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Geänderte Spielregeln
from Booklet Astronomie
4 Geänderte Spielregeln
Titelblatt der Bulle Inter gravissimas, mit der die Gregorianische Kalenderreform allen Katholiken zur Pflicht gemacht wurde. Es gibt eine alte Scherzfrage unter Historikern: Was geschah am 10. Oktober 1582? Die Antwort ist einfach: Nichts. Denn der 10. Oktober 1582 wurde durch die Gregorianische Kalenderreform als einer von 10 Tagen ersatzlos gestrichen. Tatsächlich bewegten diese 10 fehlenden Tage mehr als die meisten Schlachten: Sie veränderten nicht nur die Zeitrechnung, sondern machten die Astronomie zu einem zentralen Thema.
Faktor 1: Die grosse Kalenderreform
Die Idee einer Kalenderreform war nicht neu. Seit Jahrhunderten wurde darüber diskutiert. Aber mit Papst Gregor XIII. und Christoph Clavius waren zwei «Macher» am Drücker. Gregor setzte eine Kommission ein, und Clavius verwandelte die vielen Vorschläge, die Mathematiker aus allen Winkeln der katholischen Christenheit der Kommission vortrugen, in eine 800 Seiten umfassende Handlungsanweisung, die Gregor XIII. mit seiner Kalenderreform in die Tat umsetzte.
Und so verlas der Papst feierlich am 24. Februar 1582 eine Bulle, in der er für alle katholischen Gläubigen verpflichtend dekretierte, dass das Jahr 1582 10 Tage weniger haben solle. Auf Donnerstag, den 4. Oktober 1582, werde Freitag, der 15. Oktober, folgen. Zukünftig werde man auf
den Schalttag, der alle vier Jahre zusätzlich fällig wurde, jeweils zur Jahrhundertwende verzichten, um weitere Verschiebungen zwischen den natürlichen und den kalendarischen Jahreszeiten zu vermeiden.
Während des Augsburger Reichstags im September des Jahres 1582 forderte der päpstliche Legat alle Reichsstände auf, den neuen Kalender einzuführen. Die Gründe dafür waren eigentlich überzeugend. Trotzdem weigerten sich die protestantischen Reichsstände, dies zu tun. Sie hatten dafür religiöse Motive: Mit der Übernahme des Kalenders hätten sie den Papst als pontifex maximus anerkannt. Mit diesem Titel war im alten Rom die Oberhoheit über den Kalender sowie der letzte Entscheid in allen Glaubensfragen verbunden. Und letzteres konnten und wollten die Protestanten dem Papst auf keinen Fall zugestehen. Deshalb verweigerten sie die Kalenderreform und blieben beim Julianischen Kalender. Eine kuriose Situation!
In der bedeutenden Reichsstadt Augsburg zum Beispiel stellten die Protestanten die Mehrheit der Bevölkerung. Die Lebensmittel der Stadt kamen aber aus dem Umland, das zum strikt katholischen Herzogtum Bayern gehörte. Diese Lebensmittel durften ausschliesslich an den von der Obrigkeit festgelegten Markttagen in die Stadt gebracht und gehandelt werden. Entschlossen sich nun die Ratsherren, der Auffassung protestantischer Extremisten zu folgen und
Blick auf den Marktplatz von Augsburg in den Monaten Oktober, November und Dezember. Der Schnee erinnert daran, dass im 16. Jahrhundert die Menschen eine kleine Eis zeit durchlebten.
den julianischen Kalender beizubehalten, während im Umland nach dem neuen gregorianischen Kalender gerechnet wurde, war das Durcheinander vorprogrammiert: Wie sollten sich die einfachen Bauern mit zwei völlig unterschiedlichen Kalendern zurechtfinden?
Deshalb entschied der Augsburger Stadtrat, den päpstlichen Kalender anzunehmen. Sehr zum Ärger der evangelischen Geistlichkeit. Die wetterte auf den Kanzeln gegen den Beschluss und löste damit schwere, ja blutige Unruhen aus. Wir müssen uns vorstellen, dass bald an jedem Tisch in den Augsburger Gasthäusern, bei jedem Treffen unter Fremden und Freunden, heftig die Vor- und Nachteile der beiden Kalender diskutiert wurden. Und dies wird nicht nur in Augsburg, sondern im ganzen Reich so gewesen sein, ja, die ganze damals bekannte Welt musste sich mit der päpstlichen Aufforderung auseinandersetzen, den Kalender umzustellen.
Und das bedeutete, dass plötzlich Menschen, die sich noch nie in ihrem Leben mit den Sternen beschäftigt hatten, über die verschiedenen Konjunktionen parlierten. Wer nicht wusste, was das war, konnte nicht mitreden.
Auf welchem Niveau die Bürger im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation damals diskutierten, darüber informiert uns eine kleine Broschüre, die der Augsburger Druckerei-Besitzer Michael Manger 1582, also im Jahr der Kalenderreform, herausgab. Ihr Verfasser hiess Nikolaus Winkler (1529–1613). Er war seines Zeichens Stadtrat und Astronom der Reichsstadt Schwäbisch-Hall, im 16. Jahrhundert eines der aktiven Zentren des Luthertums. Der Titel seiner Broschüre lautet in modernes Deutsch gebracht: Erwägungen über die zukünftige Veränderung der weltlichen Ordnung und das Ende der Welt in den Jahren von 1583 bis zu den Jahren 1588 und 1589 anhand der heiligen Schrift, der Schriften der Altvorderen und der Naturgesetze.
Es ist nicht die einzige Schrift, die Winkler zu diesem Thema verfasste. Er hatte sich auf Apokalypsen spezialisiert und war damit nicht der einzige. Apokalyptische Prophe-
zeiungen boomten im 16. Jahrhundert und wurden von der protestantischen Geistlichkeit durchaus gefördert. Die Endzeitstimmung verlieh nämlich der Reformation ein Gefühl der Dringlichkeit. Wer mit dem Ende der Welt rechnete, war eher geneigt, überkommene und bequeme Glaubensvorstellungen aufzugeben. Viele Drucker befeuerten diese Bewegung, denn sie war ein gutes Geschäft. Schon damals gaben Menschen Geld aus, um zu lesen, dass es nur noch schlimmer kommen werde.
Für uns ist Winklers Broschüre deshalb so interessant, weil sie zeigt, welches Vorwissen ein populärer Autor bei seiner Zielgruppe, dem Deutsch lesenden, gebildeten Bürgertum voraussetzen konnte. Seine Leser kannten den Begriff der Konjunktion, also der scheinbaren Begegnung zweier Himmelskörper, und wussten, wie die Planeten sowie die wichtigsten Sternzeichen hiessen und mit welchen Kürzeln sie bezeichnet wurden. Keine Selbstverständlichkeit! Kurz zuvor war das noch Wissen gewesen, das lediglich in gelehrten Zirkeln existierte.
Spannend ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass Nikolaus Winkler keinen Unterschied zwischen Astronomie und Astrologie machte. Für ihn war die Astrologie eine naturwissenschaftliche Methode, um das Schicksal von Mensch und Welt vorherzusagen. Auch wenn das im 16. Jahrhundert nicht mehr unumstritten war, gab es viele, die auf die Sterne vertrauten. Noch Kepler beschrieb die
Titelblatt der von Nikolaus Winckler verfassten Broschüre Bedencken Von Künfftiger verenderung Weltlicher Policey vnd Ende der Welt auss heyliger Göttlicher Schrifft vnnd Patribus, auch auss dem Lauff der Natur des 83. biss auff das 88. vnd 89. Jars, erschienen in Augsburg im Jahr 1582.
Winckler erklärt auf dieser Seite seinem Leser die verhängnisvollen Konjunktionen, also welche Planeten wann zusammen zu sehen sein werden, um so das Schicksal der Menschen zu beeinflussen.
Astrologie als «das närrische Töchterlein der achtenswerten Mutter Astronomie» und war froh, dass er mit dem Stellen von Horoskopen sein klägliches Einkommen aufbessern konnte.
Halten wir also an dieser Stelle fest, dass die Kalenderreform das allgemeine Interesse an der Astronomie enorm förderte.
Die Weltallschale Rudolfs II. bezeugt, in welch hohem Masse Astronomie damals Teil der Selbstdarstellung eines Herrschers war. Kunstgewerbemuseum Berlin. Foto: UK.
Faktor 2: Erwerbsmöglichkeiten für Astronomen
Nun wissen wir heute, in welch grossem Masse das öffentliche Interesse die Wissenschaft fördert und damit lenkt. Schliesslich müssen auch Wissenschaftler essen, und am liebsten essen sie gut. Das heisst, dass die Wissenschaft dort blüht, wo sie reichlich entlohnt wird. Nun war die Astronomie seit dem Mittelalter ein universitäres Lehrfach. Sie wurde sowohl an geistlichen als auch an weltlichen Schulen im Rahmen des Lehrbetriebs gepflegt. Die Kirche schätzte gute Astronomen und zeichnete sie als Computisten aus. So fanden also Astronomen seit dem Hochmittelalter ein zufriedenstellendes Auskommen, doch wirklich reich wurden sie erst danach. Und wie reich manche von ihnen wurden!
Denn nach der Kalenderreform wollte jeder gebildete Mann mitreden können, sobald es um Astronomie ging. Man bildete sich dafür entweder selbst weiter oder man hielt sich – wenn man über die Mittel verfügte – einen eigenen Astronomen. Der plauderte an der festlichen Tafel amüsant über astronomische Themen, nachdem die Hofnarren ihre Scherze gemacht hatten. Und damit bot sich jedem Mathematiker ein reiches Auskommen an den vielen fürstlichen Höfen, so er willens war, sich auf Astronomie zu spezialisieren. Die bekanntesten Astronomen wurden nämlich mit beeindruckenden Jahresrenten gelockt. Für die Widmung astronomischer Bücher revanchierten sich die so Bedachten mit wertvollen Geschenken. Und selbst im
Die Sternwarte von Uraniborg. Zeitgenössische Darstellung von 1598.
bürgerlichen Haushalt fand der nicht ganz so bekannte Sterngucker im Austausch für sein Wissen zumindest Quartier und Unterhalt.
Kurz: die Kalenderreform schuf einen Markt für astronomisches Wissen. Was vorher eine mathematische Disziplin war, wurde zu einem Luxusprodukt, mit dem sich richtig viel Geld verdienen liess. Und so bestritten immer mehr Wissenschaftler ihren Lebensunterhalt mit der Astronomie, was geradezu zwangsläufig zu einer Beschleunigung der Forschung führte: Wer Geld verdienen wollte, musste seine Beobachtungen drucken lassen. Und je mehr Astronomen ihre Himmelsbeobachtungen niederschrieben und als Buch veröffentlichten, umso mehr Zahlenmaterial stand zur Verfügung, um immer genauere Berechnungen der Sternenbahnen anzustellen. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann ein kühler Rechner darauf kommen würde, dass nicht nur die Erde um die Sonne kreist, sondern sie dies nicht auf einem Kreis, sondern einer Ellipse tut.
Faktor 3: Die verbesserten Messmethoden und das Zahlenwerk des Tycho Brahe
Einen entscheidenden Beitrag zu dieser Erkenntnis leistete ein dänischer Adliger namens Tycho Brahe. Bemerkenswert ist daran schon einmal, dass die Astronomie mittlerweile derart chic war, dass ein Mitglied des höchsten Standes sich dafür entschied, Astronom zu werden, statt in der Verwal-
Das Titelbild der 1627 von Johannes Kepler publizierten Rudolfinischen Tafeln, in denen die Stellung der Sterne so exakt wie nie zuvor beschrieben wurde. Man beachte, dass die stabilsten Säulen des Vordergrundes die Namen Kopernikus und Tycho Brahe tragen. An ihnen hängen die astronomische Messinstrumente. Noch Isaac Newton nutzte dieses Buch, um seine Gravitationstheorie herzuleiten. tung oder im Heer Karriere zu machen. Und das obwohl sein Vater über hervorragende Verbindungen zum Königshof verfügte. So kam es, dass König Friedrich II. von Dänemark und Norwegen ein Vermögen investierte, um zwei grosse Observatorien unter der Leitung von Tycho Brahe zu unterhalten.
Nun war Brahe ein genialer Organisator und die Gallionsfigur des Projekts. Sein Verdienst ist es, die Methoden der Positionsbestimmung von Sternen verfeinert und die Richtlinien vorgegeben zu haben, nach denen die Beobachtungen dokumentiert wurden. Die eigentliche Arbeit aber wurde von Dutzenden schlecht besoldeter Assistenten erledigt, die Nacht für Nacht den Himmel mit dem blossen Auge absuchten, um die sich verändernden Positionen der Sterne festzuhalten. Ihre Erkenntnisse summierten sich zur umfangreichsten Datensammlung, die bis zu diesem Zeitpunkt zusammengetragen worden war. Tycho Brahe hielt diese Daten streng geheim. Er wollte sie ausschliesslich für seine eigenen Berechnungen nutzen, nur dumm, dass er selbst alles andere als ein genialer Mathematiker war.
Und damit kommen wir zu Johannes Kepler, seines Zei-
chens Mathematiker, wie viele seiner Vorgänger. Er war nicht nur Mathematiker, sondern auch Protestant. Seinen Lebensunterhalt verdiente er in der katholischen Steiermark. Das war ein Problem im Zeitalter der Glaubenskriege. Kepler verlor seinen Posten, und da traf es sich gut, dass man am (wesentlich toleranteren) Kaiserhof einen Mathematiker brauchte. Dorthin war Tycho Brahe nämlich umgezogen, nachdem sein königlicher Förderer gestorben war. Mitgenommen hatte er sein gewaltiges Zahlenmaterial. Um das auszuwerten, brauchte er einen Mathematiker.
Man könnte nicht gerade behaupten, dass Kepler und Brahe sich auf den ersten Blick sympathisch waren, im Gegenteil. Brahe hielt die Zahlen zurück, liess Kepler gerade mal das sehen, was der für seine Rechnungen brauchte. Und der war schon dabei, die Arbeit hinzuschmeissen, als Brahe völlig überraschend starb. Für die Wissenschaft war das ein Glück. Kepler wurde Brahes Nachfolger als kaiserlicher Hofastronom. Er erbte das gesamte Zahlenmaterial. Auf dieser Basis entwickelte er seine berühmten Gesetze, die beschrieben, dass die Planeten die Sonne auf elliptischen Bahnen umkreisen. Kepler wurde zum grossen Unterstützer und Förderer von Galileo Galilei, der, wie er, ein heliozentrisches Bild des Kosmos entwarf, allerdings mit ganz anderen Argumenten.
Faktor 4: Endlich, das Fernrohr!
Um 1600 blühte nämlich ein eigentlich schon seit der Antike bekanntes Handwerk auf: Die Glasproduktion. Die reichen Haushalte prunkten mit schönen, farbigen Gläsern, die mit aufwändig eingeschliffenen Mustern verziert waren. Viel wichtiger für unseren Zweck war aber die gestiegene Nachfrage nach geschliffenen Linsen. Wer mit schlechten Augen beim flackernden Schein der Kerze lesen wollte, brauchte eine Brille. Die entwickelten sich zu einem begehrten Luxusartikel, den die Glasbläser und Linsenschleifer im vene-
Johann Kunckel (1630–1703), ein bedeutender Chemiker und Glasmacher der Zeit der Aufklärung, übersetzte das grundlegende Werk des Antonio Neri (1576–1614) zur Glasmacherei aus dem Italienischen ins Deutsche. Neri dokumentiert, welch hohen Standard die venezianische Glasherstellung um 1600 hatte.
25/Strahlengang durch ein holländisches Fernrohr. ccby 3.0 Unported. LehrerCN.
zianischen Murano und in den Niederlanden herzustellen wussten. In diesen Zentren der Linsenproduktion entstand dann auch die neue Technologie, die die Astronomie revolutionierte.
Für das Jahr 1608 besitzen wir den ersten dokumentarischen Nachweis eines Fernrohrs. Ob es ein Zacharias Janssen, ein Hans Lipperhey oder ein Jacob Metius erfunden hat, ist umstritten, auf jeden Fall war der Erfinder ein Linsenschleifer und die Herstellung eines solchen Rohrs ein Kinderspiel – für einen Linsenschleifer jedenfalls. Deshalb verbreitete sich das Instrument so schnell in ganz Europa. Und da traf es sich doch hervorragend, dass in Padua ein Mathematikprofessor sein bescheidenes Jahresgehalt mit dem Bau von wissenschaftlichen Instrumenten aufbesserte.
Der Mathematikprofessor hiess Galileo Galilei. Er wurde am 15. Februar 1564 als Sohn eines Musikers und Gelegenheitstuchhändlers aus verarmtem Adel geboren. Als Galilei 1609 das erste Fernrohr in Händen hielt, war er nichts als ein mediokrer Dozent, der sein Amt dem Einfluss eines Gönners verdankte. Doch dank seiner Instrumentenproduktion kannte Galilei die besten Glasbläser und Linsenschleifer von Murano. Sie waren der Konkurrenz überlegen, so dass Galileis Fernrohr es ebenfalls war. Mit diesem Fernrohr sah Galilei klarer und genauer als je ein Mensch vor ihm, was sich am Himmel ereignete.