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Terézia Mora Rede vom 19. Jänner 2011 im Kasino am Schwarzenbergplatz

Retortenbaby – 25 Jahre später Wie siehst du denn aus? Wie Koppány, der Heide. Ein ungarischen Schnauzer, die langen Haare und Zöpfe eines aus Asien gekommenen Stammesfürsten, in die Jahre gekommen und aufgegangen, aber, immerhin, er ist noch wieder zu erkennen. Ein László. Du schockierst mich. Du warst so ein gescheiter Junge. Was ist passiert? Ich bin in schlechte Gesellschaft geraten. Ich wurde von der Schule geschmissen, machte eine andere zu Ende, danach genoss ich zehn Jahre lang meine Freiheit (die ersten fangen an zu lachen) aber das Schärfste, was ich dafür bekommen habe, war Bewährung (jetzt lachen alle außer mir). Heute arbeite ich in Österreich und sie behandeln mich so, wie Österreicher Ungarn eben behandeln. Es war vorher ein Festpreis ausgemacht, bei der Abnahme kam er dann mit der Hälfte an und mit seinem Kumpel, der Polizist ist. Also habt ihr schwarz gearbeitet. Er johlt: Übrigens heißt mein Sohn wirklich Koppány. Und du wärst fast gestorben, sagt jemand, der Csaba heißt und Arzt geworden ist. Ich hatte eine kleine Operation. Er hatte einen bösartigen Tumor in einer Niere. Und später einen Bruch der Narbe, sagt eine, die Katalin heißt und Putzfrau und Handballtrainerin geworden ist. Ich fühle mit dir. Als ich 7 Monate lang nicht aufhören konnte, mich zu erbrechen, dachte ich jeden Tag daran, wie es wohl Chemo-therapiepatienten gehen mag. Man kann das keinem beschreiben. Ich hab dann auch aufgehört damit und bin wieder fett geworden. Aber du siehst noch aus, wie früher. Natürlich älter. Aber du bist weder zerlaufen, noch verdorrt. Aber du erzählst nur über deine Bücher, nichts über dich, sagt Judit, die Gärtnerin geworden ist. ...Weißt du noch, dass du uns eingeredet hast, du wärst ein Retortenbaby?

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Ja. (Weil es das war, was ich empfunden habe. Dass das alles unmöglich natürlich sein kann. Wahrscheinlich sind wir alle Teil eines staatlichen Experiments. Sie haben uns gemacht und nun beobachten sie uns und selbst unser Tod wäre mit im Paket. Natürlich kann man so etwas nicht sagen. Also sage ich:) Ihr wart so schlimm, damals. Durchschnittlich, würde ich sagen, sagt ein anderer Csaba. Das kann allerdings stimmen. Zeig deine Stirn, sagt Katalin, ist da noch die Spitze des Stiftes, den ich dir hineingerammt habe? Das warst du nicht, sage ich. (György hatte seine Finger an meiner Vulva, Csaba hat meine Brüste gedrückt, Koppánys Vater László war dazu auserkoren, meine Auf-merksamkeit auf sich zu ziehen, damit die anderen von hinten kommen konnten. Den zweiten Csaba habe ich dabei am Auge treffen können.) Die Ohrfeigen, die mir der Werklehrer gegeben hat, höre ich den zweiten Csaba, die waren berechtigt. Ich hatte sie verdient. Das ist irrelevant, breche ich endlich aus. Das Gesetz verbietet es! Schon damals! Deine Eltern hätten ihn anzeigen sollen. Er winkt ab. Heutzutage für viel weniger noch! ruft eine der beiden Klassenlehrerinnen dazwischen. (Für wie viel weniger?) Sehr richtig, sage ich leise, und dann für eine Weile nichts mehr. Sie reden weiter über ihre Krankheiten und Scheidungen, ich kann mit beidem nicht aufwarten, und überhaupt, ich habe heute schon genug gelogen. 5 Minuten, mehr nicht, standen wir erst beisammen, als meine alten Reflexe wieder anfingen zu arbeiten. 5 Minuten, solange, wie wir vor dem Schulgebäude standen. In dem Moment, als wir hineingingen, war schon alles verloren. Ich behauptete, die Treppe nicht wiederzuerkennen. Ich behauptete, mich nicht zu erinnern, dass die Tür links am Treppenabsatz die Mädchentoilette war. Ich behauptete, mich nicht zu erinnern, dass die Tür rechts in der ersten Etage das Lehrerzimmer war. Ich behauptete des Weiteren, mich nicht zu erinnern, dass unser Raum in der zweiten Etage war.

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Ich behauptete im weiteren Verlauf, mich nicht zu erinnern, dass es der Raum ganz hinten links war. Auf der anderen Seite des Flurs gab es jetzt allerdings wirklich etwas Neues: einen frisch renovierten Raum, nur mit einer Gittertür ver-schlossen. Was ist das, der Karzer? Darauf gab es irgendeine informative Antwort, die ich überhörte, denn es ging mir natürlich nicht um die Antwort, sondern um die Frage. Weiter behauptete ich, den Klassenraum nicht wiederzuerkennen. Schautafeln mit Buchstaben, in süßer Schleifchenschrift, der erste Buchstabe jeweils in einer anderen Farbe, damit er gut zu sehen ist und rundherum süße Abbildungen der dazugehörigen Dinge: Schwalben, Pilze, Autos, süße Jungen und Mädchen. Ich vergehe. 25 Jahre, und ich kann hier immer noch nicht stehen bleiben. „Die Last der Vergangenheit“ zieht mich hinunter, schnürt mir die Luft ab, nimmt mir die Worte aus dem Mund, ich kann nur mehr stammeln. Der Hortlehrer Simon, versuche ich, mich noch einmal dazwischen zu drängen. Irgendjemanden jeden Tag. Er schlug weniger, als dass er zerrte. An Ohren, Haaren, oder einfach an der Haut. Wo er anfasste, war ein Henkel. Unter streng nicht biblischen Beschimpfungen. Langte in die Luft, dort waren immer Körper, er griff sich eine Prise und schleuderte sie mit allem, was dazugehört, dahin, wo er sie brauchte. Mit einem Buch ins Gesicht. Das Blut kroch langsam aus dem rechten Nasenloch. Hhhh!, sagte ein Kind in der Nähe. Blut, das war selbst hier zu viel. Das war auch mein erster Gedanke: ihm könnte was passieren. Wann, wenn nicht dieses Mal müsste man ihn verraten? Aber ich habe ihn nicht verraten. Zum einen, weil ich ihn ehrlich mochte, und nicht wollte, dass er Schwierigkeiten bekommt. Und zum anderen wollte ich Schwierigkeiten generell vermeiden. Die Lage was auch so schon unangenehm genug. Wohin, frage ich, hätte man sich schon wenden können? Irgendjemand nickt und das Gespräch geht woanders weiter (Krankheit, Scheidung). Beantwortet mir nur eins! Wieso, meint ihr, war es 1989 von einem Tag auf den anderen möglich, damit aufzuhören? Und wieso war es vorher nicht möglich? Sollte es wirklich die Diktatur gewesen sein, die es, bis hinunter zum Kleinsten so (durchschnittlich) schlimm gemacht hat?

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Woraufhin sie: mit den Achseln zucken. Woraufhin ich: abwinke.

Immer diese nutzlosen Anstrengungen. Wieso ist es dir so wichtig, ihnen Dinge zu erzählen, die sie sowieso wissen? Weil, ob sie's wissen oder nicht, nicht der springende Punkt ist. Der springende Punkt ist, dass ich mit ihnen reden können will. So fängt man eben an. Vom gemeinsamen, alten, bekannten hin zum gemeinsamen neuen. Auch ich will, dass sie „über sich selbst“ erzählen. Ich will wissen, was sie denken. Was aus ihnen geworden ist. Warum? Um eine Vergleichsgröße zu haben. Wir haben immerhin fast 20 Jahre zusammen in Angstland verbracht, in Resignationsland, und ich will wissen, wie es ihnen damit geht, was für sie noch davon übrig ist, wie es in ihr jetziges Leben hineinwirkt. Wie ist es ihnen möglich, Treppe, Mädchentoilette, Lehrer-zimmer, Klassenraum zu ertragen und wieso mir nicht? Und wieso ist es mir wiederum möglich ist über die Misshandlungen zu reden und ihnen nicht? Soll ich dir was sagen? erbarmte sich der Darsteller eines alten Heiden gegen Ende doch noch. Soll ich dir was sagen? Ich bin nicht betrunken. Ich rauche wie ein Schlot, aber getrunken habe ich nie. Ich habe alles, was ich gemacht habe, nüchtern gemacht. Nüchtern und aus freiem Entschluss. Das ist wichtig. Nur das ist wichtig. Was wollte ich sagen? Dass du auch aus dem Ausland zu uns gekommen wärst, wenn du noch hier wohnen würdest. Ja, du hast Recht, sage ich, umarme sie, einen nach der anderen, und gehe, wie man so schön sagt, in die Nacht hinaus.

Nein, wirklich, was hast du erwartet? Wenigstens, sagt jemand, der nicht teilgenommen hat am Treffen, weil sie schon vorher alles wußte, wenigstens, sagt sie grinsend, wart ihr schlau genug, nicht über Politik zu reden. Das hätte erst richtig übel werden können. Dann lieber nichts sagend aber friedlich auseinander gehen.

Friedlich auseinandergehen? Ist es das, was ich mir wünsche? Doch, durchaus. Es liegt mir nichts daran, Krawall zu machen. Was ist schon Krawall. Nein, ich möchte etwas anderes. Weniger stumm sein. Jedes Mal, wenn ich in Ungarn bin. Als hätte man mir einen riesigen Kloß in den Hals gestopft. Ich habe im Zusammenhang mit dem Auffinden einer literarischen Sprache darüber

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geschrieben: den bedeutsamen Unterschied, ob einer aus einem wie auch immer möglichen Sprechen heraus in die Literatur kommt oder aus einer Verstummung heraus. Und meine begann hier, in dieser Schule.

Oder nein, natürlich viel früher. Der Hortlehrer Simon und ich, wir blieben noch lange zusammen an jenem Nachmittag. Lange, nachdem die Blutung aufgehört hatte, solange, bis er mir sein Leben erzählt hatte. Die Armut, war das eine Armut, der Krieg, die Schläge der Lehrer, die Schläge der Eltern, die Schärfe seines Taschenmessers usw. Damit ich ihn verstehe, nehme ich an. Und ich verstand auch und verriet ihn nicht.

Mein K.u.K., sage ich gerne pointiert, das waren Katholizismus und Kommunismus. Kein sehr genaues Bonmot, aber für den, der sich hier in der Gegend auskennt – alle Anwesenden – ist klar, was ich meine: dieses Geflecht mehrerer, durchweg repressiver Systeme, sehr viel älter als diese – damals erst: 30 Jahre alte – letzte Diktatur. Man nehme ein Dorf oder eine Stadt in der Nähe des Zentrums des alten Kakaniens, die Lebensweise kann bäuerlich sein oder städtisch, es kann aus lauter Kanzleien bestehen, man kann arm sein oder nicht ganz so arm unter Umständen gibt es einen Parteisekretär, auf jeden Fall gibt es: Priester, Verwalter, Kanzleivorsteher, Direktor, Gendarm, Polizist, Zöllner, Steuer-eintreiber, Arzt, Gemeindeschwester, Lehrer, Postfräulein, jeder für sich und alle zusammen haben Macht über dich. Selbst wenn du der Direktor bist. Dann gehst du halt ein paar Stufen höher. Es gibt immer Stufen höher. Aber das brauchst du dir eigentlich nicht mehr vorzustellen. Bleiben wir realistisch. Seien wir aber auch gnädig und siedeln dich irgendwo in der Mitte an. Du sollst dein Dasein nicht ganz unten fristen. Obwohl du sehr gut weißt, dass es dafür eine reelle Chance gab. (Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich dahinter gekommen bin, was die geweißten Vierecke an der Innenseite der Stadtmauer zu bedeuten haben, die den Hof des winzigen Bauernhauses meiner Familie abschließt. Ich dachte immer: irgendwelche Nebengebäude, früher. Aber dann kam heraus: dort standen kleine Hütten, gemietet von Menschen, die noch ärmer waren als eine Witwe mit 5 Kindern, meine Ururgroßmutter. Und wer noch ärmer als diese war, der wohnte außerhalb der Mauer in Lehm- und Reisighütten, und man kann es sich getrost sparen, sich vorzustellen, er hätte Schuhe an den Füßen gehabt. Wovon wir hier reden sind die (anderswo) so genannten goldenen Zwanziger des zwanzigsten Jahr-hunderts.)

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Und dann hätte es noch sein können, dass dein Schicksal dir bestimmt hätte, dass du Zigeuner bist oder Jude. Die Juden haben unseren Herrgott getötet. Deswegen darf man sie natürlich noch lange nicht ebenfalls töten, man darf ihnen gar nichts Böses tun, aber dass man vorsichtig ist, kann man ja wohl verstehen, eine Synagoge betrete ich in hundert Jahren nicht, und dass man die, die in der Hierarchie der Gemeinde unter einem stehen, mit entsprechender Herablassung behandelt, versteht sich ja von selbst, ebenso wie das Katzbuckeln nach oben, und bist du denn deppert, Wett, warum bezahlst du deine Schulden beim jüdischen Händler, der wird doch morgen sowieso geholt? Und stell dir vor, dass die Russen die Hühner, die sie nicht mehr essen können, einfach nur abmurksen und hinter den Schrank verstecken, denn ihr sollt sie auch nicht haben. Und das war noch das Geringste. Ja, ich weiß. Das ist der Boden, auf den wir im Grunde bis heute bauen. Wir haben nun einmal nichts anderes. Ich poche dennoch darauf: Halte dir all dieses Wissen präsent und dann entscheide, hat man oder hat man nicht die Wahl, seinen Nächsten, Familienangehörige, Erwachsene wie Kinder, Nachbarn, ja, ich weite das sogar auf Haus- und Nutztiere aus, gnädig zu behandeln? Und, noch einmal: wieso konnte man 1989 mit einem Schlag mit den Misshandlungen an meiner ehemaligen Schule aufhören? Als hätte man sich gesagt: ach, das macht jetzt auch keinen Sinn mehr? Aber wir wollen korrekt, also fair, bleiben. Wie wir sehr gut wissen, wirkte auch im Westen noch bis in die siebziger Jahre das nach, was man heute als „schwarze Pädagogik“ bezeichnet. Im Ostblock dauerte es eben noch etwas länger, bis 1989, bis die Unterdrückung aufhörte, bis in den letzten Winkel des Alltags eines jeden Bürgers hinein zu wirken. Womit meine Frage von oben beantwortet wäre. Ja, die Diktatur hatte ihren Anteil daran, dass repressive Strukturen überdauern konnten. Brutales System fördert persönliche Brutalität. Euch Bälgern geht’s doch bei all dem immer noch besser, als uns. Stimmt. Es wäre trotzdem besser gewesen... Egal. Lassen wir das. Bleiben wir nicht dabei stehen, Verständnis zu haben, sondern vergeben wir auch. Es gibt viel mehr Fälle, in denen das möglich ist, als man gemeinhin glauben mag.

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1989! Durch eine, wie man sagt „glückliche Wendung des Schicksals“ installierte sich das erste Mal überhaupt in dieser Gegend eine Weltordnung, in der man, als wesentlicher Unterschied zu allem vorher gewesenen, aufhören konnte damit, permanent Angst zu haben. Als ich und meine Klassenkameraden volljährig wurden, hob Angstland quasi von einem Tag auf den anderen die Hände und sagte, mein Name ist Hase, oder, anders formuliert, ab nun bin ich ein freies Land und auch ihr seid, was ihr wollt. Und mit einem Schlag war zumindest die den Alltag durchdringende, lähmende Grundangst vor ich-kann-gar-nicht-konkret-sagen-wovor, wenn selbst ein 8jähriges Kind seit Jahrhunderten weiß, dass es keine Chance hat, sich gegen Übergriffe zu verteidigen, von uns abgefallen. Das war eine rauschhafte Erfahrung. Falls jemand denken sollte, die Ossis haben sich so gefreut, weil sie reisen und konsumieren durften, der sei aufgeklärt: sie haben sich gefreut, weil sie nicht mehr kontinuierlich Angst haben mussten. Eines Tages erwachte Karl Ostmann (dessen Großvater auf gesellschaftlichen Druck hin – aus Karrieregründen – den Namen in „Keleti“ geändert hatte, so heißt also unser Held zur Zeit dieser Geschichte Károly Keleti), eines Morgens erwachte Károly Keleti und hatte keine Angst. Später lieferte er das Kind im Kindergarten ab und hatte keine Angst, ging rasch bei der Post vorbei und hatte keine Angst, fuhr zur Arbeit, und hatte keine --Abbruch, notwendige feministische Korrektur: Erwachte Klara Ostmann-Keleti, brachte das Kind, sprang zur Post, ging zur Arbeit, führte mit Kollegen sogar ein Gespräch, in dem Politik vorkam – und hatte keine Angst. Am Nachmittag allerdings musste sie zur Meldebehörde, denn ihr Ausweis war abgelaufen. Die Meldebehörde befand sich in demselben Gebäude wie die Polizei, der Unterschied zwischen beiden Behörden war Klara Ostmann- Keleti auch nie richtig klar geworden, und dort, in diesem Behördenwartezimmer, in jenen Stunden, wo vielleicht gar nichts Unmenschliches geschah, und sie vielleicht nicht einmal Zeugin sein musste, wie andere unmenschlich behandelt worden sind, vielleicht war es nur dieses lange Warten in einem Raum, in dem Uniformierte ein und ausgingen, und vielleicht war es nur, dass der zuständige Beamte zwar nicht inkorrekt, aber auch nicht freundlich war, vielleicht war er einfach nur mürrisch und als sie auch noch das Gefühl hatte, ein Uniformierter musterte sie begehrlich und abschätzig, verlor Klara Keleti die Nerven. Sie brach zusammen, wurde zu einem feuchten Fleck auf dem Boden – aber natürlich war davon von außen nichts zu sehen, nur dass sich da eine Frau mit verkniffenem Gesicht und eingezogenen Nacken

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aus dem Gebäude sputet, und auf der Straße war auch alles voller Uniformierter, die Grenze ist nah, und dann noch welche, die keine Uniform trugen, aber sie wußte, wußte genau, dass die auch dazugehörten, und später ging sie noch etwas einkaufen und hatte keine Angst, aber das spielte da schon keine Rolle mehr. Ihr wurde klar: ganz so schnell wird das wohl doch nicht gehen. In der Tat. Es dauerte noch Jahre, und ein Rest ist bis heute geblieben von der unproportional größeren Angst vor allem Staatlichen im Vergleich zu denen, die nicht in einer Diktatur aufgewachsen sind. Ich habe es in Berlin 10 Jahre lang kaum geschafft, eine Behörde zu betreten, dabei ist man dort nicht einmal korrupt und hat, sogar, besser spät als nie, Schulungen in Kundenfreundlichkeit belegt. Dennoch, etwas Angst ist immer da. Ich stärke mich vorher innerlich. Ich bin bereit, bis zum Obersten Gericht zu gehen! Man beachte, was für eine Errungenschaft dieser letzte Satz ist. Damals wäre ich nirgends hingegangen. Mein Fehler, ich weiß. Wenn ich darauf bestehe, man sei frei, auf Übergriffe zu verzichten, dann muss ich auch darauf bestehen, dass man frei ist, gegen diese ins Feld zu ziehen. Aber nein, das ist nicht dasselbe. Das eine spielt sich im Bereich der persönlichen Gnade ab. Ein Mensch steht einem anderen gegenüber. Im anderen Fall steht ein Mensch einem Apparat gegenüber. Der Staatsqualle. Man kann das nicht vergleichen. Immerhin habe ich heute keine Grenzalpträume voller Demütigungen und Lebensgefahr mehr. Allerdings suche ich bin heute bisweilen panisch nach meinem Pass. In meinen wiederkehrenden Träumen packe ich ständig Koffer, und ständig ist so viel zu packen, auch Sachen, die gar nicht meine sind, dass das gar nicht zu bewältigen ist, und dann ist auch noch der Pass weg und die Katastrophe ist komplett. Die Angst bei Grenzkontrollen auf Stufe 5 auf einer 10er Skala zu halten, gelingt mir erst, seitdem mein Pass ein EU-Pass geworden ist. Auf Stufe 3, seitdem ich ein Kind habe, das (noch) zwei Pässe besitzen darf. Wenn ich mit dem Kind unterwegs bin, sage ich mir, falls etwas passiert, und mich mein Pass nicht beschützen kann, kann vielleicht der zweite Pass meines Kindes uns beschützen. Wohlgemerkt: wir reden hier von einem Flug von Berlin nach Wien. Und ich weiß nicht, was ich mir wünschen soll: Dass mein Kind diese Angst niemals versteht – also: mich, diesen Teil von mir. Oder dass es versteht. Wann ist der Preis höher und wer muss ihn entrichten und ist es vielleicht gut, ihn zu entrichten? Ich weiß es nicht.

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Wovor habe ich konkret Angst an einer Grenze heute? Dass man sich weigert, mir Rechte zu gewähren? Ich weiß, ich habe so gut wie keine. Alles kann mir mit einem Handstreich wieder entzogen werden. Habe ich Angst vor den Demütigungen? Den Spielchen? Wenn einer mit einer Tellermütze, so groß wie der Vollmond, was bestimmt nicht Lächerlichkeit symbolisieren soll, sondern Autorität, und das funktioniert auch, obwohl es dabei natürlich lächerlich bleibt, wenn so einer mit so einer Mütze und unbewegten Gesicht dich heran winkt. Oder nur winkt, dass du vorbeigehen darfst. Wie kann man da in Würde vorbeigehen? Gar nicht. Osten, Westen, egal. Da kann man, fürchte ich, nicht besonders viel dagegen tun. Und dennoch kann ich nicht anders, als jedes Mal, wenn mein Kind dabei ist, eine Komödie aufzuführen, als wären wir in „Das Leben ist schön“. All das ist ein Spiel, meine Kleine, es gibt Regeln, sie sind auch nicht besonders schwierig, wir halten sie hübsch ein, sehr fein hast du das gemacht, und schau, auch ich lächle, und ich würde es auch tun, wenn ich wüsste, dass du bereits unterscheiden kannst, dass du den Unterschied formulieren kannst zwischen einem echten Lächeln und diesem hier. Ich könnte nicht anders, solange eine von uns beiden noch zu schwach ist, im Fall der Fälle sich mit seinem ganzen Leben hinter sein Nicht-Lächeln zu stellen, werde ich dieses Gesicht tragen müssen. Nein, ich erinnere mich an keine Treppe, keine Tür. Noch nie.

Ja, das sind die Dinge, die sich nicht ändern. Auch, dass ich (obwohl mir meine Vernunft und meine Moral beigebracht haben, zu verzeihen) vielleicht nie so alt, weise oder dumpf werde, dass ich ohne Würgereiz meine alte Schule betreten kann. Es wird immer diese Ecken geben, an denen es dich an der Gurgel packt. Mit manchem kämpft man eben bis zum Schluss. Aber alles in allem, das darf du niemals vergessen, gibt es einen wesentlich Unterschied zu früher, dass man nämlich, Wiederholung, nicht permanent Angst vor dem eigenen Staat haben muss. Weder vor dem, in dem du lebst, noch vor dem, dessen Bürgerin du bist. Keine Angst vor dem eigenen Staat haben zu müssen ist wahrscheinlich die größte Errungenschaft, die du in deinem Leben genießen kannst. Vergiss das nicht. Jedes Mal, wenn du wieder siehst, wie ungebrochen die Macht von Priester, Postfräulein, Patriarch ist, halte dir vor Augen, dass du etwas hast, was du früher nicht hattest, namentlich: Wahlfreiheit, Gewissensfreiheit, Versammlungsfreiheit, Redefreiheit...

Zäsur.

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Ich habe jemandem, der mich liebt und sich auch für meine Arbeit interessiert, skizziert, wie ich in dieser Rede vorgehen will. Dass ich anfangen will mit einer Erinnerung von vor 25 Jahren, als ich, als Ausdruck meines Abgeschnitten-Seins von der „real existierenden“ Welt behauptete, ein Retortenbaby zu sein, und dann einen Blick aufs Heute werfen, und mich fragen: was ist aus den alten Strukturen, den Absurditäten und Ängsten geworden? Dass ich zwar angekündigt bin als eine, die „zu keiner Veranstaltung geht, bei der sie die Ungarin geben soll“, aber gerade jetzt sei die Situation so, dass es einfach feige wäre, nicht über Ungarn zu reden, das könne ich überhaupt nicht vermeiden, wenn man mir so eine Vorlage liefere, ausgerechnet in jenem Moment, wenn ich anfange über die Freiheiten X und Y zu reden. Meine Gesprächspartnerin signalisierte Verständnis. Später in der Nacht bekam ich allerdings eine e-mail, in der mich die, die mich liebt, inständig bat, mich auf keinen Fall in die Tagespolitik zu verheddern. Das könne nichts Gutes bringen. Sie habe keine Angst um sich, sie habe nur Angst um mich. Das Gemeine zieht einen immer herunter. Und was geschah? Ich las das und prompt bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich stand wie versteinert davor. Das hatte ich nicht erwartet.

5 Minuten. So lange dauerte das. Dann rief ich mich zur Ordnung. Das kann ja wohl nicht wahr sein. Ja, wo leben wir denn? Das war eine gute Frage, denn darauf kann man eine konkrete Antwort geben: Örtlich: Bundesrepublik Deutschland, Europäische Union. Als Staatsbürgerin: Republik Ungarn, ebenfalls Europäische Union. Aus, vorbei. Um meine Angst auszuhebeln, musste ich mich an nichts weiter erinnern, als daran, dass ich nicht isoliert bin, sondern Teil einer bei Bedarf korrigierend auftretenden Gemeinschaft, die die Verteidigung der oben erwähnten Werte tatsächlich als Grundvoraussetzung und Legitimation ihrer Existenz ansieht. Aber, was bedeutet das nun? Bedeutet das, ich würde mich weniger in Sicherheit fühlen, wenn ich als Ungarin nicht zugleich Europabürgerin wäre? Ja.

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Warum? Hängt es etwa damit zusammen, dass es einem bis heute nicht gerade leicht gemacht wird, Vertrauen in die jeweilige ungarische Regierung zu haben? Da entweder gute Ansätze an politischen Dilettantismus scheitern, oder aber Talent mit Machthunger und Skrupellosigkeit zusammenkommt? Dass man also all zu oft die Wahl zwischen Pest und Cholera hat? Ja, zum Teil. Es tut gut, zu wissen, dass es noch eine andere Regierung gibt, die für einen zuständig ist. Hängt es vielleicht damit zusammen, dass in der Republik Ungarn, Europäische Union, nicht derselbe Grad an Rechtssicherheit herrscht, wie in anderen Ländern der Union, sagen wir, in Deutschland? Ja, auch. Es vermittelt eben einen höheren Grad an Sicherheitsempfinden, wenn man den Eindruck gewinnen kann, der Staat hat den Willen und die Fähigkeiten, dafür zu sorgen, dass Gesetze zur Anwendung und Bürger zu ihren Rechten kommen. Oder dass marodierende oder ein anderes Mal in Reih und Glied marschierende Rechtsextreme nicht die Straßen unsicher machen (und das durchaus nicht nur für Juden, Zigeuner, Schwule oder Linke). Auch ziehe ich es vor, in einem Land zu leben, in dem ich kein Schmiergeld zahlen muss, nicht in Behörden, nicht im Geschäftsleben und schon gar nicht im Krankenhaus. Dass all das unangenehme und dem Vertrauen nicht gerade förderliche Dinge sind, mag ein jeder einsehen. Aber wieso gleich wieder Angst? Nein, keine Angst. Nicht so wie früher. Wir können mein Erschrecken ruhigen Gewissens mit einem alten Reflex erklären. Jemand hat mich in einer Situation, in der ich nicht damit gerechnet hätte, nach meinem Pass gefragt. Nein, das wäre doch wieder eine Lüge. „Das Leben ist schön“? Nein, so sehr nun doch wieder nicht. Ja, die jetzige Situation ist, grundsätzlich, eine andere als die in der Diktatur. Aber das ändert nichts daran, und das zu verschweigen hieße, zu lügen, dass es auch heute wieder eine „Atmosphäre“ gibt. Den Platz der alten Angst hat etwas anderes übernommen: eine überall vibrierende latente Aggression. Eine diffuse Ahnung von „die sind zu allem fähig“. „Die“? Wer sind „die“? Ganz einfach: die Anderen. Alle.

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Die traurige Realität ist, dass, 20 Jahre nach der Wende in Ungarn, ich nicht die einzige bin, die kein Vertrauen zur Regierung, und, was noch trauriger ist, zu Nachbarn hat. Vielleicht sind die Vorzeichen andere. Und vielleicht äußert es sich anders. Lauter. Was so aussieht, als könnten wir uns äußern. Die einen so und die anderen so. Aber in Wahrheit können wir es nicht. Wir können nicht miteinander reden, nicht nur über Traumata der Vergangenheit nicht, auch über die Gegenwart nicht. Ganz besonders über die Gegenwart nicht. Wir konnten damals nicht miteinander reden, weil wir in Angststarre waren, und heute nicht, weil uns, wenn wir nicht sehr aufpassen, innerhalb von Sekunden der Schaum vor dem Mund steht. Willst du eine Tischgesellschaft, die aus egal welchem Anlass, sei es eine Kindstaufe, zusammengekommen ist, innerhalb von 30 Sekunden in eine pöbelnde Horde verwandeln, sag einfach: Nationaltheater. Oder: Zigeuner. Oder: Mediengesetz. Und es bricht sofort die Hölle los. Lügner! Betrüger! Vaterlandsverräter! Perversling! Schwuchtel! Krimineller! Multi! Judenfreund! Nazi! Kommunistenschwein! Diktator! Moralische Null! Mörder! Ausländer! Mit dir rede ich doch überhaupt nicht! Du hast hier gar nichts zu sagen, du wohnst nicht mal hier! Wenn aber einige nicht mitreden dürfen, kann man dann von Freiheit sprechen? Wenn du dich nur mit denen aus dem eigenen Lager ohne Gebrüll unterhalten kannst, dann kannst du es im Grunde überhaupt nicht. Und wir können es nicht. Was das öffentliche Reden, und auch das Reden über öffentliche Themen im privaten Umfeld anbelangt, leben wir in Ungarn immer noch in Ruinen. - Hinweis auf den von mir immer wieder gerne zitierten Donald Barthelme: Aufgabe der Künste sei es, die von den Mächtigen ruinierte Sprache zu reparieren. Denn „wir können nicht in Ruinen leben“. - Wir können es vielleicht nicht, aber wir tun es. In 20 Jahren haben wir keine wirklich anwendbare Sprechweise der Freiheit entwickeln können. Eine Sprache der Macht und des Machtstrebens, ja die gibt es. Die politische Rede hat sich vielleicht, was ihre Schlagrichtung betrifft, im Vergleich zu vor-89 geändert, nicht aber in ihrer Struktur. Es gibt auch eine Sprache der Kunst, denn auch Künstler können immer reden, denn, dagegen lässt sich nichts machen, Freiheit ist der Kern einer jeden Kunst.

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Auch gibt es eine Presse, deren sprachliche wie gedankliche Brillanz mich schon in mancher verzweifelten Situation dadurch getröstet hat, dass es wenigstens einige gibt, die nicht vollkommen den Verstand – wiederhole: Verstand – verloren haben. Wie schade, dass Sie István Váncsa, Zoltán Kovács oder Gusztáv Megyesi nicht im Original lesen können. Es gibt auch eine Sprache der Internetgemeinschaften, deren subversive Kraft wünschenswerter Weise stetig zunimmt. Aber, wir wollen uns nichts vormachen: das sind nicht die meisten. Das Gros der Bürger, also: meine Klassenkameraden und, in privater Situation: ich, ist bzw. sind, sollten wir das Maul am Stammtisch noch so weit aufreißen, so groß das Getöse auch ist, in Wahrheit stumm.

Und warum? Weil wir uns nicht emanzipieren konnten. Weil wir uns stattdessen erneut haben fanatisieren lassen. Ich erlaube mir einen Gasttext zu verwenden. Heimito von Doderer: Die Mitteilung „Wann ist denen die Sache mitgeteilt worden?“ - „ Gegen halb zwölf.“ - „Haben die was gesagt, haben sie eine Wut gekriegt?“ - „Nein. Kein Wort haben sie gesagt, haben sich überhaupt nicht gerührt. Keinerlei Äußerung wurde getan. „ - „Und weiter? Und sonst nichts?“ - „Doch. Gegen sechs Uhr abends sind sie alle zugleich aus ihrem Bau gefahren und haben die Leute entsetzlich verprügelt, ja, geradezu gedroschen. Alles ist gelaufen, die Leut' haben nur geschaut, dass sie weiterkommen, um nicht auch noch erwischt und verdroschen zu werden...“ - „Ja, was für Leute haben denn die verhauen?“ - „Nicht jemand bestimmten. Wer halt grad vorbeigekommen ist. Einen kleinen alten Mann haben sie derart getreten, dass er mit dem Gesicht aufs Kanalgitter gefallen ist. Es war fürchterlich.“ - „Und was ist denen eigentlich um halb zwölf mitgeteilt worden?“ - „Das weiß ich nicht.“

Dieser letzte Satz ist natürlich nur als Pointe gut. Ja, alle sind fanatisierbar, und leider mehr in die negative, als in eine positive Richtung. So sind wir. Aber dass da konkret keiner wäre, der etwas mitteilt, und dass dieser dabei nicht ein Ziel verfolgte, dass also der Fisch mal nicht vom Kopf her stinken würde, kann ausgeschlossen werden. Dass heute diese „Atmosphäre“ vorherrscht, diese Gespaltenheit, diese drohende Aggression, kommt nicht von ungefähr, hat sich nicht zufällig, aus einer rätselhaften Eigendynamik heraus entwickelt. Es wurde ihnen vorher etwas mitgeteilt.

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Ungarn ist ein Land der Rhetoren, der großen Töne. Wir lieben unsere Sprache über alles, wir erkennen in ihr unser konstituierendes Element, wir sind mit nichts so sehr identisch, wie mit dieser bewahrten Sprache, und wahrscheinlich sind wir deswegen auch so empfänglich für glühende Worte. Wir hören gerne zu, wenn schön geredet wird. Oder gar nicht schön. Hauptsache aus ganzem Herzen und aus voller Seele! Als wären Vernunft oder Pragmatismus unserem Wesen von Grund auf fern. Wir sind doch keine Merkel-Deutsche! Die arme Frau Kanzlerin! Nein, wir sind so welche, die man erfolgreich in Lager spalten konnte, und jetzt finden wir nicht mehr zurück. Wie zu erwarten war, spielten auch in Ungarn die Radikalen in diesem Prozess des Sprachverderbens eine unrühmliche Rolle. In einer einzigen Rede der Jobbik kommt soviel Herz, Erde, Blut, Kot, Schlamm, Spucke, Höllenbrut, Fußblock, heilige Wut und Turulvogel vor (Nachweis: Die Rede Gábor Vonas zum 23. Oktober 2010), dass man, wüsste man es nicht besser, denken könnte, irgendein ungarischer Swift, ein Parti Nagy hätte eine neue satirische Parabel verfasst. Es wäre, in so einem Rahmen, allzu billig, sich allein darauf zu berufen. Wobei es natürlich dieses Vokabular als erstes „nach unten“ schafft. Aber bei diesem Niveau wäre es noch durchaus möglich, es durch geschicktes Verhalten so zu drehen, dass wir am Ende alle lachen. Bang kann es einem leider eher bei denen werden, die man nach herrschenden Maßstäben für wählbar halten muss. Dabei klingt es anfangs immer ganz harmlos. Da redet zum Beispiel einer von erschütternd vielen und schweren Aufgaben, vor denen wir stehen, und dass wir Kraft, Verstand und Fleiß brauchen werden, um diese zu bewältigen. Wir müssen die Fehler auch dann beheben, wenn nicht wir sie begangen haben wir werden sie beheben und: wir werden dabei keine Rache üben Er sagt: wir werden nicht die Regierung der Rache sein stattdessen: Arbeit, Familie, Zuhause, Gesundheit, Ordnung lasst uns zusammenhalten, damit wir erneut zu einer großen, gemeinsamen Schöpferkraft werden unter einer schwachen Regierung fühlt sich auch das Volk schwach in ihren Augen sehen wir schwach aus, aber wir sind nicht schwach

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wir sind eine große Nation uns werden die Knie nicht zittern weder vor dem Ausland, noch vor den Extremen im Inneren die krankhafte Politik der Vergangenheit wir haben Werte konkret: christliche es gibt keinen Grund, damit hinter dem Berg zu halten sich in seinem eigenen Land zu verstecken ja, wir sind christlich Christenmenschen wir legen unser Schicksal in Gottes Hand dort sind wir: in Gottes eigener Hand wir haben den Grundstein gelegt wir haben Hindernisse aus dem Weg geräumt, die man für unverrückbar gehalten hat, wir haben seit Jahrzehnten gültige Tabus gebrochen, wir haben gesagt, es wird eine Revolution geben, und es gab eine Revolution nun sind wir bereit für die Erneuerung, wir brauchen eine totale Erneuerung es muss in Dimensionen gedacht werden nicht von 4-5 Jahren, sondern von wir haben die Kraft dazu wir haben den Glauben mit der Kraft des nationalen Zusammenwirkens wir Ungarn sind hier und auch SIE werden bald dort sein, wo sie hingehören.

Und den meisten wird es dort vermutlich besser gehen, als sie es verdient haben, nehme ich an. (Nachweis Viktor Orbáns Reden im Februar und im Oktober 2010)

Sicher, vieles davon hätte jeder Politiker dieser Welt sagen können. Und einiges eben nicht. Revolution oder zumindest revolutionär ist zum Beispiel so ein untotes Wort, das immer mal gerne genommen wird, weil es einfach nichts bedeutet, man aber meist positive Assoziationen dazu hat. Anders als bei „nationaler Zusammenhalt“, aber da kann man sich immer noch sagen: OK, bei kleinen Ländern – die zugleich „große Nationen“ sind – geht von so etwas vielleicht doch weniger Gefahr aus, als würde das jemand mit, sagen wir, dem Hundertfachen an Raketen in der

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Hinterhand sagen. Auch müssen wir hier der Unübersetzbarkeit des Begriffes „nemzeti“ etwas Tribut zollen. Das ist nicht ganz dasselbe wie „national“ im Deutschen. Einfacher wäre es mit népi-nemzeti, wie es auch eine Weile gerne in Gebrauch war. Denn das bedeutet eindeutig „völkisch“ - aber im Moment ist das nur mehr ganz rechts außen in Mode. Wo es auch hingehört. „Krankhaft“ gehört auch irgendwohin, nämlich in den medizinischen Bereich – die Politik des Gegenlagers so zu bezeichnen bedeutet hingegen vor allem eins: die Abwesenheit einer „gesunden“ politischen Kultur. Und „Rache“? Wie viele echte Demokraten würden das Wort „Rache“ in den Mund nehmen? Wir werden keine Regierung der Rache sein. Ach so? Das ist gut. Das ist sehr löblich. Von Christenmenschen erwarte ich, ehrlich gesagt, auch nichts anderes. Leider ist es aber so, dass die Tatsache, dieses Wort, Rache, in den Mund genommen zu haben, auch wenn es in negierender Form passiert ist, nichts anderes, als eine Drohung ist. Man muss sich vor Augen halten: WER sich das anhört. Mit was für einer Geschichte im Gepäck. Mit was für Reflexen (siehe vorne), die immer noch in uns arbeiten. Zu sagen, dass „sie“ bald dort sein werden, wo sie hingehören, wäre gar nicht mehr notwendig gewesen. Ein unnötiges Aus-dem-Fenster-lehnen. Die Pferde sind mit ihm durchgegangen. Andererseits, das macht ihn so menschlich. Das Publikum liebt so etwas. Während man für so was Lahmes wie, wir wollen die Regierung des Ausgleichs, wenn schon nicht der Versöhnung sein, man nicht so viel Applaus erhielte. Dennoch hätte derjenige, der da spricht, es sagen können, wenn er gewollt hätte. Er war in der Position. Aber er wollte nicht das sagen, er wollte das Wort Rache in den Mund nehmen. Und dann fragt man noch, warum denn einer, der seine Zeitung anständig schreibe, denke, das neue Mediengesetz fürchten zu müssen? Darum. Weil solche Wörter fallen. Anständig. Sind Sie ein anständiger Mensch? Verhalten Sie sich anständig! Wenn mir so etwas jemand privat sagt, frage ich zu recht: Wem steht so etwas zu? Und das selbst, nachdem ich die Gelegenheit hatte, mich von jemandes persönlicher Integrität zu überzeugen. Aber selbst dann würde gelten: OK, du bist der Meinung, dies oder jenes ist anständig und anderes nicht anständig, ich nehme das zur Kenntnis, aber das verpflichtet mich bekanntlich zu gar nichts. Wir teilen uns unsere Meinung mit oder nicht mit und, immer

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vorausgesetzt, keiner von uns hat im Zusammenhang mit seiner „Anständigkeit“ eine Straftat oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, gehen unserer Wege. So, aber nun, wenn es der Staat zu mir sagt, ist das keine Privatangelegenheit, sondern, wiederum, eine Drohung. Und nein, das ist keine Paranoia. Es gibt Wörter, die in der öffentlichen Rede schlicht nicht (mehr) benutzbar sind. „Anständigkeit“ ist, für den Staat, eine Wortruine. Das kann man gut finden oder schlecht, es ist die Lage. Das ist auch keine Frage des Stils oder des Geschmacks. Zur Erinnerung: Formale Probleme gibt es nicht. Das gilt nicht nur in der Kunst. Die Dinge sind, wie sie quaken, watscheln und aussehen. Wenn ein Gesetz schwammig formuliert ist, ist das kein formales Problem. Die (vorgeblich) beleidigte (Meine Ehre! Meine Ehre!) Frage, wieso man davon ausginge, die Regierung würde das Gesetz missbräuchlich einsetzen wollen, ist Nonsens. Weil es möglich ist. Ein jeder tut alles, was ihm möglich ist. Ein Zweck, der die Mittel heiligt, findet sich jeden Tag, das ist wirklich keine Kunst. Und auf so etwas allgemein Bekanntes hinzuweisen ist keine Beleidigung, keine Bevormundung und keine Demütigung eines ganzen, kleinen, leidgeprüften Volkes. Die Frage ist vielmehr: Qui bono? Wer profitiert auf welche Weise davon, sich über eine vermeintliche Bevormundung zu echauffieren? Wer profitiert in welche Weise davon, zu teilen, die Leute derartig gegeneinander aufzubringen, dass sie sich nicht mehr verständigen können? Wer hat etwas von Babylon? Wer hat etwas davon, wenn unsere Sprache 25 Jahre nach dem Retortenbaby immer noch verwirrt ist, wenn wir uns immer noch in der Geiselhaft von Floskeln befinden, wir weiterhin jeden Tag mit Wörtern attackiert werden, deren einziger Zweck es ist, uns außer Gefecht zu setzen, zu verhindern, dass wir miteinander reden, dass wir immer noch durch Ruinen irren, froh, es nach Hause zu schaffen, ohne in eine Schlägerei verwickelt worden zu sein. Wir ziehen uns zurück und wollen nur noch unsere Ruhe haben. Und, wenn mit sonst auch nichts, können wir uns immerhin damit schmücken, nicht zu denen zu gehören, die sich nicht zu schade sind, mit Nazifahnen in der Hand zu randalieren. Noch einmal: Dass da einer etwa nicht merkte, dass er totalitär agiert – unmöglich. Auch wenn es Experimente geben soll, dass Machtbesitz nicht nur die moralischen, sondern auch die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt. Trotzdem, es gibt Grenzen. Der, der da spricht, ist nicht einmal 10 Jahre älter als ich, er hatte in etwa das gleiche erlebt, nur eben entsprechend länger,

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und er ist das Gegenteil von politischen ungebildet, unintelligent oder unbewusst. Er weiß, was er tut. Und wenn so jemand sich anschickt, eine heilige Kuh, wie die Pressefreiheit zu schlachten, dann passiert das ganz bestimmt nicht aus Unwissenheit heraus. Höchstens aus Dreistigkeit. Zu der es natürlich kommen kann, weil man etwas falsch eingeschätzt hat. Und man hat es falsch eingeschätzt, weil man seit sehr langer Zeit nur sich selber hat reden gehört, und sich womöglich gedacht hat, es könne so etwas wie eine sichere Mehrheit geben. Zum Mitschreiben: es gibt keine sicheren Mehrheiten in einer Demokratie. Die gibt es nur in Diktaturen.

Natürlich ist die Lage „auf der Straße“ auch nicht ganz so schlimm, wie oben geschildert. Es gibt auch in Ungarn eine Zivilgesellschaft, man sieht sie nur bislang seltener auf den Straßen. Gerade ich kenne nicht wenige persönlich, die sich auf wichtigen Gebieten engagieren: sei es der Umweltschutz, die Kinderförderung, die Entwicklung des Stadtraums, die Rechte von Homosexuellen, der Roma, und, natürlich, viele, der Sprache – aber all diese, von denen ich da spreche, sind ausnahmslos Intellektuelle, und sie tun nichts anderes, als ihrer Aufgabe nachzukommen. Für die, die nicht sprechen können, muss der sprechen, der es kann. Womit wir wieder bei Barthelme wären. Daran arbeiten, die von den Mächtigen ruinierte Sprache zu reparieren. Wir müssen sprechen, damit nicht nur sie sprechen. Und ich tue es auch, ich tue es beruflich, so gut ich es eben kann, und dann bekomme ich halt eine Mail, in der ich „vaterlandslose Gesellin“ genannt werde, was soll's. Jeder, wirklich jeder Autor in Ungarn wurde schon so genannt. Aber, was mich wurmt, ist, dass ich es in privaten Situationen nicht schaffe, inhaltvoll zu kommunizieren.

Aber warum will ich das überhaupt so unbedingt? Weil ich denke, dass da der Hund begraben liegt. Weil gerade die, die in ihren Dörfern wohnen geblieben sind, einen nicht unerheblichen Teil der Gesellschaft stellen. Einer Gesellschaft, zu der nun auch mein Kind gehört, durch Abstammung, Tradition und vor allen Dingen der Sprache, die zu erhalten nun für mich eine neue Dimension bekommen hat. Ungarisch für mein Kind zu erhalten, bedeutet, sehen zu müssen, dass es nicht reicht, es nur dort zu pflegen, wo es sowieso intakt ist, funktionsfähig und schön, denn irgendwann wird es meiner Tochter nicht mehr reichen, sagen zu können: taligán tol a pék gezemice lángost. Und es geht nicht darum, dass ich mir für mich und mein Kind nichts

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Schöneres

und

Lohnenderes

vorstellen

könnte,

als

sich

bei

freundschaftlichen

Zusammenkünften über Tagespolitik zu unterhalten. Es geht darum, dass die unbedingte Notwendigkeit der Vermeidung eines solchen Gesprächs unsere Freiheit einfach zu sehr einschränkt. Dass das gesäte Misstrauen, die Verhärtung dazu führt, dass es, in Babylon, in allen Lebensbereichen schwer ist, zusammen zu arbeiten. Ich sehe das mittlerweile so: ich bin vielleicht Kind eines Vater- oder Mutterlandes, eines Kulturkreises. Allerdings bin ich nicht das Retortenbaby eines Staates. Umgekehrt. Man muss es umgekehrt betrachten. Den Staat wie sein Kind betrachten. Sich so zu ihm stellen. Dass ich für meinen Staat, unabhängig von der jeweiligen Regierung, Verantwortung trage, in der Fürsorgepflicht bin, und dass es passieren kann, dass es nicht reicht, einen Stimmzettel abzugeben. Dass es Situationen geben kann, in denen man seinen Staat nicht der Politik überlassen kann. Wir haben die Möglichkeit, es besteht die Notwendigkeit, also ist es unsere Aufgabe, kontrollierend und korrigierend aufzutreten. Jó szóval oktasd, mit den Worten Attila Józsefs, mit guten Worten lehren, wobei ich dieses „lehren“ hier nur wegen der korrekten Wiedergabe verwende. Reden. Mit guten Worten reden. Auch das gehört für mich in den Bereich der persönlichen Gnade. In meinem Fall: sich vorbereiten, inhaltlich wie seelisch, und dann

zum

Nachbarn,

zu

den

ehemaligen Klassenkameraden

hingehen

und

sagen:

Kindesmisshandlung oder Ausländerfeindlichkeit oder Volksverhetzung, und dann alles aushalten, was kommt, und zwar so lange und so oft, wie es nötig ist. Soviel ist es im Grunde. Man könnte sagen: 20 Jahre nach dem Mauerfall bin ich endlich so weit, dass ich endgültig genug davon habe, nicht teilnehmen zu können. Hat ganz schön lange gedauert, könnte man anführen. Gemessen an einem Menschenleben, möglicherweise. Wiederum andererseits haben wir, die wir 1989 volljährig wurden, zumindest statistisch noch die Hälfte unseres Lebens vor uns. Die, die unsere Sprache zuletzt verdorben haben: nicht mehr. Und, wirklich: was sind schon 20 Jahre? Im Westen waren sie zur gleichen Zeit auch erst bei 1965 bis 69 angelangt. Ich kann nichts anderes, als zuversichtlich sein. Wir können nicht in Ruinen leben.

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