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Die Deutung der Beobachtungen
from Booklet Astronomie
2 Die Deutung der Beobachtungen
Menschen sind sinnsuchende Wesen. Sie beobachten nicht nur, sondern interpretieren ihre Beobachtungen. Hatten Jahrtausende lang Mythen zur Interpretation genügt, konstruierten die Griechen mit Hilfe der Mathematik ein Modell des Kosmos, das auch ohne ein Eingreifen göttlicher Mächte funktionierte. Manche ihrer Ideen beeinflussten die Astronomie noch fast 2000 Jahre später.
Die griechischen Wurzeln des geozentrischen Weltbilds
Für einen griechischen Philosophen war die Mathematik die Sprache der Götter, in der sich die Weltenharmonie ausdrücken liess. Und so dienten ihnen Geometrie und Logik dazu, ein stimmiges Modell des Kosmos zu erdenken, das all ihre Beobachtungen erklärte. Dabei entwickelte jeder Philosoph seine eigenen Vorstellungen vom Weltall, und ja, es gab auch damals schon Menschen, die behaupteten, dass die Erde sich um die Sonne drehe. Zur communis opinio entwickelte sich diese Idee nicht. Meinungsmacher wurde stattdessen Aristoteles: Er beschrieb die Erde als eine Kugel, um die sich – an transparenten Sphären befestigt – Planeten und Sterne bewegten.
Diese Vorstellung übernahm der wohl einflussreichste Astronom der Antike, der alexandrinische Gelehrte Claudi-
Eine Darstellung des geozentrischen Weltbildes nach Johannes von Sacrobosco.
us Ptolemaios. Er lehrte im 2. Jahrhundert n. Chr. am Museion von Alexandria und schrieb ein viel rezipiertes Werk, das ursprünglich den Titel Mathematike Syntaxis trug. Übersetzt bedeutet das Systematische Darstellung der Mathematik. Mathematik wohlgemerkt! Nicht Astronomie! Aber weil zu den Anwendungen der Mathematik eben auch die Astronomie gehörte, fasste Claudius Ptolemaios darin alles zusammen, was die Gelehrten so über den Kosmos zu wissen glaubten. Und das war eben die Tatsache, dass Planeten und Sternbilder an Sphären geheftet waren, auf denen sie um die kugelförmige Erde kreisten. 1025 Sterne in 48 Bildern listete Ptolemaios in seinem epochalen Werk auf und zeigte, wie ihre Bahn vorausberechnet wurde.
Übrigens lieferte Claudius Ptolemaios nicht nur die Grundlagen der antiken Astronomie. Er war als Kind seiner Zeit überzeugt, dass die Sterne das Schicksal der Menschen beeinflussen. Seine Ausführungen bildeten die Basis der Astrologie, die viele Jahrhunderte lang als Schwesterwissenschaft der Astronomie existierte. Denn auch wenn die Herren Wissenschaftler gerne aus reinem Erkenntnisdrang in den Himmel starrten, lag ihren Auftraggebern viel mehr an den praktischen Ergebnissen des Starrens. Und wer von
sich behauptete, er könne durch eben dieses Starren die günstigste Stunde für eine Hochzeit, einen Angriff, eine Vertragsunterzeichnung festlegen, musste nicht lange um Forschungsmittel betteln.
Aber zurück zur Mathematike Syntaxis des Claudius Ptolemaios. Sie wurde zu einem Bestseller, den man in byzantinischen und vor allem arabischen Bibliotheken eifrig studierte. Dort erhielt sie auch den Namen, unter dem sie die europäischen Gelehrten des Mittelalters kannten: Almagest, abgeleitet vom arabischen Artikel al, und vom griechischen megistos. Übersetzen könnte man diese Bezeichnung vielleicht am treffendsten mit Das Grösste. Das Kennenlernen erfolgte im 12. Jahrhundert. Damals übersetzten zwei Gelehrte von einander unabhängig den Almagest ins Lateinische: Der eine in Sizilien aus dem Griechischen, der andere in Toledo aus dem Arabischen. Ihre Übersetzungen verbreiteten sich durch handschriftliche Kopien von Universität zu Universität.
Der grosse Wurf des Johannes von Sacrobosco
Einer der den Almagest mit Begeisterung las, war Johannes von Sacrobosco. Er wurde zum einflussreichsten Astronomen des Hochmittelalters. Viel wissen wir nicht über sein Leben. Er könnte 1195 in Schottland geboren worden sein und starb sicher in Paris, vielleicht um 1256. Sicher ist auch, dass Johannes von Sacrabosco Geistlicher war und an der Pariser Universität lehrte, und zwar bevor sie als Sorbonne Berühmtheit erlangte.
Damals musste jeder Student, ehe man ihn zum Studium der Theologie, der Medizin oder der Rechtswissenschaften zuliess, die sieben freien Künste gemeistert haben. Dazu gehörten im Grundstudium Grammatik, Rhetorik und Dialektik, im Aufbaustudium Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Für die Astronomie war in Paris Johannes
Titelblatt des Tractatus de Sphaerae von Johannes von Sacrobosco. Das im MoneyMuseum aufbewahrte Exemplar erschien 1591 in Köln.
von Sacrobosco zuständig. Er wird so gelehrt haben, wie das damals alle Professoren taten: Er besass sein eigenes Manuskript zum Lehrstoff, das er während der Vorlesung vorlas. (Daher die Bezeichnung Vorlesung.) Seine Studenten schrieben mit und machten sich anhand seiner Erklärungen Anmerkungen zu schwierigen Passagen.
Der Tractatus de Sphaera des Johannes von Sacrobosco, den wir 2022 im Antiquariat Rezek erwarben, dürfte aus diesem Skript hervorgegangen sein. Jahrhundertelang lasen ihn Professoren ihren Studenten vor. Und immer neue Generationen von Studenten schrieben ihn während der Vorlesungen mit. Deshalb kursierte der Traktat in unzähligen Handschriften, von denen Hunderte bis heute überlebt haben.
Der Erfolg des Traktats hatte einen guten Grund. Es war nicht nur didaktisch hervorragend aufbereitet, sondern auch auf dem neuesten Stand der Forschung. Sacrobosco benutzte die arabischen Ziffern. Damit war er einer der ersten westlichen Mathematiker, die dies taten. Darüber hinaus verarbeitete er nicht nur den Almagest des Ptolemaios, sondern zitierte die arabischen Astronomen, sofern sie in lateinischer Übersetzung vorlagen. Zu ihnen gehörten Thabit ibn Qurra aus Bagdad, der im 9. Jahrhundert das Werk des Ptolemaios überarbeitet hatte, und der um 1015 verstorbene Al-Biruni, der die indische Forschungstradition vertrat.
Basierend auf ihren Erkenntnissen schilderte Sacrobosco den Kosmos wie ihn die Griechen beschrieben hatten: In der Mitte die Weltkugel, umkreist von den sieben Planeten – Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn, darum das Firmament, die Sphäre der Fixsterne. Die göttliche Sphäre umhüllte und hielt diese Welt.
Mit Hilfe dieses Modells berechnete Sacrobosco die Planetenbahnen. Dabei stellte sich ihm allerdings ein geometrisches Problem. Von der Erde aus beobachtet, verliefen diese Bahnen nicht linear. Sie glichen vielmehr einer Schlei-
fe, was nur damit erklärt werden konnte, dass die Planeten eine Art Purzelbaum vollführten. Eindeutig ein Schönheitsfehler des göttlichen Weltenplans. Eine Purzelbaumschlagende Sonne! Aber das störte niemanden – oder sagen wir besser noch niemanden. 1472 wurde Sacroboscos Buch erstmals gedruckt. Es blieb nämlich auch im 16. Jahrhundert das verbindliche Elementarlehrbuch zur Astronomie. Wie gross seine Bedeutung war, kann man daran ermessen, dass es in alle wichtigen westeuropäischen Volkssprachen übersetzt wurde. Bis zum Jahr 1650 erschienen 240 Drucke dieses Standardwerks. Einen davon erwarb das MoneyMuseum kürzlich in einer Ausgabe des Jahres 1591. Sie überliefert nicht nur den eigentlichen Text von Sacrobosco, sondern auch die Kommentare bekannter Astronomen. Eli Vinet (1509–1587) war der bekannteste der drei als Autoren genannten Persönlichkeiten. Er lehrte an der Universität von Coimbra im Königreich Portugal und war damit ein Zeitgenosse des Pedro Núñez, dessen berühmtester Schüler der Jesuit Christoph Clavius werden sollte.
Die Schleifen, die Planeten nach dem geozentrischen Weltbild auf ihren Bahnen zu ziehen scheinen, brachten Mathematiker ins Grübeln.