Literatur II
LITERATUR II
© 2018 Herausgegeben von: Sunflower Foundation www.sunflower.ch Texte und Textauswahl: Ursula Kohler Stephan Koncz
INHALT Lesen Die Magie der Buchstaben oder warum wir lesen? Büchersammlung Der Dialog oder das sokratische Gespräch
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Textauswahl Stephan Koncz Thukydides (460–400 v. Chr.), Der Peloponnesische Krieg J. M. Coetzee, Warten auf die Barbaren Geoffrey Chaucer, Canterbury-Erzählungen Joseph Conrad, Herz der Finsternis William Faulkner, Als ich im Sterben lag Nathaniel Hawthorne, Der Scharlachrote Buchstabe Mark Twain, Die Abenteuer des Huckleberry Finn Kaiser Karl V., Neue Münzordnung, 1548 Thomas Hobbes, Leviathan Hermann Melville, Moby Dick William Golding, Pincher Martin Jean-Jacques Rousseau: Du Contract Social John Millington Synge, Die Aran-Inseln Patrick Süskind, Das Parfum – die Geschichte eines Mörders Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern
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Textauswahl Ursula Kohler Werner Bischof, Japan Luciano De Crescenzo, Geschichte der griechischen Philosophie. Jeremias Gotthelf, Die schwarze Spinne Peter Koenig, 30 dreiste Lügen über Geld Martin Suter, Ein perfekter Freund Matthäus Merian, Topographia Helvetiae Rhaetiae et Valesiae (1642)
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LESEN Die Welt der Buchstaben habe ich als Kindergartenkind entdeckt. Dennoch wollte mich die Kindergärtnerin nicht in die Schule entlassen (was ich ihr bis heute nicht verziehen habe). Grund: Verträumt, wie ich gewesen sei, wäre es doch schade, das Spielparadies zu verlassen. Die Kindergärtnerin hat leider nicht verstanden, dass Lesen und Träumen zusammengehören. Bei mir jedenfalls. Als Kind hat mir das Lesen zahlreiche Traumwelten eröffnet. Wie viele Figuren habe ich in meinen Büchern angetroffen! Und wo bin ich überall hingereist! Obwohl ich doch nur auf dem Bett lag und las, las, las … bis irgendwann die Verbannung aus dem Paradies folgte. Der Schicksalsschlag aller Lesenden: Das Buch ist fertig gelesen, ein ganzes Universum verschwindet mit dem letzten Buchstaben von einer Sekunde zur anderen. Wie gut kann ich nachvollziehen, dass die Generation meiner Kinder in die HarryPotter-Welt abgetaucht ist. Wenn ich den Wert des Lesens beschreiben müsste, dann würde er sich immer an den Leseerlebnissen meiner Kindheit messen. Und diese Messlatte ist hoch. Das war Lesevergnügen pur. Wer jetzt denkt, ich hätte die klassische Kinder- und Jugendliteratur bevorzugt, täuscht sich. Dieses Herunterbrechen auf ein Kinderniveau hat mir gar nicht gepasst. Ich habe mich bald der Erwachsenenliteratur zugewandt. Die Welt der Erwachsenen war 4
es, die mich interessiert hat, vor allem deren Verwirrungen rund um Beziehungen, Liebe und Familie. Im Prinzip habe ich einfach gelesen, was zur Verfügung stand. Das war das Sortiment einer kleinen Dorfbibliothek – jeden Donnerstag geöffnet. Zum Glück hatte ich eine Mutter, die mich alles lesen liess, aus welchem Regal auch immer ich es hervorgeholt hatte. Und heute? Nach einem Studium in Philosophie und Germanistik, nachdem ich das Lesen zu meinem Beruf gemacht habe? Heute gibt es für mich nichts Schöneres als ein Buch, das philosophische Gedanken literarisch umsetzt. Denn letztlich geht es beim Lesen immer ums Existenzielle. Sonst würde uns eine Geschichte nicht in den Bann ziehen – egal, ob ich mit Hänsel und Gretel im Wald vor Angst zittere, mich mit der schönen Angélique in tollkühne Abenteuer rund um die Welt stürze oder mich mit Anatol Stiller aus meinem Leben stehlen möchte – und es doch nicht kann. Bezogen auf die Literatur bin ich nie eine Theoretikerin geworden. Ich habe es versucht, aber es hat mir das Wichtigste am Lesen genommen: die Freude und das Erlebnis. Fürs Lernen und fürs Arbeiten gibt es andere Bücher, Sach- und Fachbücher, die ich auch sehr mag. Etwas haben sie gemeinsam mit der Literatur: Sie füttern einen neugierigen und wissbegierigen Menschen mit (Lese-)Stoff. Für eine Person, die mit Büchern arbeitet, sind die persönlichen Erwartungen an einen literarischen Text äusserst einfach: Das alles entscheidende Kriterium ist die Freude, die ich beim Lesen empfinde … und äusserst hoch: Ist nicht genau das die hohe Kunst eines Werks: seine Leserinnen und Leser zu erfreuen? Ursula Kohler 5
DIE MAGIE DER BUCHSTABEN ODER WARUM WIR LESEN ? Jeder liest: Briefe oder Ansichtskarten von Freunden, Zeitungen, Gebrauchsanweisungen oder Weisungen von Behörden. Lesen ist in unseren Breitengraden eine Kulturtechnik, die es erlaubt, uns in der Welt zurechtzufinden. Wenn ich Bücher lese, gehe ich auf Reisen in fremde Welten. Die Magie der Buchstaben zieht mich in ihren Bann: Während meiner Lektüre erhalte ich Einblick in neue Welten, nehme teil am Schicksal mir gänzlich unbekannter Menschen und wundere mich über die Welt, deren Teil sie sind. So erweitere ich meinen Horizont beträchtlich, ohne je einen Fuss vor die Wohnungstüre gesetzt zu haben oder in ein Flugzeug gestiegen zu sein. Lesen ist für mich also ziemlich praktisch. Ein Buch, das mich fasziniert, ist der Roman «Moby Dick». Vermutlich kennt jeder die Geschichte des Walfängers Pequod auf der Jagd nach dem ominösen weissen Pottwal namens Moby Dick. Und jeder hat vermutlich das dramatische Ende vor Augen, als Moby Dick das Schiff samt Mannschaft versenkt. Dieser Roman ist viel mehr als eine spannend geschriebene Abenteuergeschichte. «Moby Dick» greift viele Fragen auf, die zeitlos sind. Wir können den Walfänger als Symbol für den Staat begreifen. Ein Bild übrigens, das auf die Antike zurückgeht: das Staatsschiff. Wie 6
soll dieses organisiert sein? Braucht es nur einen Kapitän, also Autokraten? Oder sollten da nicht mehr Personen für die Führung verantwortlich sein? Und wie soll sich ein Kollektiv verhalten, wenn dessen Führung den Verstand verloren hat und es in den Abgrund zu reissen droht, wie dies Kapitän Ahab im Roman tut. Übrigens: Die deutsche Ausgabe von Moby Dick erschien 1944 im Manesse- Verlag. Dies dürfte sicher kein Zufall gewesen sein, tobte da noch der Zweite Weltkrieg, der von einem Diktator namens Adolf Hitler entfacht worden war. Der Zweite Weltkrieg ist zum Glück längstens Geschichte und in Europa ist ein Krieg zwischen den Staaten unwahrscheinlich geworden. Die Frage aber, wie der Staat politisch verfasst sein soll, ist nach wie vor aktuell. Dabei sind wir als Bürger gefragt. Bei unseren Entscheiden als Bürger werden wir uns auch von der einen oder anderen Lektüre leiten lassen, die uns geprägt hat. Stephan Koncz
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BÜCHERSAMMLUNG Mit dem Wort Bibliothek wird in der Regel ein inneres Bild assoziiert: Farbige Bücherrücken, vielleicht besonders schöne Bücher, zahlreiche Bücher … Der Begriff stammt aus dem Griechischen und setzt sich aus Biblion für Buch und Theke für Behältnis zusammen. Doch Bibliothek ist nicht gleich Bibliothek. Es spielt eine entscheidende Rolle, aus welchen Büchern sie zusammengestellt ist. Die Stiftsbibliothek in St. Gallen oder die Österreichische Nationalbibliothek in Wien werden von zahllosen Besucherinnen und Besuchern mit Ehrfurcht betrachtet. Welcher Fundus an Wissen zwischen den Buchdeckeln liegt. Wie viel Sorgfalt sich hinter der Herstellung der Bücher verbirgt. Stellen wir uns hingegen eine Bibliothek aus Taschenbüchern vor, die alle im Jahr 2017 produziert wurden, ist das eine ganz andere Geschichte. Diese Sammlung hätte auch ihren Zauber, aber vielleicht in 100 Jahren? In einer Bibliothek suchen wir etwas – und hoffen, es zu finden. Schöne, alte Bücher anzuschauen ist ein ästhetisches Erlebnis. Aber wir möchten mehr. Wir möchten Zugang finden zu dem, was zwischen den Buchdeckeln liegt. Genau das möchte die Bibliothek im MoneyMuseum auch. Hier kann man sich inmitten von Büchern niederlassen, man darf die Werke in die Hand nehmen, anschauen, sie als Anlass nehmen, um zu diskutieren. Aus welchen Büchern besteht die Bibliothek im MoneyMuseum? Die Sammlung erstreckt sich von 1500 bis in die Gegenwart. Im 16. Jahrhundert sind es erste Chroniken, dann folgen lateinische und deutsche Übersetzungen von römischen Autoren. Wissenschaftliche Werke aus dem 17. und 18. Jahrhundert kommen hinzu. 8
Die Sammlung wird durch folgende Spezialitäten ergänzt: Die Monatszeitschrift DU ab den 1940er-Jahren Die Manesse-Bibliothek der Weltliteratur Werke aus dem Money-Museum sowie dem Oesch und Conzett Verlag Ein Bestand an Diogenes-Büchern Natürlich besteht das Museion nicht alleine aus der Bibliothek. Im Gegenteil: Die Bücherei soll ein ideales Umfeld schaffen, um die Vermittlung und Diskussion über Geldkritik und Kultur des Geldes ins Zentrum zu stellen. Wussten Sie eigentlich, wie viele Wortschöpfungen aus Biblion bestehen? Da konkurrenziert der Bibliophile mit dem Bibliophagen und dem Bibliotaphen. Eines ist indes zu hoffen: dass die Besucherinnen und Besucher des MoneyMuseums weder bibliopath noch bibliophob sind. P. S. Bibliophil: ist jemand, der Bücher liebt. Bibliophag: ist jemand, der Bücher verschlingt. Bibliotaph: ist jemand, der seine Bücher versteckt. Bibliopath: ist jemand, der von Büchern krank wird. Bibliophob: ist jemand, der Angst vor Büchern hat. Und was ist Ihre Beziehung zum Buch, lieber Leser, liebe Leserin? Ursula Kohler
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DER DIALOG ODER DAS SOKRATISCHE GESPRÄCH «Der Kluge lernt aus allem und von jedem, der Normale aus seiner Erfahrung und der Dumme weiss alles besser.» Sokrates, Philosoph 469 – 399 v. Chr.
Das MoneyMuseum pflegt ganz bewusst eine Kultur des Dialogs mit seinen Besucherinnen und Besuchern über das Thema Geld in Theorie, Praxis, Geschichte und Gesellschaft. Der Dialog oder das sokratische Gespräch bezeichnet die Methode, ein Thema von Interesse im Gespräch mit einer oder mehreren Personen gründlich zu erörtern und fassbar zu machen. Reden wir also über ein Thema mit Geldbezug, das uns alle in irgendeiner Form beschäftigt und ganz konkret betrifft, wie beispielsweise den Wachstumszwang. Für Politiker und Wirtschaftsvertreter ist klar: Die Wirtschaft muss wachsen, sonst können keine Transferleistungen gezahlt werden. Andere erheben Widerspruch und erklären, der Wachstumszwang sei der Gier geschuldet, notabene der Manager und Finanzfachleute. Zu welcher Ansicht neigen Sie? Und warum? Hierüber könnten wir in einen Dialog treten und uns vertieft austauschen. Das Besondere an einem Dialog: Es ist ein Prozess, an dem sich alle beteiligen. Das Ergebnis entsteht aus der Kollaboration der am Gespräch Beteiligten. Der Dialog macht den Denkprozess transparent und vermittelt so anschaulich, wie wir denken, nämlich oft in Form von Annahmen, deren Gültigkeit überprüft, modifiziert, verfeinert oder verworfen wird. Im Dialog oder sokratischen Gespräch geschieht dies im Austausch mit anderen. 10
Damit ein Dialog gelingt, sollten die Teilnehmer am diskutierten Thema interessiert sein, zuhören, offen für Gedanken anderer und zugleich selbstkritisch und kritisch sein. Das Ziel des klassischen Dialogs oder sokratischen Gesprächs ist es, Einigkeit unter den Teilnehmern bezüglich des zu erörternden Themas zu erzielen. Wir vom MoneyMuseum sind noch nicht auf der Höhe des berühmten Denkers Sokrates, aber bestrebt, uns in der Kunst des Dialogs stetig zu verbessern. Stephan Koncz
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THUKYDIDES ( 460 – 400 V. CHR. ), DER PELOPONNESISCHE KRIEG Die Geschichte des Krieges zwischen Sparta und Athen um die Vorherrschaft unter den griechischen Poleis betrachte ich als Historiker als eines der wichtigsten Geschichtswerke überhaupt. Was macht diese Monografie über den Krieg so ausserordentlich wertvoll? Es ist die Gestaltung des Stoffes und die Zugangsweise des Autors zum Thema. Thukydides hatte als Flottenkommandant auf der Seite Athens gekämpft und fiel später in Ungnade. Mit der nötigen Distanz und Musse umreisst er im berühmten Methodenkapitel den von 431 bis 404 v. Chr. dauernden Krieg. Er schreibt dabei, dass er die Informationen, die er zum Teil mündlich oder durch Anschauung erhalten hat, immer überprüft. Nicht Gesichertes lässt er weg oder präsentiert es so, dass der Leser dies auch nachvollziehen kann. Thukidides wird als Vater der Geschichtsschreibung angesehen. Nicht zuletzt, weil er zwischen dem Krieg als Anlass und seinen tieferen Ursachen unterscheidet. Für die Lektüre dieses Buches über den berühmten Krieg zwischen der Landmacht Sparta und der aufstrebenden Seemacht Athen braucht man Zeit und Musse. Die Namen und Orte in dieser Erzählung dürften den wenigsten geläufig sein. Und auch die Art der Darstellung, die sogenannten Dialoge, erscheinen für heutige Leser fremd und aufgesetzt. Sie wurden damals als Stilmittel zur Belebung und Dramatisierung des Stoffes eingesetzt und galten als unerlässlich. Das Thema des Buches, der Krieg, ist leider auch heute noch hoch aktuell. Eine eindrückliche Parallele zur Situation der neutralen Schweiz in Zeiten des Krieges findet man im «Melier-Dia12
log». Die Bewohner der kleinen Insel Melos wollten sich nämlich im Krieg zwischen Athen und Sparta heraushalten. Sie waren immer schon neutral und wollten es auch bleiben. Athen, das Kriegsschiffe nach Melos entsandt hatte, liess dies nicht gelten und besetzte die Insel kurzerhand. Diese Episode zeigt auf, wie schwierig Neutralitätspolitik ist, besonders in Zeiten des Krieges. Dies ist auch heute noch so, gerade wenn wir an die aktuelle Situation denken: der Ukraine-Konflikt ein paar hundert Kilometer von uns entfernt. Bleiben wir hier neutral wie die Melier vor fast 2500 Jahren oder entscheiden wir uns für eine Seite? Trotz der zeitlichen Distanz mag der Leser vielfachen Gewinn aus der Lektüre dieses Buches ziehen, denn die sozialen Phänomene Krieg, Macht, Ruhm und Prestige sind zeitlos und bleiben omnipräsent, solange es Menschen gibt.
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J. M. COETZEE, WARTEN AUF DIE BARBAREN ( 1980 ) Der Roman des südafrikanischen Literaturnobelpreisträgers Coetzee ist eine Parabel gegen jede Form von Rassismus, Vorurteilen und Angst. Mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen in Europa und der ganzen Welt ist das Thema des Buches so aktuell wie bei dessen Erscheinen 1980. Die Handlung spielt sich irgendwo in einer schäbigen Grenzstadt, am Rande der Wildnis, ab. Hauptfigur des Romans ist ein hoher Beamter kurz vor der Pensionierung. Er ist damit beauftragt, diesen traurigen Marktflecken zu verwalten. Das ist keine schwierige Aufgabe gewesen, denn das Leben war ruhig und vorhersehbar. «Leben und leben lassen» war seine stetige Devise. Das ändert sich schlagartig, als das Militär in die Stadt einzieht. Angeblich drohe ein Angriff der Barbaren, wie es von offizieller Seite heisst. Im Zuge von Notstandsgesetzen nimmt das Militär das Heft in die Hand. Das Alltagsleben der Bewohner wird stark reglementiert. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen stehen an der Tagesordnung. Wir erleben eine sukzessive Erosion des zivilen Lebens. Gerüchte zirkulieren. Ein Klima der Angst und des Misstrauens greift um sich und vergiftet den Alltag. Und die Barbaren, derentwegen diese «Vorkehrungen» oder Schikanen eingeführt worden sind? Wir bekommen sie im Verlauf der Lektüre nie zu sehen. Sie bleiben Schreckgespenster. Warum sollte man diesen Roman lesen? Weil er anschaulich zeigt, was mit einer Gesellschaft geschieht, die von Furcht beherrscht wird. Fast 40 Jahre nach Erscheinen des Romans lässt 14
sich Ähnliches in Teilen Europas mit Blick auf die Migranten beobachten. In den mittelosteuropäischen Staaten beispielsweise wird in den staatlichen Medien von Millionen Afrikaner palavert, die angeblich auf dem Marsch nach Europa seien, um sich hier an unserer Arbeit Früchte gütlich zu tun. Es gelte diese «Horde» aufzuhalten, mit Mauern an der Grenze. Noch besser seien Internierungslager auf dem afrikanischen Kontinent, in Libyen. Die zentrale Aussage des Romans lautet: Die Barbaren sind längst in der Stadt. Es sind jene, die vorgeben, die Zivilbevölkerung vor den angeblichen «Barbaren» zu schützen. Jener Major mit dunkler Sonnenbrille, dem wir auf der ersten Seite des Buches begegnen, dessen Gesichtszüge stets gleich bleiben – ob er nun jemanden beim Vorbeigehen knapp grüsst oder im Verlies der Stadt Verdächtige foltern lässt.
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GEOFFREY CHAUCER, CANTERBURY-ERZÄHLUNGEN Manesse Verlag, 1971 Was gibt es Amüsanteres für einen Studenten der Anglistik im zweiten oder dritten Semester als die Lektüre der Canterbury-Erzählungen? Vermutlich nichts, denn die Erzählungen, in mittel-englischer Sprache, in Vers- und Prosaform verfasst, wären das reinste Vergnügen gewesen, wenn man dieses Stück Weltliteratur des Spätmittelalters nicht im Original hätte lesen müssen. Augenzwinkernd sei hinzugefügt: Zum Glück gab und gibt es gute Übersetzungen der Canterbury-Erzählungen ins Deutsche wie jene des Manesse-Verlags. Dies erleichtert die Aufgabe angehender Anglisten nichtenglischer Muttersprache ungemein. Die «Canterbury-Erzählungen» handeln von einer Wallfahrt zur gleichnamigen Kathedrale. Klerus, Adel und profanes Volk, Damen, züchtige und leichtere, pilgern in dieser fiktiven Geschichte nach Canterbury und bilden über mehrere Wochen eine Reisegesellschaft von hochexplosiver und urkomischer Mischung. Die «Canterbury-Erzählungen», zwischen 1387 und 1400 verfasst, bestechen durch Sprachwitz, muten mitunter erstaunlich modern an, drehen sich doch alle Geschichten um Menschliches, Allzumenschliches, und das ist bekanntlich zeitlos. Der Leser erhält Einblick in den Alltag des Hochmittelalters: Dieser bestand eben nicht nur aus Predigten von der Kanzel, sondern auch aus Saufgelagen des Klerus oder geheimen Sehnsüchten und manchmal wohl auch aus Weltflucht wie in der Erzählung des Müllers, in der dessen junge Ehefrau sich mit einem Schönling vergnügt, während der Ehemann sein und ihr täglich Brot verdient. Chaucers Erzählungen vermitteln auch Folgendes: dass das 16
überlieferte Gesellschaftsgefüge der Stände im Herbst des Mittelalters arg in Bewegung gerät, auf Pilgerfahrten wie der beschriebenen ebenso wie in den Städten, wo die Handwerker, Händler, Kleriker auf engstem Raum zusammenleben. Hierhin drängen die Menschen aus dem Umland, um als billige Arbeitskräfte ihr Glück und Auskommen zu suchen. Die Städte wachsen ständig, nicht zuletzt auch durch den Handel. Der Autor Geoffrey Chaucer (1342–1400) war in Diensten der englischen Krone ein ziemlich weit gereister Zeitgenosse des 14. Jahrhunderts. Als Kammerdiener am Hof ging es mit seiner Karriere zügig voran: 1374 wird er zum Zollinspektor für Woll-, Fell- und Lederexporte ernannt, mit einem stattlichen Salär. Er bereiste in der Folge in königlichen Diensten Florenz, Genua und später auch Mailand. Er lernte Italienisch und dürfte sich in dieser Zeit mit den Werken von Dante und Boccaccio vertraut gemacht haben, die ihre Schriften in der Volkssprache verfasst hatten wie er.
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JOSEPH CONRAD, HERZ DER FINSTERNIS ( 1899 ) Diogenes Verlag, 1977 Joseph Conrads (1857–1924) Novelle «Heart of Darkness» ist eine düstere Geschichte über Kolonialismus, Ausbeutung und die Gier nach Reichtum. Sie erschien 1899. Im Zentrum steht die Hauptfigur Marlow und dessen Reise in den Kongo, um den mysteriösen Kurtz ausfindig zu machen, der auf seiner manischen Suche nach Elfenbein vom Dschungel verschluckt zu sein scheint. Marlow trägt stark autobiografische Züge des Autors. Dieser, ursprünglich in Polen aufgewachsen, kommt als Teenager auf abenteuerlichen Wegen nach England und erhält dort mit 30 Jahren die britische Staatsbürgerschaft. In den 1890er-Jahren war Conrad Schiffskapitän auf dem Kongo in Afrika. Seine diesbezüglichen Erlebnisse flossen in die Novelle «Herz der Finsternis» ein. Die Geschichte beginnt harmlos: in einem Boot auf der Themse in London. Auf dem Schiff befinden sich Marlow und ein paar Freunde. Weil die Reisegesellschaft warten muss, beginnt die Hauptfigur aus seinem Leben als Agent einer Kolonialgesellschaft zu erzählen. Die Reise ins Herz der Finsternis beginnt. Marlow erzählt, was ihm alles auf der Suche nach Kurtz widerfahren ist. Gegen Ende einer zweimonatigen Odyssee im tiefsten Inneren Afrikas trifft Marlow einen jungen Abenteurer, der Kurtz kannte. Dieser erzählt, wie Kurtz die Eingeborenen mittels okkulter, magischer Rituale an sich zu binden verstand und von jenen gleichsam als Gott verehrt wurde. Wenig später findet Marlow schliesslich den todkranken Kurtz. Er bringt Kurtz, dessen Geliebte und haufenweise von Kurtz erbeutetes Elfenbein an Bord eines Fluss18
dampfers. Er wird Zeuge, wie Kurtz stirbt, und schildert dies so: «Oh, er kämpfte! Er kämpfte! Durch die Wüsten seines müden Hirnes zuckten nun schattenhafte Bilder, Bilder von Wohlstand und Ruhm … ‹Meine Braut, meine Stationen, meine Laufbahn, meine Ideen› … Sowohl der teuflische Hang zu den Mysterien wie auch der unirdische Hass dagegen, durch die diese Seele, von urweltlichen Erlebnissen gesättigt, gegangen war, machten einander nun ihren Platz streitig und äusserten sich in der Gier nach falschem Ruhm, erschlichener Auszeichnung, nach all den äusseren Merkmalen von Erfolg und Macht.» Die Novelle legt schonungslos die düstersten Kapitel der europäischen Kolonialgeschichte offen, die noch heute Afrika belastet. Es zeigt, wie rücksichtslos die einheimischen Arbeiter ausgebeutet wurden, die das «weisse Gold» mühsam kilometerweit durch den Dschungel transportieren mussten. Eindrücklich für jeden Leser ist auch die Szene vom Ende des verschollen geglaubten Kurtz, der sich und alles um ihn herum wegen seiner masslosen Gier nach Elfenbein und nach Geld zugrunde richtet.
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WILLIAM FAULKNER, ALS ICH IM STERBEN LAG ( 1930 ) Diogenes Verlag, 1973 Warum ist das Buch des in den Südstaaten der USA aufgewachsenen Pessimisten und späteren Nobelpreisträgers für Literatur William Faulkner (1897–1962) noch heute lesenswert? Weil er vermutlich als Einziger die verarmte weisse Unterschicht in diesem Roman in den Blick nimmt. Jeder kennt sie, die anderen Protagonisten im Süden der USA: die weissen Plantagenbesitzer und die schwarzen Sklaven, denen die politische Gleichberechtigung bis in die erste Hälfte der 1960er vorenthalten wurde und die sich erst mit der Wahl Barack Obamas 2008 als erstem afro-amerikanischem Präsidenten der USA als vollwertige Mitglieder zählen dürfen. Aber wie steht es um die weisse Unterschicht? Die sogenannten Modernisierungsverlierer und Trump-Wähler? Der Roman Faulkners nimmt sozusagen deren Vorläufer oder Vorfahren in den Fokus. Nicht nur der Titel des Romans, sondern vor allem auch die Technik, mit der Faulkner die Geschichte einer verarmten, weissen fünfköpfigen Farmerfamilie erzählt, hat es in sich. Der Plot könnte nicht öder gewählt sein: Die Familie bringt den Leichnam der kürzlich verstorbenen Mutter in deren Geburtsstadt zurück, auf einem Mauleselgespann. Diese nicht gerade spannungsgeladene Handlung wird aus der Perspektive eines jeden einzelnen Familienmitglieds geschildert. Dabei verwendet Faulkner die Technik des inneren Monologs der jeweils erzählenden Person. Dies war das Revolutionäre an der Erzähltechnik des Autors. Denn der allwissende Ich-Erzähler ist in diesem Roman überhaupt nicht 20
mehr vorhanden. Die Erzählung ist also multi-perspektivisch aufgebaut. Die Geschichte zeigt eine Familie, die als Einheit nicht existiert. Jeder hegt Groll oder ein Ressentiment gegen den anderen. Vielleicht war das noch anders zu Lebzeiten der mater familias? Wir wissen es als Leser nicht. Es ist ein Trauerzug von Verlierern, Randständigen, abgerutschten Modernisierungsverlierern ohne Perspektiven, einzig das bevorstehende Begräbnis der Mutter hält sie noch zusammen. Solche Schicksale gibt es nicht nur heute, in Zeiten der Digitalisierung, sondern auch früher, damals Ende der 1920er-Jahre. Es sind tragische Figuren voller Frust, Wut und Ohnmacht, ganz ähnlich jenen, die 2016 den Demagogen Donald Trump gewählt haben. Über die handelt der Roman, und durch die Lektüre erhalten wir als Leser einen Einblick in deren Welt und Gefühlslage. Für die meisten von uns zum Glück eine fremde Welt.
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NATHANIEL HAWTHORNE, DER SCHARLACHROTE BUCHSTABE ( 1850 ) Manesse Verlag, 1957 Im Roman wird die Geschichte der jungen Frau Hester Pryne, Mutter einer unehelichen Tochter, erzählt. Trotz öffentlicher Anprangerung nennt die Protagonistin den Namen des Vaters ihrer Tochter nicht. Als Unverheiratete mit Kind muss sie in der Öffentlichkeit stets und gut sichtbar einen scharlachroten Buchstaben E (Ehebrecherin) aus Stoff auf ihrem Kleid tragen. Die Geschichte spielt sich Ende des 17. Jahrhunderts in einem streng puritanischen Städtchen in Neuengland ab. In meiner Lesart des Romans prangert «Der Scharlachrote Buchstabe» an, und zwar jene, welche anprangern. Die Geschichte ist in einer Zeit situiert, in der soziale Ächtung und Stigmatisierung von Menschen, die nicht so konform leben, wie es Puristen, Dogmatiker oder eben die Mehrheitsgesellschaft für geziemend erachten, schonungslos ausgegrenzt werden. Die Ironie des Romans besteht darin, dass sich im Laufe der Erzählung alle bis auf die ausgegrenzte Hester als heuchlerisch oder bigott erweisen, wüsste man von deren Taten. Einzig Hester bleibt sich und ihrem Versprechen, den Namen des biologischen Vaters nicht zu nennen, treu. Sie ist standhaft. «Der Scharlachrote Buchstabe», 1850 erschienen, kommt als historischer Roman daher und will dennoch mehr sein als eine erfundene Geschichte, nämlich ein Stück amerikanische Sozialgeschichte. Dies gelingt dem Autor in der Einleitung, die er der Erzählung vorausschickt. Sie dient Hawthorne sozusagen als Gewähr für die Authentizität der Geschichte, indem sie die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpft. Zudem berichtet die Ein22
leitung von der (fiktiven) Entdeckung eines Manuskripts, auf dem der nachfolgende Roman beruhen soll. Das Ende des Romans mag nicht zu überzeugen, denn die Heldin zieht sich aus der Gesellschaft zurück und vollführt eine nicht ganz glaubwürdige Volte ins Biedermeierliche. Die Mechanismen der sozialen Ausgrenzung aber, die der Roman aufs Korn nimmt, muten erschreckend zeitlos an. Man denkt sofort an die Ausgrenzung und die Vernichtung der Juden in Europa vor und während des Zweiten Weltkriegs oder vielleicht an die weniger existenziell-bedrohlichen Praktiken der Anprangerung von sozialen Randgruppen im Internet in heutiger Zeit. In jedem Fall bleibt ein Unbehagen, wie schnell und radikal sich das Kollektiv Sündenböcken bedient, um vom eigenen Versagen abzulenken und die Wut und Empörung auf Einzelne zu lenken, um es an ihnen abzureagieren.
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MARK TWAIN, DIE ABENTEUER DES HUCKLEBERRY FINN ( 1885 ) Wer kennt sie nicht, die abenteuerlichen Geschichten des jungen Huckleberry Finn? Es ist die fiktive Biografie eines Jungen in den USA, der, wie man heute sagen würde, «aus zerrütteten Verhältnissen» stammt und trotz aller Streiche, die er anderen spielt, und der Tricks, die er anwendet, um durchzukommen, ein Vorbild für alle Jungs war und ist. So auch für mich. Die Bedeutung der Geschichte des Huckleberry Finn reicht aber viel weiter. Sie bietet einen Einblick in die Geschichte der Vereinigten Staaten und deren Bewohner. Meiner Meinung nach sollte man diese Geschichte kennen, um die USA zu verstehen. Auch heute noch kein eitler Zeitvertreib, bestimmen die USA – fast 150 Jahre nach Erscheinen des Romans – noch immer das Weltgeschehen. Huckleberry Finn lässt sich nicht unterkriegen. Er improvisiert und findet auch in äusserst schwierigen Verhältnissen eine Lösung für das anstehende Problem. Hier zeigt sich die Qualität der Amerikaner: den Mut, nie aufzugeben, und den Pragmatismus, der ganz dem Hier und Jetzt verpflichtet ist. Sie sind nicht darauf erpicht, irgendwelche letzte Fragen beantworten zu wollen, wie wir es in Europa gewohnt sind. Die Amerikaner sind Macher. Die Geschichte bietet dem Leser eine sehr anschauliche Reise durch die USA. Wir verbringen sozusagen in Gesellschaft von Huck Finn Tage und Nächte am Mississippi, lernen dessen Bewohner kennen, die im Rhythmus des «grand old river» leben. Wir sind Zeuge von Hucks Empathie für den entlaufenen Sklaven Jim und bekommen vertiefte Einblicke. Wie muss es sich für ei24
nen Schwarzen angefühlt haben, in einem Land der Freien aufzuwachsen, die ihm selbst aber keine Freiheit gönnten. Huck Finn schert sich einen Teufel darum, was andere über seine Freundschaft zu Jim denken. Er wird zu ihm stehen und Jim zu ihm. So, wie die Schriftstellerin Carson McCullers (1917–1967) weise über Freundschaften geschrieben hat: Das Herz ist ein einsamer Jäger. Interessant ist zu sehen, wie unterschiedlich Huck und Tom Sawyer sind – die zwei Freunde. Letzterem hat Mark Twain (1835 –1910) auch einen Roman gewidmet. Tom verkörpert einen anderen Typus. Er stammt nicht aus zerrütteten Verhältnissen wie Huck, sondern lebt bei seiner Tante: ein Blaustrumpf mit Herz, der fast verzweifelt ob Toms Streichen. Dieser erfindet die Abenteuergeschichten aber bloss, um sich seine Langeweile zu vertreiben, während Huck Abenteuer erlebt, ganz einfach, weil das Leben an ihn andere Herausforderungen stellt als an Tom.
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KAISER KARL V., NEUE MÜNZORDNUNG – SAMT VALUIERUNG DER GULDINUND SILBERIN-MÜNZEN VON 1524 In einer Version von 1548 Kaiser Karl V. regierte ein immens grosses Reich. Dazu gehörten Besitzungen in Lateinamerika, das ein zeitgenössisches Bonmot treffend so beschrieb: «Ein Reich, in dem die Sonne niemals untergeht.» Die Länder, die der Habsburger regierte, waren sehr heterogen, was ihre Kultur, soziale Struktur, aber auch Wirtschaft und Arbeitsethos betraf: So fanden sich die geschäftigen Niederländer unter der gleichen Herrschaft wie die reichen, saturierten Burgunder, die stolzen, aber gemächlichen Spanier oder die tüchtigen Deutschen «avant la lettre». Letztere lebten in einer Vielzahl von unterschiedlich grossen Herrschaften oder Ländern. Für den Habsburger Kaiser stellte sich die Frage: Wie lässt sich das Potenzial dieser unterschiedlichen Länder bündeln und nutzen? Denn dem Vorstoss der Mauren von Süden her und der Sarazenen vom Osten her musste etwas entgegengesetzt werden. Karl V. erliess eine neue Münzordnung, um die wirtschaftliche Kraft des Reiches zu bündeln. Etwas salopp formuliert ging die EU ähnlich vor, als sie 1991 den Euro als Einheitswährung einführte – natürlich nicht, um irgendwelche Invasoren vor den Toren Europas abzuwehren, sondern um auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Die kaiserliche Münzordnung wurde erstmals Ende 1524 erlassen. Die dauerhafte Ordnung des Münzwesens hatte Karl V. fünf Jahre zuvor bei seiner Wahl zum Kaiser versprochen. Zu Beginn seiner Regentschaft war Karl V. zunächst mit anderen Her26
ausforderungen in Beschlag genommen: Einerseits gab es Aufstände in den Städten der Niederlande und in Spanien. Anderseits stand er im Zwist mit seinem jüngeren Bruder Ferdinand, der auf eine angemessene Berücksichtigung mit Blick auf die Regentschaft in den österreichischen Erblanden des Hauses Habsburg pochte. Doch der junge Kaiser verlor auch in dieser turbulenten Anfangszeit die Reform des Münzwesens nie aus den Augen. Schon Anfang 1524 wurde eine neue Münzordnung in den österreichischen Erblanden der Habsburger erlassen. Am 10. November des gleichen Jahres folgte die Proklamation einer neuen Münzordnung reichsweit. Die beiden Münzordnungen waren aber nicht kongruent. Denn in der kaiserlichen Münzordnung bildete das sächsische Münzsystem die Basis. Die neue Leitmünze reichsweit wurde der sogenannte kaiserliche Guldiner. Dieser ging auf den sogenannten Thaler zurück. Gemäss der Regelung für das Erscheinungsbild der neuen Münzen war eine Seite reserviert für das Abbild der Insignien des Hauses Habsburg mit der Aufschrift: König der Römer Karl V von Habsburg. Auf der anderen Seite waren die Herausgeber der Münzen, also jene Reichssubjekte, die das kaiserliche Recht zur Münzprägung innehatten wie beispielsweise die freie Reichsstadt Zürich, vollkommen frei, ein eigenes Motiv zu wählen. Eine gleiche Regelung kennt man mit Blick auf die Euro-Münzen von heute. Im MoneyMuseum befindet sich die Neue Münzordnung von Karl V. in einer Version aus dem Jahr 1548 – 24 Jahre nach der Erstveröffentlichung.
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THOMAS HOBBES, LEVIATHAN ( 1651 ) «Leviathan» ist vor dem Hintergrund des Englischen Bürgerkrieges 1642–49 entstanden. Für den Zeitgenossen Hobbes (1588– 1679) herrschte pure Anarchie und Gewalt. «Der Mensch ist des Menschen Wolf», muss sich der Philosoph Hobbes gedacht haben. Für Hobbes braucht es folglich eine Gewalt, die alle partikulären Gewalten im Zaum hält: die Staatsgewalt des Souveräns. Dieser Souverän ist nichts anderes als die Summe aller, die in den Gesellschaftsvertrag eingewilligt haben, also ein Abstraktum mit absoluter Gewalt. Warum ist «Leviathan» immer noch aktuell? Schauen wir uns um, wie es um die Welt bestellt ist, in Syrien, Afghanistan oder Somalia und wir werden Hobbes beipflichten müssen: Nur ein starker Staat, der seine Bürger schützen kann und den inneren Frieden garantiert, hat eine Existenzberechtigung. Dies ist die vornehmste Aufgabe eines modernen Gemeinwesens. Als Student entging mir dieser fundamentale Gedanke, denn in der Schweiz haben wir das Glück, dass unsere Friedenszeit schon sehr lange währt. Doch zu meinen, dass dies für alle Zeiten gesichert sei, ist eine naive Illusion. Gewalt ist leider sehr menschlich. Damit aber ein Staatswesen in Frieden prosperieren kann, braucht es eine Gewalt, über die niemand verfügt und die doch für alle verbindlich ist. Diese Gewalt oder modern gesprochen die Staatsgewalten, die unser Leben bestimmen, liegen bei uns zum Glück in den Händen aller. Wir stimmen über Verbindliches ab und können selber Ideen einbringen. Mittels der Gerichte, die verpflichtet sind, unsere individuellen Freiheiten zu schützen, können wir uns zur Wehr setzen. 28
Was bleibt, wenn die Staatsgewalten in den Händen einiger weniger oder eines Einzelnen liegen, der sie für seine eigenen Zwecke missbraucht, wie zum Beispiel gegenwärtig in der Türkei oder in Russland? Der Gang vor die Gerichte wird vermutlich nichts nützen. Ziviler Ungehorsam wäre vielleicht möglich. Wenn das nichts nützt, bleibt die Rebellion oder der Aufstand. Dafür gibt es auch zahlreiche Beispiele: die Amerikanische und die Französische Revolution. Oder die samtenen und weniger geschmeidigen Revolutionen, welche die korrupten Regimes im Osten Europas vor bald 30 Jahren hinweggefegt haben. Was Freiheit wirklich bedeutet, wissen nur jene, die Unfreiheit selber erfahren oder erlitten haben. In der Schweiz liegt das weit zurück. Die Staatsgewalt, die den inneren Frieden sichert, liegt in unseren eigenen Händen. Es ist Geschenk und Privileg sowie eine Verpflichtung, umsichtig und weise damit umzugehen. Hobbes hat mit seinem Werk «Leviathan» im 17. Jahrhundert der Nerv der Zeit getroffen, denn nicht nur in England herrschte Bürgerkrieg, Europa wurde in Folge des «Dreissigjährigen Krieges» (1618–1648) zwischen Katholiken und Protestanten richtiggehend verheert. Späteren Zeiten war Hobbes suspekt, hat er doch der Allmacht des Staates das Wort geredet. Dabei liess man den historische Kontext des Werkes, häufig ausser Acht und anderseits schien man vergessen zu haben, dass ohne den Frieden die Freiheit nicht gedeihen kann. 29
HERMANN MELVILLE, MOBY DICK ( 1851 ) 1944 als erstes Buch im Manesse Verlag erschienen «Moby Dick» setzte das Startzeichen. Der unvollendete Roman von Herman Melville ist als erstes Buch in der Manesse-Bibliothek der Weltliteratur 1944 erschienen. Dass der neu gegründete Verlag gerade diesen Klassiker auswählte, erstaunt mich nicht, denn «Moby Dick» ist viel mehr als ein Abenteuerroman über den Walfang in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Nordamerika. Er ist eine Parabel auf den Staat, dessen Symbol seit der Antike das Schiff, genauer das Staatsschiff, ist. 1944 war die Schweiz umgeben von Staaten, die aufgehört hatten zu existieren. Der Zweite Weltkrieg tobte. Mit Blick auf «Moby Dick» lässt sich hier eine Parallele ziehen: Am Anfang der europäischen Katastrophe stand der Wahn eines ruchlosen Verbrechers – Adolf Hitler. In «Moby Dick» ist es der wahnsinnige Rachefeldzug des Kapitäns Ahab, der die ganze Mannschaft und das Schiff in den Abgrund reissen wird. «Moby Dick» ist übrigens mein ganz persönliches Lieblingsbuch. Der Roman enthält zahlreiche Anspielungen und Verweise auf die jüngere und ältere Geschichte der USA. Schon der Name des Walfangschiffs «Pequod», das in New Bedford vor Anker liegt und auf dem die Hauptfigur Ishmael anheurt, weist auf dunkle Seiten der Geschichte des jungen Staates hin. Es ist der Name eines Indianerstamms im Nordwesten der USA, der ausgerottet worden war. Das Abenteuer steht unter äusserst schlechten Vorzeichen! Eine zentrale Rolle nimmt das Geld ein. Dies wird schon zu Beginn des Romans klar: Jede Person, die auf dem Schiff anheuert, soll einen bestimmten Anteil am Gewinn des Unterfangens er30
halten – abhängig davon, wie viel Erfahrung und welche Fähigkeiten sie mitbringt. Diese prospektive und vertraglich vereinbarte Gewinnbeteiligung wird penibel in einem Buch festgehalten. Der Walfang ist nicht nur ein Abenteuer, sondern auch ein Geschäft, das Profit generieren muss. Im Laufe der Geschichte schlägt das Pendel weiter vom Abenteuer zum Geschäft um. Auf offener See wird Kapitän Ahab vor seine Mannschaft treten und eine spanische Goldmünze als Belohnung aussetzen. Sie soll demjenigen gehören, der einen riesigen, weissen Pottwal erblickt. Alle auf dem Schiff wissen, um wen es sich handelt: Moby Dick. Geschickt zieht Kapitän Ahab die Mannschaft auf seine Seite, indem er an deren Gier appelliert. In einem dramatischen Monolog am Ende dieser Episode legt er zudem den eigentlichen Sinn und Zweck des Unterfangens offen zutage: die Befriedigung einer Rache. Was will uns diese Szene sagen? Der Walfang als risikoreicher, aber lukrativer Wirtschaftszweig – schon zur Zeit, als Moby Dick publizierte wurde – war deswegen bereits in der Krise, weil Gier den Hauptantrieb bildete. «Moby Dick» ist ein Abenteuerroman, den man wegen seiner packenden Geschichte nicht so leicht weglegt. Und er ist viel mehr – ein auf verschiedenen Ebenen angesiedelter gesellschaftskritischer Roman, dessen Aktualität jede Generation für sich wieder neu entdecken kann und auch sollte. 31
WILLIAM GOLDING, PINCHER MARTIN Der Roman «Pincher Martin» des Nobelpreisträgers für Literatur, William Golding, führt uns auf eine Insel. Im Gegensatz zu Goldings erstem Roman, «Herr der Fliegen», handelt es sich diesmal nicht um eine Horde Jugendlicher, die sich als vollkommen unfähig erweisen, ohne Unterweisung Erwachsener eine zivile Gemeinschaft aufzubauen. In «Pincher Martin» haben wir es zwar auch mit einem Gestrandeten zu tun, doch mit einem, dem man – wie man im Verlauf der Erzählung noch erfahren wird – nicht begegnen möchte. Warum gehört «Pincher Martin» zu meinen Lieblingsbüchern? Vermutlich, weil es wie kein anderes das Böse einfängt. Nicht irgendein abstrakt Böses, sondern einen bösen Menschen, eben diesen gestrandeten Pincher Martin. Zu Beginn des Romans ist der Leser hautnah dabei, wie der Protagonist auf offener See gegen die Fluten ankämpft, von denen er droht verschluckt zu werden. Mit letzter Kraft rettet er sich auf eine Insel. Diese erweist sich nicht als paradiesisches Südseeatoll, sondern als Nicht-Ort. Felsen, Sand und ein Hinterland, das Pincher Martin nie erreichen wird. Im Verlauf der Erzählung erfahren wir mehr über Pincher Martin. Er ist Angehöriger der britischen Marine. Erstaunt stellt der Leser fest, dass der Autor keine positive Gestalt zum Helden seines Romans gewählt hat, sondern eine Person, die rücksichtslos auf den eigenen Vorteil bedacht ist und ihren Mitmenschen geschadet hat. Viel passiert in diesem Roman nicht, denn wir sind mit Pincher Martins Gedanken allein in der Ödnis. 32
Was das Buch vermittelt, ist Folgendes: Das Böse ist zwar extrem und schrecklich, aber es ist auch selbstaufzehrend und oberflächlich. Das lässt sich an den Taten des Protagonisten illustrieren, die ihn in Bildern auf der Insel einholen: Zunächst waren es kleine Betrügereien, dann Diebstahl, und zuletzt schreckte er auch vor einer Vergewaltigung nicht zurück, um sein Bedürfnis zu befriedigen. Somit hat er sich selber ins Abseits der Gemeinschaft seiner Mitmenschen gesetzt. Vielleicht kann man sagen: Niemand ist eine Insel, ausser der böse Mensch. Aber die Geschichte wartet am Ende mit einer Überraschung auf. Denn der Erzähler erklärt, dass Pincher Martin ertrunken ist. Er hat die dramatische Szene zu Beginn des Romans, als wir Leser ihn bei seinem Todeskampf erlebt haben, nicht überlebt. Vielmehr haben ihn die Fluten des Ozeans verschluckt. Ja, und nun? Wie ist es möglich, dass wir seine Geschichte trotzdem erfahren? Auf dieser Insel, an diesem lebensfeindlichen Nicht-Ort? Diese Frage ist letztlich der Interpretation des Lesers überlassen. Seit dem Erscheinen des Romans in den 1950er-Jahren haben Massen von Kommentatoren und Kritikern versucht, eine schlüssige Erklärung zu liefern, vergebens. Vielleicht verhält es sich so, dass die Erzählung von der Insel nur in Pincher Martins Kopf stattfindet, im bangen Moment des Ertrinkens, der ihm ewig lang vorkommen muss.
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JEAN-JACQUES ROUSSEAU: DU CONTRACT SOCIAL; OU PRINCIPES DU DROIT POLITIQUE Amsterdam, 1762 Rousseaus Essay über den Gesellschaftsvertrag ist ein moderner Klassiker der politischen Philosophie. Es erschien erstmals 1762 in Amsterdam, wurde in der Folge sofort auf den Index gesetzt, so auch in Genf, wo Rousseau bekanntlich wohnte und das Bürgerrecht besass. Auffallend ist das praktisch-handliche Format des Büchleins. Es ist ein veritables Taschenbuch «avant la lettre». Vielleicht ahnte der Autor, dass die Leser es schnell und bequem in ihren Taschen verschwinden lassen mussten, waren doch die Obrigkeiten ob des Inhalts des «Contract Social» gar nicht amüsiert. Rousseaus Ziel in diesem Essay ist es, Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben zu entwickeln, die legitim und verbindlich sind, gleichzeitig auch die Natur des Menschen berücksichtigen, wie er es in seinem ersten Satz schreibt. Und das herausragende Merkmal der Natur des Menschen ist, dass er frei geboren wurde. Die Hauptfrage lautet: Welche Herrschafts- oder Regierungsform ist die beste, damit sich die Freiheit der Bürger entfalten kann? Und wie soll diese legitimiert sein? Für den Aufklärer Rousseau ist die Antwort klar: Es ist die Demokratie, denn nur sie legitimiert sich aufgrund des Entscheids der Mehrheit. Aber gerade hier liegt die Crux in Rousseaus Demokratieverständnis: Denn er ordnet dem Egalitären alles unter, so auch die Freiheit des Einzelnen. Überspitzt gesagt: Die Mehrheit hat immer recht. Die Demokratie aber, die keine Schutzrechte für den 34
Einzelnen akzeptiert, läuft Gefahr, sich in eine Diktatur der Mehrheit zu verwandeln. In der aktuellen politischen Diskussion wird diese rigide Haltung von Populisten dies- und jenseits des Atlantiks vertreten und kompromisslos in jeder Diskussion deklamiert. Rousseaus «volonté generale» oder auf Deutsch «der allgemeine Wille» ist empirisch nicht zu fassen, umfasst er doch mehr als die Summe der einzelnen Voten, welche die Mehrheit bildet. Es ist für mich immer ein Phantom geblieben, dem Wunschdenken des Autors geschuldet, der mit dieser Schrift der Demokratie zum Durchbruch verhelfen sollte.
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JOHN MILLINGTON SYNGE, DIE ARAN-INSELN ( 1907 ) Manesse Verlag, 1981 Das Buch «Die Aran-Inseln» ist mir in vielfacher Hinsicht lieb und teuer. Es war mein Reisebegleiter während meines mehrwöchigen Aufenthalts in Irland zur Gymnasialzeit. Zusammen mit einem Schulfreund besuchte ich die Grüne Insel zwecks Verbesserung der Englischkenntnisse. Die Aran-Inseln, südöstlich von Irland gelegen, habe ich leider nicht besucht. Es bleibt für mich Sehnsuchtsort, nicht zuletzt wegen der Lektüre von Synges gleichnamigem Buch. «Die Aran-Inseln» ist ein Reisebericht, eine Reportage über das Exotisch-Eigene. Die Inseln wirken nicht nur ihrer Abgeschiedenheit, der Landschaft und des rauen Klimas wegen fremd auf den Bohemien und erfolgreichen Bühnenautor Synge (1871–1909), sondern vor allem auch wegen der Bewohner und deren Sprache, dem Gälischen. Der Autor protokollierte alles, was er gesehen, gehört und erfahren hatte – fast wie ein moderner Ethnograf. Später wird Synge über das Gälische schreiben: «There is no language like the Irish for soothing and quieting» und spielte damit genau auf jene Eigenschaften seiner Muttersprache an, die der Autor selbst, als er die Aran-Inseln um die Jahrhundertwende erstmals besuchte, so dringend benötigte: das Beruhigende und Tröstende. Denn als Synge die Aran-Inseln um die Jahrhundertewende besuchte, war es um die Gesundheit des Autors nicht gerade zum Besten bestellt. Zusammen mit seinem Künstlerkollegen Jack Butler Yates reiste er nicht zuletzt zur Entspannung auf diese ab36
geschiedenen Inseln. Besonders eindrücklich sind jene Passagen, in denen Synge über das Alltagsleben der Inselbewohner berichtet. So erleben wir hautnah, wie auf den Aran-Inseln getrauert wurde, wenn jemand ertrunken war. Solche Szenen hat Synge für spätere Bühnenstücke verwendet. Seine Eindrücke und Erlebnisse der Reisen zu den Aran-Inseln dienten dem Autor immer wieder als Inspiration für sein Schaffen als Dramatiker, das mit seinem frühen Tod 1909 ein jähes Ende fand. Ob ich es jemals schaffen werde, eine Reise zu den Aran-Inseln zu unternehmen? Ich weiss es nicht. Irland und die Iren sind mir zwar immer noch lieb und teuer, doch nicht mehr in dem Masse, wie sie es für mich als jungen Gymnasiasten vor über 30 Jahren gewesen sind. Aber etwas bleibt und überdauert alles: die Magie des Reisens, die so häufig von der Magie der Buchstaben und der Lektüre beflügelt wird.
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PATRICK SÜSKIND, DAS PARFUM – DIE GESCHICHTE EINES MÖRDERS Diogenes Verlag, 1985 Als «Das Parfum» Mitte der 1980er erschien, schlug der Roman salopp ausgedrückt wie eine Bombe ein und machte den Autor zu einem Star, nicht zuletzt weil er die Geschichte eines Mörders auf unterhaltende und meisterliche Weise erzählt. Ich habe den Roman als eine Parabel wider die Einseitigkeit, das Spezialistentum gelesen. In unserer von Geld regierten Zeit muss jeder auf seinem Gebiet ein kleiner Meister sein, ein gefragter Spezialist, um finanziell über die Runden zu kommen, um zu überleben. Der Protagonist Jean-Baptiste Grenouille ist ein solcher gefragter Spezialist. Er wird als Eigenbrötler mit schwierigem familiärem Hintergrund beschrieben, aber mit einer besonderen Gabe gesegnet: Er kann buchstäblich alles bis ins feinste Detail riechen. Der vermeintliche Segen ist sein Fluch, den im Laufe der Geschichte zahlreiche Figuren mit dem Tod bezahlen. Als junger Mann lässt sich Grenouille zum Parfumhersteller ausbilden. Es scheint die Erfüllung seines Lebenstraums und – mit Blick auf seine spezielle Gabe – auch seines Lebenszwecks. Im Laufe seiner olfaktorischen Experimente bemerkt er, dass er für die Herstellung des perfekten Parfums menschliche Essenzen benötigt. So nimmt die Tragik ihren unerbittlichen Lauf: der talentierte Grenouille wird zum Mörder. Grenouille ist ein eindimensionaler Mensch und ein Perfektionist zugleich. Er ist rücksichtslos, zielstrebig und besessen von seiner Idee. Er ist ein Solitär, mit wenig Empathie. Die Taten, die er in seiner Manie, das perfekte Parfum herzustellen, begeht, 38
sind monströs oder einfach böse. In meiner Lesart des Buches lässt sich dies auch auf andere Zusammenhänge übertragen: auf einen Menschen, der, getrieben von seiner Gier nach immer mehr Geld oder Profitsucht, rücksichtlos alle um ihn herum ausbeutet, um sein Ziel zu verwirklichen. Klar, wir Spezialisten werden nicht zu Mördern wie Grenouille im Roman, und doch laufen wir ständig Gefahr im Zuge unseres Strebens nach unserem eigenen Glück das Wesentliche aus den Augen zu verlieren: die anderen und deren legitime Interessen. 39
HENRY DAVID THOREAU, WALDEN ODER LEBEN IN DEN WÄLDERN ( 1854 ) Diogenes Verlag, 1971 Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, die Welt mit ihren Zumutungen hinter sich zu lassen und sich eine Auszeit zu nehmen, irgendwo fernab der Zivilisation? Vielleicht in einer einsamen Blockhütte an einem See in Kanada oder in Alaska? Genau das hat er gemacht, Henry David Thoreau (1817–1862), der gerade mal 28 Jahre alt war, als er sich entschied, in den Wäldern von Massachusetts am Waldensee autark zu leben. Er baute sich seine eigene Blockhütte und lebte so, wie er es in dem auf diesen Erfahrungen fussenden Buch «Walden oder Leben in den Wäldern» propagiert. «Walden» ist ein Essay, eine erfrischend sarkastische Abrechnung mit seinen Mitbürgern und deren Engstirnigkeit, Mutlosigkeit und Bigotterie. Der Ton wird schon zu Beginn gesetzt, als Thoreau, ein kompromissloser Gegner der Sklaverei, erklärt, die schlimmste Form der Sklaverei sei jene, bei der wir selber unsere eigenen Sklavenaufseher sind. Thoreau will aber mehr als nur Spott und Häme ausschütten über seine mutlosen, spiessigen Mitbürger. Er fordert auf, das eigene Leben in die eigenen Hände zu nehmen und es konsequent nach den eigenen Prinzipen zu leben, ohne faule Kompromisse. Es ist dieses Einstehen für die eigenen Überzeugungen, die Thoreau weit über sein Jahrhundert hinaus zu einem Vorbild gemacht haben für Menschen wie Mahatma Gandhi, den Vorkämpfer für ein unabhängiges Indien, aber auch für viele Studenten während der 1968er-Bewegung , die nach einer Alternative zum 40
gegenwärtigen Gesellschaftssystem suchten und neue, unorthodoxe Lebens- und Gemeinschaftsformen ausprobierten. Thoreau ist auch in anderer Hinsicht sehr aktuell. Beispielsweise war er ein überzeugter Vegetarier, lange bevor dies in unseren Breitengraden en vogue gewesen ist. In «Walden» spricht er mit einem Farmer über die Vorteile einer Umstellung des Speiseplans auf rein pflanzliche Kost. Letzterer rümpft nur die Nase und versucht, dem jungen Mann solche Flausen auszureden, mit fadenscheinigen Begründungen notabene. Vergeblich, denn ein Argument wie: «Das war ja immer so gewesen!» lässt natürlich der kritische, unabhängige Nonkonformist Thoreau nicht gelten.
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WERNER BISCHOF, JAPAN Manesse Verlag, 1954 In den Jahren 1951 und 52 ist der Fotograf Werner Bischof in Japan und Korea unterwegs. Er fotografiert im Auftrag der berühmten Fotoagentur MAGNUM, deren Mitglied er ist. Es ist die Zeit der grossen humanen Bildgeschichten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu etablieren begonnen haben. Werner Bischof ist zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt und hat sich mit fotografischen Dokumentationen bereits einen Namen gemacht. Doch warum Japan? Eine geheimnisvolle Muschel, aus der farbige Blumen entspringen, hat in Werner Bischof bereits als Kind eine unstillbare Sehnsucht nach dem fernen Lande Japan geweckt. In Tokio wird er dreissig Jahre später die gleichen Wunderblumen fotografieren. Japan hat er aber nicht einer Wunderblume wegen bereist. Er wollte sich der Seele Japans nähern und das Land den Westeuropäern und Amerikanern vertieft vorstellen. Für viele Europäer war es der erste Blick nach Japan, nachdem es sechs Jahre zuvor durch Hiroshima den Gipfel des Kriegsgrauens darstellte. Jetzt, einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, waren die Menschen bereit, Japan nicht nur durch die Kriegsbrille zu sehen, sondern die Schönheit und Andersartigkeit des Landes zu entdecken. Doch es gab noch weitere Gründe, weshalb Japan in den 1950er-Jahren auf die westlichen Länder eine grosse Faszination aus übte. In Japan prallten zwei Kulturen aufeinander. Einerseits eine traditionelle Lebensweise, die auf Riten, Ruhe und Natur beruhte. Auf der anderen Seite amerikanisierter Lifestyle und westliche Marktwirtschaft. Bischofs Bilder spiegeln genau das wider: Ein Bild zeigt einen als Samurai verkleideten Schauspieler im traditio42
nellen Kabuki-Theater. Auf einem anderen Bild ist eine kaum bekleidete junge Frau in der Garderobe eines Stripteasing-Theaters. Dass Japan die Menschen weltweit interessierte, zeigt sich daran, dass Bischofs Japan-Buch – übrigens posthum in Bischofs Todesjahr, 1954 – zeitgleich in fünf Städten erschien: Paris, New York, London, Mailand und in der vorliegenden Ausgabe beim Manesse Verlag in Zürich. Japan im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne hält dem Westen den eigenen Spiegel vor. Japans Schönheit in traditionellen Riten weckt in den Menschen eine Sehnsucht nach einer «anderen, glücklichen, friedlichen» Welt. Umso härter prallen die Einbrüche der westlichen Lebensart auf die fremdartige Idylle. Doch wie konnte Japan den Spagat von der Tradition in die Moderne machen? Können Bischofs Bilder darauf eine Antwort geben? Wohl kaum. Aber sie erzählen davon, wie die Menschen es versuchen. Um auf das Beispiel der beiden Theater-Bilder zurückzukommen: Die Tänzerin im amerikanisierten Theater ist zwar leicht bekleidet, führt aber eine veränderte Samuraigeschichte auf. In der Einleitung zum Japan-Buch schreibt der bekannte französische Autor Robert Guillain, dass das Land ganz nahe gerückt sei, nur vierzig Flugstunden von Paris entfernt. Auf unserem Planeten gäbe es keine Distanzen mehr, nur noch eine finanzielle Distanz: der Preis der Flugkarte. Und heute? Knapp 12 Stunden dauert der Flug: Wem sich diese Stunden immer noch als Barriere darstellen, der tröste sich mit Werner Bischofs Fotografien – das Land der aufgehenden Sonne rückt in einer einzigen Stunde sehr nahe. 43
LUCIANO DE CRESCENZO, GESCHICHTE DER GRIECHISCHEN PHILOSOPHIE. DIE VORSOKRATIKER (1983 ) Diogenes Verlag, 1985 Seit Jahrzehnten steht es im Büchergestell und wartet darauf, wiederentdeckt zu werden: Viel bewirkt hat es einst, dieses kleine Werk – eine ganze Generation, insbesondere die europäische Jugend, liess sich in den 1980er-Jahren vom italienischen Autor Luciano De Crescenzo in die Geschichte der griechischen Philosophie einführen. Die Ingredienzen des Buches haben junge Menschen sofort begeistert: Da schreibt einer, dem die Pause in der Schule immer am wichtigsten war, über ein hochgebildetes Thema wie die Philosophie der Vorsokratiker. Agrozein ist das griechische Verb, das er an den Anfang stellt. Es bedeutet so viel wie «auf den Markt gehen und hören, was es Neues gibt». Und das nicht etwa zielstrebigen Schritts, sondern schlendernd, die Hände in den Hosentaschen. Das Buch ist an Salvatore, einen Vize-Ersatz-Portier in Neapel, gerichtet, der keine höhere Schule besucht hat und keine Ahnung von Philosophie hat. «Aber mach dir nichts draus: Du bist nicht der einzige. Tatsache ist, dass kein Mensch eine Ahnung von Philosophie hat.» Was beabsichtigt De Crescenzo mit seinem schlauen Einstieg ins Buch? Er nimmt jeden Leser und jede Leserin mit ins Boot, indem er ihnen die Scheu und Ehrfurcht vor dem schwierigen Thema nimmt. Was folgt, sind einzelne Kapitel zu den vorsokratischen Philosophen wie Milet, Thales oder Heraklit. Dazwischen tauchen moderne Philosophen – wie du und ich – aus Neapel auf: 44
Tonino Capone etwa, der eine Autowerkstatt betreibt, in der er nicht immer anzutreffen ist. Dann hängt ein Schild an der Tür: «Tonino hat genug verdient, er ist am Meer.» Der Diogenes Verlag hat das Buch 1985 im selben Jahr herausgegeben wie «Das Parfum» von Patrick Süsskind, das zur erfolgreichsten Publikation des Verlags wurde. «Die Geschichte der griechischen Philosophie» wiederum war das erste Sachbuch, mit dem der Verlag Erfolg hatte und seine finanzielle Basis festigen konnte. De Crescenzos «Storia della Filosfia Greca» war zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Jahren «Italiens Bestseller Nr. 1». Würde sich dieser Erfolg auf ein deutschsprachiges Publikum übertragen lassen? Diese Frage liess Diogenes’ Verleger Daniel Keel ein Jahr lang nicht mehr los, bis er es wagte, das Werk auf Deutsch herauszubringen. Sein Mut wurde mit dem Verkauf von 1 000 000 Exemplaren der Hardcover-Ausgabe belohnt. Offenbar hat die Geschichte der griechischen Philosophie à la De Crescenzo den Nerv der Zeit getroffen. Sie nahm die Bestrebungen einer Gesellschaft auf, in der das Individuum immer mehr ins Zentrum rückte. Es braucht keine Gelehrten, keine hochspezialisierte Sprache, um sich mit philosophischen Gedanken zu befassen. Im Gegenteil: Du und ich, wir alle, hier und jetzt, in unserem alltäglichen Leben, haben Zugang zum Denken, nämlich zu unserem eigenen – und dieses Denken hat seine Berechtigung, egal ob gelehrt oder nicht. Das ist Crescenzos Botschaft und sie kam an. Crescenzos Ansatz war Teil einer Bewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die den Zugang zum Wissen demokratisierte.
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JEREMIAS GOTTHELF, DIE SCHWARZE SPINNE Novelle aus dem Jahre 1842 Früher wurden Geschichten mündlich von Generation zu Generation überliefert. Zu ihnen gehört die Sage von der schwarzen Spinne. Jeremias Gotthelf hat sie 1842 schriftlich eingefangen, wie auch die schwarze Spinne selbst eingefangen wurde. Die Novelle gehört zu Gotthelfs bekanntesten Texten. Ein kleiner schwarzer Punkt befindet sich auf der Wange der Bäuerin Christine. Er dehnt sich aus, treibt Beine und Haare hervor, schwillt zu einer giftigen Kreuzspinne an. Ein rasender Schmerz durchsticht das Gesicht, das plötzlich lebendig wird. Unzählige Spinnchen laufen über die Glieder, hinaus in die Nacht. Sie bringen Tod und Verderben in ein ganzes Dorf. Eine Szene, die sich wohl jedem Leser, jeder Leserin mit Schaudern einbrennen wird. Der schwarze Punkt in Christines Gesicht sitzt genau dort, wo sie der Teufel auf die Wange geküsst hat. Sie, die Lindauerin und Aussenseiterin, wollte durch den Pakt mit dem Teufel ein ganzes Dorf im Emmental retten, dessen Einwohner von ihrem Herrn mit einer unlösbaren Aufgabe geknechtet wurden. Das Angebot des Teufels ist auch zu verlockend: «Wie ich gesagt, ich begehre nicht viel, nicht mehr als ein ungetauftes Kind.» Die Aufgabe muss jetzt gelöst sein, was mit einem ungeborenen Kind geschieht, lässt sich in Zukunft lösen. «Das wäre doch der Einzige, der nicht zu betrügen wäre», denkt Christine. Sie täuscht sich. Gelingt es der Dorfgemeinschaft mit List, die ersten Kinder zu taufen, bevor der Teufel sie holt, so bricht durch die Spinne bald schon Tod und Verwüstung über das Dorf. Mit dem Teufel lässt sich eben doch nicht spassen. 46
Eingebettet wird die Sage in die Geschichte einer Taufe in einem stattlichen Bauernhaus. Hier in einem schwarzen Balken soll die schwarze Spinne eingesperrt sein. Grösser könnte der Gegensatz zwischen der totbringenden Spinne und der lebensbejahenden Taufe nicht sein. Jeremias Gotthelf schreibt die Novelle im Jahr 1842 – zu einer Zeit, in der sich die Welt rund um die Alpentäler arg zu verändern beginnt. Die Kantone streiten um eine neue Bundesverfassung und die Industrialisierung hält Einzug. In diesem Kontext des Umbruchs und dem drohenden Verlust an bestehenden Werten ist es bedeutsam, dass Gotthelf die Spinne in seiner Geschichte 200 Jahre nach der ersten Katastrophe nochmals ausbrechen lässt … dann nämlich, als niemand mehr an sie und ihre Kraft glaubt. Glauben wir heute noch an die Kraft einer Spinne – bildlich gesprochen? Oder wären wir diejenigen, die den Balken ohne Skrupel einschlagen würden? So wie wir die Lebensgrundlagen auf diesem Planeten zu zerstören drohen. Christine hat mit dem Teufelspakt in die Zukunft gepokert – zu hoch. Auch wenn Gotthelfs moralischer Zeigefinger auf den ersten Blick zu deutlich erscheint, ist die Moral dahinter nie einfach. Es geht um ein Spiel von Gut und Bös. Das Böse kann wohl mit Mut bekämpft werden, aber wird es auch besiegt? Das Spiel geht immer weiter. Es dreht sich um Fragen wie Gemeinschaft und Ausgrenzung, Liebe und Hass, Eigennutz und Selbstlosigkeit. Letztlich geht es um die Zukunft einer Gesellschaft. Das ist die Quintessenz und Aktualität der Novelle. 47
PETER KOENIG, 30 DREISTE LÜGEN ÜBER GELD Conzett Verlag, 2004 Was ist eine Lüge? Wir meinen es zu wissen. Was ist Geld? Das wissen wir natürlich genauso gut. Wenn wir jedoch beginnen, genauer darüber nachzudenken, wird es spannend. So spannend wie Peter Koenigs Buch mit dem Titel: 30 dreiste Lügen über Geld. Wenn er von Lüge spricht, dann meint er: Irrtum, (Selbst-) Täuschung, Illusion, Irrglauben. Dieses vielschichtige Verständnis von einer Lüge macht es aus. Natürlich gibt es das absichtliche Lügen, aber genauso wichtig ist das Erkennen einer Selbsttäuschung oder Illusion. Gerade wenn es um Geld geht. Was versteht Peter Koenig unter Geld? Bezeichnend ist der Eingang ins Werk: Als Leser, Leserin bin ich aufgefordert, zehn Punkte zu notieren, was Geld für mich bedeutet. Es bleibt der einzige Selbsttest des Buches – und beinhaltet bereits eine der Kernaussagen des ganzen Werks. Doch wir wollen nicht vorgreifen. Schnell wird klar, dass es Peter Koenig nicht um Münzen und Geldscheine geht. Ihn interessiert die komplexe Beziehung der Menschen zum Geld. Und er möchte hinter die Fassade dessen schauen, was wir im Alltag unter Geld verstehen. Erst so können wir das Wissen und Verständnis über Geld vertiefen. Der Autor empfiehlt ausdrücklich, das Buch von Anfang bis Ende zu lesen. Doch wir missachten an dieser Stelle dieses Gebot und springen einfach mal mitten hinein. Lüge Nr. 12 fragt, wo eigentlich das Geld steckt? Münzen und Scheine sind für sich alleine betrachtet eigentlich wertlos. Mit einem Bankauszug haben wir streng genommen nur das Wort der Bank in der Hand, dass irgendwo etwas Wertvolles für uns aufbe48
wahrt wird. Doch wo befindet es sich? Würden wir es auf der Bank finden, und wenn ja, in welcher Form? Nein, das Geld befindet sich – frei an das Wort Kapital angelehnt, im eigenen Kopf. Ausgelassen haben wir die Lüge Nr. 6. Es ist der Irrtum, der von allen 30 Lügen im Buch am wenigstens Worte benötigt. Wer davon ausgeht, dass man sich mit Geld die Existenz sichert, der soll sich mal kneifen. Existenz pur – mit oder ohne Geld. Es geht auch komplizierter. Ist es eine Lüge, dass Renten und Ersparnisse uns einen sorglosen Lebensabend sichern? Überlassen wir die Beantwortung dieser Frage in Lüge Nr. 23 Ihrer Lektüre. Einer Lektüre, die tiefgründig und humorvoll zugleich ist. Der Autor versteht es, unhinterfragte Annahmen auf den Kopf zu stellen. Peter Koenig selbst hat in seinem Leben erfahren, was es heisst, viel Geld zu haben, aber auch, mit wenig Geld zu leben. Seine Thesen gründen auf 30 Jahren an Selbsterkundung, Experimentieren und Reflexion zu Geld. In seinem Fokus stehen die Beziehung der Menschen zu Geld – als Spiegel ihrer selbst – und der kunstvolle Umgang mit Geld. Diese Themen hat er in seinen Geldseminaren unter anderem an interessierte Menschen weitergegeben. «30 dreiste Lügen über Geld» macht zum Abschluss des Buches Mut, die eigene Freiheit nicht im Geld zu sehen, sondern im eigenen Leben. Peter Koenig ist überzeugt: Wenn wir es wagen, zu tun, was wir wirklich tun wollen, finden wir auch die Ressourcen dazu, woraus diese auch bestehen mögen.
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MARTIN SUTER, EIN PERFEKTER FREUND ( 2002 ) Der Schweizer Jahresbestseller unter den belletristischen Werken geht 2017 an Martin Suters «Elefant» – Es ist nicht der erste Bestseller, den Suter für den Diogenes Verlag geschrieben hat. Durch persönliche Kontakte kam der ehemalige Werber und «spätberufene» Schriftsteller in den 1990er-Jahren zum Verlag. «Ein perfekter Freund» ist der dritte Roman von Martin Suter. Er erscheint 2002 und schafft es auf die Spiegel-Bestsellerliste. Ausgangslage: Fabio Rossi erwacht im Krankenhaus. Offenbar hat er einen Schlag auf den Kopf erhalten und kann sich nicht mehr an die letzten 50 Tage erinnern. Das alleine ist schon beängstigend, kommt hinzu, dass sich der Journalist offenbar in diesen vergessenen Tagen zu einem ganz anderen Menschen entwickelt hat, als er je von sich selbst gedacht hätte. Martin Suter ist bekannt für gute Storys mit Krimielementen, die er in einem leichtflüssigen, aber pointierten Stil schreibt. Dabei nimmt er gesellschaftsrelevante Themen auf, sei es Sucht, Demenz oder Altern. Und mit dabei immer die Frage nach der Identität. Um diese geht es auch in «Der perfekte Freund». Fabio Rossi muss sich der Frage stellen: Wer bin ich und wer könnte ich auch noch sein? In 50 Tagen hat er sein Leben derart auf den Kopf gestellt, dass er die Frau, die an seinem Krankenbett sitzt, nicht erkennt, dafür seine Freundin vermisst, die aber nicht mehr seine Freundin ist, sondern … offenbar mit seinem besten Freund zusammen ist. Das wirft eine weitere Frage auf. Was ist ein Freund? Und was ist ein guter, ja sogar perfekter Freund? Gibt es den überhaupt? 50
Ein griechisches Sprichwort lautet: Zeig mir deine Freunde und ich sag dir, wer du bist. Das wird umso dringender, wenn einer nicht mehr weiss, wer er ist. Leider weiss Rossi auch nicht mehr, wer sein Freund ist. Hat er ihm etwa sowohl Freundin wie journalistisches Wissen gestohlen? «Orientierungslos. Betrogen. Bestohlen. Verraten. Fremd. Heimatlos. Allein. Im Stich gelassen. Ausgestossen.» So fühlt sich der Protagonist. Es ist das Grounding eines Menschen. Eines Menschen, der nicht aufgibt. Denn auch mit einer Blackbox von 50 Lebenstagen ist er immer noch der Journalist, der er war. Und so tauchen zwei weitere Themen im Buch auf: Ethik im Journalismus einerseits und die «ganz grosse Geschichte», hier ein Lebensmittelskandal, anderseits. Geld bildet die Verbindung zwischen beiden. Beim Skandal – und vor allem bei seiner drohenden Aufdeckung – geht es um viel Geld. Der betroffenen Firma gelingt es, Journalist Rossi mit einer Geldsumme zu bestechen, sodass er die Story nicht bringt. Dagegen kämpft sein Freund Lucas, der ihm im Streit eins über den Kopf zieht – mit bekannter Folge. Nicht sein Freund war es, der sich unethisch verhalten hat, sondern – diese Erkenntnis bleibt Fabio Rossi trotz Gedächtnisverlust nicht erspart –, er selbst. Am Ende der Geschichte ist der perfekte Freund tot – dies ist der Preis, den der Freund, aber auch Rossi bezahlt, weil Letzterer sich hat bestechen lassen. Das Buch trifft die Lesenden beim Lebensnerv und wirft die Fragen nach der eigenen Bestechlichkeit, dem besten Freund und der persönlichen Identität auf. «Der perfekte Freund» ist sowohl aus gesellschaftlicher wie individueller Sicht eine relevante, wenn nicht die perfekte Lektüre. 51
MATTHÄUS MERIAN, TOPOGRAPHIA HELVETIAE RHAETIAE ET VALESIAE ( 1642 ) Seit 24 Jahren tobt in Europa Krieg – vor allem auf dem Boden des Heiligen Deutschen Reichs. Städte und Landschaften sind zu einem grossen Teil zerstört. Zu diesem Zeitpunkt erscheint Merians topographischer Atlas mit idyllischen Abbildungen eidgenössischer Städte. Wie das? In der Vorrede beschreibt Merian die jahrhundertelange Entstehung der Städte, Klöster und Dörfer, um dann die Zerstörung durch den lang andauernden Krieg zu beklagen. Die schöne Gestalt «Teutschlandts» sei so hässlich zugerichtet worden, dass ein Durchreisender beim Betrachten des Landes heisse Tränen vergiesse. Die Eidgenossenschaft, die kaum in die kriegerischen Auseinandersetzungen verwickelt war, diente als Vorbild – und als Vorlage für den ersten Band des Atlasses, der bis zu Merians Todesjahr 1654 auf 16 Bände anwächst. Es sind die «vornehmsten Stätte und Plätze in der hochlöblichen Eydgenossschafft», die von Merian, selber ursprünglich aus Basel, dargestellt werden. Diese Städte sind ab 1300 kontinuierlich gebaut worden und erstrahlen jetzt, Mitte des 17. Jahrhunderts, als Zentren weitherum. Zur Anziehungskraft beigetragen hat der blühende Handel ab dem 16. Jahrhundert. Von der entstehenden Marktwirtschaft geht ein Geldimpuls aus, der die Städte nicht nur für den Handel, sondern auch für Lehre und Handwerk immer beliebter und grösser macht. Merian selbst war ein Kind seiner Zeit und konnte sowohl eine Lehre als Glasmaler wie als Kupferstecher absolvieren – in den Städten Basel und Zürich. Er war ein moderner Städter, der sowohl von der Strahlkraft der 52
Städte profitiert hat wie durch seine herausragende Kunst auch dazu beigetragen hat. Zu sehen sind wunderbare Abbildungen von Städten wie Zürich, Basel, St. Gallen oder Rapperswil. Das Frappante daran: Wer eine Stadt wie z.B. Bern oder Luzern kennt, wird sie auf diesen Kupferstichen aus dem 17. Jahrhundert sofort wiedererkennen. Auch wenn damals vielleicht noch eine Stadtmauer stand, die heute verschwunden ist, bleiben Form und Anordnung der Häuser im Zentrum dieselben. Kommt hinzu, dass die Wahrzeichen der Städte bereits gebaut sind: etwa das Münster in Bern oder die Kapellbrücke in Luzern. Hat Merian die Schweiz als Idylle gezeichnet? Jaein. Die Schweizer Städte dienten zwar als Vorbild, aber dies aus dem einzigen Grund, dass sie unversehrt waren. Merian sah keine idyllische Schweiz, die sich abschottete. Im Gegenteil: Er betont, dass die eidgenössischen Städte zu Deutschland gehören und zum deutschen Sprachraum gehören. Doch wie konnte Merian im 17. Jahrhundert Karten aus der Vogelperspektive verfassen? Hügel waren zu flach, zu weit entfernt 53
oder erhoben sich an der falschen Stelle. Ein Verkehrsmittel wie das Flugzeug konnte man sich gar nicht vorstellen und der erste Heissluftballon wird erst 168 Jahre später in die Luft steigen. Zu seiner Vorgehensweise hat Merian keine Aufzeichnungen hinterlassen. Man geht davon aus, dass eine Mischung von Skizzen und Vermessungen zum Ziel geführt haben. Einige von Merians Skizzen sind noch vorhanden. Zudem hat er Messungen zum Teil mit dem Zusatz «Passus Authoris» versehen, was so viel wie Schrittmass des Autors heisst. Merian hat gezeichnet, gemessen, beobachtet – und eigentliche Kunstwerke in einer Synthese von Kartenkunst und Kartentechnik hergestellt, die sich über Jahrhunderte verbreitet haben. Seine Erben haben die Reihe fortgeführt – wie auch den Verlag, der 1727 aufgelöst wurde und mit den heutigen Merian-Verlagen nur noch den Namen gemeinsam hat. Im 20. Jahrhundert erleben die Merians topographischen Karten eine Renaissance durch Faksimiledrucke. Ravensburg und Frankfurt am Main nutzen die Karten heute noch, um Touristen auf die Sehenswürdigkeiten ihrer Städte aufmerksam zu machen. Was soll man da noch zur Qualität und Nachhaltigkeit dieser Kunstdrucke hinzufügen.
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Die Welt hängt heute in einem geradezu unvorstellbaren Masse von Geld ab. Was bedeutet das? Die Sunflower Foundation stellt sich dieser Frage.
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