Peter Koenig - 30 Dreiste Lügen über Geld

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Peter Koenig

30 dreiste LĂźgen Ăźber Geld Befreie dein Leben Rette dein Geld

Aus dem Englischen von Thomas Gotterbarm

Conzett Verlag bei Oesch


! ! ! ! Die!amerikanische!Originalausgabe!erschien! 2003!bei!iUniverse,!Inc.,!New!York!und!Lincoln,! unter!dem!Titel!30#Lies#About#Money! Copyright!©!2003!by!Peter!Koenig! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! Alle!Rechte!vorbehalten!! Nachdruck!in!jeder!Form!sowie!die!Wiedergabe! durch!Fernsehen,!Rundfunk,!Film,!BildO!und!Tonträger,! die!Speicherung!und!Verbreitung!in!elektronischen! Medien!oder!Benutzung!für!Vorträge,!auch!auszugsweise,! nur!mit!Genehmigung!des!Verlags! !! ! EOBook!2014! Copyright!©!2004!der!deutschsprachigen! Ausgabe!by!Oesch!Verlag!AG,!Zürich! ! Umschlagbild:!Edvard!Munch,!Am!Roulettisch,!1892! Munch!Museum,!Oslo! ! ISBN!978O3O03760O034O4! ! www.conzettverlag.ch!


Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lüge Nr. 1 Die Lüge vom arbeitenden Geld

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Lüge Nr. 2 Geld ist Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lüge Nr. 3 Schulden sind etwas Schlechtes . . . . . . . . . . . . .

31

Lüge Nr. 4 Zum Glücklichsein braucht man eine gewisse Menge Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Lüge Nr. 5 Die besten Produkte und Dienstleistungen werfen die höchsten Gewinne ab . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Lüge Nr. 6 Mit Geld sichert man sich seine Existenz . . . . . . . .

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Lüge Nr. 7 Geld bedeutet Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zwischenbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lüge Nr. 8 Geld wird von Regierung und Zentralbank geschaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lüge Nr. 9 Das in Umlauf befindliche Geld entsteht durch Prägen von Münzen und Drucken von Banknoten . . . . . . .

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Lüge Nr. 10 Das Geld ist durch Gold oder andere wertvolle Güter gedeckt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Lüge Nr. 11 Der Wohlstand eines Landes läßt sich an seinem Bruttosozialprodukt und anderen Wirtschaftsdaten ablesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lüge Nr. 12 Die Lüge über den Verbleib des Geldes . . . . . . . . .

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Lüge Nr. 13 Die Liebe zum Geld ist die Wurzel allen Übels . . . . .

99

Lüge Nr. 14 Die Lüge von Arm und Reich

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107

Lüge Nr. 16 Man muß arbeiten und Geld verdienen, um tun zu können, was man will . . . . . . . . . . . . . . . .

111

Lüge Nr. 17 Für ein neues Vorhaben braucht man Kapital, einen Geschäfts- und einen Finanzplan . . . . . . . . .

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Lüge Nr. 15 Geld ist Freiheit

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Lüge Nr. 18 Jeder kann Gewinn machen

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121

Lüge Nr. 19 Um Bestand zu haben, muß eine Firma Gewinn machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lüge Nr. 20 Der Preis für Güter und Dienstleistungen setzt sich hauptsächlich aus ihren Produktionskosten zusammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lüge Nr. 21 Geld macht unabhängig

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Lüge Nr. 22 Geld macht abhängig . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lüge Nr. 23 Renten und Ersparnisse sichern einen sorglosen Lebensabend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lüge Nr. 24 Die erste Lüge der Geldreformer . . . . . . . . . . . .

155

Lüge Nr. 25 Die zweite Lüge der Geldreformer

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163

Lüge Nr. 26 Wer Geld gibt, dem wird gegeben

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167

Lüge Nr. 27 Die Lügen über die Fülle . . . . . . . . . . . . . . . .

173

Lüge Nr. 28 Geld ist das Problem, Geld ist die Lösung

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Lüge Nr. 29 Geld ist nicht wichtig ... aber es vereinfacht das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

Lüge Nr. 30 Geld ist … was immer Sie denken

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Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Zugabe über den kleinen Unterschied – Lüge Nr. 31 Männer gehen besser mit Geld um als Frauen . . . . Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

So, nun stehen Sie hier also in der Buchhandlung und haben gerade dieses Werk aus dem Regal gezogen, 30 dreiste Lügen über Geld. Sehen Sie sich doch mal um: Wo sind Sie? In der Abteilung Wirtschaft und Finanzen? Bei Philosophie und Psychologie? Bei den Ratgebern? In der Kinderbuchabteilung? Lieber Leser, dieses Buch wird Sie zum Nachdenken bringen. Ich will Sie mitnehmen auf eine Reise durch den Garten des Geldes, der so reich ist an Verlockungen, Möglichkeiten, Realitäten und Illusionen. Das Paradies liegt greifbar nah, läßt sich jedoch nur erreichen, wenn man alle damit verbundenen Faktoren ganz genau versteht! Während ich hier zu schreiben beginne, stelle ich mir vor, wie dieses Buch später auf einem goldenen Tisch präsentiert werden wird, in seiner ganz eigenen Abteilung im Eingangsbereich der Buchhandlung – denken Sie bitte daran, Herr Buchhändler. Mit der Zeit werden sich dann weitere Bücher hinzugesellen, die ebenso kurz, einfach und wirklich nützlich sind; Literatur, Lyrik und Prosa mit Schlüsselhinweisen, die die Seele des Lesers ans Ziel ihrer Reise führen. Ein bleibendes Werk, bei dessen Lektüre es im tiefsten Innern laut ›Aha!‹ macht!

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Geld und Seele Geld und Seele, davon handelt dieses Buch. Welch bemerkenswerte Kombination. Geld klingt erst einmal zu banal, um für die Seele zum Thema zu werden. Und weshalb spricht der Buchtitel von »Lügen«, werden Sie sich wohl fragen? Was haben Lügen mit Geld und Seele zu tun? Lassen Sie mich dies anhand meiner eigenen Geschichte erklären. Soweit ich zurückdenken kann, haben mich Glück und Erfolg fasziniert. Was jedoch ist Erfolg? Meine Definition ist simpel: Ein Vorhaben ist erfolgreich, wenn das tatsächliche Ergebnis mit dem beabsichtigten identisch ist. Die meiste Zeit und bei den meisten Dingen, die wir täglich erledigen, sind wir so erfolgreich, daß es uns kaum auffällt. In gewisser Weise sind wir Zauberer. Wir stellen uns vor, was wir wollen und wann wir dies wollen, und machen uns dann daran, dies zu verwirklichen. Das ist keine große Sache. Das Geld ist daran in einer Weise beteiligt, daß wir gar nicht groß darüber nachdenken. Ein simples Beispiel: Uns fällt ein, daß wir Waschmittel brauchen, wir gehen in den Supermarkt und kaufen es. Erfolg! Wir sehen dies zwar normalerweise nicht so, doch angesichts der dazu nötigen Infrastruktur ist der ganze Vorgang zwischen dem ersten Gedanken an das Waschpulver und dessen Ankunft auf dem Küchentisch wesentlich komplexer, als wir gemeinhin glauben. Sobald man – als Kind – entdeckt, welche Rolle das Geld beim erfolgreichen Erwerb von Dingen spielt, die man haben möchte, schließt man daraus ganz automatisch, daß der gleiche Vorgang bei allem, was man sich wünscht, erfolgreich sein wird. Bei komplexeren Sachverhalten erweist sich die beim Waschmittelkauf angewandte einfache Erfolgsstra· 10 ·


tegie jedoch wahrscheinlich als unzureichend. Die Sprache des Geldes, in der wir unbewußt miteinander kommunizieren, enthält möglicherweise die größten Selbsttäuschungen unserer Zeit. »Money can’t buy you love«, sangen die Beatles, mit Geld kann man kein Glück erkaufen. Dies scheint zwar auf der Hand zu liegen, doch kann es trotzdem geschehen, daß wir versuchen, uns Liebe zu kaufen, und diesen Versuch, wenn uns nichts Besseres einfällt, unablässig wiederholen, ein Leben lang. Und wenn es nicht um Liebe geht, dann vielleicht um andere Dinge. Das Aufdecken der diesen fruchtlosen Versuchen zugrunde liegenden Irrtümer, Lügen, ist das zentrale Thema dieses Buchs. Mit jedem Erkennen einer (Selbst-)Täuschung oder Lüge kommt es zu einer kleinen Befreiung, und das in zweifacher Hinsicht: der Befreiung von sich selbst und der Befreiung vom Geld. Ich begann 1984, im Alter von 37 Jahren, mich näher mit dem Thema Geld zu befassen. Bis dahin war mein Leben in bezug auf Geld und Karriere eine wahre Erfolgsgeschichte gewesen. Als junger Mann aus einer jüdischen Industriellenfamilie, die im Krieg nach England geflohen war, war ich schon als Jugendlicher überaus ehrgeizig. Als guter Verkäufer arbeitete ich unermüdlich und verdiente mühelos Geld. Ich war als Immobilienmakler erfolgreich, übernahm eine verantwortungsvolle Position in einem großen amerikanischen Konzern, erwarb einen MBA-Abschluß und wurde in den 80er Jahren Teilhaber einer kleinen Unternehmensberatungs- und Kaderschulungsfirma. An diesem Punkt jedoch sah ich mich zwei Herausforderungen gegenüber, die mein Verständnis überstiegen: eine anhaltende Geldknappheit in meinem eigenen Unternehmen, was ich noch nie zuvor erlebt hatte, und die schleichende Erkenntnis, daß Füh· 11 ·


rungskräfte die bei meinen Unternehmensberatungen sorgfältig ausgearbeiteten Strategien im allgemeinen nur halbherzig befolgten, vor allem in finanziell herausfordernden Situationen. Angesichts dieser praktischen Probleme suchte ich nach professioneller Unterstützung und Beratung – um zu entdecken, daß es so etwas nicht gab! Ich fand niemanden, der sich jemals eingehend damit befaßt hatte, wie die Menschen und ihre Unternehmungen – von Gesellschaft und Kultur ganz zu schweigen – von ihrer Beziehung zum Geld beeinflußt werden und wie sich dies auf die Verwirklichung von Zielen, Erfolg und Glück auswirkt. Ich begann mit etwas, das Kurt Lewin (wenn ich mich recht erinnere) »Action Research« getauft hatte, Handlungsstudien, und dachte, dies würde nur kurze Zeit in Anspruch nehmen. Zuerst experimentierte ich für mich allein mit meinem Verhältnis zum Geld, dann in kleinen Gruppen. Dies war sehr aufschlußreich, da es mir erst den emotionalen Zündstoff, der mit unserer Beziehung zum Geld verbunden ist, enthüllte und dann die Überfülle an verschiedenen Definitionen, Auffassungen und Vorstellungen, mit denen dieses Thema behaftet ist. Letzteres schien intelligente Diskussionen oft unmöglich zu machen, und so keimte in mir der Verdacht, daß die Volks- und Betriebswirtschaft, wie sie an den Universitäten und Managementschulen gelehrt wurde, wenig mehr war als eine angenehme und vereinfachende »Indoktrination«, die die Tatsache verschleierte, daß das weltweite Wirtschaftsund Finanzsystem inzwischen so komplex und schwer steuerbar ist, daß niemand mehr wirklich erklären kann, wie dies alles funktioniert – oder warum es eben nicht funktioniert! · 12 ·


Fast ein Jahrzehnt dauerte die Ausarbeitung eines intelligenten Ansatzes zur Erforschung dieser Fragen, ein Ansatz, der Selbsterforschung, Lernen und Weiterentwicklung ermöglichen und nicht nur meine eigenen Fragen beantworten würde, sondern für alle Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen von praktischem Nutzen wäre und zudem – das ist besonders wichtig – neutral wäre in bezug auf den Ausgangspunkt des Fragestellers. Seit 1994 wird dieses Konzept nun auf Geldseminaren für Menschen, die aus ihrer Beziehung zum Geld etwas lernen möchten, erfolgreich angewandt; seit 1999 auch auf »Money & Business Partnership«-Konferenzen für Leute, die diese Erkenntnisse in einer Organisation oder im globalen Rahmen anwenden möchten. Dieses Buch ist der Versuch, dasselbe Konzept in einfacher schriftlicher Form leicht zugänglich zu machen. Hier kommen wir nun zurück auf die Frage nach der Seele in der Überschrift »Geld und Seele«: Das Ziel ist erreicht, wenn Sie sich dank diesem Buch durch die Beschäftigung mit Ihrer Beziehung zum Geld freier fühlen, Ihre Seelenreise zu verwirklichen. Kriterium für den Erfolg ist das Ausmaß dieser »befreienden Erfahrung«, die die Informationen hier nicht nur Ihnen, sondern auch dem Geldfluß in Ihrer Hand verschaffen.

Dies klingt vielleicht schwierig und kompliziert, aber … Die ursprünglichen Studien und die Entwicklung meines Konzepts dauerten wesentlich länger als erwartet – und sind im Grunde immer noch nicht abgeschlossen. Sobald ich · 13 ·


mich an das Thema gewagt hatte, entdeckte ich nämlich, wie immens groß das Gebiet ist und wie wichtig es ist, nicht nur die Auswirkungen der Beziehung zum Geld auf Einzelpersonen zu untersuchen, sondern sich auch mit der Funktionsweise des Finanzsystems, in dem wir alle eine Rolle spielen, zu befassen wie auch mit der Beziehung zwischen unserem Verhältnis zum Geld und der Struktur dieses monetären Systems. Dies klingt jetzt vielleicht noch kompliziert, doch gibt es keinen Grund, eingeschüchtert zu reagieren. Ich möchte Ihnen lediglich ein Gefühl für die Möglichkeiten dieses allumfassenden Ansatzes geben, ohne dabei mein Versprechen zu vergessen, das Buch so einfach wie möglich zu halten.

Wie wichtig ist Geld? Im Lauf der Jahre stellte sich heraus, daß Geld, wie viele es sich schon gedacht hatten, wirklich eine wesentliche Rolle beim Erreichen von Zielen spielt, doch – und das ist der springende Punkt – in ganz anderer Weise als gemeinhin angenommen. An dieser Stelle möchte ich noch nicht erklären, was ich damit meine, doch Sie können sich darauf verlassen, daß Sie das, was Sie in diesem Buch finden, überraschen wird – und wenn Sie gar ein Finanzexperte sind, werden Sie wahrscheinlich sogar ganz außerordentlich überrascht sein! Die »Lügen«, die im folgenden aufgedeckt werden sollen, sind die Quintessenz von 17 Jahren Forschung. Sie werden einige der weit verbreiteten Irrtümer über Geld und Finanzsystem offenbaren, von denen viele Menschen insgeheim überzeugt sind. Ich möchte ausdrücklich beto· 14 ·


nen, daß ich in diesem Buch kein Urteil abgebe über den Inhalt dieser Lügen. Ich sehe sie nicht als »schlecht« an. Es ist wichtig, sie zu thematisieren, weil die darin enthaltenen falschen Auffassungen Ihnen vielleicht die Möglichkeit verbauen, einige der Dinge, die Ihnen besonders am Herzen liegen, zu verwirklichen.

Wie dieses Buch zu lesen ist Wie ein Kind durch Beobachtung des Waschmittelkaufs und logische, wenn auch fehlerhafte Schlußfolgerungen daraus z. B. zu der Überzeugung gelangt, mit Geld könne man alles kaufen, eignen wir uns viele dieser Irrtümer und falschen Auffassungen vermutlich sehr früh im Leben an und stellen sie danach nie mehr in Frage. Gemeinsam bilden sie ein zusammenhängendes, stabiles, ineinander verkettetes »Netz«. Jedes Erkennen eines Irrtums führt zu einem kleinen Aha-Erlebnis und zu einer inneren Befreiung. Das Netz lokkert und entwirrt sich dann, und Freiheit und Entspannung stellen sich ein. Der Text ist in Dialogform abgefaßt und enthält einen vollständigen Prozeß, der von Anfang bis Ende gelesen werden sollte. Um den vollen Gehalt der Aussage zu erfassen, empfehle ich Ihnen dringend, sich an diese Reihenfolge zu halten, jedoch in Ihrem eigenen Tempo. Die einzelnen Kapitel sind bewußt kurz gehalten, damit Sie dazwischen nachdenken und alles aufnehmen können. Einige Buchseiten sind leer, so daß Sie dort Notizen machen können. Verfaßt wurde dieses Buch im November 2001 im süditalienischen Polignano an der Adria, 33 Kilometer südlich · 15 ·


der alten Stadt Bari. Während ich hier in der Abenddämmerung in meinen Laptop tippe und über das dunstig graue Meer blicke, noch ohne ganz genau zu wissen, was diese Seiten füllen wird, fühle ich mich geehrt und voll froher Erwartung bei dem Gedanken, mit Ihnen zusammen auf diese abenteuerliche Reise zu gehen.

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Einleitung

Der Verfasser eines Buchs beginnt gewöhnlich mit der Einleitung. Bei jedem guten Buch über Geld ist das erste Thema, mit dem man sich befassen muß, die Frage, was Geld überhaupt ist. Da dies jedoch ein ungewöhnliches Buch ist, möchte ich, daß Sie die Einleitung selbst schreiben. Notieren Sie kurz auf der folgenden Seite – oder einem separaten Stück Papier, das Sie mit der Post an sich selbst schicken und dann in dieses Buch kleben –, was Geld für Sie bedeutet. Dies wird nur wenige Minuten in Anspruch nehmen und ist die einzige praktische Übung in diesem Buch (das verspreche ich Ihnen). Listen Sie ganz einfach etwa zehn Punkte auf, die Ihnen spontan zu der Frage einfallen, was Geld für Sie bedeutet, ohne dies alles zu bewerten oder zu beurteilen.

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Geld ist ...


Lüge Nr. 1

Die Lüge vom arbeitenden Geld

Beginnen wir mit einer einfachen Lüge, vielleicht nicht der wichtigsten, doch einer Lüge, die zeigt, wie schnell man zu vollkommen falschen Schlußfolgerungen kommt, wenn man nicht genügend nachdenkt oder Fragen stellt.

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Die Lüge vom arbeitenden Geld

Versuchen Sie einmal, folgende Frage zu beantworten: Auf der Bank zahlen Sie 100 Euro auf Ihr Sparbuch ein, wo diese pro Jahr mit 2 % verzinst werden. Die Bank wiederum verleiht diese 100 Euro an einen anderen Kunden zu einem Zinssatz von 5 %. Nach Ablauf eines Jahres erhält die Bank 5 Euro Zinsen von diesem Kunden, gibt Ihnen davon 2 Euro und behält 3 Euro für sich. Die (nicht an Sie weitergegebenen) Kosten für diese Transaktionen belaufen sich auf 1 Euro. Sie haben mit Ihrem Geld also 2 % verdient. Frage: Welche Rendite hat die Bank mit dem Geld erwirtschaftet? Sie werden jetzt vielleicht sagen: 3 %, denn das klingt ja auch ganz logisch. Dies wäre jedoch die falsche Antwort. Die richtige Rechnung sieht folgendermaßen aus: Bankprofit der Transaktion = € 3 – Transaktionskosten = €1 Nettogewinn der Bank = €2 Kapitalrendite der Bank = Nettogewinn : Transaktionskosten = (2 : 1) x 100 % = 200 %

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Das heißt, mit einem Einsatz von 1 € erwirtschaftet die Bank 2 € = 200 %. Das ist natürlich ganz erheblich mehr als 3 %! Manche finden es vielleicht skandalös, daß die Bank 200 % verdient, Sie als Kunde aber nur 2 %. Sie können es jedoch drehen und wenden, wie Sie wollen, der Mathematik entkommen Sie nicht … Anmerkung: Der Umfang der Gewinne und Renditen einer Bank bzw. sämtlicher Banken ganz allgemein ist aus folgenden Gründen undurchsichtig: 1. Die Fachleute sind sich selbst nicht einig, ob eine Bank Spareinlagen wirklich wie oben beschrieben verleiht, oder ob sie nicht vielmehr Geld verleiht, das sie quasi aus dem Nichts erschaffen hat – im letzteren Fall sind die Renditen sogar noch höher. Wenn die Kosten für das Schöpfen und Verleihen von Geld gegen Null tendieren, sind die Kapitalerträge, rein rechnerisch, fast unendlich groß. 2. Geschäftsberichte und Bilanzen einer Bank weisen Erträge aus verschiedenen Arten von Bankgebühren auf wie auch Zinserträge, von denen die zu zahlenden Zinsen für Darlehen und Spareinlagen abzuziehen sind. In diesen Berichten steht jedoch nichts über Gewinne und Verluste der Bank aus Spekulationsgeschäften, denn diese erscheinen in den Bilanzen gar nicht. Dabei kann es sich um ganz erhebliche Summen handeln, welche die finanzielle Lage der Bank wesentlich stärker beeinflussen als Erträge aus anderen Geschäften. Diese nicht über die Bücher gehenden Transaktionen verschaffen der Bank eine beträchtliche Flexibilität, wenn es darum geht, Geschäfts· 22 ·


berichte und -abschlüsse auf das gewünschte wirtschaftliche und politische Erscheinungsbild hin zu bearbeiten. Wir werden uns hier nicht weiter mit dieser komplexen Materie befassen, und ich möchte damit auch nicht sagen, daß die Banken unverschämt hohe Profite erwirtschaften. Es geht nur darum, daß die weitverbreitete Annahme, der Umfang von Bankprofiten lasse sich grob dadurch abschätzen, daß man die Sparzinsen von den Kreditzinsen abziehe, ein schwerwiegender Irrtum ist.

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Lüge Nr. 2

Geld ist Macht

»Geld ist Macht.« Ich erwarte nicht, daß es mir mit Logik allein gelingen wird, Sie davon zu überzeugen, daß es sich bei dieser Redewendung um einen Irrtum handelt. Ich möchte Sie vielmehr zum Zweifeln anregen. Den Rest müssen Sie selbst erledigen, indem Sie Ihre eigenen Erfahrungen kritisch überprüfen und sich auf Ihr tieferes, intuitives »Wissen« verlassen. Überlegen Sie einmal, wie sich die Zeiten, in denen Sie viel bzw. wenig Geld besaßen, zu den Augenblicken verhalten, in denen Sie Ihre ganze Kreativität, Lebenskraft und Inspiration fühlen konnten – sowie zu jenen Zeiten, wo Sie das Gefühl hatten, keine Kraft mehr zu haben.

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Geld ist Macht

Durch das Fenster meines Hotels in Polignano, auf einem Felsen hoch über dem Meer, blicke ich auf ein kleines Ruderboot. Zwei alte Fischer sitzen sich gegenüber, der weiße Plastikeimer zwischen ihnen im Boot nimmt die gefangenen Fische auf. Sie verwenden keine Angelrute, sondern nur die Leine, die Angelschnur, die sie geduldig in den Händen halten, während das Boot in den Wellen auf und ab hüpft. Nun beschließen sie, zweihundert Meter weiterzurudern. Beide halten ein Ruder in der linken Hand, das sie in perfektem Gleichklang bewegen – der eine sein Ruder nach hinten, der andere nach vorn. Sie sind Meister ihrer Kunst, die Bewegung ist von vollendeter Eleganz und bietet ein Bild von ganz außergewöhnlicher Harmonie. Ich wende mich wieder dem Zimmer zu und schalte den Fernseher ein, wo Präsident Bush auf CNN gerade das Gesicht verzieht. Wer regiert die Welt? Was hat Macht mit Geld zu tun? Ich befinde mich hier im teuersten Hotel von Polignano. George W. Bush verdient bestimmt viel mehr Geld als ich, aber gewiß auch weniger als viele der führenden Geschäftsleute seines Landes. Für das, was ich hier pro Nacht bezahle, arbeiten die Fischer vermutlich eine ganze Woche – oder vielleicht sogar einen ganzen Monat? · 27 ·


Wer regiert die Welt? Ist es der Hotelbesitzer, der mit dem, was ich für das Zimmer bezahle, seine Unkosten deckt? Ist es der Hotelmanager, der die Autorität besitzt, den Preis mit mir auszuhandeln, sonst jedoch wenig zu tun hat den lieben langen Tag? Ist es George W. Bush? Sind es all die Staatschefs, die er empfängt? Bin ich es, oder sind es die Fischer? Sind es alle Menschen, ist es jeder von uns, keiner von uns? Bis zu welchem Grad sind solche Vergleiche überhaupt sinnvoll? Und bis zu welchem Grad, wenn überhaupt, hängt diese Macht von dem Geld ab, das man besitzt? Die Überzeugung »Geld ist Macht« übt schon für sich große Macht aus – und ist weit verbreitet. Bis zu einem gewissen Grad ist dieser Glaube eine sich selbst erfüllende Prophezeiung – allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Es handelt sich hier nicht um wirkliche Macht, sondern um eine Illusion, die sich auf zwei irrige und oberflächliche Vorstellungen stützt. Die erste ist das materialistisch geprägte Bild von den reichen Leuten, die viele Dinge besitzen, und den großen Unternehmen, die viele Menschen beschäftigen und viele Ressourcen verbrauchen. Man glaubt, daß sich das Leben mit Hilfe von Geld irgendwie besser kontrollieren lasse. Komischerweise besitzen die, die einen solchen Status anstreben, mehr Macht als die, die ihn schon innehaben! Die ersteren haben nämlich den Vorteil, ein konkretes Ziel vor Augen zu haben. Sie haben Anlaß zur Hoffnung. Diejenigen jedoch, die diesen Status erreicht haben, müssen auf einmal erkennen, daß es sich bei dieser Vorstellung um eine reine Illusion handelt – wie viele Lottogewinner bestätigen können. Lassen wir einmal zwei der reichsten und erfolgreichsten Wirtschaftsmagnaten unserer Zeit zu diesem Thema zu Wort kommen: · 28 ·


Ein reicher Mensch ist oft nur ein armer Mensch mit einer Menge Geld. Jeder, der glaubt, mit Geld lasse sich alles kaufen, hat offensichtlich nie welches besessen.

A RISTOTELES O NASSIS Erfolg ist ein ganz schlechter Lehrer. Er bringt intelligente Menschen dazu, zu glauben, sie könnten nie verlieren. Erfolg ist ein unzuverlässiger Wegweiser für die Zukunft.

B ILL G ATES Die zweite, nicht minder machtvolle Vorstellung ist der Umkehrschluß der ersten: daß man sein Schicksal nicht steuern oder kontrollieren könne, wenn man wenig oder gar kein Geld besitzt, und so unweigerlich ins Elend gerate. Dieses Schreckensbild vom Nächtigen unter Brücken hat genausowenig einen realen Hintergrund wie die erste Vorstellung. Es läßt sich leider nicht leugnen, daß es Hunger, Armut und Elend auf dieser Welt tatsächlich gibt. Die kollektiven wie individuellen Ursachen dafür liegen jedoch nicht in der Geldknappheit der betroffenen Menschen. Diese Zustände haben zwar sehr wohl etwas mit Geld zu tun, jedoch nicht mit dem Besitz von Geld, sondern vielmehr mit dem, was man gemeinhin über Geld denkt, und mit den Lügen, die wir hier nach und nach entschleiern. Lesen Sie weiter …

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Lüge Nr. 3

Schulden sind etwas Schlechtes

Wenn nun die Überzeugung »Geld ist Macht« nach und nach schwindet (tut sie es?), dann fordert Sie vielleicht der nächste Gedanke mit aller Kraft heraus: »Schulden sind etwas Schlechtes.« Betrachten wir dies einmal aus der Nähe.

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Schulden sind etwas Schlechtes

Herkömmliche Lebensweisheiten liefern widersprüchliche Aussagen über die Bewertung von Schulden. Wenn man als Privatperson Schulden hat, gilt dies als etwas Schlechtes. Nimmt man jedoch einen Kredit auf, um ein Haus zu kaufen oder eine Firma zu gründen, dann finden das alle gut. Je höher die möglichen Schulden sind, die man machen kann, als desto »kreditwürdiger« gilt man. Auf der Ebene der kommunalen Verwaltung, des öffentlichen Dienstes, der Landes- und Bundesregierung wiederum gilt diese Form von Kreditwürdigkeit nicht als richtig. Hier hält man Schulden wieder für schlecht! Wie entwirrt man dieses Netz aus willkürlichen Widersprüchen, das sich um das Thema Schulden rankt?

Die Schulden, die das Geld symbolisiert Zuerst muß man unbedingt verstehen, daß Geld und Schulden in unserer modernen Wirtschaft, so wie sie heute funktioniert, gleichzeitig erschaffen werden. Es handelt sich, um einen nicht unpassenden Vergleich zu verwenden, um zwei Seiten einer Medaille. Geld ist ein Zahlungsversprechen, ein »Ich schulde Ihnen …« von dem, der das Geld in Umlauf · 33 ·


bringt, an den, der es besitzt. Wenn Sie Geld in Ihrem Geldbeutel, Ihrer Hosentasche oder auf Ihrem Bankkonto haben, dann ist Ihre Nationalbank letzten Endes Ihr Schuldner, und Sie haben einen legitimen Anspruch auf die Einlösung dieses Versprechens, seinen materiellen Wert. Wenn Sie selbst ein Zahlungsversprechen ausstellen oder mit Freunden und Kollegen ein paralleles Währungssystem initiieren, wie etwa einen komplementären Tauschkreis (z. B. Talent), dann wird es immer Menschen mit Schulden und andere mit Guthaben geben. Ohne diese Wechselbeziehung gibt es kein Geldsystem! Daß es Schulden gibt, ist von daher weder gut noch schlecht, es ist in jeder Gesellschaft, die ein Währungs- und Zahlungssystem verwendet, die zwangsläufige Folge. Diese Beziehung liegt im Kern unserer globalen Finanz- und Wirtschaftssysteme.

Das Leihen und Verleihen von Geld Bisher haben wir über die Schuldner-Gläubiger-Beziehung bei neugeschaffenem Geld gesprochen. Das gleiche gilt auch für das Leihen und Verleihen von Geld, das bereits existiert. In diesem Fall wird kein neues Geld der ursprünglichen Währung in Umlauf gebracht, doch unterzeichnen ein Leiher und ein Verleiher auch hier ein Zahlungsversprechen, das dann die Anzahl der schon bestehenden Zahlungsversprechen/Schulden erhöht und damit die im Umlauf befindliche Geldmenge vergrößert. Dieses Zahlungsversprechen wird jedoch nicht im Rahmen des nationalen Systems ausgestellt und taucht darum in den offiziellen Geldmengestatistiken nicht auf. · 34 ·


Wir werden es hier einmal »derivatives Instrument« nennen (auch wenn man diesen Begriff normalerweise für eine enger gefaßte Kategorie von Finanzinstrumenten verwendet), denn hier wird eine Art ›Unterschuld‹ aus der schon bestehenden Geld-/Schuldenmenge abgeleitet. Dies ist nicht der richtige Moment, um sich in allen Einzelheiten mit derivativen Instrumenten oder dem Grund für deren explodierende Zunahme in den vergangenen Jahren zu befassen. Es geht hier nur darum, daß beim Handeln, Ausleihen und Verleihen nichts von vornherein gut oder schlecht ist, genausowenig wie es gut oder schlecht wäre, sich von einem Freund einen Fernseher oder eine Bohrmaschine auszuleihen oder von einem Nachbarn 10 Euro zu borgen, die Sie dann zurückzahlen, indem Sie dessen Schulden beim Gemüsehändler begleichen. Ihr Zahlungsversprechen an jenen Nachbarn, das dieser wiederum als Wertmittel einsetzt, um sein Gemüse zu kaufen, entspricht im wesentlichen dem, wofür die mit solchen derivativen Instrumenten verbundenen Aktivitäten stehen.

Wo liegen bei Schulden die Probleme? Oberflächlich betrachtet kommt es bei Schulden zu Problemen, wenn ein Schuldner – jemand, der ein Zahlungsversprechen gegeben hat – nicht in der Lage ist, dieser Verpflichtung nachzukommen. Im täglichen Leben gibt es viele Hinweise auf solche uneingelösten Versprechen und die daraus erwachsenen Konflikte. Ich möchte jedoch lieber auf die Einstellungen und grundsätzlichen Gegebenheiten hinweisen, die meiner Mei· 35 ·


nung nach zuallererst zu schlechter Zahlungsmoral sowie Gegensätzen und Konflikten zwischen Gläubiger und Schuldner führen – genau die Lüge nämlich, die wir in diesem Abschnitt entlarven: daß Schulden in der Regel als etwas Schlechtes gelten und darum zu vermeiden sind. Diese weitverbreitete Einstellung führt dazu, daß jeder gleichzeitig versucht, auf dem Kontoauszug im Plus zu sein, was praktisch unmöglich ist. Die Folge davon ist die Entstehung finanzieller Mechanismen, Systeme und Strukturen, die dazu führen, daß eine »smarte« kleine Minderheit Schulden erfolgreich vermeidet – auf Kosten der großen Mehrheit, die immer tiefer in die Verschuldung gerät und darauf hofft, da irgendwann wieder herauszukommen. Dies ist ein typisches Beispiel für eine sich selbst verstärkende Rückkoppelungsschleife, einen Teufelskreis, denn die Meinung »Schulden sind etwas Schlechtes« entwickelt sich so zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Am Ende nützt dies weder den Schuldnern noch jener »smarten Minderheit«, denn diese findet sich schließlich im Besitz von immer unzuverlässiger werdenden Versprechen und wertlosen Verbindlichkeiten.

Der Ausweg Die Lösung ist im Grunde einfach … aber vielleicht nicht so einfach, daß man sie sofort begreifen oder akzeptieren mag. Sie besteht darin, Schulden als notwendiges Gegenstück zu finanziellen Überschüssen zu begreifen, auf jedes Werturteil zu dem Thema also zu verzichten. Dieses Akzeptieren führt zu ehrlicheren Zahlungsversprechen und schafft Raum für · 36 ·


Kreativität in der Beziehung zwischen Schuldner und Gläubiger. Der Schlüssel zu einer Veränderung der Umstände in diesem Sinne wie auch zur Lösung praktischer Probleme liegt darin, genauer hinzusehen und sein Augenmerk auf die Qualität der Schuldner-Gläubiger-Beziehung – vor allem der Beziehung zwischen den beteiligten Personen – zu richten, seien es nun Freunde oder Vertreter eines ansonsten anonymen Geldinstituts. Wie jede andere Beziehung enthält auch diese ein großes Potential für Kreativität – oder Konflikte –, und je mehr Sorgfalt, Zeit und Aufmerksamkeit man darauf verwendet, ihre Qualität zu verbessern, um so gewinnbringender wird sie sich vermutlich gestalten. In guten wie in schlechten Zeiten.

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Lüge Nr. 4

Zum Glücklichsein braucht man eine gewisse Menge Geld

Geld führt nicht zwangsläufig dazu, daß man glücklich ist. Dies scheint allgemein akzeptiert zu sein. Eine bestimmte Mindestmenge an Geld ist jedoch notwendig, wenn man glücklich und zufrieden leben will. Wenn Sie so sind wie die meisten Menschen, dann stimmen Sie dem vermutlich auch zu. Dieser so weitverbreitete Gedanke ist jedoch gefährlich … er sollte wie Zigarettenschachteln einen Warnhinweis enthalten.

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Zum Glücklichsein braucht man eine gewisse Menge Geld

Die »gewisse Menge Geld« ist der Anfang vom Ende, ein Betrag, der unaufhaltsam steigt, ohne das darin enthaltene Glücksversprechen jemals ganz einzulösen. Dies ist auch gar nicht möglich. Auf das »Peter-Prinzip«, demzufolge man in der Hierarchie eines Unternehmens so lange aufsteigt, bis man die Grenzen seiner Fähigkeiten überschritten hat, folgt das »Barrs-Gesetz«: Ein bestimmter Geldbetrag, den man für die Verwirklichung eines qualitativen Ziels (wie Glück oder Sorgenfreiheit) für nötig hält, verdoppelt sich in dem Moment, wo man diesen Betrag endlich besitzt! Dafür gibt es gute Gründe. Der Mindestbetrag leitet sich ab aus der Furcht vor künftigem Mangel. Diese Furcht wird durch Erreichen des Ziels (also des entsprechenden Geldbetrags) jedoch nicht gelindert, so daß man das Ziel heraufsetzt, in der Hoffnung, irgendwann schließlich frei zu sein von dieser Furcht. Die gleiche Einstellung liegt auch vielen wohlgemeinten, aber letztlich nicht funktionierenden Programmen zugrunde, wie sie oft von Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds IWF und der Weltbank entworfen werden. Die Absicht dabei ist, die Armut in der dritten Welt durch Erhöhung der Mindesteinkommen zu »beseitigen«. Das häufig zu beobachtende Ergebnis: höhere Einkommen, aber · 41 ·


weniger Stabilität, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung in der einheimischen Kultur und größere Abhängigkeit von äußeren Faktoren, was schließlich zu zunehmender Verarmung führt. Gegen diese kranken Strukturen hilft nur eines: Man muß sich in das ganze Gedankengebäude der Lüge hineinversetzen, um den Konstruktionsfehler zu entlarven und weiteren Schäden vorzubeugen. Zur Verdeutlichung erzähle ich Ihnen die folgende Anekdote aus Indien, die ich von einem Vorstandsmitglied der Reserve Bank of India, der indischen Zentralbank, gehört habe, Herrn Y. S. P. Thorat. Wie viele andere »Entwicklungsländer« durchläuft auch Indien beträchtliche strukturelle Veränderungen. Die Dorfbewohner, vor allem die jüngeren, wandern nach und nach in die Städte ab, in der Hoffnung, die Familie mit einem höheren Einkommen besser ernähren zu können. Nachdem er sein Leben lang für die Reserve Bank tätig gewesen war, ließ Herr Thorat sich vom Dienst freistellen, um sich der Frage zu widmen, warum sich die Armut in Indien so hartnäckig hält und wie der Finanzsektor zur besseren Unterstützung der armen Landbevölkerung umstrukturiert werden könnte. Er beschloß, auf dem Motorrad durch Indien zu reisen, einen Fragebogen im Gepäck, und dabei die am wenigsten entwickelten Landstriche zu besuchen und mit den ärmsten Leuten zu reden. (So ganz anonym war er allerdings doch nicht, denn man ließ ihn von vier Autos eskortieren, zwei voran, zwei hinterher.) Eines Tages hielt er am Fuß eines Hügels an und stieg zu dem Dorf auf dem Gipfel hinauf. · 42 ·


Oben angekommen, fand er eine trostlose heruntergekommene Hüttenansammlung mit genau 18 verbliebenen Bewohnern. Eine Frau lud ihn ein, sich zu ihr in ihrer baufälligen Behausung auf den Fußboden zu setzen. Im Haus war nichts, berichtete er, die Frau besaß auch nichts, und ihm wurde klar, daß sein Fragebogen völlig irrelevant war. Nachdem sie eine Weile geplaudert hatten, geschah es. »Möchten Sie etwas essen?« fragte sie ihn. Sie verschwand für einen Moment und kehrte zurück mit einem kleinen Stück Fladenbrot und etwas gesalzenem Fisch, wovon sie ihm mit der Anmut dessen, der viel besitzt, anbot. Er wußte, daß er nicht ablehnen konnte, und nahm das Angebot beschämt an. Tief gerührt von soviel Großzügigkeit, fragte er die Frau zum Abschied, ob er irgend etwas für sie tun könne. »Was könnten Sie schon tun?« entgegnete die Frau. »Mein Dasein im Exil ist entsetzlich …« Herr Thorat bezeichnete diesen Moment als die bewegendste und wichtigste Erfahrung seiner gesamten Banklaufbahn! Er setzte seinen Bericht fort mit einer anschaulichen Aufzählung all der Initiativen und Programme, die seit der indischen Unabhängigkeit 1947 im Finanzsektor zur Armutsbekämpfung ergriffen worden waren. Er bezeichnete dies als ein Vermächtnis des Scheiterns und schloß mit den Worten: »Solange man sich nicht um die zugrundeliegenden Ursachen kümmert, werden sich die Strukturen nicht zum besseren wenden.« »Wenn es möglich wäre«, fragte ich Herrn Thorat, »Zufriedenheit an einer Skala zu messen, wie würden Sie dann die Zufriedenheit der Frau aus dem Dorf im Vergleich zu jener der Landflüchtlinge in den Städten bewerten?« Ohne · 43 ·


einen Moment zu zögern, antwortete er: »Die Lage der Frau ist zwar entsetzlich, aber sie ist tausendmal glücklicher!« *** Nachschrift aus Italien: Eine von italienischen Psychologen kürzlich durchgeführte Studie (Gazzetta del Mezzogiorno, 26. 11. 2001) kam zu dem Schluß, Italiens Kinder hätten die schlechteste Schulbildung von ganz Europa, seien aber am glücklichsten. Was das Geheimnis ihres Reichtums sei, wurde gefragt? Antwort: Nonni coccolati, verschmuste Großeltern.

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Lüge Nr. 5

Die besten Produkte und Dienstleistungen werfen die höchsten Gewinne ab Es wäre schön, wenn dem so wäre. Leider ist es aber nicht so.

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Die besten Produkte und Dienstleistungen werfen die höchsten Gewinne ab Viele Menschen wüßten gerne einen todsicheren Weg, viel Geld zu scheffeln. Es ist ganz einfach. Konzentrieren Sie sich voll und ganz darauf, Geld zu scheffeln. Dieses Rezept funktioniert immer. Bedeutet dies nun, seine Ellbogen einzusetzen? Vielleicht. Bedeutet es, seinen guten Ruf aufs Spiel zu setzen? Vielleicht. Bedeutet es Bestechung und Korruption? Nun, wenn man sichergehen will, daß man ganz schnell zu viel Geld kommt, vielleicht. Bedeutet es ein »gefährliches« Leben, wo man sich schützen muß? Vielleicht. Aber, werden Sie jetzt vielleicht denken, kann ich denn nicht ein anständiger Bürger sein, der ein anständiges Unternehmen betreibt mit guten Produkten, ehrlichen Angestellten und zufriedenen Kunden, so daß alle glücklich sind, und auf diese Art viel Geld verdienen? Auch hier lautet die Antwort: Vielleicht – doch sobald man Werturteile ins Spiel bringt, kann man nicht mehr sicher sein, daß man auch wirklich Geld verdienen wird. Die finanziellen Folgen anständigen Verhaltens sind völlig unvorhersehbar, wie viele Menschen, die diesen Weg schon gegangen sind, bestätigen können. Der Grund für diese vielleicht traurige Feststellung ist der: Solange wir keine Gesellschaft haben, in der die Wirt· 47 ·


schaft grundsätzlich auf Werten basiert, das heißt alle Aktivitäten im Zusammenhang mit Unternehmensführung, Investition und Konsum auf Faktoren beruhen, welche die Würde von Mensch und Umwelt achten – und zwar auch die unsichtbaren Aspekte, die einem Projekt eine bestimmte Bedeutung verleihen und Investitionen an Zeit, Energie, Aufmerksamkeit und, ja, Geld erfordern –, so lange werden sich diese Werte auch kaum in den Preisen der Waren widerspiegeln. So ist die gegenwärtige Situation. Im Gegensatz zu dem, was uns die klassische Wirtschaftstheorie glauben machen will, haben wir eine Marktwirtschaft, die alles andere als »perfekt« ist. Der Markt liefert nicht die umfassenden Daten, die zur Qualitätsbewertung notwendig sind, Daten, für die wir vielleicht bezahlen würden, wenn wir wüßten, wo sie zu finden sind. Statt dessen fördert er eine Verbrauchermentalität, wo jeder alles so billig wie möglich bekommen will. Durch die Zinseszinsen auf Geschäftskredite (mit denen wir uns später noch eingehender befassen werden) führt die Preispolitik heute außerdem zu beträchtlichen Verzerrungen im System. Die Folge ist, daß Preise und Werte keinerlei feste Beziehung zueinander haben. Um es mit Oscar Wildes Worten zu sagen, die heute noch genauso zutreffend sind wie damals, als er sie formulierte: »Heute kennt man von allem den Preis, von nichts den Wert.« Wenn Sie sich als Unternehmer nun fragen, wie mit dieser Situation umzugehen ist, dann sollten Sie als erstes eine ganz klare Entscheidung treffen: Entweder Sie konzentrieren sich voll und ganz darauf, Geld zu scheffeln – oder darauf, auf Werten basierende Produkte und Dienstleistungen anzubieten. Vielleicht kennen Sie ja Beispiele für die letztgenannte Geschäftsstrategie, auch wenn diese nicht ganz leicht · 48 ·


zu finden sind? Diese beiden möglichen Vorgehensweisen sind ganz verschieden, haben jedoch eins gemein: Bei beiden geht es darum, sich voll und ganz auf ein einziges Ziel zu konzentrieren. Die meisten Wirtschaftsunternehmen mischen jedoch beide Strategien zu einem unfruchtbaren Chaos: Sie konzentrieren sich halbherzig darauf, Geld zu verdienen, und versuchen gleichzeitig irgendwie, Mitarbeiter und Kunden mittels Firmenkultur und Werten zu motivieren, oder sie versuchen ganz ehrlich, gewisse Werte zur Grundlage ihrer Unternehmenspolitik zu machen, fühlen sich dann aber gezwungen, im Interesse ihrer finanziellen Ergebnisse Kompromisse einzugehen. Dies ist keine zynische Sicht der Dinge, wie es zuerst scheinen mag, sondern eine schonungslose, wenn auch traurige Einschätzung der objektiven Tatsachen. Es ist unmöglich, sich langfristig auf zwei (oder mehr) übergeordnete Ziele gleichzeitig zu konzentrieren und ihnen gleiche Priorität zu geben. Früher oder später kommt es zu einem Konflikt zwischen beiden, so daß eine Entscheidung getroffen werden muß. Gegenwärtig entscheidet man sich da – aufgrund eben der »Lügen«, die dieses Buch aufdecken will – meist unbewußt dafür, den finanziellen Ergebnissen eine höhere Priorität einzuräumen als den Werten. Zwar darf man damit rechnen, daß Preise und Werte sich einander allmählich nähern und Qualität sich irgendwann in Preisen und Werten widerspiegelt, je mehr sich ein Bewußtsein für diese Situation entwickelt, doch ist dies gegenwärtig noch »Zukunftsmusik«! Ein letztes Wort zu diesem Thema: Selbst wenn die finanziellen Ergebnisse von Firmen, die bestmögliche Produkte und Dienstleistungen anbieten, völlig unvorhersehbar · 49 ·


sind – ihre Nachhaltigkeit ist es nicht. Ein solche Firma überlebt garantiert! Lesen Sie weiter, wenn Sie verstehen wollen, warum …

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Lüge Nr. 6

Mit Geld sichert man sich seine Existenz

Kneifen Sie sich mal … ja genau, kneifen Sie sich!

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Mit Geld sichert man sich seine Existenz

Haben Sie es gemerkt? Sie existieren, ob Sie nun Geld haben oder nicht. Mit der Geburt wird Ihnen Leben geschenkt, und dieses Leben sorgt perfekt für Sie und Ihre Bedürfnisse – mit all den damit verbundenen Sicherheiten und Unsicherheiten. Was die Frage nach der Sicherheit anbetrifft: Lesen Sie weiter …

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Lüge Nr. 7

Geld bedeutet Sicherheit

Die

Beziehung zwischen Geld und Sicherheit scheint so selbstverständlich – und sicher – zu sein wie die Luft zum Atmen. Im Englischen nennt man bestimmte Wertpapiere und Effekten sogar »Securities«, Sicherheiten, und im Deutschen spricht man von »finanzieller Absicherung«. Dies ist bestimmt keine Lüge.

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Geld bedeutet Sicherheit

Dies ist bestimmt eine Lüge. Kein noch so großer Geldbetrag kann ein Gefühl von Sicherheit verleihen … höchstens für einige wenige Minuten. Erinnern Sie sich daran, wie es bei den Themen Macht und Glücklichsein funktioniert – oder eher nicht funktioniert. Dort ist ein ähnlicher Mechanismus am Werk. Die Illusion besteht darin, zu glauben, Wohlstand bzw. ein gewisser Betrag an Geld gewährleiste Sicherheit. Einen konkreten Betrag haben Sie dabei meist nicht vor Augen, doch wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben, daß Sie immer ein quälendes Gefühl begleitet, Sie sollten eigentlich etwas mehr Geld zur Seite legen, als Sie es bisher getan haben. Es begann mit Ihrem ersten Bankkonto. Der Kontostand fing an zu steigen, was Ihnen zu dieser Zeit ein Gefühl von Sicherheit gab, so daß Sie ein zweites Konto eröffneten, dann ein drittes und schließlich immer mehr. Sie erwarben Wertpapiere, Immobilien und vielleicht auch Kunstwerke und Schmuck. Das »finanzielle Polster« wurde immer dicker – genauso wie die Versicherungen zum Schutz gegen Verlust zahlreicher wurden und deren Organisation und Verwaltung aufwendiger –, bis Sie schließlich, ohne sich dessen bewußt zu sein, mehr Zeit und Energie darauf verwendeten, sich und Ihr Vermögen gegen Verlust zu schützen, als Ihr schönes · 57 ·


Leben zu genießen. Diese Schutzmaßnahmen kosten auch immer mehr Geld, so daß Sie logischerweise immer mehr verdienen müssen. Wenn Sie wirklich erfolgreich sind, brauchen Sie nun vielleicht einen kugelsicheren Wagen und eine elektronisch überwachte, von hohen Mauern umgebene Villa – ein Privileg, das ironischerweise meist nur Großkriminellen vergönnt ist. Wer weiß, vielleicht sind Ihre Unternehmungen inzwischen selbst etwas zweifelhaft, ja sogar leicht kriminell … Wenn Sie nun in Südamerika leben und es bis in die oberste Liga geschafft haben, lesen Sie dies hier vielleicht in Ihrem Privathubschrauber, auf den Sie nicht mehr verzichten können, da es zu gefährlich geworden ist, Freunde mit dem Wagen zu besuchen. Unmerklich haben Sie sich einen Käfig gebaut, in dem Sie jetzt leben, ohne dies jemals beabsichtigt zu haben. Die Ironie des Irrglaubens, Geld bedeute Sicherheit, ist die: Je mehr Sie diese Lüge für bare Münze nehmen – auch wenn Ihre Lebensumstände vielleicht nicht so extrem sind wie hier dargestellt –, desto mehr leben Sie vermutlich in einem selbstgebauten Hochsicherheitsgefängnis. Dies ist natürlich kein Ausdruck von Sicherheit, sondern vielmehr des Gegenteils davon – Unsicherheit. Sich dieser Lüge bewußt zu werden, ist der erste Schritt zur Befreiung.

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Zwischenbemerkung An dieser Stelle möchte ich die Erläuterung der Lügen kurz unterbrechen, denn möglicherweise haben Sie Schwierigkeiten mit diesem Buch. Die Schwierigkeit besteht darin, daß Sie mit Ihrem Vermögen Erfahrungen gemacht haben können, die Sie mit Macht, Glück und Sicherheit verbinden, und meine Behauptung, diese Erfahrungen seien »Lügen«, nun völlig inakzeptabel finden. Ich möchte hier zwei Unterscheidungen treffen: Die erste ist die Unterscheidung zwischen einem dauerhaften Zustand von Frieden, Glück, Sicherheit usw. – um den es in diesem Buch geht – und einer vorübergehenden Euphorie in Form jener kurzlebigen Erfahrungen, die der Besitz von Geld oft ermöglicht. Die zweite Unterscheidung ist die zwischen einer Erfahrung und einem Wissen, einer Gewißheit. Ich habe davon im Vorwort gesprochen. Wir verwenden Erfahrungen, um zu lernen. Tatsächlich beruhen unsere gesamten wissenschaftlichen Erkenntnisse auf Erfahrungen und der Überprüfung wiederholbarer Erfahrungen. Gleichzeitig jedoch sind die Schlußfolgerungen aus unseren Erfahrungen nicht zwingend die letzte Wahrheit. Einer meiner Lehrer, Lionel Fifield, bemerkte einmal: »Erfahrung ist eine Ausrede für die Wiederholung von Fehlern!« – eine Aussage, die der allgemeinen Auffassung, Erfahrungen seien etwas, aus dem man lerne, entgegengesetzt ist. Zudem sind Erfahrungen oft – wie es Fifields Aussage impliziert – das Ergebnis eines »konditionierten Reflexes« und weisen auf »Wahrheiten« hin, die gar keine sind, bzw. auf sehr überzeugende Lügen. Sie überzeugen, weil sie auf »konkreter Erfahrung« beruhen. · 59 ·


Wissen, »Gewißheit«, befindet sich dagegen auf einer tieferen Ebene, näher beim Kern der Wahrheit als Erfahrung, und genau auf dieser Ebene möchte ich Ihnen die »Lügen« deutlich machen. »Wissen« beruht auf natürlichen und allgemeingültigen Grundsätzen, die einfach so sind, wie sie sind, und nicht durch Erfahrung und Beweise bestätigt werden müssen. Eine Alligatormutter z. B. weiß, daß sie die Eier bzw. nach dem Schlüpfen die Alligatorbabys ins Maul nehmen muß, wenn sie ihren Nachwuchs schützen will. Sie tut dies nicht aus Erfahrung, sondern aus ihrem Wissen. Dieses Wissen kann jedoch vorübergehend verlorengehen oder vergessen werden, vor allem als Folge von kultureller Konditionierung und von »Erfahrungen«, die diesem Wissen widersprechen. Die »Lügen«, die dieses Buch aufdeckt, sind eine Aufforderung dazu, sich zu erinnern. Wenn dabei Zweifel, Widerstand und sogar Zynismus auftauchen, ist dies eine verständliche und legitime Begleiterscheinung. Nutzen Sie diese zu tieferer Selbsterforschung und Reflektion. Zweifel, Widerstand und Zynismus weichen, sobald man sich – jenseits aller Erfahrungen – wieder erinnert. Wenn Sie Probleme mit diesem Buch haben, mit Zweifeln, Widerstand und Zynismus kämpfen, nicht verstehen, was ich meine, wenn ich über Wissen und Wiedererinnerung spreche, dann machen Sie sich keine Sorgen, sondern lesen Sie weiter. Fällen Sie kein endgültiges Urteil, bevor Sie am Ende dieses Buchs angelangt sind, denn es sollte als Ganzes gelesen werden. Zweifel, Widerstand und Zynismus weichen nur, wenn die hier genannten Wahrheiten stimmen. Es liegt bei Ihnen, dies am Ende des Buchs zu überprüfen.

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Lüge Nr. 8

Geld wird von Regierung und Zentralbank geschaffen

Das Geld, das man in der Hosentasche oder im Geldbeutel herumträgt, wird auf Veranlassung von Zentralbank und Regierung geprägt und gedruckt. Auf Geldscheinen und Münzen finden sich Hinweise darauf, daß die Oberhoheit, Geld in Umlauf zu bringen, ganz allein bei Regierung und Zentralbank liegt. Aber …

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Geld wird von Regierung und Zentralbank geschaffen

Betrachten wir nun, wie Geld hergestellt und in Umlauf gebracht wird. In einer normalen Demokratie delegiert das Volk die Macht, Geld herzustellen und in Umlauf zu bringen, an die Regierung. Dies ist der erste wichtige Punkt, den man kennen muß: Aristoteles regte an, das Recht der Geldschöpfung solle allein beim Souverän liegen. Mindestens seit dieser Zeit besitzt die Bevölkerung daher dieses Recht faktisch nicht mehr. So weit ist dieser Vorgang heutzutage vom gewöhnlichen Volk entfernt, daß nur wenige sich noch darüber im klaren sind, daß es letztlich immer noch in ihrer Verantwortung liegt, wie Geld hergestellt und in Umlauf gebracht wird. Diese Kompetenz wurde somit weniger delegiert als vielmehr abgetreten. Die Münzen und Geldscheine, welche die Bürger von den Zentralbanken, Handelsbanken und Sparkassen erhalten, erwecken bei ihnen nicht den Anschein, daß sie letztlich die Verantwortung dafür tragen. Der nächste Punkt ist der, daß die Regierung das Geld normalerweise nicht selbst in Umlauf bringt, sondern die Macht dazu an die Zentralbank abtritt, ohne dafür Gebühren zu berechnen. Was ist eine Zentralbank? In einigen Ländern sind das sich selbst verwaltende öffentliche Einrichtungen, in anderen Wirtschaftsunternehmen, wie z. B. die · 63 ·


Federal Reserve, die Zentralbank der USA, deren Aktien im Besitz der großen Banken sind. Die Beziehung zwischen Regierung und Zentralbank ist normalerweise so gestaltet, daß die Zentralbank die Ausgabe von Geld je nach Land mehr oder weniger selbständig betreibt und verwaltet, da man der Meinung ist, daß diese doch recht große Macht von den politischen Institutionen des Staates abgekoppelt sein sollte. Die Aufgabe der Zentralbank besteht darin, sich ganz allein auf wirtschaftliche und geldpolitische Faktoren zu konzentrieren, um sicherzustellen, daß die Gesellschaft über eine ihrer Wirtschaftskraft entsprechende Geldmenge verfügt und für die Wirtschaft günstige Rahmenbedingungen herrschen. Konflikte zwischen Zentralbank und Regierung, wie sie immer wieder mal vorkommen, sind nicht zwangsläufig etwas Schlechtes – sie sind ein Weg, das System im Gleichgewicht zu halten.1 Bei dieser Betrachtung der Rolle der Zentralbank haben wir bisher also festgestellt, daß das Volk ihr die Macht gewährt, Geld zu schaffen und in Umlauf zu bringen. Die Zentralbank läßt Münzen prägen und Banknoten drucken und setzt sie dann in Umlauf. Wäre dieser Vorgang an dieser Eine der wichtigsten Folgen der Delegation der Geld-Oberhoheit besteht darin, daß die Regierung zur Aufrechterhaltung öffentlicher Dienstleistungen häufig Geld leihen muß. Auf die so entstehenden Schulden fallen natürlich Zinsen an, zu Lasten der Wählerschaft, des Volkes, und praktisch als Geschenk an die Empfänger dieser delegierten Macht. Wenn die Schulden durch Zinsen und Zinseszinsen immer weiter anwachsen, kann schließlich ein riesiger Schuldenberg entstehen – das bekannte Problem der Verschuldung der Entwicklungsländer illustriert diesen Mechanismus bestens. Würde die Regierung die Kontrolle über die Geldschöpfung von der Zentralbank zurückholen, könnte sie ihr benötigtes Geld, natürlich zinsfrei, selbst schöpfen. 1

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Stelle zu Ende, könnten wir nicht von einer »Lüge« sprechen. Münzen und Geldscheine sind jedoch nur ein winziger Teil der gesamten Geldmenge, die sich in Umlauf befindet. Der größte Teil des Geldbestandes eines Landes entsteht durch Kredite von kommerziellen Banken und anderen Finanzinstituten und das System der Buchführung. (In Wirtschaftslehrbüchern und ähnlicher Literatur wird dies ausführlich dargestellt.)2 Bisher haben wir das Thema Geld nur im Sinne einer nationalen Währung betrachtet. Wir können jedoch noch weitergehen. Wenn man Geld definiert als »etwas, das ermächtigt, in einer Gemeinschaft Güter zu erwerben und sich Dienstleistungen zunutze zu machen«, erhält man einen sehr viel umfassenderen Überblick darüber, wer in einem Land Geld erzeugt und welche Instrumente dafür zum Einsatz kommen.

Die Zentralbank übt ihre Kontrollfunktion dadurch aus, daß sie das gesamte System durch rechtliche und psychologische Maßnahmen und direkte Steuerung des Marktes zu beeinflussen versucht. Dies gleicht dem Unterfangen, einen Sattelschlepper nur mit Hilfe von Gaspedal und Handbremse zu steuern, während man dabei gleichzeitig nach hinten in einen nach vorne weisenden Rückspiegel blickt! 2

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Wer schöpft Geld?

Währungseinheit

Instrumente

Zentralbank

Nationale Währung

Münzen und Banknoten

Nationale Währung

Rücklagenkonten

Nationale Währung

Konten

der Banken Handelsbanken

Nationale Währung

derivative Instrumente*

Kreditkartengesellschaften

Nationale Währung

Konten

Finanzinstitute

Nationale Währung

derivative Instrumente*

Tauschgeschäfte

Eigene Währung

Konten

Tauschringe, WIR, Talent,

Eigene Währung

Konten

Time Dollars usw. Ausgabestellen von elektronischem Geld

Noten Nationale Währung

Konten

Eigene Währung

Konten

(»e-cash«) Punktsammelprogramme:

Eigene Währung

Konten

Prämienmeilen

Nationale Währung

Prepaid Cards, Gutscheine

bzw. -punkte von

Nationale Währung

Konten

Eigene Währung

Zahlungsversprechen in

Eigene Währung

Zahlungsversprechen in

Nationale Währung

Anleihen, Wertpapiere,

Fluggesellschaften, Kaufhäusern, Telefongesellschaften, Buchhandlungen usw. Privatpersonen

nationaler Währung* Dienstleistungen/Stunden* Firmen, Kommunalverwaltungen,

Garantieleistungen,

Regierung

Obligationen*

* gilt normalerweise nicht als Geld

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In bezug auf unsere »Lüge« sind hier zwei Punkte von Bedeutung: 1. Mehr als 90 % der in Umlauf befindlichen Geldmenge wird durch Handelsbanken und Kreditkartengesellschaften geschöpft (in unserer Tabelle fett gedruckt), nicht durch Regierung und Zentralbank. 2. Jede Person und jede Gruppe von Personen hat die Möglichkeit, Geld zu schaffen und in Umlauf zu bringen. Die Voraussetzung für das Funktionieren der Währung besteht ganz einfach darin, daß ein Dritter das im Geld enthaltene Versprechen akzeptiert. Dieser Gedanke ist von der herkömmlichen, alltäglichen Vorstellung jedoch so weit entfernt, daß man ihn zuerst nicht als plausibel annehmen mag. Versuchen Sie einmal gedanklich nachzuvollziehen, auf welche Weise das Schöpfen von Geld Macht, Autorität und Verantwortung beansprucht und auch verleiht, und Sie werden den Prozeß durchschauen, der gegenwärtig Handelsbanken und Kreditkartengesellschaften das »Monopol« zur Geldschaffung gewährt. Zum Abschluß dieses Abschnitts könnte man auch fragen: Wenn Handelsbanken und Kreditkartengesellschaften (auch Visa gehört den Handelsbanken) 90 % der gesamten weltweiten Geldmenge produzieren, Bilanzen und Berichte den Umfang ihrer Aktivitäten jedoch nicht aufführen, wo liegt dann die tatsächliche Macht, Autorität und Verantwortung beim Vorgang der Geldschöpfung? Bei den Bankdirektoren, den Managern, die die Kompetenz haben, Kredite zu sprechen, bei den Buchprüfern, den Bankaktionären, den Anlegern einer Bank, deren Kontostand (durch die Zinseszin· 67 ·


sen) unaufhörlich wächst, ohne daß sie irgend etwas dafür tun müssen, bei den grauen Eminenzen, die an Hebeln sitzen, die keiner kennt? Bei den Menschen, die kein Geld haben oder Geld zu brauchen scheinen – oder bei Ihnen?

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Lüge Nr. 9

Das in Umlauf befindliche Geld entsteht durch Prägen von Münzen und Drucken von Banknoten Der letzte Abschnitt befaßte sich vor allem damit, wer Geld produziert; wir haben dabei aber auch festgestellt, daß das, was da erzeugt wird, weit mehr ist als nur die Summe aller Münzen und Geldscheine. Der folgende Abschnitt behandelt dieses Was noch etwas ausführlicher – und ebenso das Wie.

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Das in Umlauf befindliche Geld entsteht durch Prägen von Münzen und Drucken von Banknoten Es ist natürlich keine Lüge, zu behaupten, daß die von der Zentralbank in Umlauf gebrachten Münzen und Scheine eine Erzeugung von Geld darstellen. Gemessen an der gesamten Geldmenge ist deren Anteil jedoch unbedeutend. Geld wird auf vier verschiedenen Wegen geschaffen: 1. Geld wird in Form von Münzen und Scheinen als Währung zum Erwerb von Gütern und Dienstleistungen produziert. 2. Geld wird im Moment des Ausgebens erzeugt: Wenn Sie eine Ware oder Dienstleistung von jemandem erwerben, schreiben Sie in diesem Fall auf ein Stück Papier Ihr Versprechen einer anderen Ware, einer Dienstleistung oder einer Zahlung in Geld. Dieses Stück Papier ist Geld. In diesen beiden Fällen haben wir es mit Geld zu tun, das während des Handels von Gütern und Dienstleistungen entsteht. Bei beidem geht es um den Austausch einer Ware oder einer Dienstleistung gegen einen Schuldschein, der in dem Augenblick eingelöst wird, wo das darin enthaltene Versprechen erfüllt ist. Bis zu dieser Einlösung kann der Schuld- bzw. Wertschein von Hand zu Hand weitergegeben werden, im Austausch gegen viele Dinge – es handelt sich · 71 ·


also um Geld in dem Sinne, wie es die meisten Menschen verstehen.1 Der dritte und vierte Weg zur Erzeugung von Geld ist ganz anderer Natur. 3. Geld entsteht auch durch Verleihen. In diesem Fall erlaubt eine Bank, eine Kreditkartengesellschaft oder ein anderes Geldinstitut dem Kunden, Schulden aufzunehmen, und zwar normalerweise für einen bestimmten Zweck, z. B. ein Geschäftsvorhaben oder einen Immobilienkauf. Vielleicht gibt ihm das Institut dazu ein Scheckbuch, mit dem der Kunde die Erlaubnis erhält, bis zu einem gewissen Limit Schecks auszustellen. Diese Scheckausstellung stellt eine Bitte des Kunden an das Geldinstitut bzw. die Bank dar, dem Empfänger den genannten Betrag zu zahlen, normalerweise in Form einer Einzahlung auf das Bankkonto des Empfängers. Das Geld schuldet der Kunde nun der ersten Bank, doch sobald es als Guthaben auf dem Konto des Empfängers erscheint, kann dessen Bank es auch zur Grundlage für ein Darlehen an einen dritten machen usw., usf. An jeDer Unterschied zwischen diesen beiden Wegen zur Gelderzeugung besteht darin, daß der Wertschein im ersten Fall zuerst ausgestellt wird und sein Inhaber dann damit einkaufen geht, ob er den Schein nun selbst ausgestellt oder durch vorangegangenen Austausch mit einem dritten erhalten hat. Im zweiten Fall geht der Wertscheinaussteller ohne irgend etwas in der Hand einkaufen und gibt sein Zahlungsversprechen in dem Augenblick, wo er die gewünschte Ware oder Dienstleistung erhält – als Schuld an den, der ihm diese zur Verfügung stellt. In beiden Fällen kann das erzeugte Geld materielle Form haben – Münzen, Noten, Gutscheine – oder immateriell als Buchung in einer Buchhaltung erscheinen, nämlich als Kredit beim Verkäufer und als Schuld beim Käufer. 1

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dem Punkt einer Kreditvergabe in dieser Art und Weise entsteht Geld praktisch aus dem Nichts in Form einer Schuld des Kunden gegenüber seinem Geldinstitut. Wenn daraus der Schluß gezogen wird, die Banken schöpften Geld aus dem Nichts, stimmt das genaugenommen nicht ganz, denn es ist der Kunde bzw. der Kreditnehmer, der das Geld in dem Moment erzeugt, wo er den Scheck ausstellt. Es ist jedoch trotzdem das Geldinstitut – oder das gesamte System aus Banken und Geldinstituten, Zentralbanken und dem Verrechnungsverkehr der Banken untereinander –, das diese Möglichkeit gewährt. Wenn Banken und Geldinstitute ein Vertrauen genießen, das eine solche Geldschöpfung ermöglicht, dann mag man sich fragen, warum sie das Geld nicht gleich selbst herstellen, anstatt es so kompliziert zu verleihen? Darauf gibt es zwei Antworten. Die erste: Sie tun es! Mittels von ihnen geschaffener Finanzinstrumente, die auf bereits bestehenden Schuldscheinen (Geld) basieren, erzeugen sie eine ganze Hierarchie von »derivativen Instrumenten«. Diese blähen sich mengenmäßig u. U. auf, gleichen jedoch Spielmarken, die in der realen Welt der Waren und Dienstleistungen nicht so leicht eingesetzt werden können (s. Lüge Nr. 3). Wie in Lüge Nr. 1 dargestellt, erscheint dieser Handel nicht in den Geschäftsberichten und Bilanzen der Banken, die dadurch die Möglichkeit haben, die Ergebnisse ihrer Aktivitäten sehr flexibel zu gestalten. Die zweite Antwort aber ist die: Würden die Banken wirklich Geld aus dem Nichts produzieren und damit einfach alle wertvollen Güter und Dienstleistungen aufkaufen, · 73 ·


wäre dies so offenkundig und durchsichtig, daß es vermutlich zu einem Volksaufstand käme, der dies alles ganz schnell beenden würde. Ein ähnliches strategisches Ziel wird auf eine subtilere und stabilere Art und Weise erreicht: 4. Geld wird geschaffen als Zins auf Geldern, die schon als Kredite geschöpft wurden. Die Erzeugung von Geld als Zins ist für das Geldinstitut in der Regel ein sehr sicheres Geschäft: a) In den meisten Ländern gelten Zinsen als privilegierte Forderungen b) Zinsen verzinsen sich selbst wieder, so daß sich im Lauf der Zeit beträchtliche Beträge anhäufen können c) Die Gewährung von Darlehen verlangt vom Kunden gewöhnlich eine materielle Sicherheit, z. B. in Form einer Immobilie oder einer persönlichen Bürgschaft Ich wiederhole hier die Tabelle aus dem vorherigen Abschnitt, ergänzt um eine Spalte, die zeigt, wie mit jedem Finanzinstrument Geld geschaffen wird.

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Wer schöpft Geld?

Währungseinheit

Instrumente

Wie wird das Geld geschöpft?

Zentralbank

Nationale Währung

Münzen und

In Umlauf gebracht

Banknoten Nationale Währung

Rücklagenkonten

Als Darlehen/Kredit

der Banken Handelsbanken

Nationale Währung

Konten

Nationale Währung

derivative Instru-

Als Darlehen/Kredit Als Zinsen In Umlauf gebracht

mente* Kreditkarten-

Nationale Währung

Konten

Nationale Währung

derivative Instru-

Finanzinstitute

Als Darlehen/Kredit Als Zinsen

gesellschaften

In Umlauf gebracht

mente* Tauschgeschäfte

Eigene Währung

Konten

In Umlauf »aufgewendet«

Tauschringe, WIR,

Eigene Währung

Konten

In Umlauf »aufgewendet«

Noten

In Umlauf gebracht

Nationale Währung

Konten

In Umlauf »aufgewendet«

Eigene Währung

Konten

In Umlauf gebracht

Eigene Währung

Konten

In Umlauf gebracht

Nationale Währung

Prepaid Cards,

In Umlauf gebracht

Talent, Time Dollars usw. Ausgabestellen von elektronischem Geld (»e-cash«) Punktsammelprogramme:

Gutscheine

Bonusmeilen bzw. -punkte von

Nationale Währung

Konten

In Umlauf gebracht

Eigene Währung

Zahlungsverspre-

In Umlauf gebracht

Fluggesellschaften, Kaufhäusern, Telefongesellschaften, Buchhandlungen usw. Privatpersonen

chen in nationa-

oder »aufgewendet«

ler Währung* Zahlungsverspre-

Eigene Währung

chen in Dienstlei-

In Umlauf gebracht oder »aufgewendet«

stungen/Stunden* Firmen, Kommunal-

Nationale Währung

Anleihen, Wert-

verwaltungen,

papiere, Garantie-

Regierung

leistungen, Obligationen* * gilt normalerweise nicht als Geld

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In Umlauf gebracht


Wir haben weiter oben gesehen, daß etwa 90 % der heute existierenden Geldmenge von Banken und Geldinstituten erzeugt werden. Die gesamte Geldmenge besteht nur zum kleinsten Teil aus Münzen und Banknoten; der allergrößte Teil besteht aus Krediten und den darauf anfallenden Zinsen.

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Lüge Nr. 10

Geld ist durch Gold oder andere wertvolle Güter gedeckt

16. Oktober 1688 Sehr geehrter Mr. Child, ich ersuche Sie höflichst, dem Überbringer dieses Schreibens gegen Vorlage der Frachtbriefe das Geld zu zahlen, das bei Ihnen liegt. Jackville Tufton Gravesend Port Der Ursprung unseres modernen Geldsystems geht auf die Zeit dieses Schecks zurück, der von einem englischen Händler an seinen Bankier Mr. Child ausgestellt worden war. Dies war eine der drei Arten von Noten, die im Handel verwendet wurden. Die anderen beiden waren: • eine vom Vorsitzenden der Bank of England, der englischen Zentralbank, unterzeichnete »Banknote« mit dem Versprechen, dem Inhaber auf Verlangen eine bestimmte Menge Sterling-Gold zu zahlen, z. B. ein Pfund, • eine Quittung für die Hinterlegung von Gold oder anderen Wertsachen. Alle drei Arten von Papiernoten waren in voller Höhe durch Gold oder andere Wertsachen gedeckt. Die »Bank« war die Werkbank oder ein Regal des Goldschmieds, wo das Gold lag, das diese Noten deckte. · 77 ·



Geld ist durch Gold oder andere wertvolle Güter gedeckt

Solange man genug Geld besitzt, um seinen täglichen Geschäften nachgehen zu können, denkt man kaum jemals darüber nach, wie dieses Geld entstanden ist oder ob es durch irgend etwas gedeckt ist. Die meisten gehen davon aus, Geld sei an sich schon wertvoll, bzw. haben irgendeine vage Vorstellung im Kopf, hinter dem Geld stehe Gold oder irgend etwas anderes Wertvolles. Allerdings hat es sich allmählich herumgesprochen, daß die nationalen Währungen heutzutage nicht mehr durch Gold oder andere wertvolle Güter gedeckt sind. 1971 wurde die letzte bestehende Verbindung, der sogenannte Golddevisenstandard (Golddeckungspflicht für die Notengeldmenge), gekappt. Dieser Prozeß vollzog sich in mehreren Schritten, deren Wurzeln weiter in die Geschichte zurückreichen als unsere moderne Wirtschaftsordnung. Die historischen Einzelheiten werden schon in anderen Büchern (z. B. von Lietaer oder Douthwaite, siehe Literaturangaben am Ende des Buches) ausführlich behandelt, so daß ich hier nicht näher darauf eingehen möchte, sondern nur die einzelnen Phasen dieser Entwicklung in chronologischer Reihenfolge darstelle:

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Phase 1. Wertvolle Handelswaren werden als Geld genutzt. Der ursprüngliche Zustand. Geld ist gleichbedeutend mit Gütern, die in einer Gemeinschaft einen Wert besitzen. Es ist noch keine Tauscheinheit, sondern ein Gut, das im Austausch benutzt wird. Es kann entweder von praktischem Wert sein (z. B. Gerste) oder von symbolischem (z. B. Muscheln). Phase 2. Geld erhält den Charakter eines Gutscheins und wird von einem wertvollen Gut gedeckt. a) Geld erhält eine Standardform und wird so zum standardisierten Tauschmittel, das sich in vielfältiger Weise verwenden läßt. Ideal dafür sind seltene Grundmetalle – Gold und Silber –, denn daraus lassen sich kleine, leicht zu transportierende Münzen formen, deren Echtheit leicht zu überprüfen ist. Diese Währung – Gold- und Silbermünzen – ist nicht »gedeckt«. Sie ist durch ihren Materialwert an sich schon wertvoll. b) Dem Besitzer von Gold und anderen wertvollen Gütern werden auf Papier geschriebene Quittungen ausgehändigt, wenn er seinen Besitz bei einem Goldschmied oder Bankier auf dessen »Werkbank« hinterlegt. Diese Quittungen, nun »Banknoten« genannt, werden dann selbst im Handel verwendet. Sie sind in voller Höhe durch Gold und andere wertvolle Güter gedeckt. c) Papierne Schecks, Wechsel und Garantien – Versprechen, die jeder ausstellen kann, im Austausch gegen irgendein Gut gedeckte Banknoten auszuhändigen – werden im Handel genau wie Geldscheine verwendet. In diesem Buch nennen wir solche Zahlungsversprechen »derivative Instrumente«, denn sie leiten sich von einem anderen, schon be· 80 ·


stehenden Instrument ab und sind hier noch voll und ganz gedeckt, und zwar durch Banknoten, die selbst durch Gold und andere wertvolle Güter gedeckt sind. All diese Instrumente sind in voller Höhe gedeckt. Phase 3. Es wird Geld ausgestellt, dessen Nominalwert (Nennwert) höher ist als sein Materialwert. a) Man prägt Münzen mit einem Nennwert, der über dem Materialwert der Metalle, aus denen sie bestehen, liegt. Würde man sämtliche Münzen auf einmal zum Ausgeber bringen, um sie gegen Metall einzutauschen, könnte er seine Versprechen nicht mehr halten. Obwohl dieses System daher eine (langfristig gefährliche) »Fiktion« darstellt, funktioniert es, solange nicht alle Geldbesitzer gleichzeitig versuchen, das Zahlungsversprechen einzulösen. Dieser Mechanismus, diese Fiktion, regt die Wirtschaft an, denn die Gesellschaft kann dadurch so tun, als sei sie reicher, als sie wirklich ist, was Wachstum und Unternehmergeist fördert! Mit dieser Innovation erhält das Geld eine symbolische, »irreale« Komponente, die es von seinem realen, rohstoffbezogenen Handelswert unterscheidet. Da die Funktionstüchtigkeit dieses nicht gedeckten Geldes auch über lange Zeiträume hinweg bestehen bleibt, vergißt man schließlich, daß es sich hier in Wirklichkeit um eine Fiktion handelt – um die Lüge, die in diesem Abschnitt entlarvt wird. Das nicht gedeckte Geld fühlt sich genauso »real« an wie das reale Geld, so daß der Unterschied zwischen beidem niemandem mehr bewußt ist. b) Goldschmiede/Bankiers stellen mehr Quittungen aus, als sie real in Form von Gold in ihren Tresorräumen gelagert haben. Verlauf und Folgen dieses Schritts entsprechen dem, · 81 ·


was beim Münzgeld beschrieben wurde. Sie halten noch eine »Sicherheitsreserve« zurück, um zwischen dem aufbewahrten Gold und der Menge der ausgestellten Quittungen ein Verhältnis zu wahren, wären jedoch nicht in der Lage, alle ausgestellten Noten gegen Gold und Silber einzulösen. (Der Brauch, mehr Geld in Umlauf zu bringen, als an realen Werten in Form von Gold und anderen wertvollen Gütern vorhanden ist, führte in der Welt der Banken schließlich zur Einrichtung von »vorgeschriebenen Mindestreserven«.) c) Die Aussteller »derivativer Instrumente« geben mehr Schuldscheine aus, als Sie Banknoten besitzen, die dieses Versprechen einlösen könnten – wobei diese Banknoten selbst nicht ausreichend durch reale Werte gedeckt sind, um die in ihnen enthaltenen Zahlungsversprechen einlösen zu können. Die Folgen sind die gleichen wie die, die weiter oben bei Münzen und Banknoten geschildert wurden, nur nehmen sie ganz andere Dimensionen an. Bei diesen Formen ist das Geld nur minimal durch Gold oder andere wertvolle Güter gedeckt. Die Funktionsfähigkeit dieses Systems beruht auf dem Vertrauen in die geldschöpfenden Institutionen und auf der geringen Wahrscheinlichkeit eines gleichzeitigen Einlösungsversuchs, eines allgemeinen Ansturms auf die Geldinstitute. Der Fachbegriff für dieses System lautet »Fiat« (lat. »es geschehe«), das Geld nennt man »Fiat-Geld«. Phase 4. Es gibt keinerlei Beziehung mehr zwischen dem geschöpften Geld und irgendeinem Gut von realem Wert. Dies ist die gegenwärtige Situation. Man schafft neue Finanzinstrumente und ist sich dabei voll und ganz bewußt, daß diese nicht gedeckt sind. Da sie im Handel jedoch ak· 82 ·


zeptiert werden, haben sie einen bestimmten Wert, nämlich genau den, den sie durch die Akzeptanz gewinnen. Das Voranschreiten dieser Entwicklung läßt sich heute in folgenden Formen beobachten: • Finanzinstitute schöpfen Geld, indem sie Geld verleihen, das sie gar nicht besitzen, und darauf Zinsen berechnen. Möglich wird dies durch den »Fiat«-Effekt. • Die »derivativen« Märkte dehnen sich aus. Das Handelsvolumen dieser Instrumente stellt den Handel mit realen Gütern und Dienstleistungen, auf welchen sie basieren, inzwischen weit in den Schatten. • Die oben dargestellten Vorgänge werden »virtualisiert«, und neue Strukturen wie Online-Banking, elektronische Währungen, »e-cash« u. ä. entstehen.

Die gesellschaftlichen Folgen eines auf Fiat-Geld basierenden Systems An diesem Punkt besteht, wie man sich leicht vorstellen kann, die Möglichkeit, daß eine »privilegierte Minderheit« in der Gesellschaft sich durch diesen Vorgang der Geldschöpfung einen Vorteil verschafft. Jeder, der das Privileg 1 der eben beschriebenen Kenntnisse besitzt und das Vertrauen der Gesellschaft genießt, kann ungedecktes Papier – von vornherein wertlose Versprechen – ausstellen und es Der Gesichtspunkt des Privilegs wird deshalb hervorgehoben, weil nur wenige Menschen sich dieser Möglichkeit bewußt sind und der Zugang zu diesem Privileg von denjenigen, die an diesem »Spiel« bereits beteiligt sind, kontrolliert und beschränkt wird. 1

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dann gegen Garantien und Eigentumsrechte sowie auch gegen ganz normale Banknoten austauschen, die in diesem Fall zwar ebenfalls ungedeckt sind, in der jeweiligen Gesellschaft jedoch das anerkannte Mittel zum Erwerb von Gütern und Dienstleistungen, Rechten und Immobilien darstellen.

Die weiteren Folgen Ich will hier gar nicht erst versuchen, die Wechselwirkungen all dieser Mechanismen ausführlich darzustellen. Der ganze Vorgang ist derart komplex, daß es wahrscheinlich niemanden gibt, der ihn voll und ganz durchschaut. Fachleute sagen jedoch schon seit geraumer Zeit die folgenden Konsequenzen voraus: Geld ist etwas, was das Recht verleiht, in einer Gemeinschaft Güter und Dienstleistungen zu erwerben. Jemand, der sich das Geld, das er braucht, einfach drucken kann, statt es zu erarbeiten, ist gegenüber den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft, die dafür erst ihre Arbeitskraft und ihre Dienste anbieten müssen, ganz offensichtlich im Vorteil und privilegiert. Dies wirkt im Lauf der Zeit verzerrend auf das Preis- und Wertsystem, das für Güter und Dienstleistungen auf dem Markt gilt. Hat der Inhaber des Privilegs zudem die Möglichkeit, Zinsen auf den Verleih des so geschaffenen Geldes zu erheben, dann verstärkt dies seine privilegierte Stellung wie auch die Verzerrungen auf dem Markt. Wenn auf die Zinsen wiederum Zinsen und Zinseszinsen erhoben werden, vergrößert sich dieses Ungleichgewicht im Lauf der Zeit systematisch. Eine der Folgen eines Systems, das in dieser Weise funktioniert: Die bestehende Geldmenge verteilt · 84 ·


sich auf eine immer kleiner werdende Zahl von Menschen, während sich zugleich immer mehr Menschen zunehmend verschulden.

Reformversuche … Es gibt mittlerweile eindeutige statistische Belege, die diese Entwicklung auf lokaler wie globaler Ebene aufzeigen. Immer mehr Menschen sehen das Ganze als problematisch an, zum einen, weil es zu Ungerechtigkeiten führt, zum anderen, weil es nicht unbegrenzt so weitergehen kann – wie beim Monopoly, wo zum Schluß ein Spieler alles besitzt, muß das Spiel irgendwann zu einem Ende kommen. Unter dem programmatischen Schlagwort »Geldreform« hat sich daher eine immer stärker wachsende Bewegung gebildet, die ein Bewußtsein für diese Problematik schaffen und Vorschläge für intelligente, grundlegende Änderungen im Finanzsystem ausarbeiten und durchsetzen will. Einige dieser Vorschläge wurden bereits in die Tat umgesetzt, z. B. komplementäre Währungssysteme wie das kanadische »LETS« (Local Economic Trading System), die amerikanischen »Time Dollars«, die schweizerischen »WIR« und »Talent« und die deutschen Tauschbörsen. Bei diesen Innovationen handelt es sich um geldähnliche Systeme, um sogenannte »gegenseitige Zahlungsversprechen«. Die so geschaffenen Währungen sind voll und ganz gedeckt, doch besteht die Deckung hier nicht aus Gold oder anderen materiellen Gütern, sondern aus der Verpflichtung des einzelnen, eine Leistung in Form von Arbeitszeit und angewandter Fähigkeiten zu erbringen.

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… und ihre Beschränkungen Das herrschende Wirtschaftssystem ist von diesen sinnvollen und intelligenten Innovationen bisher unberührt geblieben – und das aus gutem Grund. Die Schuld für irgendwelche Mängel im gegenwärtigen System als Ganzem kann man nicht einfach denen zuweisen, die sich die Freiheit genommen haben, Geld zu schöpfen, das heißt, sie liegt nicht nur bei den privilegierten, informierten Schöpfern der nationalen und komplementären Währungen, den Kreditkartengesellschaften, den aufkommenden »e-Geld«-Systemen, den Tauschbörsen und den Rabattpunkte-Systemen. Genauso verantwortlich sind diejenigen, die Mehrheit nämlich, die ihre Autorität für die Erzeugung von Geld aufgegeben haben, selbst wenn sie sich dieser Autorität und deren Aufgabe gar nicht bewußt gewesen waren. Die meisten Menschen in Polignano wissen von den hier beschriebenen Entwicklungen vermutlich nichts. In Polignano fühlen sich die den Banken gelieferten Münzen und Scheine »real« an und funktionieren offenbar so gut wie eh und je. Man vertraut dem Geld wie auch den Institutionen, die es schöpfen. (Im herbstlichen Italien des Jahres 2001 schienen zumindest Fiat und die Finanzinstitute noch zu funktionieren!) *** Reformen und Verbesserungen werden sich ganz von selbst einstellen, je mehr die hier besprochene Lüge entlarvt wird – wobei es mit der Entlarvung dieser einen Lüge nicht getan ist. Das gesamte Netzwerk sich gegenseitig scheinbar unter· 86 ·


mauernder Lügen, von dem dieses Buch handelt, muß aufgedeckt werden. Das Thema wird dann den engen Bereich verlassen, auf den die Geldreformer sich konzentrieren. Ich schließe dieses Thema ab mit einer vereinfachten Zusammenfassung möglicher Währungen, unter Angabe der Art und Weise ihrer Schöpfung und Deckung. Ungedeckt

Durch Gold

Durch das

oder andere

Versprechen einer

Güter gedeckt

Dienstleistung gedeckt

Durch Prägen und

Münzen

Gold- und

Prämienmeilen,

Drucken erzeugt

Banknoten

Silbermünzen

Rabattpunkte u. ä.

Einige Derivate

Einige Derivate

Durch Aufwen-

Wertpapiere, Wechsel

den erzeugt

Währungen der Tauschringe: WIR, Talent, Time Dollars etc.

Durch Verleihen

Bankkontoeinlagen

erzeugt

Auf Seite 88 folgt eine Erweiterung der Tabelle aus den letzten beiden Abschnitten:

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Wer schöpft Geld?

Währungseinheit

Instrumente

Wie wird das Geld geschöpft?

Ist das Geld gedeckt?

Zentralbank

Nationale Währung

Münzen und

In Umlauf gebracht

Nein

Als Darlehen/Kredit

Nein

Als Darlehen/Kredit

Nein

Als Zinsen

Nein

In Umlauf gebracht

Nein, außer wenn

Banknoten Nationale Währung

Rücklagenkonten der Banken

Handelsbanken

Nationale Währung Nationale Währung

Konten derivative Instrumente*

Sicherheiten angeboten wurden

Kreditkarten-

Nationale Währung

Konten

gesellschaften Finanzinstitute

Nationale Währung

derivative Instru-

Als Darlehen/Kredit

Nein

Als Zinsen

Nein

In Umlauf gebracht

Nein, außer wenn

mente*

Sicherheiten angeboten wurden

Tauschgeschäfte

Eigene Währung

Konten

In Umlauf »aufgewendet«

Ja

Tauschringe, WIR,

Eigene Währung

Konten

In Umlauf »aufgewendet«

Ja

Noten

In Umlauf gebracht

Ja

Nationale Währung

Konten

In Umlauf »aufgewendet«

Unter Umständen

Eigene Währung

Konten

In Umlauf gebracht

Ja

Eigene Währung

Konten

In Umlauf »aufgewendet«

Ja

Nationale Währung

Prepaid Cards,

In Umlauf gebracht

Ja

Talent, Time Dollars usw. Ausgabestellen von elektronischem Geld (»e-cash«) Punktsammelprogramme: Bonus-

Gutscheine

meilen bzw. -punkte von Fluggesell-

Nationale Währung

Konten

In Umlauf gebracht

Nein

Eigene Währung

Zahlungsverspre-

In Umlauf gebracht

Nein

schaften, Kaufhäusern, Telefongesellschaften, Buchhandlungen usw. Privatpersonen

chen in nationa-

oder »aufgewendet«

Nein

ler Währung* Eigene Währung

Zahlungsversprechen in Dienstlei-

In Umlauf gebracht oder »aufgewendet«

Ja Ja

stungen/Stunden* Firmen, Kommunal-

Nationale Währung

Anleihen, Wert-

verwaltungen,

papiere, Garantie-

Regierung

leistungen, Obligationen* * gilt normalerweise nicht als Geld

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In Umlauf gebracht

Nein


Lüge Nr. 11

Der Wohlstand eines Landes läßt sich an seinem Bruttosozialprodukt und anderen Wirtschaftsdaten ablesen In

Wirtschaftsberichten erscheinen regelmäßig Angaben zum Bruttosozialprodukt und zum Pro-Kopf-Einkommen, die den Wohlstand bzw. die Armut einer Nation anzeigen.

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Der Wohlstand eines Landes läßt sich an seinem Bruttosozialprodukt und anderen Wirtschaftsdaten ablesen Daß es sich bei dieser Aussage um eine Lüge, eine Illusion handelt, kann man daran erkennen, daß die meisten Dinge des Lebens ohne Geld, außerhalb des Finanz- bzw. Wirtschaftssystems, funktionieren. Sogar ganze Bereiche, die normalerweise der Ökonomie zugerechnet werden (»Ökonomie« bedeutet wörtlich »Verwaltung des Haushalts«), vollziehen sich ohne Geld. Geld ist in diesem Zusammenhang nichts anderes als ein System des Abrechnens und Buchführens, und die monetäre, auf Geld basierende Wirtschaft bildet nur einen beschränkten Teil des Ganzen, jenen Teil nämlich, der in Zahlen abgerechnet wird. Neben dem, was man normalerweise »Wirtschaft« nennt, gibt es jedoch auch: • Schwarzarbeit oder Schattenwirtschaft – alle wirtschaftlichen Aktivitäten, die nicht in den Büchern auftauchen, damit darauf keine Steuern und Sozialabgaben gezahlt werden müssen. • »Grauwirtschaft« – unbezahlte und darum auch nicht abgerechnete Dienstleistungen wie Hausarbeit oder bestimmte Formen sozialen Engagements. • Ehrenamtliche Arbeit, die zwar entlohnt werden könnte, jedoch ohne Entgelt geleistet wird und darum nicht in den Büchern erscheint. · 91 ·


• Direkten Tauschhandel mit Dienstleistungen und Waren aller Art. Auch dies geht nicht über die Bücher, bildet jedoch einen wichtigen Teil des wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Lebens. Da diese Teile der Wirtschaft nicht in Büchern und Statistiken auftauchen oder zumindest nicht leicht in Zahlen zu erfassen sind, kann niemand genau sagen, welchen Anteil an der Weltwirtschaft sie ausmachen. Es ist jedoch vermutlich so, daß die monetäre Wirtschaft, auf die wir normalerweise unser Augenmerk richten, nur die Spitze des Eisbergs darstellt. Außerdem steigt das Bruttosozialprodukt auch, wenn eine bis anhin als »kostenlos« geltende Ware oder Dienstleistung auf einmal berechnet wird. Es wäre jedoch ein Fehler, zu glauben, dieser Anstieg stelle schon automatisch eine Zunahme der Lebensqualität dar. Nehmen wir einmal das Trinkwasser als Beispiel: Viele Leser werden sich noch an die Zeit erinnern, als man Wasser einfach aus dem Hahn oder Brunnen trank, weil es dort sauber genug erschien. Der heute übliche Handel mit in Plastikflaschen abgefülltem Trinkund Mineralwasser erhöht das Bruttosozialprodukt. Es ist jedoch fraglich, ob diese Entwicklung unsere Lebensqualität verbessert hat – oder wäre es etwa eine Erhöhung der Lebensqualität, wenn wir eines Tages mit Sauerstoffflaschen herumlaufen müßten, um uns saubere Luft zuführen zu können? In gleicher Weise erhöhen die Umsatzzahlen für medizinische Behandlungen, Krankenversicherungen oder die Landesverteidigung das Bruttosozialprodukt erheblich, doch kann man eine Zunahme der Aktivitäten in diesen Wirt· 92 ·


schaftsbereichen wohl kaum als Hinweis auf eine verbesserte Lebensqualität sehen. Kurz gesagt: Die herkömmlichen Wirtschaftsstatistiken sind mittlerweile ein sehr unzuverlässiges Instrument zur Bewertung des Befindens eines Landes und des Wohlergehens seiner Bürger. Was fehlt, ist ein ganz grundlegendes Verständnis dessen, wie sich Werte bilden und wie man sie messen soll. Die zunehmende Anerkennung dieses Mangels hat inzwischen zum Einbezug neuer Indikatoren geführt, die auch ökologische und soziale Faktoren berücksichtigen. Es ist wichtig, daß diese noch sehr groben Bewertungsmaßstäbe weiter entwickelt und verfeinert werden, damit sie die Schaffung von echtem gesellschaftlichem Wert und Wohlstand erfassen.

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Lüge Nr. 12

Die Lüge über den Verbleib des Geldes

Frage: Wo steckt nun Ihr Geld, wo ist es? Antwort: Einen Teil habe ich in der Hosentasche, einen Teil im Geldbeutel, und der Rest liegt auf der Bank. Frage: Woher wissen Sie das? Antwort: Also, die Münzen und Scheine in meinem Geldbeutel kann ich Ihnen zeigen, und jeden Monat schickt die Bank mir einen Auszug mit Angaben über meinen Kontostand.

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Die Lüge über den Verbleib des Geldes

Ohne Zahlen gäbe es kein Geld, denn Geld ist von Natur aus etwas Quantitatives. Seit der Erfindung von Zahlen und Geld üben Tinte und Papier einen bemerkenswert dominanten Einfluß auf unser Leben aus. Ganz außergewöhnlich sind die Macht und die Bedeutung, die wir dem Papier und der Tinte in unseren Geldbeuteln beimessen bzw. der Tinte auf dem Briefpapier der Bank in Form von Plus- und Minuszeichen und Nullen (auf Kontoauszügen, z. B.). Unser Wohlbefinden kann davon erheblich beeinflußt werden! Wo befindet sich nun Ihr Geld? In den Münzen und Geldscheinen, die Sie mit sich herumtragen, nicht oder jedenfalls nicht direkt, denn diese sind an sich kaum von Wert, sondern nur wertloses Papier und billiges Metall, die etwas Wertvolles versprechen. Mit einem Bankauszug wiederum haben Sie nur das Wort der Bank in der Hand, daß dort für Sie etwas Wertvolles verwahrt wird – doch wo hat die Bank das, was sie für Sie aufbewahrt, eigentlich deponiert? Haben Sie es jemals mit eigenen Augen gesehen, überprüft? Wie würden Sie das überhaupt überprüfen wollen, da die Bank Ihr Geld ja offensichtlich nimmt und an andere weiterverleiht? Oder verleiht sie es überhaupt weiter? Selbst Fachleute sind sich darin nicht einig. Daß das Geld ohnehin nicht wirklich gedeckt ist, haben wir bereits gesehen. · 97 ·


Betrachten wir einmal am Beispiel einer Aktie, wie eine solche Überprüfung aussehen könnte. Dies sollte einfacher sein als mit reinem Geld, denn eine Aktiengesellschaft hat zumindest ein konkretes Aktivvermögen. Als Aktionär gehört Ihnen ein Anteil daran. Wie läßt sich dies nun nachweisen? Indem man einen Anteilsschein besitzt, der vom Vorstand ausgestellt und unterzeichnet wurde. Also haben wir auch in dieser Situation wieder nichts anderes als Tinte auf einem Stück Papier! Außerdem kann dieses Stück Papier – oder vielmehr das Zahlungsversprechen, das es mutmaßlicherweise enthält – genauso wie jede andere finanzielle Sicherheit gehandelt, verliehen, als Garantie oder Bürgschaft verwendet werden – übrigens ein Geschäftszweig, in dem die Banken ebenfalls aktiv engagiert sind. Im Schweizer Olten gibt es eine Art Lagerhaus, wo sämtliche Schweizer Banken die ihnen anvertrauten Wertpapiere aufbewahren. Könnte man nun also sagen, daß der Ort, an dem sich alle Schweizer Aktien befinden, Olten ist? Oder daß alle Immobilieneigentumsrechte auf dem Grundbuchamt liegen? Vermutlich nicht. Die entsprechenden Papiere können zerstört werden, was die darin enthaltenen Rechte jedoch unberührt läßt, auch wenn sie bei Bedarf schwerer nachzuweisen sind. Wo also befindet sich Ihr Geld? Näher bei Ihnen selbst, als Sie vermuten werden. Der beste Hinweis findet sich in dem Wort, das oft als Synonym für Geld benutzt wird: Kapital – auch wenn die folgende Interpretation zugegebenermaßen meine eigene Schöpfung ist. Jedenfalls bedeutet das Wort ›caput‹ (von dem ›Kapital‹ abgeleitet ist) auf lateinisch so viel wie ›Kopf‹ – Ihr Geld befindet sich in Ihrem Kopf! · 98 ·


Lüge Nr. 13

Die Liebe zum Geld ist die Wurzel allen Übels

Bekannter ist die Redewendung in der verkürzten Form: »Geld ist die Wurzel allen Übels.« In der im Titel genannten Version wartet die »Lüge« geradezu darauf, getilgt zu werden. Es stellt sich nämlich die Frage: Wie kann die aufrichtige Liebe zu irgend einer Sache die Wurzel von irgend etwas Üblem werden?

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Die Liebe zum Geld ist die Wurzel allen Übels

Diese Aussage weist natürlich auf die Gefahren der Gier hin. Die Frage, die sich hier jedoch stellt, erinnert an die von dem Huhn und dem Ei: Ist die Gier nun Folge des Bösen, oder ist sie umgekehrt Ursache für Böses, Schlechtes? Ursache und Folge scheinen untrennbar zu einem einzigen Teufelskreis verknüpft – Gier erzeugt Umstände, die wiederum um so größere Gier hervorrufen. Eine Lösung des Problems findet sich innerhalb dieses Teufelskreises nicht. Das Ziel muß sein, sich irgendwie aus dem Teufelskreis zu lösen. Bisher ist es der Psychologie noch nicht zufriedenstellend gelungen, die Wurzeln der Gier zu bestimmen, also herauszufinden, wie und in welchem Alter ein Mensch beginnt, Gier auf etwas zu verspüren. Es gibt jedoch reichlich Hinweise darauf, daß Gier – wie auch der Hunger nach Macht – Ausdruck eines Mangels ist, vermutlich eines Mangels an Liebe während der Kindheit. Die Gier entsteht demzufolge aus einem tragischen, unglückseligen Versuch, diesen Mangel durch Ersatzgüter und -befriedigungen zu beheben. Geld ist wohl der bekannteste Ersatz, aber auch Essen (z. B. Süßigkeiten) und Sex sind in dieser Funktion sehr beliebt. Wenn diese Einschätzung stimmt, dann besteht die Lösung des Problems darin, auf Gier mit Liebe und Freigiebigkeit zu reagieren. Denn die Liebe ist gewiß die einzige · 101 ·


Kraft, die stark genug ist, einem Menschen zu helfen, sich aus einem solchen Teufelskreis zu befreien. Vergleichen Sie dies einmal mit der herkömmlichen Reaktion, die darin besteht, einem habgierigen Menschen alles, was Gier wecken könnte, vorzuenthalten und wegzunehmen – auch wenn es keinerlei Hinweise darauf gibt, daß diese Strategie je Erfolg hat. Die Konsequenzen dieser Überlegung klingen vielleicht überraschend. Den Armen und Bedürftigen zu geben, war immer schon ein moralisches Gebot, doch sollte man dieses Gebot heute um eine vielleicht noch wichtigere Regel erweitern, nämlich die, den Reichen und Habgierigen zu geben! Auch die Überschrift zu diesem Kapitel müßte man dann neu formulieren und um zwei weitere Gebote ergänzen: »Die (aufrichtige) Liebe zum Geld ist die Wurzel jeder Heilung.« »Gebt Liebe mit Geld!« »Gebt Geld mit Liebe!« Das Thema Arm und Reich ist hier noch nicht ganz beendet, denn auch im nächsten Kapitel werden wir uns damit befassen. Überprüfen Sie jedoch erst einmal das, was in diesem Kapitel steht, mit Hilfe eines kleinen Experiments in Freigiebigkeit: Stecken Sie die Hand in die Tasche oder den Geldbeutel, und nehmen Sie, ohne weiter darüber nachzudenken, die ersten beiden Münzen oder Geldscheine, die Sie zu fassen kriegen. Geben Sie das Geld dann irgend jemandem – und schauen Sie, was Sie für Reaktionen erhalten!

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Lüge Nr. 14

Die Lüge von Arm und Reich

Wir haben schon gesehen, daß das Glück eines Menschen nicht von dem Geld abhängt, das er besitzt oder verdient. Man denkt jedoch gern, die Welt wäre ein besserer Ort, wenn nur die Reichen aufhören würden, ihren Reichtum zu horten, um statt dessen den Armen davon zu geben.

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Die Lüge von Arm und Reich

Ein reicher Mann ist oft nur ein armer Mann mit viel Geld. A RISTOTELES O NASSIS

Diese Aussage eines der reichsten Männer seiner Zeit zeigt, daß die Frage von Arm und Reich differenzierter betrachtet werden muß, als dies gemeinhin geschieht. Normalerweise glaubt man, Menschen mit viel Geld seien habgierig, Menschen ohne Geld wiederum bedürftig. Es trifft die Wahrheit jedoch besser, wenn man sagt: Wirklich reich ist, wer sich mit jedem Geldbetrag reich fühlt; wer sich jedoch arm fühlt, der ist leider arm, ganz gleich, wieviel Geld er besitzt. Dies weist darauf hin, daß es eine Illusion ist, zu glauben, es würde sich automatisch etwas zum Guten wenden, wenn man das Geld einfach von den finanziell Reichen an die finanziell Armen umverteile, und ebenso anzunehmen, ein finanziell reicher, sonst aber armer Mensch sei überhaupt in der Lage, seinen Reichtum zu teilen. Er ist es nämlich nicht, denn der erlebte Mangel und die Angst vor größeren Entbehrungen treiben ihn (wie auch alle finanziell Ärmeren) dazu an, sich immer mehr anzueignen. Eine finanzielle Umverteilung – aus ideologischen Gründen oder durch Anordnung von oben – ist bestenfalls von · 105 ·


kurzfristiger Wirkung, denn die bis dahin herrschenden Verhältnisse stellen sich früher oder später von selbst wieder her. Ein finanzielles Geschenk jedoch, das im Geiste ehrlicher Großzügigkeit erbracht wird, kann die Wahrnehmung des Beschenkten bezüglich seiner eigenen Person, seines Reichtums und seiner Bereitschaft zu Freigiebigkeit beträchtlich verändern. Die natürliche Folge ist eine dynamische Geldzirkulation und -(um)verteilung. Der Schlüssel zu diesem Schritt liegt natürlich nicht im äußeren finanziellen System, sondern in der inneren Beziehung, die man zu sich selbst, zu anderen und zur Welt als Ganzem hat. Ein solcher Schritt ist Ausdruck einer Geisteshaltung, die ein halbvolles Glas als Reichtum, nicht als Armut betrachtet, und das sogar mit einem Glas tut, das nur noch einen Tropfen enthält, oder mit dem letzten Atemzug vor dem Tod – es ist alles Reichtum! Mit dieser Einstellung darf man sicher sein, daß man sein Leben voll und ganz gelebt haben wird, wenn man eines Tages stirbt – reich an Geld wie an Leben!

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Lüge Nr. 15

Geld ist Freiheit

Man ist in dem Moment frei, wo man erkennt, daß die eigene Sicht der Dinge ihre Berechtigung hat. B OHDAN H AWRYLYSHYN Freiheit ist, über (geringfügig schlechtere) Alternativen zu verfügen. G EORGE S OROS

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Geld ist Freiheit

»Nein – tu, was man dir sagt! Wenn du groß bist, kannst du tun, was du willst … Du kannst dein eigenes Geld verdienen, damit tun, was du willst, und haben, was du willst.« Dies sind die Botschaften, die viele Kinder von klein auf zu hören kriegen. Wenn man sich unsere Lebensumstände ansieht, muß man zugeben, daß dieses verführerische Versprechen absoluter Freiheit sehr viel Zeit benötigt, bis es endlich eingelöst wird: Zunächst kommen Schule, Ausbildung, Universität, Karriere, Heirat, Kinder, Schulbildung der Kinder, Scheidung, Anwaltsrechnungen, Rentenversicherung, gesundheitliche Beschwerden, bis sich das Fenster der Möglichkeiten bei der Pensionierung dann schließlich öffnet. Das bringt jedoch eine neue Herausforderung mit sich: Man ist jetzt endlich frei – aber wofür eigentlich? In diesem Lebensabschnitt haben viele Menschen schon fast vergessen, was sie mögen und wollen, sie sind so daran gewöhnt, sich Sorgen zu machen, daß sie nun umgehend damit beginnen, sich um ihren Lebensunterhalt im Alter zu sorgen. Sorgen, schwindende Gesundheit, teure Behandlungen, schwindende Ersparnisse, Tod! Das Leben ist vorüber – und wie war das noch mal mit der Freiheit? Ich schreibe hier als jemand, dem der Gedanke an finan· 109 ·


zielle Freiheit und die damit verbundenen Chancen immer sehr zugesagt hatte. Erst später jedoch, als ehrgeiziger, hochmotivierter, erfolgreich seiner Karriere nachgehender 33jähriger erkannte ich die Ironie darin. Alles, was ich da so eifrig für meine künftige Freiheit tat, verringerte in Wirklichkeit meine Wahlmöglichkeiten in der Gegenwart. Der ganze Aufwand zur Beschaffung des Geldes, das diese Freiheit ermöglichen sollte, kostete mich eine Menge – Freiheit! Die wesentliche Schlußfolgerung aus dieser Erkenntnis ist die: Jemand, der sich im Leben darauf konzentriert, Geld für künftige Freiheit und spätere Wahlmöglichkeiten zu erwirtschaften, und damit immer weitermacht, wird nie frei werden! Freiheit ist ein Zustand der gegenwärtigen, nicht der zukünftigen Existenz. Die Freiheit steht jedem Menschen in jedem Augenblick und unter allen erdenklichen Umständen zur Verfügung, ob Geld nun vorhanden ist oder nicht. Wenn Freiheit das ist, was Sie im Leben interessiert, und wenn Sie glauben, daß Geld Ihnen diese Freiheit eines Tages ermöglichen wird, dann lesen Sie diesen Abschnitt so lange, bis die darin enthaltene Botschaft wirklich bei Ihnen angekommen ist. Sie sind hier und jetzt frei – oder nie und nirgendwo!

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Lüge Nr. 16

Man muß arbeiten und Geld verdienen, um tun zu können, was man will Mit dieser Lüge haben wir uns schon im letzten Abschnitt befaßt. Da der Irrglaube, Geld bedeute Freiheit, jedoch ein so zentraler Bestandteil unseres modernen westlichen Denkens ist, will ich hier noch einmal darauf eingehen.

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Man muß arbeiten und Geld verdienen, um tun zu können, was man will Bis heute habe ich noch nicht einen einzigen Menschen getroffen, der nach diesem Grundsatz lebt oder gelebt hat und wirklich das tut, was er will – der sich seinen »Traum« erfüllt hat. Im Gegenteil: Die, die wirklich das tun, was sie wollen – eine Minderheit –, stellen diesen Grundsatz auf den Kopf. Sie tun nämlich erst das, was sie wollen, und indem sie dies tun, scheinen sie die Mittel, die sie dazu brauchen – Geld, aber nicht nur Geld –, irgendwie anzuziehen. Darin liegt eine natürliche Logik: Wenn Sie das, was Sie tun, mit einer gewissen Leidenschaft tun, haben Sie eine bessere innere Einstellung und sind lebendiger und tatkräftiger, als wenn Sie nur »malochen«. Geld ist dann nicht eine »Entschädigung« für eine Arbeit, die Ihnen keinen Spaß macht, sondern viel mehr. Auch die Arbeit ist dann mehr als nur Plackerei – sie ist Ausdruck der Gnade und Liebe, die Erfüllung Ihrer Berufung. Bei dem Versuch, diese »goldene Regel« bewußt zu leben, machen viele den Fehler, zu glauben, die Mittel müßten ihnen darauf in Form von Geld zufallen. Dadurch übersieht man alles andere, das sich ganz umsonst anbietet: materielle und immaterielle Güter wie Dienstleistungen, Gefälligkeiten, Ansehen und Unterstützung wie auch Herausforde· 113 ·


rungen und sogar Konflikte. Der zutreffende Wortlaut für diesen Grundsatz ist also nicht die häufig zu hörende Version: »Tu, was du magst, dann kommt das Geld von allein«, sondern: »Tu, was du magst, dann bekommst du, was du brauchst.« Dies kann jedoch auch bedeuten, wenig oder gar kein Geld zu bekommen, wenn man diese Erfahrung nötiger hat. Das Leben selbst kümmert sich immer ganz hervorragend um unsere Bedürfnisse und die Erfordernisse eines Vorhabens, dem wir uns mit aller Kraft und Leidenschaft widmen. Dies hilft uns nicht nur, unsere Träume zu verwirklichen, sondern ermöglicht auch Wachstum und Entwicklung des eigenen Potentials!

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Lüge Nr. 17

Für ein neues Vorhaben braucht man Kapital, einen Geschäfts- und einen Finanzplan Banken, Finanzinstitute und Risikokapitalgesellschaften behaupten, man brauche all dies, wenn man sich an sie wenden wolle. Das folgende Szenario ist Ihnen vielleicht vertraut: Einige Leute treffen sich, um die Verwirklichung eines interessanten Geschäftsvorhabens zu besprechen. Jeder ist aufgeregt und begeistert, die Ideen strömen geradezu, alle sind glücklich – und dann passiert es: »Und wie sollen wir das alles finanzieren?« fragt jemand. Nun werden die Teilnehmer der Debatte »realistisch«, berechnen die Zeit, die das Projekt sie kosten wird, und stellen einen Finanzierungsplan auf. Die Berechnungen gehen jedoch nicht auf, sie lassen keinen angemessenen Gewinn erkennen. Nun konzentriert man sich voll und ganz auf Finanzierungsmöglichkeiten. Die ursprüngliche Idee – und damit die Begeisterung, die sie geweckt hatte – rückt allmählich in die Ferne …

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Für ein neues Vorhaben braucht man Kapital, einen Geschäfts- und einen Finanzplan Erfolgreiche Unternehmer und Geschäftsleute wissen, daß Wirtschaftsunternehmen nicht aus Geschäftsplänen entstehen oder wegen ihres Geldes Erfolg haben. Dennoch gibt es viele, die an diesem Mythos, dieser Lüge, unbeeindruckt festhalten und dies sogar an Handelsschulen und Universitäten lehren. Warum nur? Wollen sie die Wahrheit geheimhalten, um sich im Konkurrenzkampf auf dem Markt einen Vorteil zu sichern? Ist es ihnen peinlich, weil die Wahrheit so simpel und unwissenschaftlich wirkt? Oder glauben sie vielleicht wirklich an diesen Mythos, leben aber etwas anderes aus? Ein Unternehmer verwirklicht seine Geschäftsvorhaben, indem er sich voll und ganz darauf konzentriert, das klar definierte Projekt umzusetzen, auch aus dem Nichts, mit oder ohne Startkapital, mit oder ohne fremde Unterstützung, Billigung oder Zustimmung. Die Tatsache, daß er zu Beginn vielleicht kein Kapital besitzt, kümmert ihn wenig. Auch um den Gewinn macht er sich kaum Gedanken. Statt dessen konzentriert er sich einzig und allein auf die Verwirklichung seines Projekts (mit der Leidenschaft und Hingabe, die wir schon im vorigen Abschnitt besprochen haben). Ein Geschäftsvorhaben gerät häufig genau dann in Schwierigkeiten, wenn der Unternehmer beginnt, sich über· 117 ·


triebene Sorgen um die Finanzen zu machen (wie es gerade neuen Firmengründern oft geschieht). Das Projekt verliert dadurch seine Kraft und seinen Reiz – seine »Seele« –, und zwar in einer Weise, die seine finanzielle Lage negativ beeinflußt, was die Sorgen dann gerechtfertigt erscheinen läßt. Damit beginnt häufig ein Teufelskreis oder Abwärtstrend, der schließlich zum Scheitern des Geschäftsvorhabens führt und die irrige Schlußfolgerung nährt, man habe sich am Anfang zu wenig Gedanken über die Finanzen gemacht. Das Scheitern hat in Wahrheit genau entgegengesetzte Gründe: unnötige und unangemessene Finanzsorgen, die einen vom eigentlichen Ziel und Sinn des Projekts abgelenkt haben. (Ich möchte an dieser Stelle aber betonen, daß ich die Notwendigkeit einer kompetenten Finanzplanung und Buchführung im Interesse der Unternehmensziele nicht bestreite.) Fragt man Bankiers und Risikokapitalgeber nach ihrer ehrlichen Meinung, geben sie zu, daß sie keine Geschäftspläne finanzieren, sondern Menschen, und zwar besonders gerne solche mit »Charakter«. Dies sind häufig Menschen, die das Geld eigentlich gar nicht brauchen – nicht, weil sie genug davon haben, sondern weil ihr Vorhaben sowieso höchstwahrscheinlich erfolgreich sein wird, ganz gleich, wie sie es im einzelnen anpacken! Die ganzen Geschäfts- und Finanzierungspläne beweisen zwar u. U. die Fähigkeit zu intellektueller Disziplin, sind für Finanzierungsentscheide jedoch nie der ausschlaggebende Faktor. Als Nachtrag schildere ich Ihnen hier zwei Erfahrungen aus meiner Zeit bei einem großen amerikanischen Konzern, wo ich verantwortlich für Machbarkeitsstudien für Betriebsgründungen und -umsiedlungen war: · 118 ·


1. Man behauptet gern, solchen Finanzentscheidungen lägen detaillierte Analysen zugrunde. Häufig funktioniert es jedoch genau anders herum: Zuerst trifft man die Entscheidung, dann rechtfertigt man sie nachträglich mit entsprechenden Zahlen. Es ist z. B. bei Betriebsumsiedlungen allgemein bekannt, daß das Hauptkriterium bei der Wahl eines Standorts dessen Nähe zum Wohnort des Geschäftsführers ist und weitere derartige Vorteile eine Rolle spielen. Meiner Erfahrung nach gelingt es dem betreffenden Manager fast immer, glaubhafte Zahlen zu produzieren, die die Wahl des gewünschten Standorts rechtfertigen. 2. In einem Trainingsprogramm im kalifornischen Hauptsitz des Unternehmens brachte man uns eine neue Form der Präsentation von Analysen bei. Als Lehrmaterial diente eine Machbarkeitsstudie aus der Zeit, als die Firma ihre erfolgreichste Produktlinie auf den Markt brachte. Als ich am Abend über den Hausaufgaben brütete, paßten die Zahlen irgendwie nicht so recht zusammen. Schließlich brachte ich die halbe Nacht damit zu, eine Lösung für das Problem zu finden. Am nächsten Morgen schilderte ich den Sachverhalt und sah einige rote Gesichter. Wie sich herausstellte, hatte sich eine zusätzliche Null in die Gewinnkalkulation eingeschlichen – man hatte sich damals also um den Faktor 10 verrechnet. Der Fehler war jedoch glücklicherweise niemandem aufgefallen, und die fehlerhafte Kalkulation wurde realisiert, wodurch sie den »irrigen« Optimismus der Befürworter des Projekts rechtfertigte!

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Lüge Nr. 18

Jeder kann Gewinn machen

In

unserer profitorientierten Kultur ist es das Ziel jedes Unternehmens und jeder Privatperson, am Ende einen Gewinn zu erzielen. Der Profit gilt als Beweis für Erfolg und gute Geschäftspolitik.

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Jeder kann Gewinn machen

Wenn sechs Leute um einen Pokertisch sitzen und einige von ihnen am Ende gewinnen, ist jedem klar, daß die anderen logischerweise verlieren müssen. In der realen Welt von Geschäft und Handel – der Finanzwirtschaft – funktioniert dies nicht anders. Es ist darum erstaunlich, daß fast alle – darunter Wirtschaftsprüfer, Buchhalter, Betriebswirtschaftler und Professoren – davon überzeugt sind, es sei möglich, daß alle Menschen zu gleicher Zeit Profit machen könnten. Machen wir uns das einmal im einzelnen klar: Würden alle Einzelpersonen, Wirtschaftsunternehmen, Behörden und sonstigen Organisationen ihr Einkommen der vergangenen zwölf Monate zusammenrechnen und am gleichen Tag, z. B. am 31. Dezember, die Ausgaben der letzten zwölf Monate davon abziehen, dann müßte das Endergebnis wie beim Pokerspiel nach Adam Riese gleich Null sein. Anders gesagt, geht der Profit des einen automatisch zu Lasten des anderen. Dies ist weder gut noch schlecht – es ist nach den Regeln der Mathematik nur schlicht und einfach unmöglich, daß alle zur gleichen Zeit Gewinn machen! Die Lüge, die in diesem Abschnitt behandelt wird, ist so tief im allgemeinen Bewußtsein verwurzelt, daß ihre Entlarvung beträchtliche Überraschung und instinktive Abwehr · 123 ·


auszulösen scheint. Man reagiert fast so, als handle es sich dabei um Ketzerei. Vielleicht ist die Aufdeckung dieser Lüge ja wirklich eine Art Verrat, ein Verrat an der profitorientierten Kultur, in die wir hineingeboren wurden und an der wir – auch wenn uns das vielleicht nicht bewußt ist – so sehr hängen. Beim Aufdecken dieser Lüge geht es mir jedoch nicht darum, Profit und Gewinnstreben zu verurteilen. Ich will lediglich verhindern, daß falsche Annahmen böse Konsequenzen nach sich ziehen. Angesichts dessen, wie tief diese Lüge verwurzelt und wie heftig die Reaktion auf ihre Aufdeckung ist, beschloß ich, mit einigen – überraschten – Wirtschaftsprüfern und Betriebswirtschaftlern die Probe aufs Exempel zu machen. Dies sind Einwände, die ich bisher als Reaktion erhalten habe: 1. »Jeder kann Gewinn machen, wenn das Geld nur so frei zirkuliert, wie es sollte, und nicht alle am gleichen Tag abrechnen.« Das ist so, als lasse man am Pokertisch ein Bündel Geldscheine herumgehen und fordere jeden dazu auf, genau in dem Moment, wo er das Bündel in der Hand hält, seinen bis zu diesem Zeitpunkt erzielten Gewinn zu berechnen. Dies wäre natürlich keine zuverlässige oder sinnvolle Darstellung der Wirklichkeit. 2. »Die einen machen einen finanziellen Gewinn, die anderen, die nichts verdienen, profitieren in anderer Form.« Dies stimmt und ist sogar sehr wichtig. Die Redewendung: »Jeder kann Gewinn machen«, bezieht sich jedoch in der Regel auf finanziellen Gewinn, nicht auf Gewinne in anderer Form. 3. »Wenn sich die Geldmenge erhöht, vor allem, wenn dies · 124 ·


– wie wir es gewohnt sind – kontinuierlich geschieht, dann erscheinen diese neuen, zusätzlichen Gelder gesamthaft als Gewinn, nicht als Nullsumme.« Dies stimmt, und der Einwand ist auch berechtigt, solange der Zusatzertrag den durch die Wirtschaft im Abrechnungszeitraum von zwölf Monaten geschaffenen realen Reichtum widerspiegelt, wenn die Wirtschaftswachstumsrate also mindestens genauso hoch liegt wie die Zunahme der Geldmenge. Das Anwachsen der Geldmenge kann jedoch einfach auf Inflation zurückzuführen sein, ohne daß ein reales Wirtschaftswachstum zugrunde liegt (dies entspricht eher der heutigen Situation in den Industrieländern des Westens). In diesem Fall macht man sich etwas vor, wenn man aufgrund des Gesamtgewinns glaubt, man sei jetzt besser dran als zuvor. Verdeutlichen wir dies noch einmal anhand des Pokerspiels: Wenn alle Spieler im Verlauf der Partie zusätzliches Geld bekommen, halten sie sich vielleicht für reicher als zuvor, doch wenn die Preise für Bier und Zigaretten im gleichen Maße gestiegen sind, täuschen sie sich. Es ist die Kaufkraft des Gesamtgewinns, die man betrachten muß, wenn man herausfinden will, ob es sich um einen realen Gewinn handelt oder nicht. Im größten Teil der Welt(finanz)wirtschaft übertrifft die Zunahme der Geldmenge jedoch das reale Wirtschaftswachstum. Dieser Einwand ist also, wie schon die ersten beiden, genau besehen nicht gerechtfertigt. Das Aufdecken der hier behandelten Lüge hat tiefgreifende, wenn nicht gar erschreckende Folgen, denn es erschüttert die Auffassung, Gewinne erwirtschafte man durch gute Ge· 125 ·


schäftspolitik, während man sich bei Verlusten für eine schlechte Geschäftspolitik zu schämen habe. Dies stimmt nur ansatzweise, wenn überhaupt, und stellt die Art und Weise in Frage, wie unsere Kultur Erfolg wahrnimmt und bewertet. Die Schlußfolgerung aus der Entlarvung dieser Lüge mag zwar erschreckend sein, doch stimmt sie zugleich in eleganter Weise mit Schlußfolgerungen aus anderen Abschnitten dieses Buchs überein (v. a. mit: »Schulden sind etwas Schlechtes«, und: »Die besten Produkte und Dienstleistungen werfen die höchsten Gewinne ab«). Prägen Sie sich dies ein. Auch in den folgenden Kapiteln werden Sie diesen Zusammenhang immer wieder entdecken.

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Lüge Nr. 19

Um Bestand zu haben, muß eine Firma Gewinn machen

Dieser unumstößliche Grundsatz muß nicht weiter ausgeführt werden. Er scheint offensichtlich.

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Um Bestand zu haben, muß eine Firma Gewinn machen

Wenn Sie den Ausführungen dieses Buchs bis hierher gefolgt sind, ahnen Sie wohl schon, daß die »Unumstößlichkeit« dieses Grundsatzes fragwürdig ist. Vor allem im Kapitel »Für ein neues Vorhaben braucht man Kapital …« haben wir gesehen, daß man sein Geschäftsvorhaben durch Konzentration auf die Verwirklichung seines »Traums« am Leben erhält und daß ein gefährlicher Abwärtstrend einsetzt, wenn man diese Konzentration verliert. Es gibt – vielleicht sogar viele – Hinweise darauf, daß auch ein finanziell gesehen unprofitables Unternehmen überleben kann, doch erfährt man aus volks- und betriebswirtschaftlicher Fachliteratur nichts darüber. Dies liegt entweder daran, daß dieses Phänomen nicht verstanden wird – unrentable Firmen können nicht überleben, also leugnen wir einfach ihre Existenz –, oder daran, daß dies – wie schon im Fall der im vorigen Abschnitt behandelten Lüge – in unserer profitorientierten Kultur einer Art »Ketzerei« gleichkommt. Und nicht zuletzt geht es hier auch um Stolz und Schamgefühle: ein Unternehmer veröffentlicht Verluste nicht so bereitwillig wie Gewinne. Man muß jedoch nur ein wenig an der Oberfläche kratzen, um sofort auf entsprechende Belege zu stoßen. Das heute am besten bekannte Beispiel ist wohl Amazon.com. · 129 ·


Der Internet-Buchversender hat zwar erklärt, er wolle in Zukunft Gewinne erwirtschaften, doch hat er bisher nur Verluste eingefahren.1 Ich bin überzeugt, daß die Nachhaltigkeit von Amazon wenig oder gar nichts mit dem erklärten Ziel, Gewinne zu erwirtschaften, zu tun hat, sondern mit seinen ausgezeichneten Dienstleistungen in der von ihm geschaffenen Nische. Die Firma wird Bestand haben, wenn sie mit dieser qualitätsorientierten Politik fortfährt. Sollten die finanziellen Ergebnisse jedoch eines Tages zum Hauptaugenmerk von Amazon werden, kann dies durchaus einen Abwärtstrend einleiten (die Entwicklungen bei Anita Roddicks Body Shop sind in dieser Hinsicht lehrreich). Ein weiteres Beispiel ist das österreichische Hotelgewerbe. In der Alpenrepublik gibt es ganze Dörfer, deren Hotels durchweg in den roten Zahlen und bei Banken verschuldet sind. Dies ist ein strukturelles Problem, das mit herkömmlichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen wie Kostenreduzierung, Preiserhöhung und Preissenkung nicht lösbar zu sein scheint. Dennoch sind diese Hotels unersetzlich für den Fremdenverkehr, die Wirtschaft der betroffenen Dörfer, die Region, das ganze Land wie auch für alles, was Österreich zu bieten hat. Im ganzen betrachtet ist der Wert, den das Hotelgewerbe bietet, weitaus größer als die Bedeutung der relativ geringen Geldbeträge, welche die Rentabilität einzelner Hotels darstellt. Sofern sie ihre Dienstleistungen weiterhin zur allgemeinen Zufriedenheit anbieten, werden Im November 2001, als dieses Buch geschrieben wurde, war das Unternehmen gerade dabei, zum ersten Mal in einem Quartal Gewinne zu machen, wie am 22. Januar 2002 bekanntgegeben wurde. Zwei Jahre später hatte Amazon fünf weitere Quartale mit Verlusten und drei mit einem Gewinn verzeichnet. 1

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sie auch künftig überleben. In der Praxis funktioniert so etwas heute, indem die Banken diese Hotels weiterhin mit Darlehen finanzieren. Warum tun sie das, obwohl dies doch offensichtlich der herkömmlichen Philosophie ihres Gewerbes zuwiderläuft? Die Antwort darauf ist die, daß es jenseits einer engen Zahlenauslegung eine tiefere Logik gibt, diese dienstleistenden Betriebe zu erhalten, die in einer lebensspendenden Weisheit wurzelt. Ich sollte an dieser Stelle vielleicht darauf hinweisen, daß es mir nicht darum geht, unrentables Wirtschaften zu befürworten oder Gewinnorientierung zu verurteilen. Ebensowenig möchte ich inkompetentes Management, das zu Verlusten führt, verteidigen. Ich will lediglich aufzeigen, daß das, was ein Unternehmen nachhaltig macht, mit großer Wahrscheinlichkeit auf Faktoren beruht, die von finanziellen Gewinnen oder Verlusten völlig unabhängig sind. Für die Richtigkeit dieser These habe ich in persönlichen Begegnungen mit Unternehmern gute Hinweise gefunden. Es ist hochinteressant, zu beobachten, wie glücklich und sogar erleichtert diese Geschäftsleute darüber sind, über ihre finanziellen Verluste sprechen zu können, sobald sie merken, daß man diese nicht ihrer Unfähigkeit zuschreibt!

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Lüge Nr. 20

Der Preis für Güter und Dienstleistungen setzt sich hauptsächlich aus ihren Produktionskosten zusammen Die Wirtschaftstheorie lehrt, daß sich Preise nach Angebot und Nachfrage richten. Die Gesamtkosten für eine Ware oder Dienstleistung, die den Preis und die zu liefernde Menge beeinflussen, setzen sich aus der Summe der Kosten der für die Herstellung benötigten Rohstoffe und den Gewinnen der verschiedenen Lieferanten in den einzelnen Phasen der Produktionskette zusammen.

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Der Preis für Güter und Dienstleistungen setzt sich hauptsächlich aus ihren Produktionskosten zusammen In den Gesamtkosten und damit in den Preisen bleibt etwas unsichtbar: der Zinsbestandteil. Jeder Lieferant in der Produktionskette zahlt Zinsen – für seinen Kredit, seine Hypothek, seine Miete – und gibt diese über seine Preise an die Produktionskette weiter. Der Betrag dieser Zinsen wird normalerweise nicht separat aufgeführt. Obwohl solche Zinsen in der Frühzeit des Industriezeitalters vielleicht unbedeutend waren, führt ihre exponentielle Natur dazu, daß sie einen beschleunigt wachsenden Anteil am Endverbraucherpreis ausmachen. Heutzutage ist dieser Anteil bedeutend – und er nimmt weiter zu. Anfang der 80er Jahre berechnete Dr. Margrit Kennedy in ihrem Buch Geld ohne Zinsen und Inflation den prozentualen Anteil, den die Zinsen bei den Preisen einiger Dienstleistungen ausmachen: Müllabfuhr 12 % Trinkwasserversorgung 38 % Abwasserentsorgung 47 % Mieten von Sozialwohnungen 77 % Frau Dr. Kennedy zeigte damit, daß es sich bei dem Glauben, das Zinssystem sei gerecht und demokratisch, da jeder · 135 ·


Zinsen zahle und auch einnehmen könne, um einen Irrtum handelt. Der in den Preisen enthaltene Zinsbestandteil wird dabei nämlich übersehen. Kalkuliert man diesen jedoch mit ein, dann gelingt es nur einer relativ kleinen Minderheit – den vermögenden 20 % der Bevölkerung, wie die Autorin 1982 errechnete –, in diesem System unter dem Strich keinen Verlust zu machen oder sogar Zinserträge zu verzeichnen, während die große Mehrheit mehr Zinsen zahlt, als sie einnimmt. Unabhängig davon, ob dies nun gerecht ist oder nicht, haben wir schon gesehen, welche strukturellen Probleme das Zinssystem mit sich bringt. Erstens führt es dazu, daß das vorhandene Geld sich auf immer weniger Hände konzentriert, zweitens widerspiegeln die Warenpreise immer seltener einen realen Wert (siehe »Schulden sind etwas Schlechtes« und »Die besten Produkte und Dienstleistungen werfen die höchsten Gewinne ab«). In diesem Abschnitt wurde einer jener Mechanismen aufgedeckt, die auf subtile, weitgehend unsichtbare Art und Weise dafür verantwortlich sind.

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Lüge Nr. 21

Geld macht unabhängig

Trani, 21. November 2001 Trani ist eine malerische Hafenstadt, 60 km von Polignano entfernt. Die Bahnhofswirtschaft von Trani abends um Viertel vor acht. Während ich an meinem Campari nippe, ist ein gedrungener Herr neben mir mit wilder Entschlossenheit dabei, der Kellnerin hinter dem Tresen Zahlen zu diktieren, die auf vielen Notizzetteln festgehalten sind. Flink überträgt sie die Zahlen mit einem schwarzen Filzstift auf eine Reihe von Lottoscheinen; beide arbeiten konzentriert. Sie brauchen gut eine Viertelstunde, denn er hat recht viele Lottoscheine gekauft, die später vermutlich in irgendeinem riesigen landesweiten System in Rom oder Mailand oder vielleicht sogar Hamburg oder Madrid elektronisch eingebucht werden. Ich fange an, mir um die Kellnerin Sorgen zu machen. Was, wenn sie einen Fehler macht? Oder wenn er die richtige Kombination tippt, und sie den Lottoschein verbummelt? Das wäre wohl der Beginn einer großen Familienfehde, welche die Bevölkerung des Städtchens für die nächsten 350 Jahre spalten dürfte. Nein, beruhige ich mich, das wird wohl nicht geschehen – vermutlich ist sie seine Nichte, seine künftige Schwiegertochter oder die Tochter seines Cousins … · 137 ·


Wovon er wohl träumt, frage ich mich. Was würde er mit dem Gewinn tun? Was glaubt er, was ein großer Gewinn für ihn und sein Leben bedeuten würde? Etwa Freiheit, Unabhängigkeit?

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Geld macht unabhängig

Man glaubt nur zu gern, daß Geld Unabhängigkeit bedeutet, daß man frei und abgesichert genug sein werde, um seinen Job an den Nagel zu hängen und endlich unabhängig zu sein, wenn man nur erst einmal genügend Kapital zusammen habe. Die Ironie ist dabei jedoch, daß es in Wahrheit genau umgekehrt funktioniert. Um unabhängig zu werden, muß man innerlich schon ein Stück weit unabhängig sein. Keine noch so große Summe Geld ermöglicht einem dies. Rosella und Anna besitzen diese innere Unabhängigkeit. Die beiden jungen Damen haben vor kurzem ihre eigene Bar eröffnet, ein ziemlich gewagtes und verrücktes Unterfangen, denn wie die meisten Orte Italiens ist Polignano schon voller Bars – ganz abgesehen davon, daß die Welt der Bars in Italien eine Männerdomäne ist. Die Bar von Rosella und Anna ist zwar einfach, aber mit ihrer einladenden, herzlichen Atmosphäre, der geschmackvollen Einrichtung und bestem Essen dennoch die beste Bar der ganzen Stadt. Wenn man sich die beiden jungen, attraktiven Damen ansieht, versteht man das Geheimnis ihres Erfolgs. Sie besitzen eine natürliche, ungekünstelte Selbstsicherheit, in der sich diese innere Unabhängigkeit widerspiegelt, eine Eigenschaft, die kein Geld der Welt kaufen kann. Im Gegenteil, das Geld, · 139 ·


das zur Eröffnung der Bar nötig war, wurde ganz bestimmt durch diese Eigenschaft angezogen. Das Leben wird nicht besser oder schlechter, wenn Sie in dem Sinne »unabhängig« sind, daß Sie selbst die Quelle Ihrer Aktivitäten sind, mit all der damit verbundenen Verantwortung. Unabhängig zu werden, stellt vielmehr einen natürlichen Schritt in der Entwicklung eines Menschen dar, einen Schritt, der sich an einem bestimmten Punkt des Lebens vollzieht, den man nicht aufhalten und, wenn er einmal geschehen ist, auch nicht mehr rückgängig machen kann. Wie beim Ziehen einer Pflanze kann man die Umstände dahingehend beeinflussen, daß sie das Wachstum fördern. Geld kann dabei durchaus eine Rolle spielen. Wachstum findet jedoch letzten Endes von selbst statt, mit oder ohne diese Einflüsse. Ein Mensch, der diese innere Unabhängigkeit entwickelt hat, ist quasi »nicht vermittelbar«, wie es das Arbeitsamt ausdrücken würde. Man kann seine Dienstleistungen kaufen, eine Partnerschaft mit ihm eingehen, doch wer zur Quelle seiner eigenen Aktivitäten geworden ist, der ist als Angestellter unwiderruflich verloren, er läßt sich nicht mehr »herumkommandieren«. Gleichzeitig wird die Vorstellung, andere Menschen oder die Welt im allgemeinen seien ihm etwas schuldig, ziemlich absurd.

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Lüge Nr. 22

Geld macht abhängig

Mein Zimmermädchen im Hotel (das französische »Femme de Chambre« klingt doch viel würdevoller) ist angestellt, leistet gute Arbeit und scheint mit dem Leben recht zufrieden zu sein. Besitzt die Frau keine innere Unabhängigkeit? Vielleicht doch, vielleicht könnte sie ja ihre eigene Firma gründen, wenn sie wollte. Zwar stimmt es wohl, daß die, die den Sprung in die Selbständigkeit wagen, diese innere Unabhängigkeit besitzen – eine unerläßliche Vorbedingung für die Reise ins Unbekannte –, doch wäre der Umkehrschluß, daß Angestellte diese Eigenschaft grundsätzlich nicht besitzen, bestimmt nicht berechtigt – was alle abhängig Beschäftigten unter meinen Lesern, die mit dem letzten Abschnitt nicht so ganz zufrieden waren, erleichtern wird, zumindest, solange das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Ich fragte sie, ob sie schon in Trani gewesen sei. Ja, meinte sie, sie sei dort kürzlich gewesen, zum erstenmal in ihrem Leben. Ich zog schon den Schluß, daß die als »arm« bekannten Menschen hier im Süden Italiens vermutlich nicht viel reisten, als sie mich unerwartet eines besseren belehrte: Ihrem Bruder gehörte das örtliche Reisebüro, und ihre beiden Töchter arbeiteten dort. Ein kurzer Ausflug 60 km die Küste hinauf ist vermutlich einfach nicht interessant. Mit · 141 ·


einem Anflug von lokalpatriotischem Stolz fügte sie hinzu, sie habe Trani »schmutzig« gefunden. Arbeitet sie, um Geld zu verdienen? Vermutlich. Würde sie mein Zimmer putzen, wenn sie kein Geld dafür bekäme? Vermutlich nicht. Ist sie auf das Geld angewiesen? Wenn Geld nicht Unabhängigkeit bedeutet, wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben, sind wir dann als Bürger der Industrieländer des Westens, wo wir Geld zum Erwerb fast aller benötigten Dinge benutzen, auf Geld angewiesen? Macht Geld abhängig?

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Geld macht abhängig

Abhängigkeit ist nicht das Gegenteil von Unabhängigkeit, auch wenn die Annahme naheliegt. Abhängigkeit ist eine Lebenstatsache, genaugenommen sogar der Stoff, aus dem das Leben gewebt ist. Es gibt wenig, das man ganz allein tun kann, ohne dabei von anderen abhängig zu sein. Erst diese Abhängigkeit gibt unserem Leben Sinn. Als Autor verlasse ich mich darauf, daß jemand mein Buch hier liest. Ohne Sie wäre es sinnlos, es zu schreiben. Ich wiederum hoffe, daß Sie einen Nutzen aus diesem Buch ziehen und sozusagen abhängig werden von der Energie, die ich jahrelang in die Beschäftigung mit dem Thema Geld gesteckt habe. Dies wäre für uns beide bereichernd. Außerdem sind Eigenständigkeit und innere Unabhängigkeit einerseits und Abhängigkeit andererseits paradoxerweise kein Widerspruch, sondern hängen in dem Sinne voneinander ab, daß durch Abhängigkeit die Unabhängigkeit erst möglich wird. Durch die Bereitschaft, auf die Begabungen und Talente anderer zu vertrauen, erwirbt man die Möglichkeit zur Eigenständigkeit sowie die beruhigende Gewißheit, mit dem Ganzen verbunden zu sein, anderen zu helfen und von diesen Hilfe zu bekommen. Wer sich von anderen isoliert und sich aus einem falschen Verständnis von Unabhängigkeit – und Abhängigkeit – von diesem Ganzen · 143 ·


abtrennt, ist am Ende einsam und allein, mit geschwächtem Selbstvertrauen und unsicherer Existenz. In vielen Formen des Austauschs mit anderen spielt Geld eine Rolle. Macht man davon in bestmöglicher Weise Gebrauch, bereichert dies die Beziehung zu anderen und ermutigt zu weiteren und qualitativ besseren Wechselbeziehungen. Das Gegenteil kann geschehen, wenn man einen solchen Austausch schlecht nutzt. Hier scheint dann oft Geld die Ursache des Konflikts zu sein. In keinem von beiden Fällen ist Geld jedoch Quelle oder Ursache des gelungenen oder mißlungenen Resultats, der glücklichen oder unglücklichen Umstände, die wir fälschlicherweise der Abhängigkeit vom Geld zuschreiben. Fassen wir also zusammen: Abhängigkeit ist Teil aller menschlichen Beziehungen. Geld spielt u. U. eine Rolle in diesen Beziehungen, ist jedoch selbst nie Quelle oder Ursache von Abhängigkeit. Wenn es einem in einer Beziehung an Unabhängigkeit mangelt, dann liegt dies nicht an einem Übermaß von Abhängigkeit, sondern daran, daß man nicht genügend innere Unabhängigkeit entwickelt hat!

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Lüge Nr. 23

Renten und Ersparnisse sichern einen sorglosen Lebensabend

Heutzutage wird dringend empfohlen, einen immer größeren Anteil des Einkommens für die Altersvorsorge aufzuwenden. Die staatliche Rentenversicherung war ursprünglich so konzipiert, daß sie zur Sicherung der Grundbedürfnisse im Alter ausreichte. Nun, nachdem viele von uns jahrzehntelang Rentenbeiträge eingezahlt haben, kriegen wir zu hören, die staatliche Rentenversicherung könne eine ausreichende Versorgung im Alter nicht mehr garantieren, wir müßten sie darum mit privaten Altersversicherungen ergänzen, die ursprünglich nur als zusätzlicher Luxus gedacht waren. Gleichzeitig verschlingen auch Kranken- und Lebensversicherung einen immer größeren Teil unseres Monatseinkommens. Bis vor kurzem war die Schweiz das einzige Land, wo die Versicherungen den größten Posten der Lebenshaltungskosten darstellten, größer als die Ausgaben für Nahrung, Unterkunft usw. Inzwischen geht es immer mehr Ländern wie der Schweiz. Mittlerweile gibt es Pensionskassen, die nicht mehr in der Lage sind, ihren versprochenen Verpflichtungen nachzukommen, und die Kosten im Gesundheitswesen explodieren in einer Weise, daß der gewohnte Qualitätsstandard in der medizinischen Versorgung kaum noch beizubehalten ist. · 145 ·


Wie sollen wir diese Entwicklung verstehen? Was geschieht da?

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Renten und Ersparnisse sichern einen sorglosen Lebensabend

Bei

der Entlarvung dieser Lüge soll nicht der Wert von Sparguthaben, Rentenbeiträgen und sonstigen Versicherungen in Frage gestellt werden. Dies sind alles legitime, intelligente und wohldurchdachte soziale Einrichtungen. Hier geht es jedoch um eine schwerwiegende Anschuldigung, die sich an die Institutionen richtet, die diese Vorsorgeleistungen verwalten: Betrug. Das gesamte Renten- und Versicherungsgewerbe hat der Öffentlichkeit jahrelang Versprechungen abgegeben, obwohl es genau wußte, daß es diese nicht würde einhalten können. Statt sich dafür zu entschuldigen, erfindet dieses Gewerbe immer neue Produkte, die dann wieder mit weiteren unhaltbaren Versprechungen der Öffentlichkeit verkauft werden – eine Entwicklung, deren Ende auch heute noch nicht in Sicht ist. Meine Anschuldigung kann mit ziemlich hoher Gewißheit erhoben werden, denn es läßt sich versicherungsmathematisch berechnen, wie wahrscheinlich es ist, daß heute gegebene Versprechen in der Zukunft eingelöst werden können – vorausgesetzt, daß keine regionale oder globale Katastrophe alles durcheinanderbringt. Wer die Regeln einfacher Mathematik beherrscht, erkennt den in diesen Versprechen enthaltenen Betrug ohne komplizierte Berechnungen. Da die Anschuldigung eines Betrugs doch recht schwer· 147 ·


wiegend ist, möchte ich deren mathematische Begründung darlegen. Wer zu anderen Schlüssen kommt, ist eingeladen, diese Begründung zu widerlegen. Zwei Problembereiche sind es, die verhindern, daß Geld, das heute in die Rentenversicherung eingezahlt wird, eines Tages Erträge abwirft, welche die Kaufkraft des Geldes erhalten oder gar steigern: 1. Demographie Bei den Rentenversicherungen gab es das größte Wachstum in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis Ende der 60er Jahre waren diese Maßnahmen im Zuge des Aufbaus sozialstaatlicher Strukturen zu gesetzlichen Einrichtungen geworden. Dies fiel zeitlich zufällig mit dem Heranwachsen einer zahlenmäßig sehr starken Generation zusammen, die dem Baby-Boom der Nachkriegsjahre entstammte. Viele junge Menschen traten nun ins Arbeitsleben ein und konnten mit Ihren Beiträgen die Ansprüche der Rentenvorsorge für eine viel kleinere Zahl von Großeltern und Eltern im Ruhestand mit Leichtigkeit erfüllen. Die jetzige Generation von Rentnern zu Beginn des 21. Jahrhunderts genießt diesen demographischen Vorteil noch immer. Renten aus sogenannten »umlagefinanzierten« staatlichen Rentenversicherungen, wo die Beiträge der Erwerbstätigen direkt an die Rentner weiterverteilt, also nicht als zinsbringendes Geld angelegt werden, waren vor kurzem so hoch, wie sie nie wieder sein werden. Dies mag allgemein den Eindruck erweckt haben, das System funktioniere gut und könne darum auf ewig weiterbestehen. Wenn die Baby-Boom-Generation jedoch ins Rentenalter kommt, wird die umge· 148 ·


kehrte demographische Struktur bestehen: Einer großen Zahl von Rentnern steht eine zahlenmäßig wesentlich kleinere Generation von Erwerbstätigen gegenüber (die »Pillenknick-Generation«), die dann die Renten finanzieren muß. Daß dieses System auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten sein wird, ist seit Jahrzehnten abzusehen, doch statt dem Volk die Wahrheit zu sagen, dachten sich Regierungen und Versicherungsgewerbe lieber etwas Neues aus: ein (je nach Land unterschiedlich gestaltetes) DreiSäulen-Modell, das neben der ursprünglichen ersten Säule zusätzliche Beiträge zu einer betrieblichen oder überbetrieblichen Altersvorsorge vorsieht, wobei die Beiträge als zinsbringendes Kapital angelegt werden, sowie freiwillige Beitragszahlungen an eine wiederum kapitalbasierte Rentenversicherung. Hatte man ursprünglich versprochen, die staatliche Rentenversicherung sei ganz allein voll funktionsfähig, soll dies nun die Kombination aus staatlicher Rente und kapitalbasierter Rentenversicherung sein. Aber damit nicht genug. Inzwischen wird den Menschen verkündet, sie sollten sich nicht in Sicherheit wiegen, daß ihre Altersversorgung voll gedeckt sei. Sie haben zwar ihr Leben lang brav Beiträge gezahlt und dadurch die Kapitalbestände der Rentenversicherungen anschwellen lassen. Gleichwohl werden die Renten, die sie eines Tages beziehen, zur Deckung der Grundbedürfnisse im Alter nicht ausreichen. Gerade jetzt könnte es geschehen, daß Sie aufgerufen werden, einen weiteren Teil Ihres Einkommens in noch einer kapitalbasierten Versicherung anzulegen. Man verspricht Ihnen dabei das gleiche: daß die Befriedigung · 149 ·


Ihrer Grundbedürfnisse im Alter dann wirklich gesichert sein wird. Daß die bisherigen Rentenversprechen aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwann nicht mehr eingelöst werden könnten, war von Anfang an vorhersehbar gewesen, und dies gilt genauso für die jetzigen Vorschläge einer zusätzlichen Altersversicherung. Dies hat mit einem zweiten Problemfeld zu tun. 2. Der sich beschleunigende Umverteilungseffekt des Zinseszinses Wie wir gesehen haben, wird die Geldmenge durch das im Geldumlauf und in den Waren- und Dienstleistungspreisen involvierte Zinseszinssystem automatisch und systematisch an einen immer kleiner werdenden Prozentsatz der Bevölkerung umverteilt. Wenn man nicht sowieso schon zu diesen oberen Zehntausend gehört – eine zusätzliche Altersversorgung also gar nicht benötigt –, werden die vorgeschlagenen zusätzlichen Altersvorsorgeaufwendungen für den einzelnen nicht ausreichen, um diesen Umverteilungstrend wettzumachen. Im Gegenteil: Würde ein großer Teil der Bevölkerung diesen Vorschlägen folgen, könnte dies den Realwert der Altersversicherungen sogar schneller schwächen. Dies liegt daran, daß der abgezweigte Teil des Einkommens, den die Menschen dann für ihre Altersvorsorge sparen, zu einer großen Zahl von Verbindlichkeiten anschwillt, aus denen die Fondsmanager bauschende Finanzinstrumente schaffen, die auf den Finanzmärkten gehandelt werden. An jeder Einzeltransaktion verdient der Händler nur eine minimale Provision, doch wachsen diese Pro· 150 ·


visionen zu immer größeren Summen heran, seit die moderne Elektronik eine Beschleunigung der Handelsfrequenz ermöglicht hat. Die Provision fällt zu Beginn der Transaktion an und wird dann sofort in reale Güter und Dienstleistungen wandelbar, während die Renten und Lebensversicherungen erst nach vielen Jahren ausgezahlt werden. Dies hat zur Folge, daß der jetzige und künftige reale Wert dieser Kapitalanlagen praktisch »ausgesaugt« wird. Was man also in Ihrem Namen zum Schutz Ihrer Geldanlage tut, könnte die automatische Umverteilung am Ende absurderweise noch verstärken und beschleunigen, so daß Sie dann im Alter benachteiligt statt begünstigt sind. Die beiden obengenannten Punkte zeigen eine vorhersehbare, systematische, mathematische Täuschung in dem Versprechen, Rentenversicherungen und Kapitalanlagen würden die Bedürfnisse der Menschen im Alter decken. Es gibt in diesem Zusammenhang jedoch weitere betrübliche Fakten, die wir noch nicht betrachtet haben: 3. Die Fondsmanager und das Rentenversicherungsgewerbe bilden aus den Geldern, die ihnen zur Verfügung stehen, kein reales Vermögen Da die Fondsmanager der Rentenversicherungen nur anhand der von ihnen erwirtschafteten Kapitalerträge gemessen und beurteilt werden, ist sich die Öffentlichkeit im allgemeinen nicht bewußt, daß diese hauptsächlich auf dem Gebiet der Spekulation mit schon bestehenden Kapitalanlagen tätig sind. Verglichen mit der Spekulation sind ihre direkten Investitionen in vermögensbil· 151 ·


dende Projekte, z. B. in der Industrie, minimal. Dadurch setzen sie den langfristigen Wert der Kapitaleinlagen der Beitragszahler aufs Spiel – und geben als Grund dafür lakonisch an, sie wollten das Kapital nicht durch solche Investitionen aufs Spiel setzen! Auch dieser Denkfehler bietet Anlaß zu einer Verurteilung des Rentenversicherungsgewerbes und einen Hinweis auf dessen soziale Verantwortungslosigkeit. 4. Die Folgen der Zunahme von degenerativen Erkrankungen, der technologischen Entwicklung und des Anstiegs der allgemeinen Lebenserwartung Mit jedem Jahr, um das die statistische Lebenserwartung steigt, erhöhen sich der Finanzierungsbedarf der Renten und die Gesundheitskosten, und zwar exponentiell. Vor einigen Jahren ergab eine amerikanische Studie, daß von den Kosten, die im Laufe eines Menschenlebens für medizinische Behandlungen anfallen, 50 % auf die letzten fünf Lebensjahre entfallen, allein 20 % auf das letzte Jahr. Da immer neue lebensverlängernde medizinische Technologien entwickelt werden, dürften diese Prozentsätze zweifellos weiter steigen und die Kostenexplosion im Gesundheitswesen vorantreiben. Aus all dem wird ersichtlich, daß Sie sich unbedingt Sorgen machen sollten (wenn Sie dies nicht ohnehin schon tun), falls Sie immer noch daran glauben, daß Ihnen Renten und Ersparnisse einen sorglosen Lebensabend sichern werden! Alle Anzeichen weisen darauf hin, daß gegebene Versprechen nicht einzulösen sind und die Kaufkraft Ihrer Kapitaleinlagen im Lauf der Zeit eher abnehmen wird, statt ihren · 152 ·


Wert zu behalten oder im Wert zu steigen. Außerdem steigen auch die Kosten für ärztliche Behandlung im Alter und vor allem jene für die Verlängerung des Lebens in seinen letzten Stadien. Doch glücklicherweise ist eine Rettung in Sicht: Ob Sie einen sorglosen Lebensabend haben werden oder nicht, hängt in keiner Weise von Ihrer Rente oder dem Ihnen zur Verfügung stehenden Geld ab; dies war eben die Lüge, die wir hier behandelt haben. Ihr Seelenfrieden hängt vielmehr von den folgenden drei Dingen ab: Ihrer seelischen Verfassung Ihrer Gesundheit Ihren sozialen Beziehungen Sie können sogleich damit beginnen, sich auf diese Dinge zu konzentrieren, und dies morgen und übermorgen tun und damit fortfahren, bis Sie alt sind, bis zu Ihrem letzten Atemzug. Falls Sie etwas Geld übrig haben, investieren Sie es am besten in die Förderung von genau diesen Dingen, und zwar jetzt sofort, statt das Geld in irgendeinem anonymen Fonds, verwaltet von anonymen Fondsmanagern, anzulegen, für die Verheißung einer fernen Zukunft, die nie eintreten wird! Es gibt keinen Grund, sich des Geldes, das man im Alter besitzt, nicht zu erfreuen, doch wird es nie zur Quelle des eigenen Seelenfriedens werden.

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Lüge Nr. 24

Die erste Lüge der Geldreformer

Die

Befürworter einer Reform des Geldsystems weisen jeden Neuling auf dem Gebiet sofort darauf hin, daß es sich bei mindestens 90 % der täglich auf den Devisenmärkten gehandelten Gelder (rund eine Billion Dollar, Quelle: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BIZ, Basel) um Spekulationskapital handelt, das mit dem Austausch realer Güter und Dienstleistungen zwischen realen Personen, der realen Wirtschaft also, nichts zu tun hat. Sie vergleichen dies dann mit einer Krebserkrankung, bei der das Tumorwachstum schnell eine Größe erreicht, die den Wirt tötet. Die Kombination aus dieser Behauptung und dem Vergleich mit Krebs soll den Zuhörer aufschrecken und ihn für ihre Sache gewinnen.

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Die erste Lüge der Geldreformer

Diese Lüge der Geldreformer enthält zwei Irrtümer: eine Lüge über die Wichtigkeit der Sache und eine mathematische Lüge. Vergleichen wir das Reich der Finanzspekulationen zur Verdeutlichung einmal mit einer Spielbank und die reale Wirtschaft mit der Welt vor deren Toren. Die Spielbankbesitzer können ihr eigenes Geld (Finanzinstrumente oder Jetons) in riesigen nominellen Mengen erzeugen. Doch dies ist nur von Bedeutung, wenn es einige Schnittstellen gibt, wo diese Aktivität auf die reale Wirtschaft trifft – die wir weiter unten betrachten werden. Ist dies nicht der Fall, dann verbringen die Spieler den Tag einfach im Casino, in ihrer ganz eigenen Welt. Am Abend kehren sie nach Hause, in die reale Welt, zurück, wo sich durch das, was in der Spielbank geschehen ist, nichts geändert hat. Das Spielen um Geld hatte keinerlei Folgen für die reale Wirtschaft. Um dies mit einem anderen Vergleich zu verdeutlichen: Wenn Sie und ich einander gegenübersitzen und zwölf Stunden lang einen Dollarschein pro Sekunde austauschen, tauschen wir pro Tag knapp 45 000 Dollar aus. Tun wir dies 200 Tage pro Jahr, »erwirtschaften« wir auf diese Weise einen Jahresumsatz von gegen neun Millionen Dollar. Würden wir diese Zahl dann an die Bank für Internationalen · 157 ·


Zahlungsausgleich (BIZ) weitergeben, würde diese in ihrer Statistik vermutlich 18 Millionen Dollar verzeichnen (die mathematische Lüge). Zu keinem Zeitpunkt im Verlauf der ganzen Transaktion besitzen wir beide jedoch genug Geld, um uns eine Tasse Kaffee leisten zu können! Die 18 Millionen Dollar haben keinerlei wirkliche Bedeutung. Es wäre der reine Wahnsinn, aus diesem Geldumsatz zu schließen, die Dollarschein-Transaktion sei in irgendeiner Hinsicht von Bedeutung! Betrachten wir nun die Schnittstellen zur realen Wirtschaft, denn diese Lüge der Geldreformer hat durchaus einen realen Hintergrund, auch wenn dieser nicht so dramatisch ist, wie sie behaupten. Das Bild der imaginären Spielbank veranschaulicht dies am besten.

Schnittstelle 1 – Zinsen Wenn Sie das Casino betreten, müssen Sie, um spielen zu können, Ihre reale Währung in Jetons tauschen; diese werden Ihnen beim Verlassen der Spielbank wieder zurückgetauscht. Wollen Sie ein Spiel mit höherem Einsatz spielen oder haben Sie alle Jetons schon verspielt, möchten aber weitermachen, dann leiht Ihnen die Spielbank gerne weitere Jetons (sie produziert diese in beliebigen Mengen), berechnet dafür jedoch Zinsen in realer Währung. (Gleichzeitig verlangt sie zur Gewährleistung der Rückzahlung des erhaltenen Kredits eine Sicherheit in realen Werten, doch das ist eine andere Geschichte.) In den meisten Rechtssystemen stellt Zins eine privilegierte Forderung dar, das heißt, wenn Sie Konkurs machen, sind die Zinsen etwas vom ersten, was · 158 ·


aus dem Erlös des Verkaufs Ihres Besitzes bezahlt wird. Wenn Sie also Zinsen bezahlen oder dies auch nur für die Zukunft versprechen, können die Spielbankbetreiber damit sofort in der realen Welt vor den Toren des Casinos Güter und Dienstleistungen erwerben. Während Sie im Casino mit dem Glücksspiel beschäftigt sind, läuft Ihr Kredit zudem weiter und erhöht sich dabei kontinuierlich um die Zinsen. Die Spielbank berechnet Ihnen also nicht nur Zinsen auf dem ursprünglich gewährten Kredit, sondern auch auf die angefallenen und weiter anfallenden Zinsen. Der Zinsanteil des Gesamtbetrags wächst dadurch exponentiell.

Schnittstelle 2 – Kommissionen In der Spielbank der Finanzmärkte ist das Glücksspiel nicht kostenlos. Für jede Transaktion wird eine kleine, manchmal nur winzige Provision berechnet. Diese Provision, die sich nach dem Nominalwert des abgeschlossenen Geschäfts richtet, ist eine Provision in realer Währung. Wie im Fall des Zinses handelt es sich auch hier um eine privilegierte Forderung. Das, was die Spielbank an Ihnen – in realer Währung – verdient, richtet sich ganz nach Größe, Volumen und Geschwindigkeit der Transaktionen. Es liegt im Interesse des Casinos, daß der Nominalwert der Transaktion so hoch wie möglich ist und daß in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Transaktionen stattfinden. Das Glücksspiel mit hohen Einsätzen wird dadurch erleichtert, daß die Spielbank unbegrenzt viele Jetons herstellen – und mit Zinsen verleihen – · 159 ·


kann, während der technologische Fortschritt auf dem Gebiet der Elektronik die Zahl der möglichen Transaktionen in Echtzeit im Vergleich zu früher explosionsartig vermehrt hat. Für die Spielbank ist dies ein gutes Geschäft. Das Wachstum dieses ganzen Systems und seiner Eigendynamik wird jedoch von einer weiteren Schnittstelle genährt.

Schnittstelle 3 – Der Reiz des Glücksspiels Diese Schnittstelle hat eine andere Qualität als die ersten beiden. Gewinn beim Glücksspiel ist ein potentiell schnell zu erzielender Profit. Für den gleichen Ertrag müßte man im normalen Erwerbsleben jahrelang sparen und sich abmühen. Der schnelle Gewinn stellt den Reiz und die Attraktion des Glücksspiels dar. Das Glücksspiel lockt jedoch nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Firmen an. Ironischerweise tragen nun die gleichen Maßnahmen, die den Firmen ursprünglich dabei helfen sollten, das Risiko von Marktpreisschwankungen zwischen dem Zeitpunkt der Unterzeichnung des Vertrags und seiner Ausführung zu begrenzen, beträchtlich zur Instabilität der Preise bei! Der Grund dafür ist, daß die Unternehmen, angelockt von der Möglichkeit, durch Spekulation schnell hohe Gewinne zu erzielen – um viele, viele Prozentpunkte höher als die Gewinne aus dem Verkauf ihrer eigentlichen Dienstleistungen oder Produkte –, ihre Konzentration kontinuierlich und systematisch von ihrem ursprünglichen Geschäft weg auf die Finanzmärkte hin verlagert haben. Diese Entwicklung begann in der Finanzabteilung der jeweiligen · 160 ·


Firmen und führte dazu, daß viele der weltgrößten Unternehmen heute aus nicht viel mehr als ihren Finanzabteilungen bestehen und somit praktisch zu Finanzinstituten geworden sind. Dank dieser Rationalisierung haben sie sich von den lästigen Pflichten der realen Wirtschaft weitgehend befreien können, das heißt, sie brauchen sich kaum mehr um Angestellte, Gewerkschaften, Kunden, Lieferanten und Tagesgeschäfte zu kümmern. So erwirtschaften sie – solange das Glück auf ihrer Seite ist – für ihre Aktionäre viel höhere Gewinne in viel kürzerer Zeit. Höhere Rendite ist ihr – etwas wagemutiges – Versprechen und gleichzeitig eine Rechtfertigung für Maßnahmen dieser Art. Mit dieser Umwandlung von Firmen in reine Finanzinstitute wächst die Spielbank der Finanzmärkte, wachsen Zinsen und Provisionen. Ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung, darunter die kultiviertesten, intelligentesten und am besten ausgebildeten und bezahlten Mitglieder der Gesellschaft, konzentrieren sich nun auf die Spielbank, die Spekulation, indem sie entweder selbst spielen oder ihr auf andere Weise dienen. Das Zusammenspiel dieser drei Schnittstellen hat als Wirkung zur Folge, was wir hier schon mehrmals betrachtet haben: einen Mechanismus, der das Geld automatisch an diejenigen umverteilt, die ohnehin schon zu den reicheren Schichten der Bevölkerung zählen. Psychologisch wirkt sich das so aus, daß das alltägliche Leben für immer mehr Menschen zur Spielbank wird. Das surreale Spiel der Finanzspekulation hat den verlockenden Anschein von Realität, und sein Wachstum verläuft auf einer Rückkoppelungsschleife, die von selbst weiteres Wachstum hervorbringt. Der · 161 ·


Dow-Jones-Index ist heute Teil der normalen Nachrichten, wie Sportergebnisse und Wetterbericht. Eine drängende Frage bleibt jedoch: Wie sieht die Welt draußen aus, wenn die Spieler am Abend nach Hause kommen? Wer kümmert sich um die Welt da draußen und wieviel Intelligenz ist dann dabei im Spiel? Gibt es am Ende überhaupt noch irgend etwas Wertvolles, das man sich mit dem durch Spekulationsgeschäfte erzeugten Geld kaufen kann? Die in diesem Abschnitt behandelte Lüge der Geldreformer mag eine große Übertreibung darstellen, doch ist das Bild der Tumorzelle, die mit ihrem rasanten Wachstum über das Schicksal ihres Wirts entscheidet, kein schlechtes Bild, wenn es darum geht, eine Öffentlichkeit wachzurütteln, die noch gar nicht gemerkt hat, auf welchen Weg sie da ganz ohne böse Absicht geraten ist. Der Weg, den ich hier vorschlage, um diesen Fluch zu brechen, besteht nicht nur aus den intelligenten Reformansätzen, wie sie von vielen Geldreformern empfohlen werden, sondern auch darin, das ganze in diesem Buch entlarvte Lügengebäude anzugehen, bilden diese Lügen doch die Grundlage für das System, das wir gegenwärtig haben.

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Lüge Nr. 25

Die zweite Lüge der Geldreformer

Dieser

Lüge zufolge ist Einkommen, das durch eine geregelte Erwerbstätigkeit erwirtschaftet wird, gerechter und moralisch einwandfreier als ein Einkommen, das man z. B. aus Zinszahlungen erzielt.

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Die zweite Lüge der Geldreformer

Ich habe in diesem Buch immer wieder darauf hingewiesen, daß die Struktur des Zinssystems, besonders die systematische Umverteilung des Geldes an die, die schon viel davon besitzen, Folgen für das Wirtschaftssystem als Ganzes hat, was langfristig die Stabilität des ganzen Systems gefährdet. Ich möchte jedoch keinesfalls so weit gehen, zu behaupten, Zinsen seien an sich etwas Unmoralisches oder Ungerechtes, vor allem im Vergleich zu dem aus einer geregelten Berufstätigkeit erzielten Einkommen. Wenn man diese unterschiedlichen Einkommensformen schon auf der Grundlage von Moral und Gerechtigkeit beurteilen will, sollte man sie meiner Meinung nach auf der einen Seite an dem messen, was der Einkommensempfänger zur Welt – im weitesten Sinn – beiträgt, und auf der anderen Seite an seinen Bedürfnissen. Betrachtet man die Verhältnisse aus diesem – natürlich subjektiven – Blickwinkel, wird schnell offensichtlich, daß die Beurteilung, diejenigen mit einer herkömmlichen Erwerbstätigkeit trügen automatisch zum Wohl der Gesellschaft bei, während diejenigen ohne Erwerbstätigkeit »Parasiten« seien, viel zu grob, undifferenziert und oberflächlich wäre. Viele, die eine feste Stelle haben, tun am Arbeitsplatz · 165 ·


nichts, was irgendeinen Wert besäße, wenn sie mit ihrem Job nicht gar Schaden anrichten. Manche, die ohne Anstellung sind, richten wenigstens keinen Schaden an oder tun sogar Gutes mit freiwilligen Tätigkeiten. Tarifverträge und festgelegte Stundenlöhne mögen zwar notwendig und sinnvoll sein, jedoch nie aus Gründen der Moral und Gerechtigkeit. Denn die automatische Anwendung tariflicher Regelungen berücksichtigt nicht die Besonderheit der jeweiligen Person und deren spezifische, sich ständig ändernde Konstellation von Umständen und Bedürfnissen. Der Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl könnte ein Kriterium zur Bewertung der Höhe des Lohns sein. Weitere Kriterien sind: Zeit Leistung Umsatz Effektivität Qualifikationen Engagement Verantwortung Risiko Familiäre Situation / Anzahl der vom Einkommen Abhängigen Aussichten auf eine Erbschaft Persönliche/individuelle Bedürfnisse Individueller Lebensstil und Zukunftsvision Daseinsqualität Ausstrahlung von ansteckender Freude

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Lüge Nr. 26

Wer Geld gibt, dem wird gegeben

Jede Philosophie und jede Religion tritt für die Tugend des Gebens ein, und jede Religion hat ihre eigene Version des »Zehnten«. Geben Sie die ersten 10 % Ihres Einkommens (natürlich idealerweise an Ihre Kirche), dann können Sie mit den restlichen 90 % tun, was immer Sie wollen. Solange Geld zirkuliert, wird ausgetauscht, zum Wohlstand aller. Außerdem wird damit sichergestellt, daß Geld an Sie zurückfließt und Sie sich überdies auf einen Platz im Himmel freuen dürfen. Dies klingt doch alles nur logisch und vernünftig, oder?

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Wer Geld gibt, dem wird gegeben

Es wäre schön, wenn dies funktionieren würde. Leider tut es das nicht, jedenfalls nicht als allgemeingültiges Prinzip. Nicht, wenn es nur einen einzigen Menschen im gesamten System gibt, der nicht mitspielt, denn bei ihm wird das ganze Geld schließlich zusammenfließen! Warum sollte derjenige aber Spielverderber sein wollen? Nach dem, was wir hier bisher gelesen haben, ahnen wir, warum … Wir müssen die Frage des Gebens differenzierter betrachten, um angemessene praktische Ansätze für unsere Lebensumstände zu entwickeln. Echte Großzügigkeit überzeugt und ist anziehend. Dies gilt jedoch genauso für echten Geiz, wenn auch in anderer Form. Geiz könnte man auch definieren als Sparsamkeit, ökonomisches Denken oder verantwortungsbewußtes Haushalten mit knappen Gütern. Großzügigkeit, die nicht echt ist, könnte man dagegen ansehen als Verschwendungssucht, Leichtsinn, Manipulation oder Konfliktvermeidung. Anders als bei echter Wohltätigkeit kann einem solchen Verhalten eine Vielzahl von Motiven zugrunde liegen: z. B. der Wunsch, ein »guter Mensch« zu sein und die richtigen Dinge zu tun, oder der Versuch, Gott zu bestechen, um sich seinen Platz im Himmel zu sichern! Die Ironie des »Zehnten« – und dies sage ich aus eigener · 169 ·


Erfahrung – besteht darin, daß man sich nicht darauf verlassen kann, daß das System auch wirklich funktioniert. Sobald Sie rechnen und kalkulieren und von einem »Sollte« aufs nächste kommen, verlieren Sie die Verbindung zu Ihrem wahren Selbst. Sie handeln aus einem Zustand der Angst heraus und werden – entschuldigen Sie den Ausdruck! – »abstoßend«, das heißt, Sie stoßen das ab, was Ihre Bedürfnisse befriedigen könnte, statt es anzuziehen. Sie können dann leider gar nichts anderes mehr tun, als sich selbst in diesem abstoßenden Zustand zu akzeptieren und zu lieben! Dies ist die einzige Lösung … und betrachten Sie sich nun, wie Sie hin und her schwanken zwischen Großzügigkeit und Geiz, zwischen Attraktivität und Abstoßung. Jetzt sind Sie echt, authentisch, menschlich, machtvoll – und paradoxerweise attraktiv. Wenn Sie Geld weggeben, kommt nicht automatisch wieder welches zurück. Geld geht, wenn es geht, und es kommt, wenn es kommt. Attraktiv ist nicht die Großzügigkeit an sich, sondern das authentische Verhalten, denn es zieht, wie wir schon gesehen haben, das an, was die Bedürfnisse befriedigt, darunter auch – aber nicht nur – die finanziellen. Wir befinden uns hiermit in höheren philosophischen Gefilden, die möglicherweise zu weiteren Gedanken anregen, beispielsweise: Was für Bedürfnisse kann der Mensch noch haben, wenn diese bereits alle gedeckt sind? An diesem Punkt ist das Universum in jedem Moment großzügig, doch wird man sich dessen erst richtig bewußt, wenn man seinem wahren Selbst treu ist, wenn man das tut, was man wirklich möchte. In seiner Großzügigkeit hat das Universum auch seine Jahres· 170 ·


zeiten: im Frühling wird es sich öffnen und erblühen, im Sommer reifen und duften, im Herbst Früchte tragen und sich zurückziehen, im Winter sich schließen und neu keimen. Für uns besteht die Kunst darin, ein ähnliches Feingefühl für die Wahl des richtigen Zeitpunkts und der richtigen Umstände zu entwickeln, damit wir genauso angemessen geben, wie wir etwas zurückbehalten und aufbewahren.

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Lüge Nr. 27

Die Lügen über die Fülle

Dies ist eine mehrfache Lüge, weshalb ich in der Überschrift die Mehrzahl gewählt habe. Heute zog ich den ganzen Tag durch die Straßen von Bari, der Hauptstadt Apuliens, und fragte mich, ob ich es wirklich riskieren solle, diese Lügen zu entlarven und damit jegliche Sympathie, Anerkennung und Berechtigung aufs Spiel zu setzen, die ich bei Ihnen als Leser bisher vielleicht erworben habe. Jetzt ist es dunkel, und ich sitze hier, vor der kalten Brise geschützt, in einer warmen, gemütlichen Ecke der Cafeteria ›La Ceclatere‹ ganz allein mit der jungen Bardame. Sanfte Musik spielt im Hintergrund, vor mir stehen mein Laptop, ein Campari und eine Vase mit roten Rosen … und jetzt bringt sie mir Oliven, Nüsse, Käse und Rauchfleisch – dabei habe ich doch nur einen Drink bestellt! Ja, das ist Fülle – und es ist ein Segen.

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Die Lügen über die Fülle

Dennoch gibt es hier auch Wahrheiten zu berichten. Keine Bücher, Kurse, Investitions- oder »Network Marketing«-Pläne verkaufen sich so gut – und machen gleichzeitig so vielen Menschen etwas vor – wie die, die etwas in Hülle und Fülle versprechen, vor allem Geld im Überfluß. Derartige Anleitungen zum Reichwerden umfassen heute ein ganzes Spektrum strategischer Instrumente, von klugen Geldanlage- und Steuersparmodellen über Verkaufstechniken, mentale Beeinflussung mit Meditations- und Visualisierungstechniken bis hin zu esoterischen Gruppenseminaren. Verhilft Ihnen dies nun zu mehr Geld? Möglicherweise, doch nur, wenn Sie 1. sich ausreichend darauf konzentrieren, Geld zu scheffeln, und alles andere, so, wie in Lüge Nr. 1 erwähnt, aus Ihrem Bewußtsein verbannen, 2. das Glück haben, frühzeitig genug und hoch genug in der Pyramidenstruktur derartiger Modelle vertreten zu sein.1 Eine kleine Anekdote, die ich als junger Mann hörte, veranschaulicht das Prinzip, auf dem solche Modelle unweigerlich beruhen. In einer Zeitung erscheint eine einzeilige Annonce: »Wie man wirklich reich wird. Schicken Sie einen Dollar mit frankiertem Rückumschlag an …« Wer 1

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Man entlarvt die Lügen der in diesen Modellen gegebenen Versprechen am besten mit Hilfe einfacher Mathematik. Wer mit solchen Modellen wirbt, schildert in der Regel anschaulich, wieviel Geld man bekommen wird, wenn man unter sich Menschen zu einer Pyramide anordnet, motiviert und bei der Stange hält, die dann wiederum Menschenpyramiden unter sich aufbauen, motivieren und bei Laune halten … usw., usf. Würden diese Versprechen wirklich eingelöst werden, dann könnte man sich an fünf Fingern abzählen, daß die gesamte Bevölkerung des Landes, wenn nicht gar die gesamte Weltbevölkerung, bald nichts anderes mehr tun würde, als andere Menschen für ihre Pyramide zu gewinnen! Wie bei Kettenbriefen machen auch hier einige wenige das große Geld, während die Mehrheit ihr Geld an diese wenigen umverteilt! Bringen solche Anleitungen also die Fülle? Ein kategorisches Nein ist die Antwort, es sei denn, sie würden auch die andere Seite der Fülle aufzeigen. Die Fülle enthält nicht nur den »reichen Segen«, sondern ebenso alles, was es an Schrecklichem gibt. Sie würden die eingangs erwähnten Bücher aber wohl nicht kaufen bzw. die Kurse nicht buchen, wenn man Ihnen dort diese furchtbare Wahrheit vor Augen führen würde! Da dieses Buch nun dabei ist, genau diese Wahrheit zu enthüllen, möchte ich ein wenig ausholen: antwortet, erhält dann folgende kleine Nachricht: »Tun Sie dasselbe wie ich!« Die Initiatoren dieses Geldvermehrungsmodells werden tatsächlich reich … weil die, die es ihnen gleichtun wollen, sie reich machen. Wer einen solchen Kurs bucht, der wird auch alle Fortsetzungskurse buchen, denn nach einem erfolglosen Grundkurs läßt man sein Ziel nicht gleich wieder fallen.

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Fülle, Überfluß ist unser natürlicher Seinszustand, unser Geburtsrecht. Wir leben in einem Zustand des Überflusses, wo alles, was wir brauchen, schon vorhanden ist. Sobald wir jedoch bereit sind, uns dies einzugestehen, müssen wir auch zugeben, daß unangenehme und häßliche Dinge genauso im Überfluß vorhanden sind wie angenehme und schöne. Dieses allumfassende, bedingungslose Akzeptieren von allem, was ist, des Ganzen also, nicht nur der Teile davon, die wir mögen, ist der Weg zu einem paradiesischen Zustand. Es sieht jedoch so aus, als ob wir, unter dem Eindruck eines individuellen und kollektiven Bewußtseins und gleichzeitig als Ausdruck davon, noch ein ganzes Stück zu gehen hätten, bis wir dort angelangt sind. Ich schlage vor, den Weg mit dem Eingeständnis zu beginnen, daß es leichter und bequemer ist, in einem »falschen« Bewußtsein von Mangel und Knappheit zu leben. Diese Selbsttäuschung bezüglich Mangel und Entbehrung ist zu diesem Zeitpunkt möglicherweise notwendig, denn das Eingeständnis der Fülle könnte so überwältigend wirken, so wunderbar und schrecklich zugleich, daß wir es gar nicht ertragen könnten, es würde uns umbringen. Im Zustand der Entbehrung vermeiden wir die Extreme des Unangenehmen – und opfern die Extreme des Angenehmen –, haben dafür aber alles unter Kontrolle. Die Hoffnung auf Besserung läßt uns überleben, und das bis zu einem gewissen Grad für sehr lange Zeit. Dies ist der Zustand, in dem die meisten von uns ihr tägliches Leben fristen und auf dem alle anerkannten Wirtschaftstheorien beruhen – ebenso wie alle unsere politischen, juristischen, pädagogischen und sonstigen sozialen Einrichtungen. Die im letzten Absatz beschriebene Erkenntnis ist eigent· 177 ·


lich alles, was wir wissen müssen, um den Weg zur Einlösung unseres Geburtsrechtes auf Hülle und Fülle beschreiten zu können, auch wenn dies ein langer Weg sein mag. Von diesem Buch erhoffe ich mir, daß es Ihnen eine praktische Anleitung dafür liefert, wie Sie auf diesem Weg vorankommen können, auf der Grundlage der Erkenntnis, daß die Beziehung zum Geld eine entscheidende, bisher aber kaum anerkannte Rolle spielt. Und jetzt … … sitze ich noch immer in dem prachtvollen Sessel in der Caffetteria in Bari, die Bardame ist auch noch da, die Musik spielt nicht mehr ganz so süß wie zuvor, Käse, Nüsse und Rauchfleisch habe ich verzehrt, einige Oliven sind noch übrig. Mein Glas ist leer, und die O-Taste meines Laptops schlägt aus irgendeinem Grund nicht an. Mir fallen immer mehr Lügen ein, die ich in dieses Buch gerne aufnehmen würde, doch hatte ich eigentlich vorgehabt, nicht mehr als dreißig Lügen zu entlarven – ja, Überfluß kann schrecklich sein! *** Auf der Rückkehr nach Polignano im Zug: Eine riesige blaue Leuchtreklame wirbt für »Mobilmoney«. Direkt daneben blinkt in hellem Grün »Baby Park.« Das geht über meinen Verstand, was mir diese Produkte alles versprechen wollen! Was soll nur aus unserer Welt werden?

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Lüge Nr. 28

Geld ist das Problem, Geld ist die Lösung

Zwar

ist Geld eine der genialsten Erfindungen der Menschheitsgeschichte, doch habe ich in diesem Buch immer wieder auf die Probleme hingewiesen, die die Struktur unseres heutigen Finanzsystems aufwirft – v. a. das Zinssystem und die Art und Weise, wie Geld geschaffen wird – und die den ursprünglichen guten Zweck dieser Einrichtung völlig auf den Kopf gestellt haben. Es ist interessant, daß der eigentliche Zweck vieler politischer und öffentlicher Einrichtungen, die ursprünglich zum Wohle der Bürger geschaffen wurden, ein ganz ähnliches Schicksal erlitten hat wie das Geld. Diese Institutionen dienen nun nicht mehr dem Allgemeinwohl, sondern den speziellen Interessen einiger weniger Gruppen, wie z. B.: Die Anwaltschaft, die ursprünglich dabei helfen sollte, Konflikte schnell und gerecht zu lösen, arbeitet heutzutage vor allem im eigenen Interesse. Es kommt den Anwälten also gelegen, wenn die Konflikte, mit denen sie zu tun haben, so langwierig und kompliziert werden wie möglich. Das Versicherungsgewerbe, dem ursprünglich der Gedanke zugrunde lag, daß die Mitglieder der Gemeinschaft (die Versicherungsnehmer) ein Unglück, das einem einzelnen Mitglied zustößt, gemeinsam tragen sollten, ist zu einer Industrie geworden. Ständig versucht sie, neue Versiche· 179 ·


rungsmodelle aggressiv an den Mann zu bringen, die auf Ängsten gründen, indem sie sich immer neue Gefahren ausdenkt, gegen die man unbedingt versichert sein sollte. Das Bildungswesen, das den Lernenden umfassende Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln sollte, um sie auf das praktische Leben vorzubereiten, ist zu einer Art Fabrik geworden. Sie produziert weitgehend sinnlose Forschungspapiere und Qualifikationen, ohne die junge Menschen, die ansonsten intelligent und begabt sind, in ihren Zukunftschancen benachteiligt sind. Die Kirchen, die die Menschen eigentlich zur Liebe zu Gott und zum Nächsten anregen sollten, sind heute vor allem mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt. Den Überlebenskampf führen sie – wie das Versicherungsgewerbe –, indem sie Furcht verbreiten: die Furcht vor Gott. Die Wissenschaften, denen eigentlich die Verantwortung zufällt, das Wissen der Menschheit über allgemeine Lebensprinzipien voranzutreiben, konzentrieren sich heute weniger auf das reine Wissen als darauf, die eigene Fähigkeit zur Produktion wissenschaftlicher Papiere und zur Sicherung von Forschungsgeldern zu trainieren – unter der Fuchtel der Großindustrie. Für die Künstler wiederum geht es heute vor allem um Modeströmungen, Galerien und Marketing, und nicht mehr darum, Kunstliebhabern wie Künstlern Bereiche zu eröffnen, wo sie sich selbst erkennen und Einsichten in ihre eigene Fülle, Ganzheit gewinnen können. Die Landwirtschaft, die Liebe zur Erde und das Hegen ihrer Früchte, befaßt sich heute größtenteils mit der Verwaltung der Erzeugnisse der chemischen Industrie und dem Vermarkten der Produkte im Rahmen eines Gewirrs aus in· 180 ·


ternationalen Vereinbarungen, Agrarsubventionen und industrieller Manipulation. Es liegt nahe, aus all dem wie auch aus den Schwierigkeiten, die das Geldsystem selbst aufwirft, den Schluß zu ziehen, Geld selbst sei die Ursache für so viele Probleme und der Welt gehe es besser ohne. Gleichzeitig scheint es jedoch unmöglich zu sein, ohne Geld zu leben. Zudem werden auftauchende Probleme – seien diese nun sozialer, wirtschaftlicher oder ökologischer Natur – immer gleich in finanziellen Zahlen ausgedrückt. Krankheit, Krieg, Sturmfluten, Arbeitslosigkeit und Feuersbrünste: Über solche Ereignisse wird nie berichtet, ohne daß man sofort den dadurch angerichteten finanziellen Schaden abschätzt. Geld scheint darum nicht nur Ursache aller Probleme zu sein, sondern auch deren Lösung: Jedes Problem läßt sich lösen, wenn man dafür nur genügend Geld zur Hand hat.

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Geld ist das Problem, Geld ist die Lösung

Geld an sich ist nie das Problem – und es ist auch nie die Lösung. Nachdem jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertelang versucht wurde, Probleme zu lösen, in dem man sie mit Geld »erschlägt«, sollten wir heute eigentlich schlauer sein. Man muß in eine andere Richtung schauen, wenn man nach der Ursache oder der Lösung eines Problems sucht: Es ist immer eine Beziehung, um die es geht und die hinter allen Problemen steht, entweder eine Beziehung zwischen verschiedenen Personen oder die Beziehung, die man zu sich selbst, zur Natur oder zu irgend etwas anderem hat. Geld kann jedoch zum Teil im Zusammenhang mit dem Beziehungsproblem auftauchen. Es läßt sich dann intelligenterweise in zwei hochinteressanten Formen als Teil der Problemlösung verwenden: zuerst in Form einer Zahlung, einer Geldbewegung, die dabei hilft, die Beziehung wiederherzustellen; zweitens aber – und das ist für die meisten eine ganz neue Erkenntnis – als Mittel zur eindeutigen Diagnose, wo genau das Beziehungsproblem angesiedelt und wie es bestmöglich zu lösen ist. Diese zweite, diagnostische Anwendung ist bei Geld sehr unüblich. Wenn Sie dieses Buch Abschnitt für Abschnitt geduldig durchgelesen haben, nähern Sie sich nun, vielleicht unmerklich, dem »Goldschatz«, der zentralen Enthüllung dieses Buchs! · 183 ·



Lüge Nr. 29

Geld ist nicht wichtig … aber es vereinfacht das Leben

Ich werde Sie noch eine kleine Weile auf die Folter spannen, weil ich erst einen weiteren Punkt anschneiden möchte. Angesichts der Komplexität und der Komplikationen, die das Leben mit Geld oft mit sich bringt, ist die Verlokkung groß, zu tieferen Weisheiten Zuflucht zu nehmen und zu sagen: »Geld ist nicht wichtig, es ist nicht alles im Leben, es ist zweitrangig.« Hat dieses Buch nicht auch immer wieder in diese Richtung gewiesen? Gleichzeitig scheint es aber auch vernünftig zu sein, Geld nicht pauschal zu verdammen, denn schließlich schätzen wir die Bequemlichkeiten, die es mit sich bringt, und könnten uns ein Leben ohne Geld gar nicht vorstellen. In dieser Hinsicht ist Geld also wichtig. Dies klingt alles vernünftig, doch es enthält offensichtlich einen unauflösbaren Widerspruch: Geld scheint sowohl wichtig wie auch unwichtig zu sein! Welchen Schluß ziehen wir daraus für unseren Alltag, ohne zur gespaltenen Persönlichkeit zu werden? Ist Geld nun wichtig oder nicht?

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Geld ist nicht wichtig … aber es vereinfacht das Leben

Die

Lösung dieses Rätsels besteht zuallererst darin, zu erkennen, daß es sich bei dem Glauben, Geld mache das Leben einfacher, um einen Irrtum handelt. Wie bei Freiheit, Unabhängigkeit, Sicherheit, Glück und all den anderen Werten, die wir betrachtet haben, können Sie, wenn Sie das Muster durchschaut haben, sicher sein, daß Geld auch nicht die Quelle eines »angenehmen Lebens« ist. Sie werden außerdem erkennen, daß diese irrige Auffassung zu nichts anderem führt als zu Unannehmlichkeiten! Somit ist Geld da, wo es um die »Vereinfachung« des Lebens geht, nicht »wichtig«. Gleichzeitig ist Geld aber doch von Bedeutung, und zwar von ganz zentraler – jedoch nicht da, wo man das normalerweise vermutet. Geld ist von immenser Bedeutung, um unseren individuellen wie kollektiven Weg nach vorne einwandfrei zu erkennen. Diese Erkenntnis wird möglich, wenn wir verstehen, wie es geschehen konnte, daß unsere Zivilisation der 30. Lüge anheimgefallen ist und welche Folgen dieser Selbstbetrug hat. Die 30. Lüge liegt allen anderen in diesem Buch behandelten Lügen zugrunde, und ihre Entlarvung und Berichtigung soll nun folgen. Die Alchemisten früherer Zeiten hatten sich bemüht, eines der Elemente, Blei nämlich, auf magische Weise in Gold zu verwandeln. · 187 ·


Goethes Version der Faustlegende zeigt eine erstaunliche prophetische Vorschau 1 auf die heutige Menschheit, die immer noch im Bann früheren Alchemisten lebt, welche glaubten, mit der Erfindung papierner Banknoten sei die Verwandlung endlich gelungen. Goethes Faust ist somit eine Warnung vor den möglicherweise tragischen Konsequenzen dieses Selbstbetrugs. Was nun als 30. Lüge folgt, ist die Enthüllung dieses Selbstbetrugs. In diesem Sinne ist diese Enthüllung weder Alchemie noch Magie – sondern reines Gold!

1 Vgl. Binswanger, Hans Christoph: Geld und Magie. Weitbrecht, Stuttgart 1985.

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Lüge Nr. 30

Geld ist … was immer Sie denken

Am Anfang dieses Buchs haben Sie eine Liste von Dingen erstellt, was Geld für Sie bedeutet …

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Geld ist … was immer Sie denken

In Wahrheit ist Geld gerade nicht, was Sie denken! Geld funktioniert nach der folgenden Logik: Geld wird zu dem, wofür man es hält, weil man ihm von vornherein bestimmte Eigenschaften zuschreibt und dann Erfahrungen macht, die diese Vorannahmen bestätigen. Ihre bewußten oder unbewußten Gedanken führen zu Erfahrungen, die Ihnen die Richtigkeit der ursprünglichen Gedanken bestätigen, was dann wiederum die Gültigkeit der Erfahrungen bestätigt usw. – ein nie endender Kreislauf. Von Natur aus ist Geld jedoch nie mit der Sache oder der Eigenschaft identisch, mit der man es gleichsetzt. Hierin genau liegt die enthüllte Lüge, die Illusion, Täuschung. Geld ist wie eine leere Leinwand aus Metall (Münzen), Papier (Geldscheine) oder in elektronischer Form (Konto), eine Projektionsfläche für die eigenen Gedanken und beliebige Eigenschaften und Dinge. Betrachten Sie also Ihre Liste der Dinge, die Geld für Sie bedeutet (siehe Einleitung). Geld selbst ist keines dieser Dinge. Geld besitzt zwar die außergewöhnliche Fähigkeit (wir alle haben es dazu gemacht), sowohl materielle als auch immaterielle Eigenschaften anzunehmen. Dennoch ist Geld selbst immer noch nicht identisch mit jenen Dingen. Wenn Ihnen dies nun ein wenig unrealistisch, kompli· 191 ·


ziert, unwichtig oder abstrakt vorkommt, dann haben Sie bitte noch etwas Geduld, denn der hier beschriebene Projektionsprozeß hat ganz entscheidende Folgen. Wenn Sie dem Geld gezielt eine bestimmte Eigenschaft zuschreiben – z. B. »Tauschmittel« –, dann übernimmt das Geld diese Funktion für Sie, als Ihr Diener. In Wirklichkeit jedoch sind Sie selbst dieses Tauschmittel und bleiben es auch – ob mit oder ohne Geld. Und natürlich sind Sie ebenfalls die Quelle dieser Projektion (»Tauschmittel«). Wenn Sie an dieser Projektion festhalten und sich die daraus resultierenden Erfahrungen so tief in Ihrem Bewußtsein verankern, daß Sie vergessen, daß Sie die Quelle der Projektion sind, dann geschieht etwas anderes: Sie werden dem Geld diese Eigenschaft automatisch und unbewußt zuschreiben. In dieser Bewußtseinstrübung scheint es eine grundlegende, existentielle Wahrheit zu sein, durch Ihre Erfahrungen bestätigt, daß Geld tatsächlich ein Tauschmittel ist. Es erfüllt zwar die gleiche Funktion wie zuvor, eben als Tauschmittel zu dienen, doch gibt es nun einen grundsätzlichen Unterschied: Sie haben jetzt keine Beziehung mehr zum Geld in dem Sinn, daß Sie selbst die Quelle der darauf projizierten Eigenschaft sind – Geld scheint nun ein Eigenleben zu haben und beginnt, Ihr Leben zu bestimmen und zu kontrollieren! Praktisch zeigt sich dies so, daß Sie nun Geld benötigen, denn es ist Ihr Tauschmittel. Sie müssen es jetzt verdienen, darum konkurrieren, dafür vielleicht sogar kämpfen, denn Sie fühlen sich in Ihrer Existenz bedroht, wenn Sie keines haben. In diesem Zustand der Bewußtseinstrübung haben Sie vergessen, daß Sie selbst das Tauschmittel sind, vergessen, daß es keine Tragödie ist, wenn Sie kein Geld haben, · 192 ·


das diese Rolle (Tauschzweck) für Sie übernehmen kann, vergessen, daß Ihr Dasein vom Geld gar nicht abhängt. Das Paradoxe ist, daß Sie dann, wenn Sie dem Geld hinterherlaufen, genau die Eigenschaft verlieren, derentwegen Sie ihm überhaupt erst nachjagen. Bei dieser Jagd nach dem Tauschmittel Geld hören Sie nämlich auf zu tauschen. Wenn Sie nach Geld streben, weil es Freiheit symbolisiert, dann verlieren Sie Ihre Freiheit. Wenn Sie Sicherheit darin suchen, verlieren Sie Ihre Sicherheit. Geht es Ihnen um Macht, verlieren Sie Ihre Macht … usw., usf. Die Jagd nach dem Geld ist tatsächlich nichts anderes als Ausdruck einer beeinträchtigten, entfremdeten Beziehung zu genau der entsprechenden Eigenschaft im Kern Ihres Wesens. Verstehen Sie nun, worauf ich hinaus will? Vielleicht müssen Sie die letzten Absätze mehrmals lesen. Was ich beschrieben habe, ist eigentlich sehr simpel, läuft jedoch den Erfahrungen vieler Menschen so sehr zuwider, daß sie erst einmal vor der Erkenntnis stehen wie der berühmte Ochse am Berg. Sollte es Ihnen nun so ergehen, dann hilft es vielleicht, an Vorstellungen, Erinnerungen und Ereignisse in der Kindheit im Zusammenhang mit Geld zurückzudenken und an die Schlüsse, die Sie damals daraus gezogen haben. Sie werden erkennen, daß das Geld gar nicht wirklich ist, wofür Sie es hielten. Geld ist einfach eine leere Leinwand, und Ihre Schlüsse und Gedanken sind reine Projektionen. Vor dem Weiterlesen empfehle ich eine kleine Pause. *** Fahren wir nun fort, denn das, was wir hier erkennen, ist von Bedeutung, nicht nur für unsere kleine Einzelpersön· 193 ·


lichkeit. Die gleichen Mechanismen der Projektion und der Bewußtseinstrübung sind auch auf kollektiver Ebene wirksam, in Gruppen, Vereinen, Firmen, öffentlichen Gremien, in der Gesellschaft, im ganzen Land, auf der ganzen Welt. Wo die Projektion unbewußt abläuft, machen wir alle die gemeinsame Erfahrung, Geld sei das-und-das. Wie schon zuvor ist aber auch diese Erfahrung Ausdruck von Entfremdung, sie beruht auf kollektiver Selbsttäuschung. Dies führt zwangsläufig zu fragwürdigen kollektiven Entscheidungen und entsprechenden Folgen. Vielleicht brauchen Sie jetzt wieder eine Pause, um einen Moment darüber nachzudenken, wie und in welchem Ausmaß dieser Mechanismus in so vielfältiger Weise auf betrieblicher, gesellschaftlicher und globaler Ebene wirksam ist. *** Hat man diesen Mechanismus der Projektion erst einmal erkannt, dann gibt es zum Glück ein erstaunlich einfaches und präzises »Gegengift«. Es besteht darin, sich die Eigenschaft, die man zuvor unbewußt projiziert hat, wieder anzueignen, um wieder zur Quelle zu werden … die Rolle, die man dem Geld unbewußt zuerkannt hat, also wieder selbst zu übernehmen. Probieren wir dies nun aus, ganz praktisch – jenseits aller theoretischen und abstrakten Beschreibungen. Betrachten Sie jetzt noch einmal Ihre Liste. Vielleicht stechen Ihnen einige Punkte der Liste mehr ins Auge als andere. Vielleicht sind Ihnen beim Lesen dieses Buchs auch noch weitere wichtige Punkte eingefallen. Der Prozeß der Wiederaneignung verläuft nun folgendermaßen: Wo immer Sie auf eine Aussage stoßen, die beschreibt, was · 194 ·


Geld für Sie bedeutet oder sich allgemein auf das Wort »Geld« bezieht, ersetzen Sie das Wort »Geld« einfach durch »ich«. Aus »Geld ist Freiheit« oder »Geld macht frei« wird nun »ich bin Freiheit« oder »ich bin frei«. »Geld ist Macht« wird zu »ich bin/habe Macht«, doch »Geld ist die Wurzel allen Übels« wird ebenso zu »ich bin die Wurzel allen Übels«. Werten Sie sich oder diese Aussage im Verlauf des Vorgangs nicht als negativ, und versuchen Sie auch nicht, eine rationale Bedeutung darin zu erkennen. Lassen Sie den Satz einfach zu, wie er kommt, und bleiben Sie bei der Aussage, lassen Sie den Satz »in Sie hinein- und durch Sie hindurchfließen«. Er drückt eine existentielle Wahrheit aus, denn wir tragen alles in uns, wir sind die Quelle von allem. Selbst wenn wir gute Gründe dafür haben mögen, einen Teil von uns selbst zu verleugnen und ihn woanders, außerhalb von uns, zu lokalisieren, so ist es trotzdem wahr, daß dieser Teil zu uns gehört und uns etwas fehlt, wenn wir ihn von uns abspalten. Wir verlieren die entsprechende Kraft, für die dieser Teil in uns steht. Der unbewußte und zum Scheitern verurteilte Versuch, diese Kraft zurückzugewinnen, besteht darin, dem Geld nachzujagen, denn Geld ist genau die Fläche für diese Projektion! 1 Dieser Versuch ist deshalb zum Scheitern verurteilt, weil wir einer Illusion hinterherjagen, dem Ersatz, dem Symbol, dem Schatten statt dem, worum es in Wirklichkeit geht. Es gibt natürlich noch weitere »Zielscheiben« für unsere Projektionen, vor allem andere Menschen! Es spricht jedoch vieles dafür, daß Geld sich von Natur aus besser als alles andere als Zielscheibe für die verborgensten abgespaltenen Anteile und Eigenschaften eignet. Zum einen dient Geld von sich aus schon als neutrale Projektionsfläche, es reagiert nicht (wie Menschen es tun), wenn man ihm eine Eigenschaft zuschreibt. 1

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Der Weg zur Rückgewinnung dieser Kraft besteht wie bereits erwähnt darin, den Ort wiederzufinden, wo die Eigenschaft, die man unbewußt von sich abgespalten hat, immer war, jedoch hinter dem »Schleier« der Bewußtseinstrübung verborgen. Das Verfahren »ich bin …« ist der enthüllende Prozeß, das Wiederfinden des »Goldes«. Sie brauchen dafür etwas Vertrauen und Zuversicht. Ist der Schleier dünn, werden Sie sofort Bewegung spüren. Vielleicht fühlen Sie sich, als kehrten Sie nach Hause zurück, nehmen Wärme, Entspannung und einen ausgeprägte Sinn für Humor und Heiterkeit wahr. Dies kann alles unglaublich witzig sein! Möglicherweise zeigt sich aber auch eine zweite Schicht, die aus Scham besteht, aus dem Gefühl, plötzlich ertappt worden zu sein. Schließlich hatten Sie diesen nun enthüllten Teil von sich in der Projektion versteckt, und das vielleicht für sehr lange Zeit. Dieses Schamgefühl bildet jedoch nur eine dünne, oberflächliche Schicht – akzeptieren Sie einfach, daß Sie jetzt Scham empfinden. Sie werden erleben, wie diese sich von selbst in Nichts auflöst und der Humor schnell zum Vorschein kommt. Vielleicht stoßen Sie aber noch auf weitere Schichten, von kalter Gleichgültigkeit gegenüber der Aussage »ich bin …« bis zu erbittertem Widerstand, der darauf beharrt: »Nein, ich nicht!!« Vielleicht erleben Sie diesen Widerstand, weil Sie sich für einen ehrlichen Menschen halten und der Satz Ihnen wie eine Lüge vorkommt. Hierin besteht der kosZum anderen hat Geld im Gegensatz zu anderen materiellen Gütern des täglichen Lebens, die sich ebenfalls zur Projektion eignen, die einzigartige Eigenheit, sowohl aus Materie (Metall, Papier) als auch virtuell (Konti) zu bestehen, wodurch es als Projektionsfläche für materielle wie immaterielle Eigenschaften geradezu ideal ist.

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mische Witz dieses Buchs: Was Sie als Lüge betrachten, stellt auf einer tieferen Ebene die Wahrheit dar! Haben Sie einfach etwas Geduld mit sich. Wiederholen Sie den Satz, den Sie für eine Lüge halten, mehrmals, oder versuchen Sie eine Feinabstimmung der Aussage, indem Sie sie ein wenig abwandeln oder sogar übertreiben. Wenn die Lüge, Geld sei dies-und-dies, sich in Luft auflöst und Sie sich selbst ungeschminkt ins Auge sehen, vollzieht sich die Wiederaneignung Ihres Humors vielleicht ganz plötzlich, wie ein Platzregen, der jede falsche Selbstgerechtigkeit fortspült. Sie können sicher sein, daß diese Rückgewinnung geglückt ist, wenn Sie ganz entspannt und voller Humor sagen können: »Ob mit oder ohne Geld, ich bin …« – und dabei die ganze Kraft der Wahrheit spüren. Beginnen Sie damit, doch erzwingen Sie nichts. Setzen Sie Ihre Intuition ein. Der Prozeß folgt seiner eigenen Dynamik, Geschwindigkeit und Reihenfolge, und manchmal vollzieht sich die Wiederaneignung ganz plötzlich, manchmal müssen auch erst andere Dinge geschehen.

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Nachwort

Nun haben wir die 30 Lügen gemeinsam abgeschlossen, und ich möchte Ihnen für Ihr Vertrauen und Ihre Aufmerksamkeit danken. Sie werden bemerkt haben, daß die 30. Lüge eine Art »Tor« ist, auf das die anderen 29 Lügen Sie vorbereitet haben. Wenn immer mehr Menschen nun durch dieses Tor hindurchgehen, stellt dies nicht nur einen Fortschritt in ihrer individuellen Beziehung zu Geld dar, sondern ist auch kollektiv von entscheidender Bedeutung für die Gesellschaft als Ganzes. Viele Menschen sehnen sich inzwischen nach intelligenteren Finanzsystemen, die auf ganzheitlichen, ökologischen und wahrhaft demokratischen Grundsätzen beruhen. Verwirklichen lassen sich solche Systeme – deren Konzepte zum guten Teil schon vorliegen – aber erst dann, wenn diese kollektiven und gesellschaftlichen Prozesse weit genug vorangeschritten sind. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise und eine glückliche Ankunft. Zürich, Juli 2004

Peter Koenig

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Eine Zugabe über den »kleinen Unterschied« – Lüge Nr. 31

Männer gehen besser mit Geld um als Frauen Männer und Frauen sind sich meist darin einig, daß Frauen nicht wirklich mit Geld umgehen können. Sobald das Gespräch auf finanzielle Themen kommt, benutzen Männer plötzlich Worte, Fachbegriffe und Spezialausdrücke, die Frauen nicht verstehen – und für die sie sich auch nicht besonders interessieren. Frauen ziehen sich dann zurück, eingeschüchtert von ihrem männlichen Partner wie auch – und vor allem – vom männlichen Anlageberater in der Bank, überzeugt davon, die Welt des Geldes sei nicht für sie gemacht. Und dennoch: Der langjährige Aufsichtsratsvorsitzende eines der größten Schweizer Pharmakonzerne, der später eine ähnliche Position in einer der großen Schweizer Banken übernahm, überläßt laut einem Rundfunkbericht die Verwaltung seiner monatlichen Einnahmen wie des ganzen Familienhaushalts seiner Frau!

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Männer gehen besser mit Geld um als Frauen Die

nackte Wahrheit ist, daß Männer einander in Gesprächen über Finanzen ebensowenig verstehen, wie Frauen sie verstehen! Jeder Teilnehmer der Debatte verwendet die Fachausdrücke in einem anderen Sinn, so daß der Austausch ohne vorherige Klärung der jeweiligen Definition schnell zu einer langweiligen Abfolge von Monologen verkommt, bei der jeder vorgibt, dem anderen zuzuhören und ihn zu verstehen, in Wirklichkeit jedoch vor allem damit beschäftigt ist, seinen eigenen »Auftritt« in der Debatte vorzubereiten. Das Vortäuschen gegenseitigen Verstehens ist dennoch wichtig – es bestätigt das männliche Selbstbild und die männliche Überlegenheit in finanziellen Fragen. Frauen hingegen sind in einem wahreren Sinn des Wortes »Wirtschaftsexperten«, wenn man nämlich das lateinische Wort »Ökonomie« in seiner ursprünglichen Bedeutung nimmt: »Verwaltung des Haushalts«. Es ist in der Regel die Frau, die mit viel Erfahrung, Sachkenntnis und Kompetenz das Haushaltsgeld verwaltet – das Geld also, das in den Haushalt hineinkommt, durch ihn hindurch- und wieder aus ihm herausfließt. Sie konzentriert sich dabei vordergründig meist auf das, was unmittelbar von Bedeutung ist, doch diese scheinbare Kurzfristigkeit täuscht, denn ihre Entscheidungen betreffen häufig langfristige Investitionen, · 202 ·


wie z. B. die Verwendung des Haushaltsgelds für die Ausbildung der Kinder. Die Gesamtperspektive ist hier in Wirklichkeit eine langfristige, denn es geht um das Wohlergehen der Familie auf lange Sicht – und Bilanz zieht frau erst am Ende des Lebens. Erst dann kann sie zurückblicken und beurteilen, was sie geleistet hat. Die Sichtweise des Mannes andererseits ist in der Regel nicht ökonomisch-wirtschaftlich, sondern finanziell-spekulativ. Sie beruht auf der theoretischen Grundannahme, der Lebensunterhalt der Familie sei am besten durch Maximierung und Optimierung der finanziellen Erträge gesichert. Der Mann konzentriert sich also auf Spekulation und Spieltheorie. Der Dreisteste gewinnt oder sollte jedenfalls gewinnen. In bezug auf Ehefrau und Familie befaßt sich der Mann vor allem mit langfristigen Geldanlagen, Bausparverträgen, Wertpapieren u. ä., doch ist die Langfristigkeit hier ebenfalls eine Illusion, denn er überprüft diese Investitionen ständig auf ihre Rendite hin und leitet das Familiengeld entsprechend um. Seine Gesamtperspektive ist darum eine kurzfristige. Tag für Tag verfolgt er die Entwicklung der Finanzmärkte und überprüft die Bilanz jedes Vierteljahr. Dieses »Glücksspiel« ist zwar faszinierend, hat jedoch nur wenig zu tun mit realem Wirtschaften, nämlich mit der Sicherung des eigenen Wohlergehens und des Wohls von Familie, Gemeinschaft, Nation oder der Welt als Ganzem. Die Welt des Glücksspiels ist abstrakt – der Stoff, aus dem sich Illusionen nähren. Ich will hier gar nicht leugnen, daß eine intelligente Risikoeinschätzung – die Domäne des Mannes – nützlich und sinnvoll sein kann, um den Fluß von Geld und Ressourcen in die rechten Bahnen zu lenken. Wenn es jedoch darum · 203 ·


geht, die jeweiligen Fähigkeiten und Einstellungen für das nachhaltige Wohlergehen der Familie einzusetzen, dann ist die Art und Weise, wie Frauen durch ihren Bezug zu realen Gütern und praktischen Belangen mit Geld umgehen, unbestreitbar die bessere! Dennoch ein letzter wichtiger Punkt: Die in diesem Abschnitt behandelte Lüge fußt auf einer Art »Vereinbarung« zwischen Männern und Frauen, bei der beide das gleiche denken, nämlich: Frauen verstehen weniger von Geld als Männer. Männer und Frauen müssen also gemeinsam daran arbeiten, mit dieser Vereinbarung zu brechen und das ganze zugrundeliegende Lügengespinst zu entwirren. Gelingt ihnen dies, so wird sich dieser ganze Mythos nach und nach in Luft auflösen. Die spezifischen Fähigkeiten von Männern und Frauen werden sich dann gegenseitig ergänzen und bereichern, was u. a. zu einem Ausgleich zwischen kurz- und langfristiger Perspektive führen wird.

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Danksagungen

D

ieses Buch widme ich meinen Eltern, Karel und Didi Konig. Es ist eine Freude, auf diese Weise den bedeutsamen und kreativen Einfluß auf Inhalt und Wesen dieses Werks anzuerkennen, den ich dem Zusammenkommen zweier ungewöhnlicher Familienlinien verdanke. August Low-Beer, mein Großvater mütterlicherseits, war schon tot, als ich geboren wurde, doch war sein über meine Mutter vermittelter Einfluß auf mein Leben beträchtlich, nicht zuletzt durch die Art und Weise, wie er den Familienbesitz verwaltet hatte. Als österreichischer Generalkonsul im tschechischen Brünn betrieb er in den 20er und 30er Jahren zusammen mit seinen Brüdern das Textilunternehmen der Familie, das zu einem blühenden internationalen Konzern gedieh. Als er die Besetzung der Tschechoslowakei und den Beginn des Zweiten Weltkriegs voraussah, verteilte er das Familienvermögen über die ganze Welt und ging mit seiner Familie erst nach Frankreich und dann nach England, wo er 1942 starb. Geschäftsmann mit Leib und Seele, war er doch auch Visionär: Auf dem Höhepunkt des Krieges brachte er seine Vision einer europäischen Union zu Papier, in der die einzelnen Nationen, darunter Deutschland, unterschiedliche Rollen übernehmen sollten. Auch die Rolle des Geschäftslebens in der Nachkriegszeit schloß er in diese Überlegungen ein. Seine Frau Alice Low-Beer, die einzige von meinen Großeltern, die ich persönlich kennenlernen sollte, war ihr Leben lang das Familienoberhaupt und mit seltener Anmut und Weisheit gesegnet. Als Philanthropin bis an ihr Lebensende tat sie jedem, mit dem sie in Kontakt kam, Gutes – als sie schon weit über 80 Jahre zählte, war sie noch für das Rote Kreuz tätig und besuchte in dieser Funktion »alte Menschen«, die viel jünger waren als sie selbst. Mein Großvater väterlicherseits, Julius Konig, und seine Frau

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Malvina kamen im Konzentrationslager um, zusammen mit vielen anderen Mitgliedern der Familie Konig. Julius war Zahnarzt in einer langen Ahnenreihe von schelmisch bis asketisch dreinblickenden Zahnärzten, die alle auf dem Hauptplatz des südböhmischen Budweis ihre Praxis gehabt hatten. Malvina wiederum war, dem Eindruck meines Vaters zufolge, eine ebenso gebildete wie sensible Dame, die es mit der Abenteuerlust ihres Mannes nicht immer leicht hatte. Doch in dieser Familienlinie scheint sich ein Hang zum Exzentrischen mit einer gesunden Respektlosigkeit gegenüber den erdrückenden Vorschriften der bestehenden Ordnung gepaart zu haben! Meinen Eltern verdanke ich das Zusammentreffen dieser Einflüsse im Rahmen eines ungewöhnlichen, aber kreativen Cocktails aus einer mitteleuropäischen und einer britischen Kindheit. Mein Vater Karel stieg in die Fußstapfen seines Vaters und war bis kurz vor seinem Tod 1991 als Zahnarzt tätig. Er hatte kein großes Interesse daran, Geld zu verdienen oder auszugeben, doch gegen Ende seines Lebens machte es ihm Spaß, Geld zu zählen … Was ihn bis zum Lebensende allerdings am meisten faszinierte, waren die Löcher in den Zähnen seiner Patienten. Er verwickelte seine »Opfer« in endlose Monologe, während ihr Mund dabei mit Geräten aller Art so vollgestopft war, daß sie zur Erwiderung praktisch nur noch grunzen konnten. Was er an mich weitergab, waren seine Liebe zum Detail, seine einschüchternde Hartnäckigkeit und sein Hang zu undiplomatischer Ehrlichkeit, zusammen mit den folgenden väterlichen Ermahnungen: »Keine Süßigkeiten, keine Zigaretten, Kondome nicht vergessen!« Zum großen Verdruß meiner Mutter bestand er darauf, vor allem für das staatliche britische Gesundheitswesen tätig zu sein, für eine Entlohnung, die in ihren Augen ein besseres Almosen war. Er genoß es ganz offensichtlich, der Familie Low-Beer gegenüber den armen Bauernsohn vorzuspielen. Um so größer war die Überraschung, als man nach Öffnung der Tschechoslowakei 1989 herausfand, daß er in der zweitgrößten Villa der Stadt aufgewachsen war … Von meiner Mutter erbte ich den Geschäftssinn ihres Vaters, eine Wertschätzung für praktische Begabung und eine bis heute bestehende Angewohnheit: mit den Augen beim Betreten eines Supermarktes sofort die Regale nach roten Sonderangebotsschildern abzusuchen. Beide, Didi wie Karel, waren von Geburt an mit einem sehr starken Willen gesegnet, der zu Hause zwar nicht immer für

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Harmonie sorgte, mir jedoch meine eigene Hartnäckigkeit verliehen hat, die sich als sehr nützlich erwies, vor allem in der Zeit, als nur wenige verstanden, worum es mir bei meinen Forschungen zum Thema Geld überhaupt ging. Vor diesem Hintergrund bemühten sich Didi und Karel nach Kräften, aus meinem älteren Bruder und mir zwei vorbildliche britische Gentlemen zu machen – mit begrenztem Erfolg –, doch bot mir diese Familie mit ihrem Spektrum an Normalem wie Eigenwilligem eine erfüllte Kindheit und nicht zuletzt ein reichhaltiges Terrain für meine Forschungsarbeit. Nicht weniger Dank gebührt meiner Partnerin Barbara dafür, daß sie sich so für die Veröffentlichung dieses Buchs engagierte und mich in vielfältiger Weise unterstützte – nicht zuletzt als Schöpferin des englischen Buchtitels und bei der Durchsicht der deutschen Übersetzung dieses Werks. Meinem Bruder Ivan danke ich für seine zuverlässige, unerschütterliche Unterstützung hinter den Kulissen. Ich danke meinen Freunden und weiteren Partnern der »Money & Business Partnership«-Konferenzenreihe, Robert Josef Stadler und Bernard Bischoff, sowie Henriette Lingg und Beat Dünki, die mit mir das Feuer zur Konferenzgründung entzündeten. Dank an Lionel Fifield, Jerry Needleman und Bernard Lietaer für ihre Inspirationen auf meinem »monetären« Weg. Inspiriert haben mich ebenso Pierre und Barbara Gautier, Wolf von Stauffenberg, Erwin Jud und Hans de Vries, wenn auch in anderer Weise. Danken möchte ich auch Robert Hargrove, der viele Jahre lang mein Coach und Lehrer war, meinem Londoner Agenten David Parrish für seine professionelle Beratung und einfühlsame Unterstützung, Oscar David aus Amsterdam, der mich immer wieder fragte, wann denn nun endlich dieses Buch erscheinen würde, Jürg Conzett für seine ermutigende Begeisterung beim Lesen des Manuskripts, Thomas Gotterbarm für die heldenhafte Übersetzung meines Englisch und dem ganzen Team des Oesch Verlags für die angenehme Zusammenarbeit. Ich danke außerdem Rosanna Grimaldi dafür, daß sie mir den Weg nach Apulien gezeigt hat, und den Bürgern von Polignano, die mir im November 2001 drei unvergeßliche Wochen bereitet haben. Nicht zuletzt danke ich Ma Atmo Pujan Kunz für unermüdliche Hingabe beim Aufspüren des Göttlichen in allem, was existiert – ohne das wäre die Welt ein armseliger Ort.

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