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Die Weltmaschine

6 Die Weltmaschine

Am 22. Juni 1633 endete der Prozess gegen Galileo Galilei. Nur eine Generation später soll Newton in seinem «annus mirabilis» die Regeln der Gravitation entdeckt haben, die Keplers und Galileis heliozentrisches Weltbild als communis opinio der wissenschaftlichen Welt bestätigten. Deshalb gilt Newton als ein Heros der Wissenschaft. Zu Recht?

Neue Formen der Forschung: Die Royal Society

Am 28. November 1660 gab eine illustre Gesellschaft von Erfindern, Wissenschaftlern und Naturphilosophen in London bekannt, dass sie sich in Zukunft wöchentlich versammeln werde, um gemeinsam Experimente durchzuführen und wissenschaftliche Vorträge zu hören. Der englische König Charles II., der erst wenige Monate zuvor aus dem Exil zurückgekehrt war, erlaubte ihr, das Attribut königlich zu benutzen. Die Royal Society war geboren. Sie wurde zu einem Motor des wissenschaftlichen Fortschritts. Durch den regelmässigen Kontakt, den die Royal Society ermöglichte, inspirierten sich die führenden Geister Grossbritanniens gegenseitig. Gleichzeitig sorgte der Sekretär der Gesellschaft dafür, dass ihre Mitglieder stets auf dem neuesten Stand der ausländischen Forschung blieben. Vor allem

Ein Treffen der Royal Society. Sir Isaac Newton leitet die Veranstaltung.

der ständige Austausch auf informeller Ebene beschleunigte die Wissenserweiterung enorm. Dauerte es früher mitunter Jahre, bis ein Wissenschaftler seine Ideen, Experimente, Beobachtungen und Ergebnisse zu einem Buch zusammenfasste und so die Forschung einen Schritt weiter brachte, diskutierten die Mitglieder der Royal Society bereits zu einem viel früheren Zeitpunkt die gewonnenen Erkenntnisse. Damit dachte nicht nur der Mann über eine gute Idee nach, der sie ursprünglich gehabt hatte, sondern viele Männer – keine Frauen; sie wurden erst 1945 als Mitglieder der Royal Society zugelassen.

Die neue Vorgehensweise brachte einen unangenehmen Nebeneffekt: Hatte früher der Publikationstermin eines Buchs eindeutig festgelegt, wer der Urheber einer neuen Entdeckung war, verschwamm mit der Royal Society diese Genauigkeit. Wem sollte die Urheberschaft an einer Entdeckung zugeschrieben werden: Dem, der eine Idee erstmals geäussert hatte, oder dem, der den Beweis der These lieferte? Immer wieder kam es zu Plagiatsvorwürfen. In den Griff bekam die Royal Society dieses Problem nie. Kein Wunder, ihr Vorgehen beruhte ja auf der wissenschaftlichen Schwarmintelligenz ihrer Mitglieder. Und da war es unmöglich auszumachen, wer den entscheidenden Beitrag zu einer Entdeckung geleistet hatte.

Eine Sammlung von Lichtmühlen, entwickelt von William Crooke, aus der Sammlung der Royal Society. Sie sind ein gutes Beispiel dafür, dass auch im 19. Jahrhundert das wissenschaftliche Experiment von der Royal Society gepflegt wurde. Foto: ccby 4.0 / The wub / Wikicommons. Dumm nur, dass zwei Dinge sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht geändert hatten: Den grössten finanziellen Gewinn machte immer noch derjenige, der als Urheber einer Theorie gefeiert wurde. Und auch die Geschichtsschreibung tut sich bis heute mit Gruppenleistungen schwer.

Deshalb feiern wir ausschliesslich Isaac Newton als genialen Erfinder des Gravitationsgesetzes und wissen nichts über sein wissenschaftliches Umfeld. Dabei arbeitete auch Newton nicht im luftleeren Raum, obwohl er selbst oft betonte, alle seine Entdeckungen in der ländlichen Einsamkeit des Jahres 1666/7 gemacht zu haben. Das stimmt so sicher nicht. Deshalb werfen wir in diesem Kapitel auch einen Blick auf die Männer, mit denen sich Newton um die Urheberschaft seiner Ideen stritt.

Robert Hooke

Einer von hiess Robert Hooke (1635-1703) und stammte aus einer Familie von Priestern. Als sein Vater im Jahr 1648 starb, sorgten dessen Amtskollegen dafür, dass der begabte, aber mittellose Junge eine hervorragende Ausbildung erhielt. Hooke zeigte eine Begabung für die Naturwissenschaften und entwickelte ein einzigartiges Talent dafür, auf Grund von Ideen und Plänen andere funktionierende Apparate zu bauen. Viele wohlhabende Privatgelehrte schätzten (und bezahlten) Hookes Unterstützung. Der wichtigste war Robert Boyle, das 14. Kind des Great Earl of Cork. Für ihn realisierte Hooke im Jahr 1659 eine Vakuumpumpe nach deutschem Vorbild.

Nun war Boyle eines der zwölf Gründungsmitglieder der Royal Society. Er führte Hooke als seinen Assistenten in die

Gesellschaft ein. Auch die wusste Hookes Talente zu schätzen und ernannte ihn im Jahr 1662 einstimmig zu ihrem (bezahlten) «Curator of Experiments». 1663 nahm sie ihn gar als (nicht zahlendes) Mitglied auf.

Hooke war finanziell völlig auf die Unterstützung seiner Förderer angewiesen. Die verschafften ihm genügend Posten, damit er sich seinen Forschungen ohne wirtschaftliche Sorgen widmen konnte. Doch das bedeutete, dass Robert Hooke ständig unter Druck stand, Aussergewöhnliches liefern zu müssen. Tatsächlich trug er enorm zu unserem modernen Weltbild bei. Wir nennen an dieser Stelle nur sein Auflichtmikroskop, mit dem er der Menschheit den Mikrokosmos erschloss. Das von Hooke geprägte Wort «cell – Zelle» gehört heute zum Allgemeinwissen.

Wie alle Wissenschaftler seiner Zeit beschäftigte sich Hooke mit den unterschiedlichsten Themen, und dazu gehörte auch die Astronomie. So konstruierte er ein verbessertes Fernrohr, mit dem er erstmals nachwies, dass sich Jupiter und Mars um ihre eigene Achse drehten. Doch gerade in diesem Forschungsbereich erwuchs dem brillanten Kopf ein Konkurrent um die Gunst der reichen Förderer: der um sieben Jahre jüngere Isaac Newton.

Newton: Ein Genie vom Lande

Isaac Newton wurde am 25. Dezember 1642 als Sohn eines Schafzüchters geboren. Der Vater starb noch vor seiner

Der junge Newton führt einer interessierten Öffentlichkeit seine Experimente mit dem Licht vor. Durch ein Prisma wird das farblose Licht in die Spektralfarben aufgespalten. Wie viele Bilder Newtons entstand auch dieses lange nach seiner Kanonisierung als britischer Held der Wissenschaft. ccby 4.0; https:// wellcomecollection.org/works/ dfggz9ra

Geburt; durch die Heirat mit einem wohlhabenden Gutsbesitzer gelang der Mutter ein gesellschaftlicher Aufstieg, der es ihrem Sohn Isaac ermöglichte, am Trinity College in Cambridge zu studieren. Doch die kompletten Studiengebühren konnte sich die Familie nicht leisten. Deshalb war der junge Newton in den ersten Jahren gezwungen, als Kammerdiener für Studenten aus wohlhabenden Familien zu arbeiten. Ob es das war, was zu Newtons Verbitterung führte, die ihn trotz all seiner Erfolge zu einem recht unerquicklichen Zeitgenossen machte?

Nach Abschluss des Bachelors im Jahr 1665 kehrte Newton auf das väterliche Landgut zurück. Nicht freiwillig. Die Universität von Cambridge stellte wegen der grossen Pest ihren Betrieb ein. Diese Zeit auf dem Lande verklärte Newton später als sein annus mirabilis, sein Jahr der Wunder. Er behauptete, in diesem Jahr seine drei grossen Entdeckungen gemacht zu haben: seine Theorie des Lichts, die Infinitesimalrechnung und das Gravitationsgesetz.

Das Gravitationsgesetz – eine Leistung Newtons?

Zumindest für das Gravitationsgesetz wissen wir, dass Newton es nicht in diesem wunderbaren Jahr bewies, sondern erst viel später. Und es war sicher nicht der vom Baum fallende Apfel, der ihn auf die Idee brachte, sondern gezielte Forschung. Denn die ganze Royal Society diskutierte damals darüber, wie sich Keplers aus Beobachtungen abgeleitetes drittes Planetengesetz mathematisch-physikalisch würde begründen lassen.

Sie erinnern sich: Kepler berechnete auf der Basis des Zahlenwerks von Tycho Brahe die Planetenbahnen. Er postulierte, dass es sich bei diesen Bahnen nicht um Kreise, sondern um Ellipsen handle und dass die Planeten sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf diesen Bahnen bewegten. Mathematisch formuliert heisst das:

Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich wie die dritten Potenzen der grossen Halbachsen ihrer Bahnen.

Nicht dass Sie das verstehen oder sich gar merken müssten. Wichtig ist nur, dass Kepler mit diesem Gesetz beschrieb, was er anhand der vorgegebenen Zahlen berechnet hatte. Die Mitglieder der Royal Society stellten sich nun aber die Frage, wie die Kraft beschaffen sein musste, die dieses Ergebnis erzielte. Und hier kommt Edmond Halley ins Spiel. Wir kennen ihn heute als Namensgeber des Halleyschen Kometen. Seine Zeitgenossen schätzten ihn als wohlhabenden Gentleman, der seine Zeit astronomischen Studien widmete und – natürlich – ein Mitglied der Royal Society war. Selbstverständlich ein zahlendes. Schliesslich war sein Vater ein reicher Londoner Seifensieder. Damit hatte es Halley nicht nötig, um Ämter und Pfründen zu konkurrieren. Er förderte stattdessen seine weniger glücklichen Kollegen, sofern sie gute Ideen hatten.

Und dieser Edmond Halley interessierte sich nun dafür, welche Kraft die Sterne auf ihren Bahnen hielt. Was dann genau geschah? Nun, das werden wir wohl nie mit letzter Sicherheit wissen, denn alle Beteiligten erzählten die Geschichte etwas anders. Eine mögliche Version wäre Folgende: Im Januar 1684 sass Edmond Halley mit Robert Hooke und Christopher Wren (ja, genau, dem grossen Architekten) in einem Kaffeehaus und diskutierte mal wieder die Frage nach dem Beweis für Keplers drittes Gesetz. Robert Hooke soll sich damit gebrüstet haben, dass er diesen Beweis bereits zu Hause liegen habe. Doch als Halley ihn darauf festnagelte, musste Hooke nach einigen Monaten eingestehen, dass er den Beweis einfach nicht mehr finden könne, und dass es ihm auch nicht gelang, ihn zu rekonstruieren. Daraufhin wandte sich Halley im August desselben Jahres an Isaac Newton, damals ein arrivierter, aber sicher nicht wohlhabender Wissenschaftler an der Universität von

Cambridge, der seit 1672 ebenfalls der Royal Society angehörte.

Newton hielt seit 1669 den Lehrstuhl für Mathematik am Trinity College. Für ihn hatte man im April 1675 sogar die Sondergenehmigung erlassen, dass er sein Amt bekleiden dürfe, ohne sich zum Priester weihen zu lassen. Für Newton war das von entscheidender Bedeutung, denn seine finanzielle Situation war alles andere als rosig. Zeitweise war seine Geldnot so gross, dass ihn die Royal Society von den Mitgliedsbeiträgen entband.

Und dieser relativ unbekannte Mathematikprofessor schilderte Halley im November 1684 brieflich, wie die Kraft beschaffen sein dürfte, die alle Planeten auf ihrer Bahn um die Sonne festhalte. Es handle sich um dieselbe Kraft, die auf der Erde Gegenstände auf den Boden fallen lasse.

Halley fuhr sofort nach Cambridge. Im persönlichen Gespräch überzeugte ihn Newton von der Richtigkeit seiner Theorie. Am 10. Dezember 1684 schrieb Halley an den Sekretär der Royal Society, um ihn darüber in Kenntnis zu setzen, dass Isaac Newton das Problem gelöst habe. Im Februar 1685 lag der Royal Society ein 24 Seiten umfassender Aufsatz aus der Feder Newtons vor, der seine Thesen zusammenfasste. Der Titel des Traktats lautete De motu corporum, übersetzt: Über die Bewegung der Körper.

Damit galt Newton als Urheber der Gravitationsgesetze. Er formulierte sie weiter aus und legte mit ihrer ausführlichen Publikation im Jahr 1687 die Grundlagen der modernen Physik. Sein epochales Werk nannte er Philosophiae naturalis principia mathematica, übersetzt: Die mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie. In die Wissenschaftsgeschichte ist dieses Werk als die «Principia» eingegangen. Den Druck bezahlte übrigens Edmond Halley, weil Newton sich das nicht leisten konnte und der Fond der Royal Society zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschöpft war.

Plagiatsvorwürfe

Noch während Newton in Zusammenarbeit mit Halley den Druck vorbereitete, informierte ihn dieser, dass Robert Hooke erwarte, dass sein Anteil an den Entdeckungen gebühren gewürdigt werde.

Tatsächlich verdankte Newton seinem Kollegen einen entscheidenden Hinweis. Wir wissen, dass Hooke Newton brieflich auf die Idee brachte, dass die Anziehungskraft zwischen zwei Planeten nicht konstant sei, sondern mit der Entfernung abnehme. Diesen Denkanstoss sah Hooke im Vorwort Newtons zu den Principia nicht angemessen berücksichtigt. Newton reagierte schroff. Er teilte Halley mit, dass er Hooke diese Ehre nicht zollen werde und strich alle Hinweise auf ihn aus seinem Text.

Robert Hooke ging damit an die wissenschaftliche Öffentlichkeit. Doch die folgte Newtons Argumentation, dass nicht derjenige eine Entdeckung für sich in Anspruch nehmen könne, der sie intuitiv als erster formuliert, sondern derjenige, der sie allgemeingültig bewiesen habe.

Heute, in einem Zeitalter, in dem die Geschichte aus dem Blickwinkel der Verlierer neu geschrieben wird, haben Robert Hookes Ansprüche viele Verteidiger gefunden. Nur so kann man es sich erklären, dass man derzeit Newton gerne unterstellt, er habe als Präsident der Royal Society das Porträt Robert Hookes aus ihren Räumlichkeiten entfernt – und zwar aus blankem Neid. Diese Behauptung hält sich, obwohl es ziemlich unwahrscheinlich ist, dass es überhaupt ein Porträt gegeben hat (und falls doch, hing es sicher nicht in den Räumen der Royal Society).

Die Principia, und warum sie von einer derart grossen Bedeutung waren

Warum aber legte Hooke so grossen Wert darauf, ausgerechnet in diesem Werk angemessen gewürdigt zu werden?

Das Titelblatt der 1687 erstmals publizierten Philosophiae naturalis principia mathematica. Die für den Druck notwendige Erlaubnis gab ein heute sehr bekannter Tagebuchschreiber: Samuel Pepys. Auch die Royal Society wird auf dem Titel als Societatis Regiae erwähnt.

Schliesslich hatte er selbst derart viele bedeutende Entdeckungen gemacht, dass wir uns nicht vorstellen können, dass er auf eine mehr oder weniger angewiesen war. Nun, die Principia besassen eine andere Qualität, das verstanden ihre Zeitgenossen sofort. Die Principia waren nicht einfach ein weiteres wissenschaftliches Werk, sondern veränderten den menschlichen Blick auf das Verhältnis zwischen Erde und Weltall grundlegend. Newton verband nämlich durch sein Gravitationsgesetz erstmals Erde und Kosmos derart, dass es zwischen beiden Sphären keinen Unterschied mehr gab. Sein revolutionäres Gesetz wird heute in folgende Worte gefasst:

Die zwischen zwei Körpern wirkende Gravitationskraft entspricht dem Produkt der Masse dieser beiden Körper geteilt durch den Abstand ihrer Massenmittelpunkte multipliziert mit der Gravitationskonstante.

Mit anderen Worten: der Apfel, der vom Baum fällt, wird vom Erdmittelpunkt angezogen, und dies geschieht auf Grund der gleichen Gesetzmässigkeiten, die den kleineren Mond auf seiner Bahn um die Erde halten resp. die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne.

Newton formulierte noch viele andere Ideen in den Principia, mit denen wir uns an dieser Stelle nicht beschäftigen müssen. Wir wollen uns vielmehr ansehen, was seine Zeitgenossen aus dieser einen Kernaussage seines Buches machten.

Erinnern wir uns daran, dass Newtons Principia in einer Epoche publiziert wurden, in der sich die so genannte Aufklärung formierte. Der 30-jährige Krieg hatte allen denkenden Menschen vor Augen geführt, welch schrecklichen Folgen es haben konnte, wenn Fürsten die Religion vorschoben, um ihre eigenen Machtansprüche zu bemänteln. Gleichzeitig war der Einfluss der katholischen Kirche zurückgegangen, weil die Herrscher im Zeichen des Absolutismus keine zweite Autorität in ihrem eigenen Staat dulden

mochten. Und damit war zumindest in den Augen einer kleinen intellektuellen Elite der Weg frei zu einer völlig neuen Form der Religion, einer Religion, in der nicht mehr Autoritäten die Glaubensinhalte vorschrieben, sondern der gesunde Menschenverstand.

Newtons Entdeckungen passten dazu: Nein, Gott war nicht der bärtige Greis, der in sieben Tagen den Kosmos und die Welt geschaffen hatte. Nein, Gott war nicht willens, seine eigenen Naturgesetze zu brechen. Und Gott war vor allem nicht der kleinliche Moralapostel, als den ihn manche seiner Vertreter erscheinen liessen. Gott wurde zum grossen Uhrmacher, der aus Liebe zum Menschen seine wunderbare Welt gebaut hatte, die wie ein Automat nach den immer gleichen Regeln funktionierte. Man musste diese Regeln nur verstehen, und genau das hatte Newton mit seinem Gravitationsgesetz getan.

Deismus nannte man das neue Konzept. Die meisten grossen Wissenschaftler und Philosophen des 18. Jahrhunderts empfanden sich als Deisten. Sie glaubten an einen Gott, dessen Wirken auf der Erde ausschliesslich durch seine Naturgesetze erfahrbar war. Ein Deist war kein Atheist, die Schöpfung für ihn kein Zufall. Nicht einmal der grosse Kirchenkritiker Voltaire, der in seinem Candide so wortgewaltig die These von der besten aller Welten widerlegt hatte, wollte ohne einen Gott auskommen.

Aber natürlich erkannte er, welch grosse Bedeutung das Werk Newtons für sein – das deistische – Weltbild hatte. Ob ihn seine damalige Geliebte, die Mathematikerin Émilie du Châtelet, auf Newton aufmerksam machte? Immerhin wissen wir, dass – obwohl Voltaire als alleiniger Autor der Elements de la philosophie de Newton verantwortlich zeichnete – die mathematischen Passagen aus der Feder von Émilie du Châtelet stammen. Das 1738 bei Jacques Desbordes in Amsterdam erschienene Werk popularisierte die Leistungen Newtons auf dem Kontinent und trug dazu bei, das Andenken an den Heros der Wissenschaft zu verklären.

Titelkupfer zu Voltaires Elements de la philosophie de Newton von 1738.

Die deutschsprachige Welt entwickelte eine eher kritische Sicht auf diese Überhöhung Newtons. Hier ein Bilderbogen des 19. Jahrhunderts. Wellcome Collection. Public Domain Mark.

Dies illustriert der Titelkupfer, den wir an dieser Stelle etwas genauer betrachten wollen. Newton ist darauf nicht als Mensch dargestellt, sondern entrückt in himmlische Sphären. Er trägt ein antikisches Gewand und ist so auf den ersten Blick nicht von einem Heiligen oder gar Jesus zu unterscheiden. Erst wer ihn genauer betrachtet, erkennt den Zirkel, mit dem Newton den Erdball vermisst. Die Darstellung wird beherrscht von einem hell leuchtenden Lichtstrahl, der über Newtons Kopf durch die Wolkendecke bricht, um durch den Spiegel der Klugheit auf den an seinem Pult sitzenden Voltaire weitergeleitet zu werden.

Newton Superstar

Seine Anhänger machten aus dem durchaus menschlichen Newton ein Genie, ein göttliches Wesen, dem man nur mit

Titelblatt von Henry Pembertons Erläuterungen zu Werk und Persönlichkeit Newtons mit dem Titel A View of Sir Isaac Newton’s Philosophy, erschienen in Dublin im Jahr 1728.

höchster Verehrung begegnen durfte. Und auch im realen Leben hatten sich für ihn seine Entdeckungen gelohnt! 1696 ernannte man Newton zum Wardein der königlichen Münzstätte, ein Amt, das traditionell mit hohen Bezügen und geringem Arbeitsaufwand verbunden war. Es machte seinen Amtsinhaber reich. 1703 wurde Newton zum Präsidenten der Royal Society gewählt; 1705 adelte ihn der König. Sir Isaac Newton starb am 28. März 1727. Seine Beerdigung wurde zu einem Ereignis von europäischer Bedeutung. Er war der erste Wissenschaftler, der in der Westminster Abbey begraben wurde. Newton ruht an einem der prominentesten Plätze der wichtigsten Kirche des königlichen Grossbritanniens, links vom Volksaltar im Kirchenschiff.

Keine Gnade, wenn’s um die eigene Position geht

Als sein deutscher Konkurrent Gottfried Wilhelm Leibniz zu Grabe getragen wurde, war dagegen nur ein einziger Mann von Stand anwesend, und das Grab geriet schnell in Vergessenheit. Grund dafür war der Reputationsschaden, den Newton willentlich dem etwas jüngeren Kollegen zufügte,

um sich selbst die Urheberschaft an der Infinitesimalrechnung zu sichern und vielleicht um zu verhindern, dass Leibniz nach London kam und so Newtons überragende Position im Wissenschaftsleben gefährdete.

Leibniz hatte nämlich die Infinitesimalrechnung – eine damals revolutionäre Form der Mathematik – entwickelt, und zwar unabhängig von Newton. Dabei fand er eine elegantere Form der Notierung, die von Mathematikern wesentlich lieber angewandt wurde, als die kompliziertere Notierung Newtons. Dazu war Leibniz’ Werk bereits 1684 erschienen, und damit mehr als zehn Jahre vor Newtons.

Trotzdem pochte Newton darauf, dass er der Urheber der Infinitesimalrechnung sei. Seine engsten Freunde bezichtigten Leibniz, er habe bei einem Besuch der Royal Society im Jahr 1676 Newtons Notizen kopiert und so dessen Ideen gestohlen. Newton unterstützte diese Behauptung mit der gesamten Autorität, über die er als Präsident der Royal Society verfügte. Er berief eine offizielle Kommission, in der ausschliesslich seine Parteigänger sassen. Sie kamen 1712 zum gewünschten Ergebnis: Leibniz hatte seine Infinitesimalrechnung bei Newton abgeschrieben. So stand es im Abschlussbericht, den Newton zum grössten Teil selbst verfasst, und der im Namen der Kommission veröffentlicht wurde. Um seine Sicht der Dinge in der Gelehrtenwelt durchzusetzen, liess Newton den Abschlussbericht drucken und allen bekannten Wissenschaftlern Europas zustellen.

Auch wenn viele von ihnen sich entsetzt über die rücksichtslose Vorgehensweise Newtons zeigten und Leibniz unterstützten, war dessen Reputation nachhaltig beschädigt. Sein Dienstherr, Georg Ludwig von Braunschweig-Lüneburg, der durch die (1712 übrigens bereits vorhersehbaren) Zufälle der Erbfolge im Jahr 1714 König von Grossbritannien wurde, entschloss sich, ausgerechnet Leibniz nicht nach Grossbritannien mitzunehmen, obwohl er fast seinen gesamten Hannoveraner Hofstaat nach London mitbrachte. Wahrscheinlich hatte das Leibniz Newton zu verdanken.

Auf diesen Seiten schildert Pemberton den Zeitpunkt, als Newton zur Gravitationstheorie inspiriert wurde, und zwar lange, bevor er Hooke überhaupt kannte. Übrigens, endgültig geklärt wurde der Prioritätenstreit erst im Jahr 1949, als es einem deutschen Mathematiker gelang nachzuweisen, dass beide Gelehrten unabhängig voneinander die Infinitesimalrechnung erfunden hatten.

Nur Genies dürfen alles

Newton war alles andere als ein liebenswerter Mensch. Moderne Wissenschaftler haben ihm gar Autismus vorgeworfen. Und bereits seine Verehrer sahen sich genötigt, vor dem Hintergrund des in ganz Europa schwelenden Prioritätenstreits die Einzigartigkeit von Newtons Genie immer wieder herauszustellen. Nur so konnte man entschuldigen, was man bei einem Durchschnittsmenschen für Bösartigkeit, Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit gehalten hätte.

Nun waren Newtons Principia so kompliziert, dass ein normaler, gebildeter Leser sie schlicht nicht verstand. Deshalb entwickelte sich eine viel gelesene Literatur von Newton-Interpretationen, die nicht nur seine Thesen für ein breiteres Publikum aufbereiteten, sondern diesem auch erklärten, welch überragendes, einzigartiges Genie Newton gewesen sei.

Ein gutes Beispiel ist Henry Pemberton, dessen Werk das MoneyMuseum kürzlich erwarb. Dass das MoneyMuseum keine Ausgabe der Principia besitzt, hat natürlich einen praktischen Grund: Newtons Principia erschienen bei ihrer lateinischen Erstausgabe in lediglich 80 Exemplaren; von der englischen Übersetzung wurden nur 400 Stück gedruckt. Beide sind für das MoneyMuseum nicht erschwinglich. So wurde eine lateinische Erstausgabe im Jahr 2016 bei Christie’s für 3,7 Mio. US Dollar verkauft.

Es geht dem MoneyMuseum wie den meisten Bildungsbürgern zur Zeit der Aufklärung. Sie besassen nicht die Originalwerke von Newton, sondern die Interpretationen seiner Verehrer, Bücher wie das von Henry Pemberton mit

dem Titel A View of Sir Isaac Newton’s Philosophy.

Henry Pemberton kannte Newton noch persönlich. Er war ihm erstmals aufgefallen, weil er sich im Prioritätenstreit kompromisslos auf seine Seite gestellt hatte. Newton nahm ihn in seinen engeren Kreis von Bekannten auf und betraute ihn mit der dritten Auflage der Principia, die 1726 erschien.

Nach Newtons Tod gab Henry Pemberton mit A View of Sir Isaac Newton’s Philosophy im Jahr 1728 seine Erklärung der wichtigsten Erkenntnisse von Newton heraus. Darin enthalten waren viele persönliche Reminiszenzen an das Genie. So behauptete Pemberton, Newton habe nur wenige Bücher anderer Mathematiker gelesen, was heute wohl niemand mehr für glaubhaft halten kann. Schon Pemberton verlegte die Inspiration Newtons zum Gravitationsgesetz in die ländliche Idylle des Jahres 1666/7. Damit schloss er jeglichen Einfluss aus, den ein Robert Hooke oder ein Gottfried Leibniz vielleicht gehabt haben mochten. Bei Pemberton sitzt der einsame Newton müssig im Garten. Von einem Apfel ist noch nicht die Rede. Das kam erst später, vielleicht durch Newtons Biographie, die William Stukeley 1752 veröffentlichte. Stukley erzählt: «Nach dem Abendessen, das Wetter war warm, gingen wir in den Garten und tranken Tee im Schatten einiger Apfelbäume, nur er [Newton] und ich. Mitten in einem anderen

Das Titelblatt der Dissertation des Studenten Abraham Lind über den Schwanz der Kometen mit dem Titel Disputatio de caudis cometarum, sie wurde 1764 in Uppsala veröffentlicht; der Doktorvater des erfolgreichen Studenten war der schwedische Astronom Daniel Melanderhjelm. Seite 9 der insgesamt 19 Seiten umfassenden Dissertation: Student Lind zitiert die Forschungen von Newton und Kepler, genauso souverän wie die Überlegungen des französischen Astronomen Jean Jacques d’Ortous de Mairan oder des russischschweizerischen Mathematikers Johann Albrecht Euler. James Ferguson, Astronomy explained upon Sir Isaac Newton’s Principles and made easy to those who have not studied Mathematics. London 1756.

Fergusons mechanisches Modell des Weltalls aus James Ferguson, Astronomy explained upon Sir Isaac Newton’s Principles and made easy to those who have not studied Mathematics. London 1756.

Diskurs, sagte er mir, habe er sich gerade in der gleichen Situation befunden, als ihm die Idee der Gravitation in den Sinn kam. «Warum sollte dieser Apfel immer senkrecht zu Boden fallen», dachte er bei sich selbst: Anlass war der Fall eines Apfels, als er in nachdenklicher Stimmung war: «Warum sollte er nicht seitwärts oder aufwärts gehen, sondern beständig zum Erdzentrum? Sicher, der Grund ist, dass die Erde ihn anzieht, es muss eine Anziehungskraft der Materie geben, und die Summe der Anziehungskraft der Materie der Erde muss im Erdzentrum liegen, nicht an irgendeiner Seite. Deshalb fällt dieser Apfel senkrecht oder gegen das Zentrum, wenn Materie Materie anzieht, muss sie proportional zu ihrer Quantität sein, darum zieht der Apfel die Erde und die Erde den Apfel an.»

Übrigens, nicht alle Wissenschaftler teilten Pembertons Auffassung, Newton sei ein Genie gewesen. Zu ihnen gehörte der Franzose Bernard le Bovier de Fontenelle. Er war ein beliebter Schriftsteller der Aufklärung und gehörte seit 1733 der Royal Society an. Fontenelle verehrte Descartes, dessen

Ansichten von denen Newtons abwichen. Von seiner Kritik zeugt ein Brief, der in Pembertons View of Sir Isaac Newton’s Philosophy angebunden ist. Vielleicht stand auch der Eigentümer dieses Buchs Newton kritisch gegenüber.

Das heliozentrische Weltbild als wissenschaftlicher Allgemeinplatz

Wie man es dreht und wendet, mit Newtons Principia galt das heliozentrische Weltbild als anerkannte Meinung der gesamten wissenschaftlichen Welt. Kein ernstzunehmender Forscher hätte es seitdem gewagt, Zweifel daran zu formulieren. Die katholische Kirche, die offiziell noch bis 1822 daran festhielt, ihre Druckgenehmigung nur dann zu erteilen, wenn das heliozentrische Weltbild als Hypothese behandelt wurde, spielte in einer säkularisierten Welt keine Rolle mehr.

Wie schnell sich Newtons Erkenntnisse in Europa verbreiteten, illustriert eine Dissertation aus dem Jahr 1764, die ein nicht weiter bekannter Student namens Abraham Lind an der schwedischen Universität von Uppsala einreichte. Sein Doktorvater Daniel Melander(hjelm) war ein begeisterter Verfechter der Theorien Newtons.

Auch die breite Öffentlichkeit akzeptierte diese neue Wirklichkeit, weil sich viele darum bemühten, ihr den neuesten Stand der Forschung auf leicht fassbare Art und Weise nahe zu bringen. Einer der bekanntesten frühen Populärwissenschaftler war James Ferguson (1710–1776), dessen Buch Astronomy explained upon Sir Isaac Newton’s Principles and made easy to those who have not studied Mathematics das MoneyMuseum im Februar 2022 ankaufen konnte.

James Ferguson stammte aus noch wesentlich bescheideneren Verhältnissen als Newton. Er hatte in seiner Kindheit tatsächlich Schafe gehütet. Seine schulische Bildung beschränkte sich auf drei Monate in der Dorfschule von Keith. Wahrscheinlich war es Ferguson deshalb so ein

Brief des kritischen Franzosen Bernard le Bovier de Fontenelle, der dem Exemplar des MoneyMuseums von Pembertons Werk vorgebunden ist.

wichtiges Anliegen, die Verbindung zwischen der hehren Wissenschaft und dem Mann auf der Strasse herzustellen. Ferguson hatte das Glück, dass ihm sein mechanisches Talent einen wohlhabenden Mäzen verschaffte. Der vertraute ihm seine Uhrensammlung an und öffnete ihm seine Bibliothek. Mit der dort erworbenen Bildung war Ferguson für eine Karriere in Edinburgh und London gewappnet.

Basis des Erfolgs wurde sein astronomisches Modell, ein Automat, der die Vorgänge am Himmel sichtbar und begreifbar machte. Wer an der Kurbel des Modells unten links drehte, konnte tatsächlich sehen, wie sich die Erde um die Sonne, der Mond um die Erde drehte. Dies half all den Menschen, sich die modernen Theorien praktisch vorzustellen, die über genauso wenig räumliches Vorstellungsvermögen verfügten wie die meisten von uns.

James Ferguson wurde damit zu einem der beliebtesten populären Astronomen des 18. Jahrhunderts. Er hielt in allen bedeutenden städtischen Zentren Englands Vorträge, in die unzählige Laien strömten. Sie liessen sich begeistert Fergusons Automaten vorführen. Und während sie glaubten, endlich zu verstehen, was da am Himmel passiert, machten sie den gleichen Fehler, den noch heute viele Menschen begehen: Sie hielten ein Modell, das den aktuellen Stand des wissenschaftlichen Irrtums spiegelte, für die Realität.

Denn wir müssen uns über eines im Klaren sein: Auch wenn wir in Newtons Vorstellungen unser heutiges Bild vom Weltall bereits erahnen, blieben seine Überlegungen im 18. und 19. Jahrhundert Theorie; eine Theorie, die viele Möglichkeiten bot, darüber nachzudenken, was in einer Welt, die anscheinend der unseren so ähnlich war, vorgehen mochte.

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