China Forum Vortrags- und Diskussionszyklus «China – Herausforderung und Chance», 2022
Das Beijing-Paradox: Chinas ungeplantes Wirtschaftswunder in historischer Perspektive Quintessenz des Vortrags von Prof. Klaus Mühlhahn, Präsident der Zeppelin Universität in Friedrichshafen und Inhaber des Lehrstuhls für Moderne China-Studien, vom 8. September 2022 im Club Baur au Lac in Zürich. Anfang des 19. Jahrhunderts war China mit fast einem Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung die grösste Wirtschaftsmacht. Industrialisierung im Westen, Konflikte mit am Handel mit Peking interessierten und militärisch überlegenen westlichen Ländern sowie innere Schwierigkeiten liessen Chinas Anteil am Weltwirtschaftsprodukt jedoch innert eines Jahrhunderts auf unter 10 % schrumpfen, bis 1950 gar auf unter 5 %. Nach der Machtergreifung der Kommunisten unter Mao Zedong und spätestens mit der Öffnungs- und Reformpolitik unter Deng Xiaoping hat China zu einer beispiellosen wirtschaftlichen und technologischen Modernisierung angesetzt und trägt – in einer teils bereits post-industriellen Gesellschaft – heute wieder knapp 20 % zur Welt wirtschaft bei. Wie sollen wir diese Entwicklung verstehen? Welcher Ansatz ist dafür am vielversprechendsten? Dies war Gegenstand des China-Vortrags von Prof. Klaus Mühlhahn, Präsident der Zeppelin Universität in Friedrichshafen und Inhaber des Lehrstuhls für Moderne ChinaStudien, vom 8. September 2022 im Club Baur au Lac. Der Umgang mit Chinas Aufstieg sei eine der grossen Fragen unserer Zeit, so Mühlhahn. Diesen Aufstieg betrachtet er bewusst aus der Perspektive von Institutionen – das heisst
von der Gesellschaft legitimierte Regelwerke für ein gerechtes Zusammenleben. Der Blick auf Institutionen bringt ihn dabei zurück bis ins Jahr 1644, dem Jahr der Begründung der Qing-Dynastie. Der Grund: Damals erschaffene Institutionen spielen teilweise auch heute noch eine Rolle, wie etwa die ersten chinesischen Unternehmen oder das Prüfungssytem. Dabei schildert er, bis 1830 sei es Chinesinnen und Chinesen in Bezug auf Lebensstandard, Wohlstand und Technologie keineswegs schlechter gegangen als Europäerinnen und Europäern. Eher im Gegenteil; Ein grosser und integrierter Wirtschaftsraum, eine auf Silber basierte Geldwirtschaft, staatliche Infrastrukturinvestitionen, niedrige Steuern, effiziente Märkte sowie wenig Kriege hätten das möglich gemacht – zusammen mit einem in weiten Teilen «Laissez-faire»-Staat. Wie also ist zu erklären, dass China im folgenden Jahrhundert im globalen Vergleich wirtschaftlich dermassen zurückgefallen ist? Einmal sei da der zunehmend industrialisierte westliche Imperialismus im 19. Jahrhundert, der China sowohl als Markt als auch als strategischen Standort entdeckt hatte. Zeit genössische Intellektuelle hätten die Gefahr von aussen zwar teilweise als «Zeitenwende» erkannt, doch im Grunde ignoriert, wie auch die Möglichkeiten der Modernisierung. Für die heimische Wirtschaft war das fatal: Einheimi-
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sche Industrien wie die chinesische Seiden produktion wurden so etwa von in England mit Maschinen produzierten Textilprodukten zerstört. Hinzu kam eine Währungskrise. Überschwemmungen und häufigere Ernteausfälle erschwerten die Probleme, und die Kluft zwischen den Hafenstädten und dem Inland wuchs. Doch besonders die politischen Institutionen hätten in der Zeit versagt, so Mühlhahn. Statt eine Antwort auf diese grossen Herausforderungen zu finden, sei es ihnen einzig um den eigenen Machterhalt gegangen – auf Neudeutsch «elite capture». Auch nach der Gründung der Republik im Jahr 1911 befand sich China noch immer im Abwärtsstrudel, der von diversen Kriegen weiter befeuert wurde. Doch neue politische Lösungen habe es kaum gegeben oder sie hätten nicht funktioniert. Erst die Kommunisten konnten im Jahr 1949 dieses Vakuum wieder füllen, und zwar unter Verwendung einer fertigen institutionellen Blaupause des sowjetischen Gouvernanzmodells. Doch dieses System habe sich als für China komplett ungeeignet erwiesen. Das vom Krieg gebeutelte China hatte wenig Kompetenzen, um die erforderlichen Pläne adäquat durchzurechnen. So mündete dieser Versuch in einer «Spirale des Desastern» mit dem «Grossen Sprung nach vorn» und der «Kulturrevolution». Nach dem Tode Maos habe man erkannt: die Wirtschaft war stehen geblieben. Mit Pilotprojekten wie der De-Kollektivisierung der Landwirtschaft unter Deng wurde in kontrollierbarem Rahmen institutionell experimentiert. Deng sei pragmatisch und graduell vorgegangen, habe bewahrt, was funktionierte und losgelassen, was nicht mehr funktionierte, so Mühlhahn. Der Erfolg war gigantisch. Wie schon in der Blütezeit der Qing seien diese institutionellen Innovationen mit massiven staatlichen Investitionen in Eisenbahn, Strassen, Universitäten und Technologie flankiert
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worden. Auch rekordhohe Auslandsinvestitionen und Technologie seien mit neu geschaffenen Anreizen ins Land gelockt worden. Heute sei China ein sehr hybrides institutionelles System mit Staatsbetrieben, die weiterhin den Geist des Staatssozialismus lebten. Gleichzeitig habe sich auch eine grosse Zahl innovativer privater Unternehmen entwickelt, die teilweise Weltmarktführer geworden sind. Die Institutionen jedoch, die Chinas rasante Entwicklung zuletzt ermöglicht hatten, seien zuletzt immer mehr zum Problem geworden, etwa die Belastungen der Natur und Bevölkerung. Es bräuchte mehr Binnenkonsum und ein gesünderes Wirtschaftssystem. Doch aus Angst vor Kontrollverlust lasse die Partei etwa keine Gewerkschaften zu, die der Bevölkerung mehr Mitsprache gewähren würde. Dies jedoch würde das institutionelle Gerüst wieder fairer und damit legitimer machen. Fortschritt sei zudem nur möglich, wenn Chinas Institutionen eine Feedback-Schlaufe hätten und der Bevölkerung mehr Mitsprache einräumten, so Mühlhahn. Heute sei dem System inhärent, nicht ausreichend auf unwirksame Politiken reagieren zu können. Diese Partizipation brauche es deshalb. In der anschliessenden Diskussion ging Prof. Mühlhahn auf die zahlreichen Fragen der Gäste ein. So zeigte er, dass China zwischen 1620 und 1820 schon eine partizipatorische Kultur mit Diskussions-Salons hatte und «eine Art chinesische Aufklärung» erlebte. Ebenso ging er auf Fragen etwa zur chinesischen Geschichtswahrnehmung, der Taiwan-Problematik oder der fehlenden Fehlerkultur ein. Ein Gast stellte zudem eine Idee von politischen Sonderzonen – in Anlehnung an die Wirtschaftssonderzonen – als weitere mögliche Innovation im kontrolierten Rahmen in den Raum. Für Mühlhahn muss es jedoch nicht notwendigerweise eine Demokratie im westlichen Verständnis sein. Diese zeige uns derzeit
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ihre eigenen Grenzen auf. Doch China weise heute offensichtlich ein Partizipationsmanko auf, wofür es wiederum ganz eigene Lösung finden müsse.
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Der Experte Prof. Mühlhahn ist ein renommierter deutscher Sinologe. Sein Buch «Making China Modern – From the Great Qing to Xi Jinping» gehört mittlerweile zu den Standardwerken zur jüngeren chinesischen Geschichte. Wie sein Vortrag stellt das Buch die institutionelle Entwicklung Chinas seit dem Beginn der Qing-Dynastie (1644) in den Mittelpunkt.
Ausblick
Im nächsten Vortrag, der bereits am Dienstag, 8. November 2022, stattfinden wird, richtet Kristin Shi-Kupfer den Blick auf das digitale China. Der Vortrag stellt zentrale Macher des digitalen China vor und wie sie nicht nur den chinesischen, sondern auch den hiesigen digitalen Wandel beeinflussen. Shi-Kupfer ist Professorin für gegenwartsbezogene Sinologie mit dem Schwerpunkt digitale Medien an der Universität Trier und Senior Associate Fellow am Mercator Institut für Chinastudien (MERICS) in Berlin.
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