küste, wo viele Deutsche leben. Die Menschen jenseits der Touristenzentren sprechen kein Deutsch und nur wenig Englisch, wenn überhaupt. Hier auf Mallorca bist du ein Ausländer. Mit und ohne Sprachkenntnisse bedeutet das, erst einmal eine ganze Zeit lang mit angezogener Handbremse unterwegs zu sein. Erinnere dich bloß mal an gewisse Einschränkungen, die du schon erlebt hast: Wenn du mal ein paar Tage kein Auto hattest, weil es in der Werkstatt war. Oder wenn der Fernsehapparat nicht mehr funktionierte. Denke an dein Handy – Akku leer ... Ganz schnell fühlt jeder Mensch sich bei eigentlich kleinen Unpässlichkeiten wie aus der Kurve geflogen. Dann hocken wir mehr oder weniger ratlos auf dem Grünstreifen, während das Leben weiter rauscht – an uns vorbei. Wenn du weitestgehend unvorbereitet auswanderst, ist diese Ausnahmesituation quasi Dauerzustand. Um dieses Gefühl einigermaßen nachzuempfinden, mach einfach folgendes Experiment: In den nächsten 14 Tagen stelle dir bei allem, was du tust und was an Nachrichten/ Ereignissen an dich herangetragen wird vor, du bist gerade in diesem Land angekommen. Du kennst nur ein paar Leute und niemanden davon gut. Deine Sprachkenntnisse reichen aus, einen Kaffee zu bestellen. Na dann leb` mal los ... Warum wir kein Spanisch gelernt hatten? Die schnelle Antwort lautet: keine Zeit. Näher betrachtet, war es ein Mangel an Energie. Natürlich lässt sich unter allen Lebensumständen immer noch ein kleines Zeitfenster für noch eine wichtige Sache arrangieren. Aber darum geht es nicht. 214


Unser aller Energie ist begrenzt. Zudem hat jeder einige Situationen, wo er ziemlich aufdreht. Und genau das beschreibt unsere Situation damals. Das Leben war bereits mit vielen anderen Themen ausgefüllt, das Energiepotenzial verbraucht. Wir hatten uns nicht überwinden können, auch noch Spanisch zu lernen. Mit ausschlaggebend für dieses Versäumnis war der mangelnde Druck. Auch wenn vieles ohne Spanisch schwerer war, es hat sich letztendlich regeln lassen. Last not least bist du kein Exot, wenn du der Landessprache nicht mächtig bist. Nur 22 % der Residenten können spanisch! Boden unter den Füßen und noch mehr Land in Sicht. Unsicherheit, Ängste, mühsames Vorankommen sind die eine Sache. Glücksmomente über erste Erfolgserlebnisse und spürbare Fortschritte, sind die andere. Mit was für einem Strahlen im Gesicht berichtete Yvonne eines Tages, dass sie es geschafft habe, sich auf dem Amt nach den Bedingungen für einen Marktstand zu erkundigen. Oder was für ein erhebendes Gefühl, sich plötzlich ohne Lampenfieber verständigen zu können. AufEnglisch. Mit den Engländern. Ja, unser Englisch ist besser geworden, hier auf der Insel. Oder: Wenn du nach dem Umzug innerhalb der Insel Dokumente in der Hand hältst – wow – das geht rein, ob hinbekommen hast oder nicht. Während dieser Schritte besinnst du dich auf ein vernachlässigtes Gefühl: Wie gut Leben geordnet zu haben.

deine neuen du es alleine und Phasen das tut, sein

Der Begriff „ankommen“ hat plötzlich eine ganz neue Bedeutung für dich: Er bezeichnet nicht mehr das Eintreffen irgendwo, sondern das dort sein, mit Leib, Seele, Orientierung und Papieren. Solange du einige elementare Dinge nicht auf der Reihe hast, kommt dir dein Leben vor wie in der Warteschlange an der Kasse eines Vergnügungsparks. Während du dich noch umschaust und organisierst, sind andere schon drin und erleben tolle Dinge. Zwischendrin bist du sauer auf dich selbst. Wie konntest du dir dein MallorcaBild mit den schillernden Farben malen, in denen eine Handvoll Menschen das Leben auf der Insel in ein paar Minuten small talk geschildert hatten? 215


Eine deutsche Verkäuferin in einem Drogeriemarkt zum Beispiel hatte uns bei einer Urlaubsreise nach Mallorca von den niedrigen Steuern und den geringen Sozialversicherungskosten vorgeschwärmt. Keine Aussage eines Steuerberaters, keine persönliche Erfahrung und keine Kommentare von Freunden oder Bekannten haben sich bisher mit diesem Jubel-Plädoyer gedeckt. Kranken- und rentenpflichtversichert bist du als Freiberufler für rund 270,00 € im Monat. Das ist günstig. Der Krankenversicherungsschutz schließt deine Frau und dein Kind bzw. deine Kinder ein. Aber. Reicht es dir, dass du und deine Lieben in Spanien pflichtversichert sind? Mallorca hat hervorragende Kliniken und gute Ärzte. Aber willst du dich gegebenenfalls über vielleicht entscheidende medizinische Fragen in einer Fremdsprache unterhalten? Nur mit einer privaten Krankenversicherung kannst du sicherstellen, von deutschen Ärzten behandelt zu werden. Willst du bei akuten Beschwerden gleich einen Facharzt einschalten oder dich erst einmal mit dem Gang zu dem Allgemeinmediziner deines regionalen Gesundheitszentrums begnügen, dem du als Pflichtversicherter zugeordnet bist? Wenn du die Zähne nicht zusätzlich versicherst, gehst du früher oder später auf dem Zahnfleisch. „Zähne“, so die einhellige Meinung hier auf der Insel, „sind für Spanier nicht so das Thema“. Den bestehenden Versicherungsschutz aus Deutschland mitnehmen? Kann so richtig Geld kosten. „Versicherungsschutz mitnehmen“ ist übrigens ein schönes Bild für den wahrscheinlich häufigsten Irrtum von Auswanderern. Man denkt, bewusst oder unbewusst, man lässt mit der alten Heimat alles Unangenehme zurück und nimmt alles Gute mit. Hat bei den Möbeln funktioniert. Nicht mit dem Kindergeld. Auch nicht mit dem TV-Programm. In einer neuen, aufregenden Landschaft im wahrsten Sinne in die Ferne sehen – kein Problem auf Mallorca. Deutsches Fernsehen – großes Problem auf Mallorca, wenn die Regeln der Community, in der du wohnst, keine Satellitenschüsseln erlauben. Das Live-Stream-Angebot via Internet ist begrenzt, das spanische Fernsehprogramm geprägt von vielen Menschen, die viel reden. Ein Deutschspanier, aufgewachsen in Köln und dann nach Spanien gezogen, bezeichnete mir gegenüber die spanische Synchronisation von 216


Spielfilmen als unerträglich. „Ich glaube, die haben nur drei oder vier Leute, die einfach alles sprechen. Kann ich nicht mehr hören.“ Abgesehen davon ist es für unser deutsches Ohr total befremdend, wenn vertraute Hollywoodstars sich plötzlich anhören wie der Fahrkartenkontrolleur im Zug zwischen Palma und Sa Pobla oder die Dame an der Supermarktkasse. Also was passiert? Weniger auf der Mattscheibe, mehr in deinem richtigen Leben. Weil du weniger glotzt. Das „passiert“. Anfangs empfindest du das als negativen Einschnitt. Später erkennst du darin den Schlüssel für ein neues Lebensgefühl: Erleben statt zuschauen. Ist es nicht genau das, was man mit dem Auswandern bewirken will!? Veränderungen annehmen, sich darauf einlassen und in allen Engpässen oder Problemen neue Möglichkeiten sehen – könnte das vielleicht der Generalschlüssel sein für ein besseres Leben? Wir hatten uns unser besseres Leben so vorgestellt: einfach leben, preiswert, alles Überflüssige weglassen. Die bestehende freiberufliche Arbeit als Existenzgrundlage weiterführen und zusätzlich auf Mallorca Geschäftsideen realisieren. Damit sind wir beim nächsten Einwanderer-Gefühl: Enttäuschung, dass die Rechnung nicht aufgeht. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass sich unser Haus in Deutschland zu dem veranschlagten Preis nicht verkaufen lässt. Anders als erwartet, konnte der in Deutschland gebliebene Wagen weder ohne klares Minus abgestoßen noch zu ausreichend guten Konditionen nach Mallorca eingeführt werden. Nach vielen ermahnenden Stimmen gaben wir dem unguten Gefühl nach und behielten letztendlich eine deutsche Privatkrankenversicherung bei. Eine gute Wohnsituation war uns dann doch etwas mehr Miete wert, als man für etwas weniger Gemeinschafts-Pool und Quadratmeter veranschlagen muss. Kayleen aufgrund eines finanziellen Engpasses eine Zeit lang aus der Privatschule nehmen und in eine staatliche spanische Schule schicken, kam als Option nicht in Frage. Das große Geld aus einem blühenden Geschäft auf Mallorca – ein schöner Traum.

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Irgendwann kommt die große Einwanderer-Einsicht. Wenn du die mitnimmst, egal wohin auf die Welt, bist du schon mal ganz gut aufgestellt: Das Leben bleibt immer das Leben. Du kannst nicht aufhören, dich zu kümmern, dich anzustrengen, mitzudenken, vorauszuschauen, kritisch zu sein, sorgfältig mit deinen Ressourcen umzugehen. Deine Gesundheit bleibt ein Thema. Beziehungen bleiben ein Thema. Geld bleibt ein Thema. Du hast weiterhin Hoffnungen und Wünsche, kannst Sorgen und Nöte nicht ausschließen. Nie erreichst du den Status, endgültig Ruhe zu haben. Außer du bist tot. Wenn du anders leben willst, brauchst du vor allem eine andere Einstellung. Dabei helfen kann dir eine andere Umgebung allerdings massiv. Wenn dein neuer Lebensraum es leichter macht, anders zu leben und die Dinge anders zu sehen, kommst du dort außerdem klar und fühlst du dich wohl, dann! Dann hast du deinen Platz gefunden. Du „kämpfst“ zwar im Sinne von Leben gestalten weiter, aber mit einem anderen Gefühl, auf einem anderen Niveau. Danke Mallorca, da sind wir angekommen. Da wollten wir hin. In Deutschland hing das gute Gefühl von vielen Dingen ab. Hier hast du schneller mehr Freude und Zufriedenheit. Das bedeutet auch: Auf Mallorca scheitert man entspannter. Das nimmt dir schon mal eine starke Angst im Leben. So klar uns dieses andere Gefühl im Alltag war, dass wir durch das Auswandern erreichen wollten, so unklar war uns anfangs das Land bzw. der Ort. Und das ist eine entscheidende Frage. Wo zieht es dich hin? Wo, glaubst du, wird es funktionieren? Eine Zeit lang im Zuge des ganzen Einwanderungs-Gedöns manchmal zu denken, man ist im falschen Film, geht ja noch. Aber was, wenn du feststellen musst, du bist im falschen Land? 218


London hatten wir uns angeschaut, Stockholm und zwischendrin auch mal an Irland gedacht. Bei früheren Reisen nach Thailand und Myanmar war die Idee von einem Leben in Asien aufgekeimt. Ein paar Jahre vor der Mallorca-Entscheidung hatten wir uns ernsthaft für Wohnungen auf Sylt interessiert. Und wäre Dubai nicht so schweineheiß ... Die Schweiz lockte mit den dortigen Steuerverhältnissen. Warum eigentlich nicht Österreich mit diesen traumhaft schönen Berg- und Seenlandschaften, ging es uns vorübergehend auch mal durch den Kopf. Fast 80 Länder hatte Yvonne bereits kennengelernt, ich etwas weniger als die Hälfte, als wir ernsthaft anfingen ans Auswandern zu denken. Eine sinnvoll mehrsprachige Erziehung von Kayleen, Lebenshaltungskosten, Klima, Anbindung an Deutschland und damit zu den bestehenden Kunden sowie die Familie waren schließlich die AuswahlKriterien. Sprich: Der Kreis wurde schnell enger. Als mein Schwager sich ein Haus auf Mallorca kaufte und von den Freundschaften berichtete, die er da ganz schnell gefunden hatte, war Mallorca Favorit. Wir flogen noch einmal hin, um zu prüfen, ob wir bei der Mallorca-Reise ein paar Jahre zuvor einfach nur schlecht drauf gewesen waren oder uns die Insel tatsächlich nicht übermäßig begeisterte. Das Ergebnis war eindeutig: Es musste damals an uns selbst gelegen haben. Als sehr viel schöner nämlich empfanden wir Mallorca bei unserem „Destination-Check“ vor dem Auswandern. Tolle Insel, leichter Einstieg durch Thomas` Haus und seine Beziehungen – „Lass es uns machen!“... Dann ging alles schnell. Sehr schnell. Zwischen der Entscheidung zu gehen und dem Aufbruch lagen gerade mal 8 Wochen oder so. Das war nicht geplant. Das war Hals über Kopf. Und die Eile war begründet. Kayleen hatte gerade angefangen, in ihrem sozialen Umfeld zu wurzeln. Erste Freunde, Lieblingsplätze im Garten, bevorzugte Ausflugsziele in der Umgebung ... Lieber gehen, bevor es schmerzt, richtig schmerzt! Unserer Ehe, waren wir sicher, würde der frische Wind auch guttun. Und für Yvonne war es Zeit, Wunden heilenden Abstand zu Deutschland zu bekommen. 219


Und trotzdem: Dermaßen unvorbereitet, so tiefblauäugig und ohne die Landessprache halbwegs zu können, würden wir nicht noch einmal unseren Lebensmittelpunkt verlegen. Damals haben wir`s so gemacht. Und weil es funktioniert hat, denken wir gerne zurück an diesen einen Behördengang, mit dem es offiziell begann – begleitet von einem treibenden Gedanken: Nummer oder niemand. Ich bin keiner dieser aufgeräumten Typen, die nach Jahren noch jeden Schritt erinnern und rechtfertigen können. Was ich wofür genau bezahlt habe, welchen Bestimmungen oder Gedanken ich dabei wohl überlegt folgte oder was ich bewusst ausgeblendet habe ... Frag mich mal. Und dann frag` mich noch mal. In meiner Persönlichkeit ist es mehr verankert, ein Alibi zu haben, es aber auf einen kritischen Blick oder eine provokante Frage hin nicht mehr zu kennen. So kann ich zum Beispiel, ganz ehrlich, alle Einzelheiten unserer gesamten Einwanderungs-Formalitäten nicht rekapitulieren. Was das Erlebnis bei der Ausländerbehörde in Palma jedoch betrifft, hat die Sicherungsspeicherung in meinem Kopf brillant funktioniert. Ich denke daran als sei es gestern gewesen. Es war eben ein großer Moment und großartig noch dazu. „Du brauchst die N.I.E-Nummer (Numero de Identificación de Extranjeros). Ohne N.I.E-Nummer bist du quasi nicht da, kannst nichts machen.“ So hatten mehrere Bekannte uns geimpft. Es ist eine Identifikations-Nummer, mit der du als Ausländer geführt wirst. Tatsächlich musst du sie bei Behördengängen und vielen anderen Gelegenheiten des öffentlichen Lebens vorlegen oder nennen. Ohne N.I.E.-Nummer kannst du nie eine Wohnung mieten, nie dein Telefon anmelden, nie einen Job bekommen ... Die N.I.E-Nummer ist somit deine Eintrittskarte in dein neues Leben auf Mallorca. Beim ersten Versuch, unsere N.I.E-Nummer zu bekommen, schauten wir auf einen Sprung bei dieser Behörde in Palma vorbei. Nachdem wir das Verwaltungsgebäude nahe des Paseo Maritimo und den richtigen 220


Eingang dort endlich gefunden hatten, bremste eine unruhige Masse aus etwa 120 Menschen unseren ungestümen Anlauf. Sie alle warteten in Sitz- und Stehreihen auf ihre Abfertigung. Wir kamen direkt dahinter auf Höhe des Empfangs zum Stehen, wo ein Polizist Leuten Wege wies und Fragen beantwortete. In Spanisch. Ich fiel für einen Moment in eine Art Ohnmacht vor der Staatsmacht. Herzklopfen. Eifriges, stilles Basteln an Worten, die uns weiterbringen könnten. Auf Englisch stellten wir dann fest, dass es kein Weiterkommen geben konnte. Es war nämlich Mittag. Noch eine halbe Stunde, dann würden sie schließen. Ich ließ noch einen Blick des Bedauerns über die gut 90 % der Leute schweifen, die nicht mehr drankommen würden und das größtenteils wahrscheinlich nicht ahnten. Dann gingen wir. Das nächste Mal, schworen wir uns, würden wir früher dran sein. Sehr viel früher ... 05:00 Uhr, der gleiche Ort, der zweite Anlauf. Nach 75 Autominuten von Capdepera im Norden aus erreichen wir den großen Parkplatz nahe des Gebäudes. Palma schläft, die Nacht gibt zu denken. Kaum Licht, keine Menschen. Hier steht ein Regierungsgebäude, es würde doch niemand ...?! Kayleen und Yvonne bleiben im Auto. Schließlich wird es noch Stunden dauern, bis die Behörde öffnet. Sie wollen noch ein bisschen schlummern und später nachkommen. „Verriegelt die Türen“, sage ich überflüssigerweise. Dann kralle ich mit schlechtem Gewissen die Dokumentenmappe und lasse meine Familie zurück. Auf dem Weg zur richtigen Gebäudeseite plustere ich mich auf und versuche gefährlich auszusehen, obwohl ich eigentlich weiß, dass das aussichtslos ist. Zu meinen Sicherheitsmaßnahmen gehört, dass ich mich permanent rechts und links umschaue, ohne den Kopf zu bewegen. Meine Ohren mutieren kurzerhand zu Abhörgeräten. Auch meine Mutter wäre besorgt in dieser Situation, mein Vater dagegen stolz, wie ich es anpacke. Es kommt mir auch gar nicht übertrieben vor. Andere machen so was, um Konzertkarten zu bekommen oder das neueste Smartphone am ersten Tag des Product Launch. Werde ich über Typen in Schlafsäcken stolpern?

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Gut eine endlose Dreiviertelstunde lang stehe ich schließlich alleine zwischen Gebäude und Bauzaun, direkt vor dem Tor zum Gebäudevorplatz. Den Eintritt ins Paradies habe ich mir anders vorgestellt. Hier wirkt er auf mich wie ein Brennpunkt in Brooklyn oder Nairobi (das übrigens den Spitznamen „Nairobbery“ hat). Aber das ist alles nur in meinem Kopf. Als Einwanderer tendiert man zu Überreaktionen. Es ist immer noch dunkel, als ein Mann aus Richtung Parkplatz den Weg am Gebäude entlang auf mich zugeht. Er schleicht zögerlich, wirkt wie jemand, der versucht gefährlich auszusehen. Wahrscheinlich hat er ziemlich Schiss vor mir. Das tut mir leid. Jetzt gucke ich betont nett. Nach und nach tröpfeln wenig später mehr Menschen aus dem verdammt frühen Morgen in den großen Tag. Männer, Frauen, Deutsche, Afrikaner, Latinos ... Vielleicht auch wieder so ein Ding in meinem Kopf, aber ein paar von diesen Early Birds sehen so aus, als könntest du sie auch in einer Suppenküche für Bedürftige treffen. Ich bin jetzt an diesem Morgen in dieser Reihe nicht nur einer von ihnen, ich steh ganz vorne. Bin ich mir sicher, was ich hier tue? Kann ich mir sicher sein, was noch kommt? Da springt mich ein Gedanke an, den ich so noch nicht hatte: Wir wandern gerade ein, nachdem wir dann folgerichtig kurz zuvor ausgewandert waren. Auch so fühlt sich das an – so wie gerade die Gegend da im Magen. Ellenbogen haben keine Chance. Mit dem ersten Tageslicht wird`s besser. Yvonne und Kayleen tauchen auf. Die Unterhaltungen der Leute sind jetzt lebhafter. Alle scheinen sich wie wir zu freuen, dass es dann bald auch mal losgehen muss. Ich bin inzwischen ein bisschen stolz auf unsere Spitzenposition am Tor. Offensichtlich lernt man, Dinge richtig anzupacken, geht es mir durch den Kopf. Als ein Beamter auftaucht, mit einer Ticketrolle in der Hand, drängen die vorderen in der Reihe ans Tor. Wir sind jetzt nicht mehr Erster, aber bekommen wenigstens eines der ersten Nummernkärtchen. Mit dieser Trophäe in der Hand kann nichts mehr passieren. Es ist klar dokumentiert, 222


wann wir drankommen werden. „Clever, die Jungs hier in Spanien“, denke ich und bin ein bisschen stolz auf „meine“ Leute. Weil das so geregelt ist, gehen auch alle ganz gesittet rüber in die Wartezone direkt vor einer Front aus Schreibtischen. Wir sitzen in der ersten Reihe. Noch ein Blick nach hinten auf den nachrückenden Menschenstrom – ja, wir haben`s einfach drauf. Sieh` dir diese Grünhörner an. Einige davon werden wohl heute Mittag wieder ergebnislos nach Hause gehen müssen ... Irgendwann nehmen die Sachbearbeiter ihre Plätze ein. Recht schnell sind wir an der Reihe. Schweigen ist Silber, verstehen ist Gold. Wir setzen uns an „unseren“ Schreibtisch. Der korpulente junge Mann dahinter, mit dem bubenhaften Gesicht, wirkt sehr wortkarg. Genauer gesagt, er schweigt. Erst einmal. Dann aber – schweigt er weiter. Über Yvonne`s Kopf sehe ich eine Gedankenblase aufpoppen: „Was hat der vor?“ Ich wiederum denke: „Was haben wir falsch gemacht? Sind wir auf Anhieb durchgefallen?“. Es passiert in den nächsten Minuten nichts. Wenn er wenigstens stinkig wirken würde oder aggressiv. Dann könnte man sich auf irgendwas einstellen oder freiwillig gleich wieder gehen. Aber er sitzt nur da und guckt. Mal auf den Computer, mal auf uns. Wir schweigen belämmert. Ist das ein Stuhl oder eine Schlachtbank? Reißt er uns gleich den Kopf ab? Sagt er gleich „manjana“. Oder lässt er uns noch eine halbe Stunde sitzen, um uns schließlich willkommen zu heißen in irgendeiner Verarschungs-Show des spanischen Fernsehprogramms und um uns dann die Kamera zu zeigen, die alles aufzeichnet. Hier müsste man sie nicht einmal verstecken. Im Security-System sind wir eh „auf Sendung“. Über uns als Gag-Opfer könnte ich lachen. Gerne. Aber nichts passiert. Warten ... Moment, was ist das jetzt? Er schnauft. Oh Gott, so ein überdrüssiges, lang ausgedehntes Schnappen und Ablassen von Luft, die für zwei Lungen reicht. Ich kann mir plötzlich vorstellen, warum Leute Geständnisse ablegen, obwohl sie unschuldig sind. Du willst nur noch raus aus der 223


Situation und alles andere kann man ja später regeln. Wir hängen mit den Augen an jedem seiner Wimpernschläge. Viele sind es nicht.Nach diesem Schnaufen wirkt er minutenlang nur noch wie diese Tiere oder Gurus, die ihren Kreislauf runterfahren können. 10 Herzschläge die Minute, locker, das hat er drauf. Hoffentlich sackt er nicht weg – und wir kriegen unsere Nummer NIE. Wir haben unterdessen Puls. Kayleen hat Sprechverbot. Jeden Moment könnte sie hinter dem ausgestreckten Zeigefinger mit so etwas in die Stille platzen wie: „Papa, was macht der?“. Und ich weiß nicht was „der“ macht, wenn er sich provoziert fühlt. Unsere Stimmung wird schlechter, die Gedanken werden es auch: „Der lässt uns extra warten“.... „Der kann Deutsche nicht leiden“.... „Der will uns testen, nur die Harten komm` hier in den Garten.“... Da schüttelt der auch noch plötzlich den Kopf. Ein kurzer Blick zu uns. Scheiße, das hat er gehört? Uns angesehen? Er lehnt sich in den Stuhl zurück. Eine Hand verschwindet in der Hosentasche. Klar, jetzt zeigt er`s uns erst recht. Um an all dem lieber mal unbeteiligt zu wirken, gehen Yvonne und ich noch mal die Unterlagen auf den Knien durch. Mit gesenktem Haupt schiele ich zwischendrin zu ihm herauf. Ich fass` es nicht: Fast eine Viertelstunde schon stehen wir hier ab wie aqua con gas und dieser Typ schaut sich gelangweilt an, was die Kollegen eigentlich gerade so machen. Wenn er jetzt noch den Finger in die Nase steckt und das Bohren anfängt, dann, dann ... Dann, trifft uns sein Achselzucken in unsere Richtung wie ein Blitz. Und ist es wirklich sein Gesicht, das da gerade zu uns herüberlächelt? „Sorry. The computer is broken. We have to wait a little bit.“ Meine Kinnlade stürzt zu Boden. Über Yvonne`s Kopf erscheint aus dem Nichts eine rosarote Gedankenblase mit einem Sternreigen drum herum und darin steht in Leuchtbuchstaben: „Er kann sprechen.“ Aus meiner Seele steigt eine Feuerwerksrakete hoch und schreibt nach einer gigantischen Detonation in einem silbernen Glitzerregen „Er kann lächeln“ an die Decke des Büros. Es dauert noch ein paar Minuten, dann ist der Computer wieder OK und unser Sachbearbeiter entpuppt sich als 224


schweigsamer Held. Ohne viele Worte bearbeitet er unsere N.I.E-NummerAnträge und ergänzt für uns freundlicherweise fehlende Angaben in den Dokumenten, statt uns dazu noch mal wegzuschicken. Am liebsten wären wir `rüber gesprungen auf die andere Seite des Schreibtischs und hätten ihn gedrückt. Oh dieser Knuddelbär ….! War es nicht klar, dass die Beamten hier souverän und freundlich sind! Wir mussten nur noch eine Gebühr auf einer nahegelegenen Bank einzahlen und den Nachweis darüber unmittelbar danach auf diesem Amt vorlegen. Dann hatten wir unsere N.I.E.-Nummern in der Tasche und eine oft gemachte Erfahrung im Leben hatte sich erneut bestätigt: Auch eine schlechte Situation kann der Beginn einer guten Erfahrung sein.

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Anhang Über die Fotografin Fotolust trifft Reisefieber Alle Fotos in diesem Buch hat (mit einer Ausnahme) Yvonne Otto gemacht und bearbeitet. Sie wurden direkt in den beschriebenen Situationen fotografiert oder kommen aus ihrem Mallorca-Archiv. Die bis 2010 aktive Projektmanagerin bei Incentives und Events bezeichnet sich selbst als Travel Junkie. Fast 80 Länder hat sie bereist, privat oder als Projekt-Managerin in der IncentiveReisebranche. Ihre Leidenschaft für Länder, Menschen, Abenteuer und das Fotografieren ist mit der Zahl der kulturellen Eindrücke, Begegnungen, Erlebnisse und Landschaften immer weiter gestiegen. 2010 wurde Mallorca zum Lebensmittelpunkt von Yvonne Otto, ihrem Mann Kay Müller und der gemeinsamen Tochter. Hier hat sie in der digitalen Bildbearbeitung die perfekte Ergänzung zu ihrer Lust am Foto entdeckt und die Begeisterung fürs Bloggen. Auf ihrer Website gibt sie „exclusive travel tips“ für alle, die neben klassischen Luxusreiseerlebnissen vor allem ungewöhnliche Abenteuer und Begegnungen suchen. Mit der gleichen Motivation startete Yvonne Otto im Sommer 2016 mit Mann und Kind das Reise-Projekt „Let´s share Dreams“. Die Familie ist über ein Jahr in der Welt unterwegs und die meiste Zeit Gast im Alltag verschiedenster Menschen. Alle drei berichten auf ihren Websites und in mehreren Social-Media-Kanälen über ihre Gedanken, Gefühle, Erkenntnisse und Erlebnisse. Follower sind herzlich willkommen, Vorschläge zu machen, welche Reiseträume oder Herzenswünsche die Familie sich entlang der Reiseroute einmal näher anschauen sollte. Einen eigenen beruflichen Traum hat Yvonne Otto sich 2016 mit dem Buch „Don Burrito ´s Mallorca Moments“ erfüllt: 30 FotoartBilder kombiniert mit Illustrationen, die einen katalanischen Esel in verschiedensten Mallorca typischen Situationen zeigt. 226

www.exclusivetraveltips.com


Anhang Über den Autor Professionell schreiben, aber außer Kontrolle. Kay Müller, geboren am 08.02.1959 in Bad Kreuznach, wollte eigentlich Schauspieler und Schriftsteller werden. Trotz dieser Ausrichtung jobbte er nach dem Abitur in Seligenstadt drei Jahre lang ohne Bezug zu der gefühlten Berufung. Dann absolvierte er ein Praktikum in einer Werbeagentur in Marktheidenfeld und wurde direkt als Konzeptioner und Texter übernommen. Die Möglichkeiten, auf diese Weise kreativ zu arbeiten, ließen den ursprünglichen Berufswunsch in den Hintergrund treten. Über mehrere Stationen im Raum Stuttgart arbeitete Kay Müller abwechselnd als Angestellter, Agentur-Mitinhaber und Freiberufler. Sein Einsatzgebiet umfasst die Text-Bereiche Printmedien, Drehbuch, Moderation, Präsentation und Internet. Bei Firmenveranstaltungen und Industriefilmproduktionen führt er Regie. Seit 2010 lebt der Autor mit seiner Familie auf Mallorca. Hier setzte er seine berufliche Existenz in Deutschland fort und schrieb, inspiriert von der Insel, sein erstes veröffentlichtes Buch „Mallorca Moments“. Dabei kostete er die Freiheit aus, ohne Vorgaben und ohne Zensur durch Auftraggeber mit Worten, Gedanken und Sätzen zu spielen. Sein erstes „ganz eigenes Ding“ sieht er als Auftakt zu weiteren Büchern, mit denen er Menschen erreichen, unterhalten und bewegen möchte. www.totallykay.com

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Don Burrito‘s Mallorca Moments Neu erschienen 2016 von Yvonne Otto und Kay Müller: Mallorca-Impressionen auf die andere ART Ob „Coole Ratte“, „verrückter Hund“, „schlauer Fuchs“, „aufgeblasener Gockel“ … In welcher Rolle Don Burrito uns sein Mallorca auch zeigt, immer bleibt er der liebenswerte katalanische Esel zum Verlieben. Soft Cover Taschenbüchlein, 72 Seiten, 30 Foto-Art-Bilder mit heiteren Kommentaren in Deutsch, Englisch und Spanisch. Verfügbar bei Amazon.

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Herzlichen Dank für das Interesse an Mallorca Moments! Weitere Inspiration zu der beliebten Insel und anderen Zielen der Erde auf: www.exclusivetraveltips.com verfolgen Sie auf dieser Website auch das Familienabenteuer „Let`s share dreams“! Das Angebot an Büchern, photo art, Informationen und Reiseideen auf dieser Website wird ständig erweitert. Dort sind Ihre Wünsche und Anregungen willkommen! Oder schicken Sie direkt ein E-Mail an: info@exclusivetraveltips.com

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Manchmal kannst du die Welt umarmen. Manchmal fühlst du dich im falschen Film. Kennt jeder. Wenn du in einem neuen Leben auf Mallorca ankommst, gehen solche Momente besonders tief … Auswanderer Kay Müller beschreibt seine „Mallorca Moments“ mit Frau und Kind in 16 authentischen Geschichten. Bewegende Begegnungen, Bilderbuchlandschaften, Naturgewalt und Seelenfrieden. Geschichten von Alltagsglück und Anfänger-Stress, von warmen Weihnachtstagen und kalten Duschen fürs Gemüt. Es geht um Wanderlust und BikerFrust, ums Feiern und mit Anlauf scheitern … Viel Stoff zum Staunen, Wundern, Lachen, Schwärmen. Die Vielfalt der Geschichten, der 232 lebendige Schreibstil des Werbetexters und sein sensibler Midlife-Blick machen das Buch zu einem Lese-Erlebnis für alle.


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