Eske Geld-Buch (Teilauschnitt)

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Das Geld-Buch

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Eske Bockelmann

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Das Geld-Buch

Eske Bockelmann


© 2018 Eske Bockelmann Privatdruck MoneyMuseum Herausgegeben von: Sunflower Foundation www.sunflower.ch info@sunflower.ch


Inhalt Vorwort 5 Für dieses Buch

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Teil 1 Welt ohne Geld Prolog 13 Von Ewigkeit zu Ewigkeit Anfang 21 I Austausch Gaben 31 Ein dritter Mann 35 Gemeinwesen 40 Der Groll des Achilles 53 Wortkunde 60 Exkurs: Das Opfer 65

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III Kauf und Verkauf Kauri in Dahome 128 Märkte ohne Markt 137 Schätzung, nicht Wert 148 Angemessen 156 Exkurs: Aristoteles und die chrēmata 168 Handel oder Gewinn ohne Verlust 181

Teil 2 Geld kommt zur Welt II «GELT» als Zahlung Schuldigkeit 80 Exkurs: Schulden 87 Zahlungsmittel 91 Mesopotamien 101 Verpflichtende Einheit Münzen 115

Prolog 193 Ein Abweg 202 Neustadt 210 Zwei Waagschalen 108

Anmerkungen

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Vorwort Was ist Geld? Dieser Frage sind wir im Verlauf der Jahre in Büchern, Aufsätzen und unzähligen Gesprächen mit klugen Menschen nachgegangen. Wir haben dabei viel gelernt. Stück für Stück haben wir uns dem abstrakten Thema genähert, laufend haben sich neue Facetten gezeigt. Bis wir Eske Bockelmann begegnet sind, der uns als erster Geld in seinem Kern und als gesellschaftlichen Zusammenhang schlüssig erklären konnte. Jahrelang hat er das Thema Geld erforscht und durchdacht. Ein erstes wegweisendes Buch ist 2004 unter dem Titel Im Takt des Geldes – Zur Genese modernen Denkens erschienen. Der vorliegende Privatdruck (unlektoriert) beinhaltet den ersten Teil seines zweiten Buches, das 2019 beim Verlag Matthes und Seitz in Berlin erscheinen wird. Es handelt von dem, was vor dem Geld war, vom Aufkommen und dem Wesen des Geldes. Wir betrachten es als epochales Buch, das als wichtige Gesprächsgrundlage im MoneyMuseum einen besonderen Platz haben wird. Für die Lektüre sind keinerlei ökonomische Vorkenntnisse notwendig. Trotz seiner Tiefgründigkeit liest es sich wie eine spannende Geschichte. Heidi Lehner und Jürg Conzett

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Für dieses Buch

gibt es guten oder – je nachdem – ausgesprochen schlechten Grund.

Dabei denke ich gar nicht so sehr an die Krise, wie sie zuweilen prägnant genannt wird, als gäbe es keine anderen. Aber immerhin, seit 2008 dauert sie jetzt an, und auch wenn die Börsenkurse längst wieder von Allzeithoch zu Allzeithoch fliegen, so zeigen doch der Tiefflug der Zinsen und die Unsummen an neuem Geld, welches die Staaten unablässig nachschießen müssen, dass die „Wirtschaft“, wie wir sie nennen, im Krisenmodus steckt. Natürlich also wird ein Buch über das Geld auch von dieser und überhaupt von den Krisen zu handeln haben, denen das Geld so regelmäßig verfällt. Aber das steht nicht an erster Stelle. Wenn mich meine Beobachtungen nicht täuschen, gibt es heute ganz allgemein ein tiefes Unbehagen gegenüber dem Geld, das so recht jeder unwillkürlich empfindet. Und dieses Unbehagen, falls ich damit recht habe, hat schon lange vor dem Ausbruch der jüngsten Krise um sich gegriffen. Nur wurde es durch sie zuletzt noch erheblich verstärkt. Es herrscht die Gewissheit oder zumindest die dunkle Furcht, dass es nicht gut gehen wird mit dem Geld und dass es womöglich katastrophisch damit endet. Es gibt einige, die deshalb nach Wegen jenseits des Geldes suchen oder bereits dabei sind solche Wege zu beschreiten. Sehr viel stärker allerdings ist die entgegengesetzte Reaktion: nicht die intensive Suche nach Ideen, wie das Geld zu überwinden, sondern wie es zu retten und zu bewahren sei. Bedeutende Initiativen, die es auch schon zu Volksabstimmungen gebracht haben, bieten Lösungen für die Fra-

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gen an, die sich ihnen stellen: auf welche Weise das Geld vor weiteren Krisen zu schützen wäre, wie es sich dem gefährlichen Spiel und Zugriff von gierigen Spekulanten, nimmersatten Banken und nietenmäßigen Managern entziehen ließe oder wie es umgekehrt verbessert, das heißt von seinen offen verderblichen Wirkungen abgebracht und zu gedeihlichem Wirken angestiftet werden könnte, um sich nicht alsbald selbst den Garaus zu machen. Die Vorschläge sind allgemein bekannt: Da sollen zumindest einmal die Banken kontrolliert werden, soll eine Transaktionssteuer mäßigend einwirken oder eine andere geschickt angebrachte Steuer den rechten Einhalt gebieten. Der Markt soll insgesamt „entschleunigt“ werden, irgendetwas wie Vollgeld soll für stabilen Geldwert sorgen oder ein bedingungsloses Grundeinkommen dafür, dass in den Staaten, die es einführen würden, keinem mehr das Geld ausgeht. Auf Regionalwährungen setzt man die Hoffnung, dass sie Geld insgesamt besser funktionieren lassen, und den Bitcoins wird gar eine nahe Zukunft als neues, anderes Geld prophezeit, das unser entweder für brüchig oder aber für übermächtig angesehenes Geldsystems in ein besser gesichertes System überführen werde. Und so geht es weiter mit Vorschlägen und Vorstellungen bis etwa dahin, man müsse das Geld nur gesetzlich dazu verpflichten, gut zu sein, nämlich einzig im Sinne des Gemeinwohls zu agieren, und schon werde sich unsere kapitalistische Wirtschaft von einer bedrohlichen und bedrohten weisungsgemäß zur Gemeinwohlökonomie wandeln. Dass auf jeden Fall also dringender Anlass besteht, das Geld zu sichern und zu verbessern, dass es bedroht ist und schwer belastet, dessen ist man sich allgemein sicher. Unsicher allerdings bleibt dabei stets die Hauptsache, mit der sich seltsamerweise keiner dieser Vorschläge je hinlänglich beschäftigt hat. Und das ist: wie sich das Geld selbst gegenüber solchen Maßnahmen verhält oder verhalten würde. Wie sich Geld

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mit ihnen verträgt und ob es sich überhaupt mit ihnen verträgt, ob Geld also etwas von dem zuließe, was sich da jemand zu seiner Rettung ausgedacht hat, das sind Fragen, die jeweils als erste zur Klärung anstünden. In keinem Fall aber sind sie geklärt, ja kaum einmal gestellt worden. Auch dem wird dieses Buch daher nachgehen. Wichtiger noch als der Aufschluss in jenen Fragen ist aber genau diese Tatsache: dass sie bis heute keinen Aufschluss gefunden haben. Denn das hat seinen tieferen Grund, einen sehr tiefen Grund, und der besteht darin, dass gerade die allererste und allerwichtigste Frage zum Geld bis heute keine Antwort kennt: Niemand weiß bis heute richtig zu sagen, was Geld ist. Selbstverständlich weiß heute jeder ganz genau, was Geld ist, solange es nur darum geht, wie man mit Geld umzugehen hat. Dass man es braucht und wofür man es braucht, wie man zu Geld kommt oder jedenfalls kommen könnte, was man gegen Geld bekommt und auf welche Weise man es gegen Geld bekommt, das alles ist kein Geheimnis. Es mag auch nicht viel zu sagen haben, wenn gar ein Präsident der weltweit mächtigsten Notenbank, der in seinem Leben sehr maßgeblich mit Geld zu tun hatte, nach seinem Ausscheiden zugibt, bis zuletzt habe sich ihm nicht erschlossen, was Geld eigentlich sei. Gleichwohl ist dieses Bekenntnis nicht bloß die Koketterie, als die es sich gibt, sondern es ist die biedere Wahrheit. Bis hinauf zu den so raren großen Werken, in denen es unternommen wurde, nicht nur den Umgang mit Geld, sondern das Phänomen Geld insgesamt zu untersuchen, – das heißt also bis hinauf zu Marx’ „Kapital“ oder Simmels „Philosophie des Geldes“ – gilt ohne Ausnahme: Was Geld ist, wurde schlicht als bekannt vorausgesetzt. Niemals wurde Geld daraus hergeleitet und erklärt, wie es entstanden ist. Gerade im Gegenteil wurde und wird auch sein Entstehen zirkulär aus dem Geld erklärt, nämlich aus Bestimmungen, die man für ursprünglich und für älter als das Geld ansieht, während sie sich strikt erst mit dem

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Geld und seinem Entstehen ergeben. Und so unglaubhaft es auch klingen mag, auf diese Weise blieb bis heute unbestimmt, was Geld ausmacht. Es zu bestimmen, ist die Absicht dieses Buches. Es zu bestimmen, das aber ist nur möglich, wenn sich genau das einmal klärt, wodurch sich das Geld geradezu systematisch der Erkenntnis seines Wesens entzieht. Dieses Wesen endlich trotzdem zu erkennen und zu erklären, darum muss es gehen. Es ist keine Frage der Definition und kleine bloß akademische Frage, was Geld ist und womit wir es beim Geld zu tun haben. Wir müssen es vielmehr deshalb wissen, weil das Geld mit solch großer Macht, ja, mit solch großer Gewalt über unsere Wirklichkeit bestimmt. Der entscheidende Grund für dieses Buch ist nicht so sehr der Blick darauf, wie es um das Geld steht, sondern darauf, wie es um eine Welt steht, die der Macht des Geldes unterstellt und unterworfen ist. Festzustellen, dass es heute so gar nicht gut um die Welt bestellt ist, ist eine Banalität. Und es ist eine Banalität, dass heute das Geld diese Welt regiert. Sieht man jedoch beide Banalitäten einmal strikt in dem Zusammenhang, der zwischen ihnen besteht, so sind sie das Ernsteste, was es heute zu bedenken gibt. Dann ist gerade die Selbstverständlichkeit alles andere banal, mit der wir hinnnehmen, dass wir und unsere Wirklichkeit vom Geld abhängen und wie weit also das Geld darüber bestimmt, was jeweils möglich und was alles nötig, unvermeidlich und „alternativlos“ ist. Woher hat das Geld die Macht dazu? Wie ist es zu dieser Macht gekommen? Geld, das nicht lebt und selber gar nichts wollen und weder etwas fordern, noch auf irgendetwas bestehen kann, es fordert von den Menschen und besteht unerbittlich darauf, dass sie ihr Tun und Handeln zuallererst und zuallerletzt nach ihm ausrichten. Wenn das Geld sagt: Geht nicht!, dann darben sie, verkümmern sie, dann geht es ihnen dreckig und dürfen sie zuletzt verhungern. Und wenn das Geld sagt: So muss es sein!, dann quälen sie sich, dann

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quälen sie andere, dann quälen sie diese Welt, roden sie diese Welt, planieren sie, vergiften und verderben sie, treiben Raubbau an ihr und tun ihr Entsetzliches an. Auf Gedeih und Verderb ist die Welt heute den Geboten des Geldes unterworfen. Und allenfalls, wer sich verbissen zwingt das Gegenteil zu glauben und gehässig wird gegen alle, die etwa den Klimawandel nicht bloß fürs übliche „Wetter“ halten, kann sich inzwischen noch darüber täuschen, dass die Unterwerfung unter das Geld weniger das Gedeihen dieser Welt bedeutet als ihren Verderb. Auf den Konferenzen zum Beispiel, welche die Staaten dieser Welt zum Klimawandel abhalten, bekennen sie jeweils mit aller Offenheit, dass es die Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen ist, die die Erwärmung bedingt hat und weiterhin bedingt, denn sie ist es ja, die verbietet, ihr nun wirkungsvoll entgegenzutreten. Es muss mit der Erwärmung weitergehen, weil es die wirtschaftlichen Interessen vorgeben – also, bei unserer Art von Wirtschaft, das Interesse an Geld. Es muss mit der Erwärmung weitergehen, weil es die Wirtschaft braucht, die Geld braucht. Damit es dieser Wirtschaft gut geht, muss es also der Welt schlecht gehen, und wenn sie deshalb drauf geht, dann dafür, dass nicht die Wirtschaft drauf geht – oder genauer: dass die Wirtschaft nicht früher drauf geht, sondern wirklich erst dann, wenn sie die Welt dazu gebracht hat. Ist es nicht ein Rätsel und ist es nicht der blanke Irrsinn: Wir leisten uns eine Zerstörung der Welt, weil wir es uns anders nicht leisten können – denn allenthalben, so heißt es zu Recht, fehlt das Geld dazu. Weshalb aber, umgekehrt, ist das Geld dann da? Warum gibt es überhaupt das, was dazu zwingt, dass wir uns einen menschlichen Umgang mit der Welt erst müssen leisten können, nämlich in Form von Geld? Warum gibt es das, was ja offenbar außerdem verhindert, dass wir ihn uns je werden leisten können? Die peinliche und die peinigende Antwort ist: Das wissen wir nicht, davon haben wir keine Ahnung. Nein, das Geld ist nicht so

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entstanden, wie es jeder von uns weiß, das Wissen, das wir da für selbstverständlich und untrüglich halten, es trügt. Wir aber müssten es wissen: nicht nur, um ein Rätsel zu lösen, sondern um endlich dem auch beizukommen, was da rätselhafterweise uns und dieser Welt auferlegt ist. Dafür müssen wir wissen, wie die Welt zu Geld gekommen, wie also Geld entstanden ist. Und dafür müssen wir vor allem wissen, was da entstanden ist. Das ist der Grund für dieses Buch.

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Teil 1

Welt ohne Geld


Prolog

des will ich wesen gelt

König Gunther, Herr der Burgunden, macht sich gemeinsam mit Recken wie Hagen von Tronje und einem Gefolge aus tausend seiner Männer auf den langen Weg an den Hof des Hunnenkönigs Attila. Dorthin hat ihn dessen Gattin eingeladen, Gunthers Schwester Kriemhild, jedoch mit tief finsteren Hintergedanken, die das Ganze in einem wüsten Blutbad werden enden lassen − so erzählt es das Nibelungenlied. Auf dieser Reise nun ergibt es sich eines Tages, als die Pferde müde geritten sind und der Proviant bereits zur Neige geht, dass der ganze Zug vor die Burg des Markgrafen Rüdiger gelangt. Der König schickt Leute hinein, die um gastliche Aufnahme bitten sollen, und Rüdiger lässt umgehend antworten, er werde die Ankömmlinge mit Freuden empfangen. Als sie dann vor ihn treten und er sie persönlich willkommen heißt, ehrt sie der Markgraf als seine Gäste gar mit dem Versprechen, er werde für alles Sorge tragen, was sie mit sich führen, Pferde und Ausrüstung. Und er fügt noch hinzu: Sollten sie während ihres Aufenthalts auf seiner Burg irgendetwas davon einbüßen, was immer es auch sein mag, „des wil ich wesen gelt“ – dafür wolle er Geld sein.1 Markgraf Rüdiger will Geld sein − seltsam. Er sagt nicht, er wolle Geld für etwas geben oder Geld für etwas haben, nein, er will es sein. Wie kann er das meinen? Was von dem, was wir unter Geld verstehen, kann jemand denn sein? Wir denken beim Geld notwendig daran, dass wir etwas damit kaufen können. Geld aber als das Mittel, um etwas zu kaufen, kann Rüdiger nicht sein wol-

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len. Und selbst wenn er solche Mittel gleichwohl nur haben wollte, würden sie ihm in dieser Situation wenig nützen, denn nirgendwo in der Umgebung fände er etwas zu kaufen. Nirgendwo in der Gegend wird gerade zufällig ein Markt abgehalten, vielmehr heißt es ausdrücklich, es sei weit und breit nichts zu erstehen.2 Das Geld, von dem Rüdiger spricht, kann also grundsätzlich nichts meinen, womit man etwas kauft. Oder denkt er, so wie wir das im Zusammenhang mit Geld ebenfalls tun können, speziell nur an den Wert dessen, was seine Gäste bei ihm einbüßen sollten? Falls jemandem zum Beispiel ein Pferd einginge, will Rüdiger ihm dann den Wert des Pferdes ersetzen? Nein, auch ein solcher Wert, wenn es um ihn zu tun wäre, könnte Rüdiger nicht zu sein versprechen. Und dass es hier nicht um Wert gehen kann, für den Rüdiger würde aufkommen wollen, zeigt außerdem der Befehl, den er unmittelbar auf jenes Versprechen hin seinen Knechten erteilt. Da gebietet er, den Pferden der Ankömmlinge zunächst das Zaumzeug abzunehmen und die Pferde dann frei weiden zu lassen. Das Nibelungenlied kommentiert, eine solche Gastfreundschaft hätten Gunther und die Seinen vorher vil selten erfahren, sprich: noch nie. Das Besondere an dieser Behandlung ist nämlich, dass die Gäste für den Unterhalt der Pferde weder selbst zu sorgen noch Ausgleich zu leisten haben. Aber auch der Markgraf muss für das Weidenlassen der Pferde natürlich nichts weiter aufbringen, es stellt keinen Wert dar, den er sich oder irgendjemandem berechnen müsste: Hier wird nur Gras gefressen, kein Geld verbraucht, kein Wert verschlungen. Das Ganze läuft ohne Geld ab − ohne das, was wir Geld nennen und was wir unter Geld verstehen. Wir können nicht Geld sein, Rüdiger aber kann es, und das heißt: Das, was er sein kann, kann nicht Geld gewesen sein, wie wir es verstehen. Das Wort „Geld“ hat für ihn und zu seiner Zeit offenbar etwas entschieden anderes bedeutet als heute und für uns, es entspricht nicht unse-

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rem Begriff von Geld. Um das Jahr 1200, als das Nibelungenlied entsteht, hieß das Wort „Geld“ nicht das, was uns heute als Geld geläufig ist. Wie also stand es im Europa des Mittelalters mit dem Geld? Ohne Zweifel hat man damals Dinge kaufen können, indem man sie gegen andere Dinge tauschte. Ja, aber man hat diese getauschten Güter damals, wie wir sehen, nicht als „Geld“ bezeichnet, da umgekehrt das, was man mit „Geld“ bezeichnet hat, nicht solche Tauschgüter meinte. Und wie steht es mit anderen Wörtern? Mit ihnen steht es ganz genauso: Es gibt kein einziges Wort im Mittelalter, das bezeichnen würde, was für uns heute so selbstverständlich Geld ist. Und das bedeutet mehr, als dass dem Mittelalter nur kein Wort eingefallen wäre für etwas, was es gleichwohl wirklich gegeben hätte. Selbst das Wort „Geld“ war ja geläufig und hätte dafür sozusagen parat gestanden. Nein, das europäische Mittelalter hat nicht nur kein Wort für Geld, es hat keinen Begriff und keine Vorstellung davon. Kein Geringerer als der überragende Mediävist Jacques Le Goff hat festgestellt, „dass es keinen mittelalterlichen Geldbegriff gab“: Die Menschen des Mittelalters, einschließlich der Kaufleute, Kleriker und Theologen, hatten nie eine klare, einheitliche Vorstellung davon, was wir heute unter diesem Begriff fassen.3 Sie hatten keinen Begriff und keine Vorstellung von Geld, das heißt: Sie kannten kein Geld. Wie sehr es uns auch erstaunen und widerstreben mag, es bedeutet, dass noch in einer verhältnismäßig so jungen Zeit wie dem europäischen Mittelalter Geld unbekannt war. Insbesondere Geld kann ja überhaupt nur dann sein, was es ist, wenn Menschen bewusst mit ihm als Geld umgehen und also einen Begriff von Geld entwickeln. Wenn Menschen daher einen Begriff von Geld nicht entwickelt haben und Geld nicht in ihrer Vorstellung vorkommt, können sie nicht mit Geld umgegangen sein und war folglich, womit immer sie umgegangen sind, nicht Geld.

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Dass Markgraf Rüdiger Geld sein kann, es bedeutet wirklich: Selbst im Mittelalter hat es noch kein Geld gegeben.

Von Ewigkeit zu Ewigkeit Was Le Goff vermerkt hat, ist demnach eine Tatsache von ganz erheblicher Reichweite – wenn man sie denn einmal ernst nimmt. Sie jedoch ernst zu nehmen, fällt offenbar sehr schwer, denn nicht einmal Le Goffs eigene Disziplin war dazu imstande, die immerhin verpflichtet ist seine Forschungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen. Die Mediävistik geht mit Fragen zum Geld vielmehr genauso um, wie es heute jeder tut, auch wer nicht dazu bestallt ist, irgendeiner Forschung nachzugehen: Sie weiß ganz einfach, dass es Geld schon lange gibt – so lange, dass ein Mittelalter ohne Geld für sie schlicht undenkbar ist. Tatsachen, die diesem schlichten Wissen widersprechen, können sie davon nicht etwa abbringen, sondern werden kurzerhand zurechtgebogen. Gegen die Tatsache, dass das Mittelalter keinen Begriff von Geld hatte, behilft sie sich allen Ernstes mit der Auskunft, es hätte doch – ich zitiere – „Ersatzwörter“ dafür gehabt: Denn Geld muss das Mittelalter einfach gehabt haben. Das heißt, hochdotierte Wissenschaftler wollen nicht verstehen, was es heißt, dass hier Begriff und Vorstellung einer Sache fehlen und nicht nur Wörter, die diesen Begriff bedeuten würden. Und es ist ihnen außerdem zu hoch, dass irgendwelche „Ersatzwörter“, wenn sie denn Geld meinen würden, nicht bloß „Ersatz“ für Wörter wären, die Geld meinen, sondern dass sie genau solche Wörter wären: Wörter, die Geld bedeuten. Die aber – das war das Problem, dem der „Ersatz“ abhelfen sollte – fehlen nun einmal. Was dagegen nicht fehlt, sind alte Wörter, die wir heute mit der Bedeutung von „Geld“ belegen, nachträglich und irrtümlich. Prominenter und besser bekannt als mittelalterliche „Ersatzwörter“

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sind dabei antike Vokabeln wie etwa das lateinische pecunia oder die griechischen chrēmata. In allen heute einschlägigen Lexika finden sie sich zuverlässig auch als „Geld“ übersetzt, und das neben einer ganzen Reihe weiterer Wörter. Im Lateinischen etwa sind es unter anderem nummus, opes, res und fortunae, sind es aes, argentum oder aurum, die wir heute sämtlich auch mit „Geld“ übersetzen und laut Lexika übersetzen dürfen. Ausnahmslos alle jedoch haben damals spezifische Bedeutungen, die sich nicht mit unserem Begriff von Geld decken. Sie heißen zum Beispiel „Münze“, heißen „Habe“, „Mittel“, „Vermögen“ und „Macht“, heißen „äußere Verhältnisse“ und „Güter“, „Kupfer“, „Silber“ oder „Gold“; und pecunia selbst heißt zum Beispiel nur etwas wie „geschätztes Gut“, „Eigentum“ oder „Erlös“. Alles das aber verbinden wir heute unwillkürlich mit der Bedeutung von Geld, selbst wenn wir uns über dessen genaue Bedeutung keineswegs im Klaren sein mögen. Denn, so denken wir heute, sind Münzen nicht schon immer Geld? Und sind Vermögen, Habe und Güter nicht auch schon immer Geld wert? Nein, das sind sie nicht – genau das sind sie nur für uns, das sind sie nur für den, der bereits mit Geld umgeht und daher unseren Begriff von Geld hat. Nur für uns heute versteht es sich von selbst, dass Vermögen, dass Güter und dass Münzen allesamt diejenige einheitliche Größe darstellen oder ihr jedenfalls gleichzusetzen sind, die für uns das Geld ist. Eine solche einheitliche Größe aber gibt es weder im Mittelalter noch in der Antike und es gibt sie auch in keiner anderen Zeit oder Kultur, die vor dem Mittelalter liegt. Genau genommen geben wir also jedes dieser Wörter falsch wieder, wenn wir es mit „Geld“ übersetzen: da wir ihm mit dem modernen Begriff zu Unrecht auch dessen einheitliche, die für uns so selbstverständliche Bedeutung unterstellen. Mit ihr verfälschen wir jedes dieser antiken Wörter, jedes der mittelalterlichen und ebenso auch entsprechende Wörter vieler weiterer Zeiten und

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Kulturen, die noch kein Geld kannten und wo wir dennoch genauso schnell bei der Hand sind mit der Unterstellung, wir dürften irgendetwas, womit sie umgingen, „Geld“ nennen und ein Wort, womit es bezeichnet wird, als „Geld“ übersetzen. Und es handelt sich dabei keineswegs um eine bloße Frage der Übersetzung. Wir missdeuten mit unserem Begriff und unserer Vorstellung von Geld ja nicht nur Wörter, sondern jene Zeiten und Kulturen auch selbst − in einer Missdeutung, die außerordentlich weit reicht. Jene Zeiten und Kulturen bestimmen den weitaus größten Teil der Menschheitsgeschichte: Die allermeiste Zeit dieser Geschichte vollzieht sich fern von dem, was für uns Geld heißt. Doch die Missdeutung umfasst ja noch mehr. Denn wenn wir so konsequent Geld in Kulturen hineindeuten, die kein Geld kannten, wissen wir ja offenbar auch das Geld selbst nicht recht zu deuten. Wenn wir für Geld halten, was nicht Geld war, fehlt uns notwendig das rechte Wissen davon, was Geld ist. Im Mittelalter gab es zum Beispiel Dinge, darunter bekanntlich Münzen, die man gegen andere Dinge tauschen, mit denen man andere Dinge also kaufen konnnte. Trotzdem, wie wir nun zur Kenntnis nehmen sollten, waren auch Münzen damals kein Geld − wir aber, zu Unrecht, halten sie dafür. Oder wüsste jemand von irgendeiner neuzeitlichen Darstellung des Mittelalters, sei es Dokumentation, sei es historischer Roman oder sei es nur ein Film, der in einer entsprechenden fantasy-Ära spielt, worin die Menschen nicht genauso selbstverständlich wie wir mit Geld umgehen würden? Was das Geld anbelangt, geht es dort unseren Vorstellungen gemäß wie auf den modernen Mittelaltermärkten zu, wo die Leute zwar in mehr oder weniger überzeugenden Kostümen stecken, aber die Euros, die über die Theke gehen, nur schlicht „Taler“ genennet werden − und das war’s dann an historischer Differenz in Sachen Geld. Wir sind ganz offensichtlich nicht in der Lage, einen grundsätzlichen Unterschied zwischen mittelalterlichen Münzen und dem zu sehen,

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was für uns so ganz alltäglich Geld heißt. Diesen Unterschied jedoch muss es geben, und wenn er sich uns entzieht, dann entzieht sich unserer Einsicht ganz offensichtlich auch, was wir da als Geld kennen. Auf dem Weg, es herauszufinden, werden wir also die Tatsache zu gewärtigen haben, dass es historisch erst sehr viel später zu Geld kommt, als wir gemeinhin glauben wollen. Das aber widerspricht schmerzhaft einer heute vorherrschenden Neigung, die genau in die entgegengesetzte Richtung weist: den Beginn des Geldes so früh wie nur irgend möglich anzusetzen. In den letzten Jahren ist ein regelrechter Wettstreit darum entbrannt, wer es vermag, das Geld immer noch früheren Zeiten zuzuschreiben und es auf diese Weise letztlich zu verewigen. Lange galt nur die Gewissheit, Geld wäre mit der ersten Prägung von Münzen aufgekommen, im siebten vorchristlichen Jahrhundert. Schon das war sehr viel zu früh angesetzt, reicht aber dem moderneren Geschmack nun nicht mehr aus. Ein jüngerer Buchtitel schwört inzwischen auf fünftausend Jahre, die das Geld hinter sich haben soll, diejenigen „ersten 5000 Jahre“ nämlich, auf die das Geld gemeinsam mit dem Phänomen der Schulden zurückblicken würde.4 Aber da wendet auch schon der nächste ein, „mit Verlaub“, 5000 Jahre, das seien doch – wörtlich − „Peanuts“! Und er erhöht sogleich auf 150 000 bis 200 000 Jahre, denn so viele habe der homo sapiens nun einmal, wie er sagt, „auf dem Buckel“ – von alten Kumpeln redet man ja gerne etwas salopp −, und selbstverständlich gäbe es Geld schon so lange, als Hominiden existieren.5 Dabei hatte auch der mit den 5000 Peanuts für einen Moment bereits ebenso tief in die Geschichte geblickt und begeistert ausgerufen: „So gesehen ist Geld wahrscheinlich so alt wie das menschliche Denken.“ 6 Nur war das nicht entschieden genug gesprochen, denn für den allermodernsten Denker ist es mit „wahrscheinlich“ und „so gesehen“ nicht getan. Ihm hat sich vielmehr offenbart, was es beim Geld

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bedeutet, „wenn man ein Gespür für seine historischen Proportionen bekommt“.7 Oh, und dieses Gespür reicht bei ihm weit − so weit, dass er den Hominiden der Vorzeit mit der Psychologie des 20. Jahrhunderts kommt und dank ihr so ganz genau weiß, wie es tief in ihrem Inneren zugangen ist. Schlichten Gemütes setzt er voraus, das „Wünschen und Denken“ der Menschen und Menschenartigen wäre über 200 000 Jahre konstant geblieben, und was Freud an Leuten festgestellt hat, die seinerzeit durchaus bereits ein wenig mit Geld und Kapitalismus in Kontakt geraten sein dürften, es ist ihm Beweis dafür, was schon vor 200 000 Jahren das „Wünschen und Denken“ seiner Kumpel erfüllt hat. Lustig: Da setzt einer blindlings die Konstanz der menschlichen Psyche voraus, beweist sich so die Konstanz der menschlichen Psyche und nennt es dann Gespür für historische Proportionen.8 Was schon fürs Mittelalter nicht gilt, nämlich dass die Menschen so empfunden und gedacht hätten wie heute, es soll trotzdem nicht nur im Mittelalter, sondern gar zu allen Zeiten gegolten haben. Gegen jede Einsicht in das historisch so tief Veränderliche menschlicher Gegebenheiten, eine Einsicht, die einmal recht mühsam erst gewonnen werden musste, dekretiert man heute in vollendeter Stupidität über sämtliche früheren Zeiten: Auch sie müssen gedacht haben wie wir! Auch für sie muss es Geld und ein Denken in Geld gegeben haben wie für uns! Da ventiliert und widerlegt ein anderer Gelehrter auf mehr als tausend Seiten triftig sämtliche bestehenden Theorien zum Geld, nur um dann als eine seiner unwiderleglichen Theorien dagegenzusetzen, Geld wäre schon einfach damit aufgekommen, dass Menschen rechnen. Seine Beweise sind von entsprechendem Zuschnitt: Nennen wir heute nicht jemanden „berechnend“, der seine homo-oeconomicus-mäßigen, also geldförmigen Berechnungen anstellt? Na, dann müssen wir daraus schließen, dass Menschen schon immer genau so gerechnet haben: Sobald sie nur zu rechnen begannen, waren

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sie in diesem Sinn geldförmig berechnend und war somit Geld auf der Welt – o weh! Im Zusammenhang mit Geld, so scheint es, besteht ein starker Zwang, genau diesem Fehler zu verfallen: was heute gilt, auch allen Ur-, Vor- und sonstigen Zeiten zu unterstellen. So wie Geld unsere Welt beherrscht und prägt, so beherrscht es offenbar auch unser Denken und prägt ihm seine Formen ein, die wir zwanghaft noch in das hineinsehen, was wir bedenken. Es ist, als hätte uns das Geld ein Muster ins Auge geätzt, und nun erscheint uns alles, was wir sehen, genau so gemustert: Wir blicken auf die ersten Menschen und sehen sie – nach diesem Muster.

Anfang Das Geld gibt es nicht schon seit Ewigkeiten. Mit dem Geld nimmt es einmal seinen Anfang und dieser Anfang liegt historisch in nicht allzu großer Ferne. Ihn ausfindig zu machen, darum muss es als erstes gehen, wenn die Reflexion nicht auf ewig in den zirkulären Bahnen gebannt bleiben soll, in die sie das Geld zwingt und wo es etwa heißt: „Weil Menschen schon immer so berechnend waren wie wir heute, sind wir heute mit Geld so berechnend wie sie damals“. Doch dafür wird es nötig sein, sich von dem Denkzwang zu lösen, den das Geld mit solcher Macht ausübt, und braucht es mehr als nur eine Ahnung von dieser Macht. Es braucht dafür ein Beispiel − ein Beispiel, das jeder kennt. Und das beste findet sich passend gerade in der Frage nach dem Anfang des Geldes, in der Frage, wie Geld historisch entstanden ist. Jedem nämlich, der sich diese Frage heute stellt, leuchtet in jedem Fall eine ganz bestimmte Erklärung ein, egal, welche anderen Erklärungen er sonst noch kennen mag. Unzählige Male schon wurde sie zum Besten gegeben, wurde sie vorgetragen, aufgeschrieben, von den höchsten Kathedern herab gelehrt und sie ist zuverlässig falsch.

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Aber an ihr lässt sich ebenso zuverlässig zeigen, was den spezifischen Irrtum erzwingt. Anfang und Sinn des Geldes, so sind wir überzeugt, können nur in einem höchst vernünftigen Gedanken liegen: dass mit Geld etwas besser geht, was ohne Geld viel schlechter ginge. Und selbstverständlich geht mit Geld genau das so richtig gut, wofür wir es heute so alltäglich verwenden: etwas zu kaufen. Jemand gibt einem anderen Geld und bekommt dafür etwas, was er haben will, und das heißt zugleich umgekehrt, jemand gibt einem anderen etwas, was dieser haben will, und bekommt dafür Geld von ihm. Das ist der berühmte und so spielend einfache Tausch, den wir bei Kauf und Verkauf vollziehen, der Tausch von Geld gegen Ware, von Ware gegen Geld. Wie aber kommt es darin zu Geld? Solange es noch kein Geld gegeben hat, so überlegen wir, muss derselbe Tausch sehr viel schwieriger vonstatten gegangen sein. Folglich hätte genau dies die Menschen auf die Idee gebracht, den Tausch zu vereinfachen und zu verbessern, indem sie Geld verwendeten und es dafür schufen. Und so kam das Geld in die Welt, davon sind wir überzeugt: Es ist aus dem Tauschhandel entstanden. Deutlich sehen wir den Ablauf vor Augen. Bevor sie das Geld erfanden, hatten die Menschen ihre Waren direkt tauschen müssen und das war mühsam. Da musste jemand von einer Ware zuviel haben, um sie gegen eine andere Ware eintauschen zu können, die er haben wollte und die wiederum ein anderer zuviel haben musste. Wenn der eine daher einen Faustkeil abzugeben hatte und gegen eine Mammuthaxe eintauschen wollte, musste er das seltene Glück haben, einen anderen zu finden, der passgenau erstens das Stück Mammut abzugeben hatte und zweitens den Faustkeil haben wollte. Außerdem mussten die zwei Interessenten, um sich auf den Tausch zu einigen, gewiss sein, dass beides, Faustkeil und Mammuthaxe, gleich viel wert war, sonst würden sie nicht tauschen wollen. Das machte jeden Tauschhandel nicht nur be-

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schwerlich, sondern schränkte ihn außerdem auf so wenige Gelegenheiten ein, wo endlich einmal alles passte, dass die Menschen damit nur schwer zu dem gekommen sein dürften, was sie zum Leben brauchten. Daher half nur eines: dass sie Geld erfanden. Ja, sie mussten das Geld schlechterdings erfinden, denn mit Geld konnte einer dem anderen die Mammuthaxe abkaufen, ohne dass dieser andere dafür zufällig gerade den Faustkeil benötigen musste. Das Geld, das er stattdessen für die Haxe einstrich, konnte er ja von jetzt an eintauschen, in was er wollte und wann immer er wollte. Und selbst dafür, dass die getauschten Waren gleich viel Wert hatten, war mit dem Geld ganz einfach gesorgt, da es sich in jeder passenden Wertmenge abzählen lässt. Es hatte also seinen guten Sinn, Geld zu erfinden, und deshalb ist es sinnvollerweie auch erfunden worden: Wenn es je eine gute Idee gegeben hat, dann war das eine gute Idee, ein sturzvernünftiger Gedanke – was kann man anderes sagen? Ja, was für eine Idee! Kein Volkswirtschaftler kann an dieser Stelle umhin, bewundernd auszurufen: „Geld ist eine großartige Errungenschaft.“ Und ohne Zweifel, eine Errungenschaft wäre das Geld, wenn diese Herleitung zuträfe. Doch sie trifft nicht zu, an dieser Herleitung stimmt rein gar nichts. Dass sie nicht zutrifft, ist inzwischen, nach Jahrhunderten gläubiger Tradition, zwar nicht mehr völlig neu und wird nicht wenigen bekannt sein.9 Dennoch, kein Einspruch, wie triftig er auch sein mag, wird etwas dagegen vermögen, dass sich uns bei dem Gedanken an die Geldentstehung immer wieder genau diese Herleitung aufdrängt. Also gilt es nun zu klären, weshalb sie sich so zwingend vorgibt, obwohl das Geld so nicht entstanden sein kann. Aus einer Art von Tauschhandel, wie diese Erklärung sie voraussetzt, kann Geld schlichtweg deshalb nicht entstanden sein, weil es dort bereits entstanden ist. Der Tauschhandel, den wir uns da vorstellen, mit Faustkeil und Mammuthaxe, aber ohne Geld,

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verläuft gar nicht wirklich ohne Geld, sondern alles an ihm ist bereits so eingerichtet, wie es das Geld verlangt und wie es nur mit Geld seinen Sinn hat. Bei unserem Blick zurück stellen wir uns die Menschen unwillkürlich bei einer Art von Tauschhandel vor, in welcher sie Waren als Werte und Äquivalente tauschen, so wie wir es von dem Kauf mit Geld her kennen. Das heißt, allein schon mit Wert und Äquivalenz setzen wir etwas voraus, was sich ausschließlich dann ergibt, wenn der Handel bereits über Geld verläuft. Historisch hat es eine Gesellschaft, in der die Menschen in dieser Weise untereinander tauschen, niemals ohne Geld gegeben, einen solchen Tauschhandel gibt es immer nur mit Geld. Wenn wir ihn daher schon in die Vorzeit des Geldes verlegen und das Geld lediglich in Gedanken aus diesem Tauschhandel wegkürzen, setzen wir trotzdem mit ihm Verhältnisse an, die bereits Geld enthalten, die es nämlich notwendig implizieren – und die genau deshalb auch so notwendig auf Geld hinauslaufen. Es ist, als wollten wir uns eine Neandertaler Welt vorstellen, in der allenthalben bereits Münzautomaten aufgestellt sind, nur dass die Münzen dazu noch fehlten, weil sie bis dahin niemand erfunden hätte. Äquivalenten Tauschhandel vorauszusetzen und zu erklären, das Geld wäre seinetwegen erfunden worden, weil er damit sehr viel runder lief, ist ungefähr so einfallsreich, wie aus der Existenz von Münzautomaten zu erklären, dass sich die Menschen die Münzen hätten einfallen lassen, weil die Automaten mit ihnen besser zu bedienen waren – eine „großartige Errungenschaft“! Diese Erklärung ist also nicht nur falsch, sie ist keine Erklärung. Sie erklärt nicht, wie Geld entsteht, sondern tut das schiere Gegenteil. Sie leitet nicht her, wie das Geld aus vergangenen Verhältnissen hervorgeht, die noch kein Geld kannten, sondern setzt Verhältnisse in einer Art voraus, wie wir sie aus unserer Welt des Geldes kennen, und verlegt sie zurück in die Vergangenheit. Sie verkehrt die Richtung dessen, was sie glaubt zu tun: Sie erklärt

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nicht aus dem Vergangenen das, was heute daraus wurde, sondern erklärt umgekehrt das, was heute geworden ist, zu dem, was einmal gewesen sein soll. Mit unserem so harmlos scheinenden Szenario von Tauschhandel glauben wir uns unvorgreiflich nur auf etwas verlassen zu haben, was gar nicht anders sein kann. Und doch machen wir darin unwillkürlich Voraussetzungen, die sehr weit reichen: – Wir sehen jeweils zwei miteinander tauschen, setzen aber voraus, dass nicht allein bestimmte zwei Menschen tauschen, sondern grundsätzlich alle, die zu der jeweiligen Gesellschaft gehören. Anders wäre die spätere Einführung von Geld, die wir uns daraus erklären, sinnlos: Wenn nur genau diese zwei tauschen würden, brächte ihnen die Einführung von Geld rein gar nichts. Wir setzen also Tauschvorgänge voraus, die von allen vollzogen werden und die diese Gesellschaft als ein ganzes System von Tauschvorgängen überspannen. – Wir setzen voraus, dass jeder deshalb tauscht, weil er etwas braucht, und um zu bekommen, was er braucht. Alle sind auf den Tausch angewiesen, um das Benötigte zu bekommen, denn deshalb nehmen sie überhaupt die mühsame Suche nach einem passenden Tauschpartner auf sich, die wir voraussetzen. Alle Mitglieder der so gedachten Gesellschaft sind also darauf angewiesen, voneinander zu kaufen, was sie benötigen, und alle müssen dafür auch etwas zu verkaufen haben, was andere benötigen. Ganz allgemein hängt die Versorgung also von Käufen und Verkäufen ab und diese bilden die in ihrem gesellschaftsüberspannenden Zusammenhang einen ganzen Markt. – Darin werden die Güter jeweils als gleiche Werte getauscht: Gut gegen Gut als Wert gegen gleich viel Wert. Bei dieser Art Tausch ist also vorausgesetzt, dass es nicht nur um die ge-

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tauschten Güter selbst geht, sondern zugleich um die Menge Wert, die in ihnen stecken soll: eine jeweils unterschiedliche Menge desselben Werts in allen Gütern. Für diesen unterschiedslos einen Wert ist in dieser Gesellschaft alles an Gütern zu bekommen und für jedes Gut bekommt man diesen unterschiedslos einen Wert. Das aber heißt, der Wert, den wir hier voraussetzen, ist schon so gut wie Geld – Geld ist schon da, ist schon vorausgesetzt und muss gar nicht mehr erfunden werden: Es bräuchte nur noch ehrlicherweise diesen Namen.

Einfach und übersichtlich wie ein Kinderspiel, so erscheint uns das Getausche von Faustkeil und Haxe, das wir noch den frühesten Zeiten unterstellen. Und doch zeigt es sich voller spezifischer Voraussetzungen, die wir dabei machen und die zielgenau auf das Geld hinauslaufen, weil sie es genau genommen von Anfang an einschließen. Nichts davon haben wir bewusst eingeschlossen in unsere Vorstellung von einem geldlosen Tausch, wir setzen es unwillkürlich voraus. Und zwar setzen wir es unwillkürlich allein deswegen voraus, weil es dem entspricht und weil wir es dem entnehmen, was wir heute um uns vorfinden, einer Welt, die mit Geld umgeht, einer Welt, die durch und durch vom Geld geprägt ist. Das Geld prägt sie und uns mit einer Gewalt, dass wir uns die Welt nur noch so vorstellen können: mit Geld und geprägt vom Geld. Wie angestrengt wir auch versuchen, uns die Welt ohne Geld zu denken, wir denken es von Anfang an in sie hinein. Auf diese Weise also gelingt es uns nicht, über das Geld hinauszudenken, auch wenn wir nur zurückzublicken versuchen − zurück auf vergangene Zeiten, wo historische Belege doch Anhalt genug bieten würden, sich vorzustellen, wie es einmal wirklich war ohne Geld. Um wie viel schwieriger also wird es erst sein, wenn wir uns gar eine Zukunft ohne Geld vorzustellen suchen. Aber es muss einmal gelingen.

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I Austausch Um eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie es ohne Geld zugegangen ist, würde ein Gang zurück ins Mittelalter genügen, so dürfen wir inzwischen ja annehmen. Zumindest aber haben wir uns dafür nicht in die tiefsten Tiefen der Vergangenheit zu verbohren. Einen Zustand ohne Geld, diesen archaischen Zustand, wie er uns erscheint, bekommen wir nicht erst dann in den Blick, wenn wir die archē eines Noah aufsuchen oder überzeugt sind, dem Turkana-Jungen bis ins Innerste sehen zu können. Die Nähe oder die Distanz, in denen Menschen zum Geld gelebt haben, bemisst sich nicht einfach an ihrem zeitlichen Abstand zu heute, nach dem Motto: Je weiter zurück in der Zeit, desto weiter weg vom Geld. Es gibt keine allgemeingültige Entwicklungsgeschichte der Menschheit in der Art, dass Geld zu bestimmten Zeiten etwa nur vorläufing in dem Denken oder in einer Praxis der Menschen wäre angelegt gewesen, sich von einem Jahrhundert X an langsam in greifbaren Dingen ausgeformt hätte und danach in Gestalt dieser Dinge immer komplexer angewandt worden wäre, bis es sich schließlich in elektronische Datenflüsse verflüchtigte und dank deren Unkontrollierbarkeit zum aktuellen Anlass für Krisen mausern würde. Gäbe es eine solche Entwicklungspsychologie des Geldes, so könnten wir angeben, vor 500 Jahren hätte die Menschheit in Gelddingen jenen Stand erreicht, vor 1000 Jahren wäre es ein früherer gewesen, vor 5000 ein noch früherer, und um endgültig vor das Geld zu kommen, müssten wir ein paar der beliebten 100 000 Jahre zurückgehen. So aber verhält es sich nicht mit dem Geld.

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Noch heute mag sich irgendwo in einem bislang nicht umgepflügten oder abgeholzten Winkel dieser Erde ein letzter Volksstamm verbergen, der kein Geld kennt und noch nie davon gehört hat – zeitgleich mit unseren elaborierten Finanztechniken und Finanzkrisen. Auf jeden Fall aber haben noch sehr lange, als in Europa und später auch in anderen Teilen der Welt bereits das Geld herrschte, ganze Völker und Reiche existiert, die entweder gar nicht mit Geld umgingen oder es tatsächlich nur im Verkehr mit den welterobernden Europäern und ihren Ablegern gebrauchten. Diese haben sich zwar todsicher, wo immer sie auch hingelangten, irgendwann zu Herren aufgeschwungen und dem geldlosen Leben mit Gewalt ein Ende gesetzt, immerhin jedoch haben sie zuweilen rechtzeitig daran gedacht zu dokumentieren, was sie vorfanden und was durch ihr Auftreten früher oder später zuverlässig vernichtet wurde. Und dann haben Ethnologen und Anthropologen noch in den letzten Jahren, wenn auch weniger und weniger, Gemeinschaften studieren können, deren Zusammenleben wenigstens zeitweise getrennt von dem verlief, was sonst inzwischen die ganze Welt regiert. Distanz oder Nähe zum Geld bemisst sich, wie gesagt, nicht in einem zeitlichen Abstand zu heute, sondern allein daran, wie weit ein Stamm, ein einzelner Landstrich oder auch nur ein einzelnes Dorf einbezogen oder hineingezwungen sind in einen größeren Geldumlauf: in jenen Markt, nach dem unsere Wirtschaft heute zu Recht benannt wird. Da kann in der Hauptstadt alles schön über Geld laufen, in einer Währung, die weltweit ihre Anerkennung findet, und wenige Dörfer weiter, in irgendeinem Hochland oder Dschungel, hat dasselbe Geld wenig oder gar nichts mehr zu sagen, einfach weil die Einbindung in jenen größeren Umlauf und Markt fehlt. Und dort, so lässt sich beobachten, ergeben sich Verhältnisse, die in entscheidender Hinsicht denen bei Völkern und Reichen gleichen, zu deren Zeit es auf der Welt noch nirgends Geld und

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Markt gegeben hatte. Lange Zeit waren Ethnologen zwar blind für diesen Zusammenhang, doch inzwischen ist es Heinzpeter Znoj in seinen umfänglichen Forschungen gelungen, ganz Entscheidendes aufzudecken und festzuhalten.10 Um zurückzuschauen auf eine Ära ohne Geld, brauchen wir demnach nicht unbedingt nur zurückzuschauen. Was uns davon noch gegenwärtig vor Augen treten kann, ist zwar verschwindend wenig im Vergleich zu dem, was die Vergangenheit davon enthält, aber es kann uns das Gleiche erzählen wie sie. Wenn wir den Blick darauf richten, so blicken wir zwar nicht notwendig in die Vergangenheit, gewiss aber auf etwas in weiter, weiter Ferne. Beginnen wir also. Was wir dort finden, sind niemals Gesellschaften, die auf dem Tauschhandel von jedem mit jedem und von Wert gegen Wert basieren, sondern ist eine völlig andere Art von Austausch. Es ist ein Austausch, von dem mit Recht zu sagen ist, dass die Menschen ihn pflegten. Uns ist er unendlich weit entrückt, unvorstellbar fern, und es gibt fast nichts mehr, was wir davon kennen. Aber immerhin: nur fast nichts mehr. Ein kleiner Rest hat sich erhalten, ein klein wenig von dem, wie die Menschen früherer oder – richtiger gesagt − geldferner Zeiten miteinander umgehen und umgegangen sind. Gewiss, es ist nur der schwache Nachklang eines archaischen Umgangs der Menschen miteinander, aber es gibt ihn und er vermittelt uns zumindest eine leise Ahnung von etwas, das wir sonst nur noch den historischen Quellen entnehmen können. Dieser archaische Rest, der sich bis in unser geldbestimmtes Heute gerettet hat, ist – klein und unauffällig – das Mitbringsel. Wenn wir bei jemandem eingeladen sind, wenn wir jemanden besuchen oder wenn wir zu jemandem ans Krankenbett treten: Es gibt Gelegenheiten, da bringen wir denen, die wir aufsuchen, etwas mit. Das gehört sich so und deshalb tun wir es, falls wir heutzutage nicht auch das noch bleiben lassen. Wir bringen Blumen

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mit, etwas Süßes, eine Flasche Wein oder sonst „etwas Kleines“. Es ist der Besuch als solcher, der uns gewissermaßen dazu verpflichtet. Ein irgendwie offizielleres Zusammenkommen mit anderen, egal, wie wir im Besonderen zu ihnen stehen, ob wir sie nun schätzen oder nicht, schließt eine Verpflichtung zwischen uns und ihnen ein. Und eine solche Art der Verpflichtung ist es, die ganz grundsätzlich auch den archaischen Umgang der Menschen miteinander charakterisiert. Wenn wir mit anderen in einer Weise zusammenkommen, die ihr Mitbringsel erfordert, besteht diese Verpflichtung tatsächlich zwischen diesen anderen und uns, sie besteht in beiden Richtungen, von uns ihnen gegenüber und umgekehrt von ihnen gegen uns. Das zeigt sich an einer Kleinigkeit, die uns in der Regel gar nicht auffällt: Wir haben die Verpflichtung, unser Mitbringsel zu überreichen, sie aber haben ebenso die Verpflichtung, es auch anzunehmen. Genauso unhöflich oder unfreundlich, wie es wäre, wenn wir nichts mitbrächten, wäre es umgekehrt, wenn sie unser Mitbringsel zurückweisen würden. Es würde mehr bedeuten, als dass sie zum Beispiel die ewigen Pralinen nicht mehr sehen können und gerne auf sie verzichten. Die Zurückweisung würde sich nicht auf das übergebene Ding beschränken, es wäre eine Zurückweisung unserer Person, es wäre ein Bruch des freundlichen Einverständnisses, in dessen Zeichen unser Besuch erfolgt. Auf dieses freundliche Einverständnis nämlich richtet sich die Verpflichtung. Da ein solches Einverständnis nur zwischen Menschen bestehen kann, besteht auch die Verpflichtung, die auf dies Einverständnis zielt, gleichermaßen zwischen den Beteiligten. Das Mitbringsel dient dazu, diese Verpflichtung auszudrücken und einzulösen: durch seine Überreichung von unserer Seite, durch seine Annahme von der Seite der anderen. Aber ein Mitbringsel löst diese Verpflichtung nicht etwa ein, um sie aufzulösen, um ihr ein Ende zu setzen. Die Verpflichtung

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besteht vielmehr fort, die gleiche Verpflichtung besteht auch bei unserem nächsten Besuch und außerdem in dem Sinne, dass wir von den anderen einen Gegenbesuch erwarten können und bei diesem Besuch nun sie ein Mitbringsel zu überreichen und wir es anzunehmen haben. Die Verpflichtung ist nicht mit einmal hin und einmal her erledigt, sie wird niemals abschließend eingelöst, sondern mit jedem weiteren Besuch im Gegenteil bekräftigt. Jeder Besuch, bei dem sich Besucher und Besuchte an die Verpflichtung halten und sie nicht auf irgendeine Weise durchkreuzen, wird das Band zwischen ihnen stärken, wird dem freundlichen Einverständnis zwischen ihnen größere Belastbarkeit und Dauer verleihen.11 Verpflichtungen dieser Art mögen heute nicht sehr stark sein. Manch einer mag sie gar nicht mehr empfinden oder er empfindet sie in der einen Hinsicht schwächer, in der anderen stärker, erwidert nur selten einen Besuch, aber bringt zu einer Einladung immer etwas mit. Dennoch, es gibt solche Verpflichtungen auch für uns, wir empfinden und wir kennen sie: Wir wissen, dass sie bestehen. Sie binden uns an die, mit denen wir Umgang haben, und innerhalb dieses Umgangs gehört sich, was sie vorgeben: Sie sind in diesem doppelten Sinn verbindlich. Sie verbinden uns mit und verbinden uns gegenüber anderen und verbinden diese anderen mit uns und gegenüber uns. Wechselseitig, ja, allseitig verbinden diese Verpflichtungen diejenigen, die da miteinander zu tun haben. Mitbringsel also sind, als Bestandteil solcher Verpflichtung, Teil der Verbindlichkeit zwischen Menschen, der Verbindlichkeit einer Gemeinschaft. Und genau darin sind sie der Nachhall eines archaischen Umgangs der Menschen, eines Umgangs ohne Geld oder doch unabhängig von Geld.

Gaben Ein Mitbringsel überreichen wir als Gabe, wir tauschen nicht

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irgendetwas gleich gegen gleich damit ein. Wir machen unseren Besuch, wir werden vielleicht bewirtet, aber wir tauschen nicht unser Mitbringsel gegen die Bewirtung ein oder gegen die freundliche Aufnahme. Es geht nicht zu wie im Wirtshaus, wir bezahlen nicht mit unserer Gabe das, was man uns vorsetzt, und sind danach quitt mit dem Wirt. Das Mitbringsel ist auch kein Eintrittspreis, den wir entrichten müssen, um eingelassen zu werden, wir tauschen es nicht gegen den Besuch und nicht gegen irgendeinen Teil davon. Es gehört vielmehr insgesamt zu ihm, ist Teil des Besuchs genauso wie der Empfang, den man uns bereitet, wie Kaffee und Kuchen, wie die Mahlzeit oder einfach die Gelegenheit, uns in einen Sessel zu setzen. Nichts davon soll durch das Mitbringsel abgegolten werden, nichts von all dem soll es denen abkaufen, die wir besuchen: Es wäre absurd, an der Haustür das Mitbringsel zu überreichen, den Kuchen dafür in Empfang zu nehmen und wieder abzuziehen. Das Mitbringsel zu einer solchen Art von Tausch zu verwenden, hätte nicht nur keinen Sinn, es wäre eine Beleidigung für die Gastgeber und würde den Sinn des Mitbringsels, das freundliche Einvernehmen des Austauschs, unmittelbar in sein Gegenteil verkehren. Der Austausch, den wir in Gestalt eines Besuches mit anderen pflegen, ist als solcher das Ziel der Veranstaltung, und alles andere drumherum, Mitbringsel, Empfang, Bewirtung und Geplauder, dient diesem Ziel als gleichermaßen notwendiger Bestandteil. Das Mitbringsel gehört in die Gesamtheit der Verpflichtungen, die einen gelungenen Besuch ausmachen, und nicht zu einem Tausch, mit dessen Vollzug die Verpflichtung enden würde. Die Wechselseitigkeit, die berühmte Reziprozität solcher Verpflichtungen bezieht sich also keineswegs ausschließlich und allein auf die Mitbringsel selbst. Es geht uns nicht mit dem unseren nur um das Mitbringsel, das wir bei deren Gegenbesuch von anderen erwarten können. Wir bringen nicht deshalb Pralinen mit, weil

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wir auf die Blumen scharf sind, die uns bei einem Gegenbesuch blühen. Schon die Besuche insgesamt beschränken sich nicht auf genau den einen, den wir bei anderen machen, und genau den einen, mit dem sie ihn erwidern, so dass sich beide damit – gleich gegen gleich – aufheben würden. Noch weniger aber beschränkt sich der Austausch auf die mitgebrachten Dinge selbst: Es geht nicht um Mitbringsel gegen Mitbringsel. Weder dreht es sich bei dem Besuch nur um das Mitbringsel, sondern umgekehrt bei dem Mitbringsel nur um den Besuch, noch geht es darum, dass uns das eine Mitbringsel das andere Mitbringsel einbringt. Eben weil sie zwar integraler Bestandteil, aber doch eben nur Teil eines zusammenhängenden Ganzen sind, steht nicht etwa für sich genommen das eine Mitbringsel für das andere, beziehen wir nicht mitgebrachtes Ding auf mitgebrachtes Ding. Das heißt, es geht bei den Mitbringsel nicht darum, dass sie einander entsprechen und dass wir sie einander gleichsetzen würden: Sie müssen allein dem Anlass entsprechen, dem Besuch und der Verpflichtung, die wir mit ihm erfüllen. Wir bringen bei einem Besuch Blumen mit, bei einem anderen Pralinen und bekommen bei einem Gegenbesuch vielleicht eine Flasche Wein. Alle diese Mitbringsel entsprechen dem Anlass und sind insofern passende Mitbringsel. Aber natürlich ist keines die Bezahlung für ein anderes, wir tauschen nicht Mitbringsel gegen Mitbringsel als Waren gleichen Werts. Wenn uns heute, unter Geldverhältnissen, das eigene zum Beispiel 14,99 gekostet hat, verlangt das nicht, dass das Mitbringsel eines Gegenbesuchs genauso viel kostet. Vielleicht empfinden wir es sogar als kostbarer, wenn ein Mitbringsel gar nichts gekostet hat, da es in diesem Fall nicht bloß fertig gekauft, sondern eigenhändig gefertigt oder selbst gepflückt wurde. Die Mitbringsel haben als solche ihre Geltung, sie entsprechen einander als Mitbringsel, weil sie dem Anlass entsprechen, dem sie dienen. Das ist etwas ganz Entscheidendes.

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Diese Entsprechung zu beachten, ein Mitbringsel passend und angemessen zu wählen, fällt den Beteiligten daher alles andere als schwer, selbst wenn keinerlei Tausch- oder Geldwert zum Maßstab dient. Auch ohne zu wissen und bedenken zu müssen, wie viel gekostet haben mag, was uns einmal jemand mitgebracht hat, wissen wir, was wir mitbringen können und mitbringen sollten, ganz einfach weil es dafür eine als angemessen anerkannte Auswahl von Dingen gibt: Blumen, Wein, Süßigkeiten und so fort. Wenn wir uns an sie halten und wenn unser Mitbringsel irgendwie in die gleiche Kategorie fällt wie eines dieser Dinge, entsprechen wir sicher der Verpflichtung. Wenn wir zum Essen eingeladen sind, werden wir als Mitbringsel kein Diamantkollier überreichen, das wäre zu kostbar, aber auch keinen Schraubenzieher, der wäre unpassend, ja unverständlich, selbst wenn er uns exakt so viel gekostet hätte wie die Blumen, die wir stattdessen bringen. Selbstverständlich können wir auch mit dem Kollier oder einem schönen Stück Werkzeug ankommen und sie überreichen, doch wüssten wir dann eines sicher: Sie sind keine Mitbringsel. Denn Mitbringsel sind nicht nur keine Äquivalente, sie sind auch keine Geschenke: Sie sind eben Gaben.12 Ein Unterschied ist zum Beispiel, dass Geschenke ihrem Empfänger auf irgendeine Weise zugestellt werden kann. Natürlich kann ich ein Geschenk genauso überreichen wie ein Mitbringsel, ich kann es aber auch unter einen Baum gelegt haben, ich kann es per Post schicken, egal, Hauptsache, der Beschenkte hat es irgendwann in Händen. Ein Geschenk steht insofern ganz für sich, anders als die Gabe, die unablösbar zu einem größeren Zusammenhang gehört. Es ist gebunden an den Besuch: Wir müssen es persönlich überreichen, und zwar gleich zu Beginn des Besuchs, Blumen haben wir aus ihrem Papier zu wickeln, haben ein paar passende Worte dazu zu sprechen, ein freundliches Gesicht zu machen, sollten das Ganze als Selbstverständlichkeit behandeln und schließlich nur gedämpf-

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ten Dank erwarten. Eine Gabe gehört notwendig in einen solchen Zusammenhang und ist daraus nicht zu lösen, ohne dass sie ihren Sinn verlöre. Und das berührt auch die Auswahl einer Gabe. Ein Geschenk sollte auf den Beschenkten zugeschnitten sein und möglichst persönlich ausfallen. Bei Mitbringseln dagegen kommt es nicht ernsthaft darauf an, dass der, dem man sie überreicht, sie sich gewünscht hätte, dass er sie benötigen würde oder auch nur irgendwie gut gebrauchen kann. Ein exzellenter Wein wird uns als Mitbringsel zwar willkommener sein als einer, den man nur wegschütten kann, trotzdem erfüllt auch dieser die Verpflichtung – schon gar, wenn wir wissen, dass der Geber nichts von Wein versteht. Das heißt, wir werden zwar den Geber womöglich danach beurteilen, wie er seine Gabe wählt, und falls er es nachlässig tut, mag das unser Verhältnis trüben. Trotzdem, selbst wenn uns die ewigen Schnapspralinen längst zuwider sind, als Gabe haben sie ihre Geltung, als Gabe werden wir sie anerkennen. Eine Gabe müssen wir nicht gebrauchen können oder wir müssen nicht eigenen Nutzen aus ihr ziehen, das ist nicht ihr Sinn. Was aber ihren Sinn ausmacht und was also das Mitbringsel, diese verschwindende Kleinigkeit in unserem heutigen Leben charakterisiert, es gehört sehr grundsätzlich auch zur Charakteristik des archaischen Austausches unter Menschen, eines Austauschs ohne Geld. Nur ist dieser, fern vom Geld, alles andere als eine Kleinigkeit: Dort hat er für die Menschen allergrößte Bedeutung. Aber darin besteht nicht der einzige Unterschied.

Ein dritter Mann13 Die Māori, so nimmt man an, sind unserer Zeitrechnung nach vor 1300 auf Neuseeland eingewandert. Als im Laufe des 19. Jahrhunderts Europäer von der großen Insel Besitz ergreifen, treffen

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sie dort folglich auf die Māori als eingeborenes Volk. Und, wie sie später feststellen, unterwerfen sie damit „die letzte große Gemeinschaft der Erde, die unberührt und unbeeinflusst von der Außenwelt lebte“. Selbst wenn es noch heute Gemeinschaften geben sollte, die bislang keine Berührung mit dieser „Außenwelt“ hatten, nämlich mit der europäisch oder westlich dominierten Welt, dann jedenfalls nicht mehr in der bedeutenden Größe jenes Volkes. Inzwischen bilden die Māori den Hauptteil der solide verarmten Unterschicht Neuseelands, ihre Sprache erfreut sich einer letzten gezielten Pflege, um sie nicht aussterben zu lassen, und das heißt, sie ist bereits so tot wie alles andere, was die Māori ausgemacht hat. Bereits gegen Ende desselben 19. Jahrhunderts sind sie stark dezimiert, unter anderem dank eigener Mithilfe und einer gelungen selektiven Verteilung europäischer Musketen an die verschiedenen Stämme. Glücklicherweise jedoch hatte sich die Art ihres Zusammenlebens nicht ebenso schnell verflüchtigen können. Sie wird von den Eindringlingen noch ausgiebig studiert und, rasch über die Sprache der Māori verfügend, können sie sich vieles von ihnen auch mündlich mitteilen lassen. Unter anderem kommt es so zu einem berühmten, von Ethnologen oft interpretierten Interview, in dem ein Māori namens Tamati Ranapiri auch über das Gabenwesen Auskunft gibt: über jene Form von Austausch, die wir mit Recht archaisch nennen können. Was die Māori bei diesem Austausch überreichen, sind taonga. Das ist ihr Wort für all die Dinge, die zu etwas taugen, die ihren Nutzen und ihre Bedeutung haben und die sie irgendwie schätzen. Im Deutschen nennen wir sie passenderweise „Güter“. Wenn sie solche taonga übergeben, sind nicht nur diese selbst, sondern ist noch etwas weiteres von Bedeutung, etwas, das in der Sprache der Māori kurz und knapp hau genannt wird. Was ist dieses hau? Der Wind zum Beispiel kann hau sein und ist dann „das hau, das

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weht“, während das hau, welches bei Gaben eine Rolle spielt, „hau des Waldes“ heißt. Und was es damit auf sich hat, erklärt Ranapiri so: Jetzt über das hau des Waldes. Dieses hau ist nicht das hau, das weht. Nein. Ich werde es dir sorgfältig erklären. Also, du hast ein taonga, das du mir gibst. Es geht nicht um eine Zahlung zwischen uns. Jetzt gebe ich es weiter an einen anderen. Dann vergeht eine lange Zeit und dieser Mann denkt daran, er hat das taonga, er sollte mir etwas dafür geben, und das tut er. Und dieses taonga, das mir jetzt [von ihm] gegeben wurde, ist nun das hau desjenigen taonga, das mir vorher [von dir] gegeben worden war. Ich muss es dir geben. Es wäre nicht richtig von mir, wenn ich es für mich behalten würde. Egal, ob es nun etwas sehr Gutes oder Schlechtes ist, dieses taonga muss dir von mir gegeben werden. Weil dieses taonga ein hau des anderen taonga ist. Wenn ich dieses taonga für mich behalten wollte, dann würde ich mate (krank werden oder sterben). Das also ist das hau – das hau der taonga, das hau des Waldes.14 Das hau des Waldes − auf diese Weise ist es sorgfältig erklärt, wie Ranapiri sagt, aber für uns nicht ohne weiteres zu verstehen. Wir hören: Ein taonga ist das hau eines anderen taonga und deshalb muss die Übergabe eines taonga durch die eines anderen erwidert werden. Damit liegt für uns sogleich die Deutung nahe: Wenn ein taonga das hau eines anderen ist, wäre hau notwendig der Wert beider taonga. Dergleichen kann Ranapiri allerdings nicht gemeint haben, sonst hätte er eine andere und viel simplere Geschichte erzählen müssen, nämlich: Du gibst mir ein taonga, ich gebe dir dafür ein taonga zurück und dieses ist dann das hau des deinen. Es wären genau zwei Geber beziehungsweise Nehmer beteiligt, ein ich und ein du, und diese zwei würden zwei Dinge von

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gleichem hau, also offenbar von gleichem Wert gegeneinander tauschen − so entspräche es unserer Vorstellung. Der Māori jedoch erzählt von etwas durchaus anderem. In seiner Erzählung kommen zwar nur zwei verschiedene taonga vor, aber mehr als zwei Männer, die mit ihnen hantieren, nicht nur das ich und das du: Es gibt noch einen dritten. Und der ist offenbar entscheidend für das hau, nur durch ihn kommt es zustande. Gehen wir das Ganze noch einmal durch. Es kommt zu einer ersten Gabe, von dir an mich. Diese Gabe bleibt zunächst unerwidert. Dennoch wirkt sie weiter, nur eben nicht in der Richtung zurück zu dir, dem ersten Geber, sondern weiter voran. Sie hat sozusagen einen gewissen Schwung aufgenommen und schwingt nun weiter in Richtung auf einen Dritten: Das taonga, das du mir überreicht hast, behalte ich nicht für mich, sondern gebe es an einen Dritten weiter. Danach vergeht erst einmal „lange Zeit“ – und das muss wichtig sein, da Ranapiri es eigens erwähnt. Erst nach geraumer Frist also denkt der dritte Mann daran, mir diese Gabe zu erwidern. Und nun sagt Ranapiri nicht etwa, die Gegengabe des Dritten an mich wäre das hau derjenigen Gabe, die er vom mir bekommen hat und die er so erwidert. Nein, auch in dieser umgekehrten Richtung, von dem Dritten zurück zu mir, kommt ein weiterer Mann ins Spiel, und das bist wiederum du, der erste Geber in dieser Erzählung. Es heißt ausdrücklich und muss seine Bedeutung haben: Die Gabe, die jetzt von dem dritten Mann an mich geht, ist das hau jener Gabe, die vorher von dir an mich gegangen ist. Und das ist der Grund dafür, dass die Gegengabe des Dritten an mich wiederum weitergegeben werden muss an dich, den Überreicher der ersten. Kompliziert – und komplizierter, als uns einleuchten will. Vor allem eines muss erstaunen: Die Gabe, die ich weitergebe an den Dritten, ist ja dasselbe taonga, das ich von dir bekommen habe. Trotzdem heißt es, die Gegengabe des Dritten an mich sei das hau

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nicht der Gabe, die ich ihm gab, sondern der Gabe, die du mir gegeben hattest – obwohl es sich dabei um ein und dasselbe taonga handelt. Also muss es für das hau ganz offensichtlich darauf ankommen: Eine Gegengabe ist nicht das hau einer direkt erwiderten Gabe, sondern einer Gabe, sofern sie vorher bereits weitergereicht wurde. Nicht in direkter Erwiderung einer Gabe entsteht hau, es entsteht allein, wenn eine Gabe nicht bloß als die einmal überreichte, sondern wenn sie als weitergereichte erwidert wird. Hau bestimmt den Austausch unter den Māori, es treibt ihn an. Und selbst wenn die Lebensverhältnisse der Māori im übrigen nicht weiter zu verallgemeinern wären, das Wesen eines geldfernen Austauschs verstehen wir allgemein besser, wenn wir ihr hau richtig verstehen: Gaben müssen zwar erwidert werden, werden aber nicht direkt erwidert. Darin nämlich liegt zugleich der Sinn jener langen Zeit, die erst vergehen muss, bevor der dritte Mann an seine Verpflichtung zur Gegengabe denkt. Es geht nicht Schlag auf Schlag, es geht nicht Gabe um Gabe, es geht nicht ich und du und Tausch und basta. Der Austausch von Gaben reicht weiter als nur zu einem einfachen Hin und Her, mit einer Gabe muss es fürs erste jeweils weiter gehen. Genau das ist beim heutigen Mitbringsel entschieden anders, da wäre es umgekehrt höchst peinlich, wenn jemand merkt: Wir reichen eine Pralinenschachtel, die uns letzthin jemand mitgebracht hat, einfach weiter. Für uns gilt, dass die Gabe nur das eine Mal von Geber zu Nehmer wechseln darf. Unsere moderne Gabe ist streng dyadisch: Sie nimmt ihren Anfang beim Geber und findet ihr Ende beim Empfänger. Die archaische Gabe dagegen wird bedeutungsvoller, je mehr sie bereits weitergegeben wurde, denn umso mehr versammelt sich in ihr an hau. Denn hau benennt offenbar die Bewegung, den Schwung und impetus, den jeder einem taonga mitteilt, der es empfängt und weitergibt. Die Verpflichtung, die weiterwirkt, sie ist hau: eine Kraft, die das voranträgt, worin sie wirkt, und die

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sich, solange sie wirkt, als die Kraft dessen erhält, der sie einmal aufgewandt hat, die Kraft des Gebers. So bindet hau eine Gabe auch jeweils an ihn zurück, eben weil er es war, der sie der Gabe mitgeteilt hat, und deshalb muss die Gabe irgendwann an ihn erwidert werden. Der Schwung und impetus, der weht: das ist der Wind. Der Schwung und impetus des Waldes aber, sein hau, ist einer der Materie, der Dinge. Zu ihnen gibt der Wald den Stoff: materia, das lateinische Wort, meint zuallererst das Holz, sofern Menschen es verwenden, etwas daraus formen oder bauen. Und diese Materie erhält ihre Bewegung und ihren impetus, indem Menschen sie weiterreichen und durch dies Weiterreichen Menschen binden und verbinden. In langen Reihen, die von einem zum anderen und von diesem zu immer anderen weiterlaufen, sich verzweigen und sich über Verzweigungen jeweils wieder auch zurückwenden, zeigt und sieht sich jeder den anderen verbunden und mit den anderen verbunden. Und so sehen sich die Menschen nicht als lauter einzelne Bäume, sondern sehen sie sich, unter lauter Bäumen, selbst als Wald – den Wald des hau.

Gemeinwesen Menschen kommen nicht als Einzelwesen auf die Welt, so, wie es sich eine ehrwürdig antike Vorstellung zurechtgelegt hat. Cicero zum Beispiel erklärte, die Menschen wären ihre jeweilige Gemeinschaft mit anderen irgendwann aus vernünftigen Gründen eingegangen, und das würde heißen: erst nachdem sie vorher einzeln, außerhalb von Gemeinschaften gelebt hätten. Es war aber natürlich nie so, dass erst einmal jeder für sich aus dem Ei geschlüpft wäre, allein für sich gesorgt hätte, dann aufschaute, andere Menschen entdeckte und ins Überlegen kam: „Ich bin Einzelgänger, könnte mich aber mit denen zusammentun, das würde mir helfen, wäre sicherer und außerdem könnten wir späteren Generationen

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die Freude machen und bei der Gelegenheit schon einmal erfinden, was sie dann als Kommunikation vergöttern werden.“ Nein, kommuniziert waren und sind die Menschen, sobald sie nur das Licht der Welt erblicken. Unter archaischen Verhältnissen wird jeder hineingeboren in eine Gemeinschaft, in einen Stamm, eine Sippe, eine civitas, mitsamt den Verbindungen oder auch Feindschaften, die seine Gemeinschaft jeweils noch zu anderen Gemeinschaften pflegt. Und innerhalb dieser Gemeinschaft versorgt er sich zusammen mit dieser Gemeinschaft. Jeder versorgt sich darin als ein Teil von ihr, das heißt, jeder bemüht sich gemeinsam mit den anderen um die Versorgung der Gemeinschaft und eben damit um die eigene Versorgung, als Teil der gemeinsamen. So allgemein, wie jeder zur Versorgung und zum Überleben einer Gemeinschaft beiträgt, so allgemein ist jeder auch eingeschlossen in ihre Versorgung. Es geht dabei nicht zu, wie es sich ein modernes Märchen von den frühen Menschenhorden einredet: Erst einmal jeder für sich und dann nur noch jeder gegen jeden. Deshalb wäre es dort auch unsinnig, wenn jeder jedem nur – Wert gegen Wert – verkaufen wollte, was der andere braucht. Es wäre in etwa so unsinnig gewesen, wie wenn eine Familie beim Abendbrot sitzt, einer bittet den anderen, ihm die Butter zu reichen, und dieser besteht darauf: „Aber nur, wenn du mir dafür ein Stück Brot abgibst.“ Die Ethnologie ist bei archaischen Gemeinschaften stets und ausnahmslos auf dies als ein zentrales und untrügliches Kennzeichen gestoßen: dass alle in darin versorgt sind, dass eine solche Gemeinschaft keinen der Ihren hungern lässt. Falls es zu Hunger und Mangel kommt, was natürlich möglich ist, trifft es die Gemeinschaft nur als ganze, dann fehlen der Gemeinschaft insgesamt die Lebensmittel, dann reicht die Versorgung insgesamt nicht aus. In dem Fall, dass die Ernte missrät oder ein anderes Unglück zur Vernichtung der Vorräte führt, herrscht allgemeine Hungers-

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not, dann hungert und darbt die Gemeinschaft als ganze. Bei allen hierarchischen Unterschieden, die zwischen ihren Mitgliedern bestehen und die sich auch in unterschiedlich guter Versorgung niederschlagen mögen, eine solche Gemeinschaft lässt nicht einzelne aus Mangel sterben, wenn sie insgesamt genug zum Leben hat. Gewiss sind nicht alle gleich reichlich versorgt, versorgt aber sind sie – innerhalb ihrer Gemeinschaft, also gemeinsam mit ihr. Die natürliche Voraussetzung dafür ist einzig und allein, dass die Einzelnen wirklich eben Teil der Gemeinschaft sind, dass sie sich der Gemeinschaft – und ihrer Stellung darin − entsprechend verhalten. Sie haben den Verpflichtungen innerhalb der Gemeinschaft zu genügen, um ihren Ort darin zu haben, einen bestimmten Status darin zu bewahren oder zu erringen. Um nicht schlimmstenfalls aus der Gemeinschaft herauszufallen, sieht sich jeder unwillkürlich vor der Notwendigkeit gesehen, die Gemeinschaft auch selbst herzustellen, ihr verbindlich Gewähr zu leisten. Genau das tut auch der Austausch von Gaben. Entsprechend tief ist er als Verhalten offenbar in den Menschen angelegt. Ich halte es für wahrscheinlich, dass er in tiefere Regionen hinabreicht als noch jede Konvention, die eine Gemeinschaft ihren Mitgliedern außerdem vorgeben mag. Vor mir sehe ich das kleine Mädchen, keine zwei Jahre alt, das dem fremden Besucher ihr liebstes Schmusetier hinhält. Sie wird nicht erwarten, dass er es für sich behält, sonst wäre abends an kein Einschlafen zu denken. Aber sie hat es eigens herbeigeholt und sie überreicht es, ganz offensichtlich, um es zu überreichen – nichts weiter. Niemand hat sie dazu angehalten, keiner hat es ihr vorgemacht, sie erwartet nichts dafür, bettelt um keine Süßigkeit, streckt ihr Händchen nicht noch einmal hin, um selbst etwas zu bekommen. Sie blickt dem Fremden nur einen Augenblick ernst und erwartungsvoll auf die Hände, die ihre Gabe entgegennehmen sollen. Die Übergabe selbst hat ihre Bedeutung – hat ihre Bedeutung einmal für diese kleine Davida und soll sie ha-

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ben für jenen Goliath, vor dem sie sich sieht und vor den sie sich hinstellt. Jeder, der dabei ist, nimmt es unmissverständlich wahr. Ob sich darin dasselbe archaische Verhaltensmuster zeigt wie in den Gaben allgemein, weiß ich nicht und will ich nicht urgieren. Andererseits könnte man sogar an Haustiere wie die Katzen denken, die ihrem Frauchen oder Herrchen eine schöne Beutemaus vors Bett legen. Mit ihr will die Katze sicher nicht ihr Whiskas bezahlen und sie wird auch nicht enttäuscht sein, wenn die Maus im Abfall landet statt auf dem Teller des so freundlich Bedachten. Ohne Frage aber ist die Beute ihm zugedacht: Er soll sie empfangen, und das kann auch für das Tier nur eine Bedeutung haben, die zwischen sich und denen spielt, mit denen es sein Leben teilt. Dass also ein Austausch über Gaben, über etwas, das man anderen darreicht, noch tiefer angesiedelt ist als nur in den Grundlagen menschlichen Zusammenlebens, halte ich für möglich. Aber daran entscheidet sich nichts weiter, es ist gar nicht nötig, diesem Austausch eine noch tiefere Bedeutung zuzuschreiben als die, die er schon nachweislich hat: zwischen Menschen. Denn dort, wo sie noch nicht mit Geld umgehen und sich alles Nötige gegenseitig für Geld verkaufen, in sämtlichen Zeiten jenseits einer Herrschaft von Geld und Markt gehört ein solcher Austausch grundlegend zu dem, was eine Gemeinschaft ausmacht, ja, was überhaupt Gemeinschaft stiftet. Der Austausch gilt der Gemeinschaft als solcher, keinem privaten Vorteil. Wer eine Gabe empfängt, behält sie nicht, er gibt sie weiter. Und es ist eben nicht nur ein einziges ich, das sie von einem einzigen du empfängt und nur an einen einzigen Dritten weitergibt. Aus der Sicht dieses Dritten aus stellt sich die an ihn weitergereichte Gabe ja ebenfalls so dar, dass er als ein ich von einem du etwas überreicht bekommt, das wiederum er weiterreichen wird an einen nunmehr Vierten – für den dasselbe gilt. Es geht immer noch einmal weiter mit den Gaben, so dass sie schließlich alle Mit-

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glieder einer Gemeinschaft erreichen können. Und auch wenn sich der Kreis schließt, findet das Weitergeben damit nicht sein Ende. Berühmt ist etwa der kula-Ring, der noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den melanesischen Trobriand-Inseln geübt wurde und in dem sogar der Reihenfolge nach festgelegt war, wer wem eine Gabe zu überreichen hatte. Dort kreisten die Gaben gleichzeitig in beiden Richtungen: Im Uhrzeigersinn waren es bestimmte Halsketten und im gegenläufigen Sinn waren es bestimmte Ringe – ohne dass das Kreisen je vollendet gewesen wäre. Ein anderes bekanntes Beispiel sind die !Kung der Kalahari-Savanne. Hxaro heißt bei ihnen ein umfassendes Netz gegenseitiger Besuche, für die sie zum Teil große Entfernungen zurücklegen müssen und die natürlich auch die Überreichung von Gaben einschließen. Hier laufen die Verbindungslinien nicht kreisförmig, sondern jeder der Beteiligten hat seine Verpflichtung nur gegenüber einigen anderen, aber doch so, dass letztlich alle über solche Linien einander verpflichtet und miteinander verbunden sind. Diese Verpflichtung zum Weitergeben kennen wir aktuell nicht mehr, in unserem Mitbringsel hat sie sich nicht erhalten und deshalb erscheint sie uns als etwas Zusätzliches, als etwas, das über die Verpflichtung zu Mitbringsel und Gabe hinausginge. Im archaischen Austausch jedoch ist das Weitergeben keine zusätzliche Erfordernis, sondern lässt es sich von den Gaben gar nicht trennen. Mit jeder Gabe geht etwas aus dem Besitz des einen in den Besitz eines anderen über, aber es geht dabei über in eine Art von Besitz, die uns als solche heute fremd geworden ist. Dieser Besitz nämlich hat seine Zeit: Was einer zum Besitz erhält, bleibt nicht in seinem Besitz, er gibt es vielmehr notwendig weiter, nicht nur bei der Gabe. Er gibt es weiter, weil Besitz in solchen Gemeinschaften grundsätzlich der Zeit unterliegt, an Zeit gebunden ist, als Besitz auf Zeit. Es ist eine gemeinschaftliche Zeit, eine Zeit, die von der Gemeinschaft abhängt und bestimmt wird. Was dort ein Einzelner

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besitzt, er besitzt es notwendig innerhalb der Gemeinschaft und streng genommen in Gemeinschaft mit den anderen. Auch als „sein“ Besitz unterliegt es der notwendig gemeinsamen Sorge um das, was die Gemeinschaft braucht und was alle nur in der Gemeinschaft zu leisten vermögen. Die Sorge des Einzelnen ist verflochten in die Sorge aller, weil er nur mit ihnen und mit ihrer Hilfe, also gemeinsam mit ihnen zu dem kommt, was er zum Leben braucht. Also gilt auch bei Gaben, aber eben nicht nur bei Gaben, dass der Gemeinschaft nicht entzogen sein darf, was einer besitzt. Ein Einzelner darf und kann es sinnvollerweise gar nicht strikt für sich und also ein für alle Mal besitzen, denn nur so kann er damit in einer Weise umgehen, die ihm und folglich der Gemeinschaft zuträglich ist. Ein Stück Land beispielsweise, das ihm gehört, muss er zur rechten Zeit bebauen, er muss die richtigen Pflanzen darauf ziehen, darf es nicht zu lange brach liegen lassen, darf es nur gemeinsam mit anderen abernten, damit er umgekehrt auch bei ihrer Ernte helfen kann. Diese Pflicht gegenüber dem eigenen Besitz zu vernachlässigen, kann zu Bestrafung führen, eben weil der Besitz zugleich zum Bestand der Gemeinschaft gehört und ihm zu dienen hat. Selbst vom frühen römischen Reich ist überliefert: Wenn einer seinen Acker verwildern ließ, ihn nachlässig bearbeitete und ihn weder gepflügt noch von Unkraut gesäubert hatte oder wenn einer seine Baumpflanzung und seinen Weinberg hatte verkommen lassen, blieb das nicht ohne Strafe, sondern war ein Vergehen, das die Ahndung durch den Zensor nach sich zog, und die Zensoren konnten ihn zum Ärarier machen – ein Ärarier war rechtlos, aber zu hohen Abgaben verpflichtet.15 Die Sorge um den eigenen Besitz ist erforderlich für die Gemeinschaft und dafür, dass jemand Teil der Gemeinschaft bleibt. Wäre es anders und hätten die Einzelnen zeitlich uneingeschränkte Ver-

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fügung über ihren Besitz, so wäre ihr Besitz der Gemeinschaft und dem, was sie benötigt, dauerhaft, also insgesamt entzogen. Aufgehoben wäre die Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft − einmal zu deren Schaden, da er ihr sich und seinen Besitz entzieht, und einmal genauso zum eigenen Schaden, da er so auch die Verpflichtung der anderen ihm gegenüber zerstören würde. Dauerhafter Besitz des Einzelnen würde die Gemeinschaft insgesamt negieren, würde ihr etwas entziehen, würde sie berauben: privare, wie das lateinisch heißt. Deshalb gehört es in einer solchen Gemeinschaft zum Besitz, dass er nicht privat wird, sondern dass ihn jeder irgendwann auch weitergibt. Caesar berichtet es am Beispiel der Germanen seiner Zeit: Niemand hat bei ihnen ein bestimmtes Stück Ackerland oder eigenen Grund. Sondern die Anführer und Leute, die dafür eingesetzt sind, weisen den Geschlechtern und ihren Sippen sowie denen, die sich für die Feldbestellung zusammentun, jeweils für ein Jahr Land zu, wie viel und wo es ihnen gut scheint, und zwingen sie im Jahr darauf, ein anderes Stück Land zu übernehmen. Dafür führen sie viele Gründe an: Unter anderem damit sie nicht versuchen ausgedehnten Grund zu erwerben und damit nicht die Mächtigeren die Schwächeren von ihren Besitzungen vertreiben.16 Ein Beispiel dafür aber, wie weit in einer archaischen Gemeinschaft der Besitz von Einzelnen ein Besitz in Gemeinschaft ist, beschreibt Margaret Mead mit den Arapesch aus Neuguinea: Ein typischer Mann der Arapesch lebt zugleich in zwei oder mehr Dörfern sowie in den Gartenhütten, in Hütten nahe des Jagdgebietes im Busch und in Hütten nahe seiner Sago-Palmen, und daher lebt er zumindest zeitweise auf Land, das ihm nicht gehört. Vor der Haustür leben Schweine, die seine Frau versorgt, die aber einem ihrer

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oder seiner Verwandten gehören. Um das Haus herum stehen Kokos- und Betel-Palmen, die wiederum jemand anderem gehören und deren Früchte er niemals anrühren würde ohne die Erlaubnis ihres Besitzers oder die Erlaubnis von jemandem, dem der Besitzer die Verteilung der Früchte zugestanden hat. Zumindest einen Teil der Zeit, die er auf der Jagd verbringt, jagt er in Buschland, das einem Schwager oder Cousin gehört, während ihn die restliche Zeit der Jagd andere in seinem eigenen Buschland begleiten, falls er welches besitzt. Er gewinnt sein Sago in den Pflanzungen anderer ebenso wie in eigenen. Von der persönlichen Habe in seinem Haus hat er bereits alles, was von größerer Bedeutung und Lebensdauer ist, etwa große Töpfe, schön geschnitzte Schalen oder gute Speere, seinen Söhnen vermacht, auch wenn sie noch im Krabbelalter sind. Ein eigenes Schwein oder mehrere eigene Schweine leben weit entfernt in anderen Dörfern; seine Palmbäume stehen verstreut über drei Meilen in der einen Himmelsrichtung und zwei Meilen in der anderen; seine Sago-Palmen sind noch weiter verstreut; und seine Gartenbeete liegen hier und dort, zumeist auf dem Land von anderen. Wenn er Fleisch auf seinem Räuchergestell über dem Feuer hat, ist es entweder Fleisch von einem Tier, das ein anderer getötet und ihm gegeben hat – ein Bruder, Schwager, Neffe etc. – und das er und seine Familie in diesem Fall essen darf; oder es ist Fleisch von einem Tier, das er selbst getötet hat und das er räuchert, um es jemand anderem zu geben; denn Fleisch von einem Tier zu essen, das man selbst getötet hat, und wäre es nur ein kleiner Vogel, ist ein Verbrechen, zu dem nur Geistesgestörte – so deuten die Arapesch Leute mit einem moralischen Mangel – fähig

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wären. Das Haus, in dem er lebt, mag nominell das seine sein, zum Teil jedoch ist es mit Pfosten und Planken von Häusern anderer errichtet, die auseinandergenommen oder zeitweilig aufgegeben wurden und von denen er die Balken geliehen hat. Falls sie zu lang sind, wird er sie nicht kürzen, um sie seinem Haus anzupassen, denn später werden sie vielleicht für das Haus von jemand anderem gebraucht, das nicht die gleichen Maße hat.17 Was wir hier als Wirklichkeit vor uns sehen, ist Besitz, der seinen Besitzer grundsätzlich mit anderen verbindet und ihn nicht etwa abtrennt von ihnen. Sein Besitz wird sehr wohl geachtet als das Seine, aber das eben deshalb, weil dieses Seine wiederum das Gemeinsame achtet und weil es nur in der Gemeinschaft als das Seine überhaupt bestehen kann. Darin haben wir den genauen Zusammenhang vor uns, weshalb auch Gaben in einer solchen Gemeinschaft nicht in den ausschließlichen Besitz des Einzelnen übergehen können, sondern weiterzugeben sind. Oft genug kommt es sogar vor, dass das Übergebene vernichtet wird. Das bedeutet nicht etwa, wie wir vielleicht annehmen wollten, eine Missachtung der Pflicht, die Gabe weiterzugeben, sondern gerade im Gegenteil ein besonderes Beharren auf dieser Pflicht und möglicherweise ein besonders stolzes Beharren. Mit der Vernichtung einer Gabe kann der Empfänger deutlich machen: Ihr seht, ich behalte sie nicht für mich, sondern gebe sie fort; aber da ist keiner, der stark genug wäre, von mir eine solche Gabe entgegenzunehmen, deshalb übergebe ich sie der Vernichtung.18 Ebensowohl aber kann sich die Vernichtung von Gaben im grundsätzlich wichtigsten Akt jeder Gemeinschaft vollziehen, dem gemeinsamen Mahl – ähnlich, wie noch wir die mitgebrachte Flasche Wein am besten gleich gemeinsam leeren. Oder es erfolgt die Weitergabe in der heute wiederum unverständlich gewordenen Weise, dass zum Beispiel dasselbe Schwein, das einer heute dem

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anderen übergeben hat, ihm an einem folgenden Tag umständlich wieder übergeben wird – wir würden sagen: zurückgegeben. Das hat als Austausch dagegen seine volle Gültigkeit, da dessen sämtliche Anforderungen erfüllt sind: die Überreichung, die Annahme, das Weitergeben und das Erwidern der Gabe. Damit Gaben diese Gültigkeit haben, damit sie ihren Sinn erfüllen, Gemeinschaft zu stiften oder die Gemeinschaft zu bekräftigen, bedarf es also nicht nur des übergebenen Dings. Alle Beteiligten brauchen und bedienen eine spezifische Kenntnis der Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, und dabei auch ein der archaischen Art von Besitz angemessenes Gefühl für die richtige Zeit – kairos nennt sie das antike Griechisch. Sie dürfen eine Gabe keinesfalls zu schnell erwidern, aber sie dürfen auch nicht zu lange mit der Erwiderung auf sich warten lassen. Sie müssen außerdem wissen, was die Übergabe selbst an Verhalten verlangt, was gesprochen werden muss, ob das Muschelhorn dazu zu erklingen hat und so fort. Und sie müssen zum Beispiel auch wissen, in welchem Gestus sie die Gabe zu überreichen oder anzunehmen haben. Für uns versteht es sich, dass wir ein Mitbringsel im Gestus der Dankbarkeit entgegennehmen – auch wenn uns das Ding selbst gar nichts bedeutet. Streng genommen gehört eine solche Dankbarkeit zu den Gelegenheiten, wo es um ein Geschenk geht, doch darf sie für uns auch beim Mitbringsel nicht ganz fehlen. Als Empfänger haben wir es dankbar entgegenzunehmen, was jedoch nur bedeutet, dass wir das Mitbringsel in dieser Hinsicht tatsächlich nicht wie eine Gabe, sondern bereits wie ein Geschenk behandeln. Derjenige dagegen, der ein Mitbringsel übergibt, sollte es auch bei uns gerade nicht als Geschenk präsentieren, das Dank erfordern würde, sondern muss es eher herunterspielen, da es sich ja verpflichtend gehört, etwas mitzubringen. Der Gestus des Empfängers hat für uns zu sein: „Aber das wäre doch nicht nötig gewesen“, während der Geber beharren muss: „Aber das ist doch

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wirklich nicht der Rede wert“. Diese Korrespondenz von Dankbarkeit auf der einen und deren Abwehr auf der anderen Seite versteht sich für uns so sehr von selbst, dass sie uns als natürliche Notwendigkeit erscheint − zu Unrecht. Bei Gaben in einem archaischen Zusammenhang ist der Gestus ein völlig anderer: Der Ausdruck der Eingeborenen, eine Wertsache zu ›werfen‹, beschreibt das Wesen dieser Handlung zutreffend. Denn obwohl der Wertgegenstand vom Gebenden ausgehändigt werden muss, nimmt der Empfänger kaum Notiz von ihm und erhält ihn selten tatsächlich in die Hand. Die Etikette der Transaktion erfordert, dass die Gabe in einer spontanen, schroffen, fast ärgerlichen Weise übergeben und mit entsprechender Gleichgültigkeit und Geringschätzung empfangen wird.19 Nichts da von Dankbarkeit − und doch sind diese „Eingeborenen“ ganz offensichtlich nicht einfach nur empfindungslose Grobklötze. Raymond Firth zum Beispiel, der ein entsprechendes Verhalten von den Māori berichtet, beeilt sich verwirrt anzumerken, gewiss würden sie trotzdem Dankbarkeit empfinden, und verteidigt ihr Verhalten unnötigerweise damit, die Māori würden ihre Dankbarkeit nur deshalb nicht ausdrücken, weil sie, wie man festgestellt hat, über kein Wort für sie verfügten.20 Tatsächlich verhält es sich natürlich umgekehrt: Die Māori haben kein Wort für Dankbarkeit, weil sie sie nicht kennen – und nicht kennen müssen. Im archaischen Zusammenhang kann es nicht anders sein. Was wir noch empfinden, wenn wir ein Mitbringsel überreichen, nämlich einer Verpflichtung zu genügen, für deren Beachtung uns keinerlei Dank gebührt, es gilt für den archaischen Gabenaustausch insgesamt. Was eine grundlegende, nämlich Gemeinschaft stiftende Verpflichtung verlangt, erfolgt in etwa so freiwillig, wie wir heute Steuern zahlen – weshalb wir vom Finanzamt dafür ganz sicher kein Zeichen der Dankbarkeit erwarten.

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Es wäre bei der archaischen Gabe also widersinnig, ausgerechnet ihren verpflichtenden Charakter zu bemänteln oder zu leugnen, indem man sie als einen persönlich freiwilligen Akt darstellt, der Dankbarkeit erheischt. Wer sich bei solcher Gelegenheit bedankt – und westlich-modernen Besuchern der „Eingeborenen“ wird das verständlicherweise sehr leicht unterlaufen –, kann nur für Verwirrung sorgen, da er die Gabe dadurch genau genommen nicht in ihrer Verbindlichkeit anerkennt. Mit seinem Dank für eine Gabe begeht er einen Affront: Er negiert ihren verpflichtenden Sinn, Gemeinsamkeit zu stiften, und damit die Gemeinschaft selbst. Mit dem Gestus der Schroffheit dagegen wird die Verpflichtung offen anerkannt. Gerade die Geringschätzigkeit, mit der die Gaben behandelt werden, spricht von der großen Bedeutung des Aktes, zu dem sie gehört. Was aber ist, wenn sie ihm genommen wird? Was droht einem, der nicht die rechte Zeit beachtet, um eine Gabe zu erwidern, der es vielleicht ganz versäumt oder der etwas anderes nicht einhält? Welche Sanktion hat er zu gewärtigen, welche Instanz hat ihr wachsames Auge darauf, dass dergleichen nicht geschieht, oder falls es doch geschieht, dass es nicht straflos bleibt? Die Antwort liegt bereits in der bedeutsamen Notwendigkeit von Gaben und Austausch eingeschlossen: Es ist die Gemeinschaft selbst. Gaben und Austausch haben die Bedeutung, Gemeinschaft herzustellen, und wo das unterbleibt, da unterbleibt die Gemeinschaft. Falls wir es heute konsequent unterlassen, bei Besuchen etwas mitzubringen, rufen die Gastgeber deswegen nicht die Polizei, aber sie werden uns vielleicht irgendwann nicht mehr einladen. Wir werden nicht bestraft dafür außer durch mögliche Missachtung: Die Verbindung und Gemeinschaft, die sich in unseren Besuchen ausdrückte, wird darunter leiden, vielleicht brechen. Das mag für uns heute zwar wenig bedeuten und es muss nicht einmal mit Sicherheit dazu kommen. Im archaischen Zusammenhang aber hat ja

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der Fortbestand der Gemeinschaft und die Teilhabe an ihr für jeden Einzelnen lebenswichtige Bedeutung und deshalb geht es dort recht radikal zu: Früher lebte ein Mann namens Tokoahu, der nur wenig tätig war und sich stattdessen damit beschäftigte, von Ort zu Ort zu gehen, Freunde zu besuchen und von ihnen Gaben zu bekommen. Diese Gaben erwiderte er nicht. Und damit fuhr er so lange fort, dass es seine Freunde schließlich satt hatten zu warten, zu warten und immer weiter zu warten, auf eine Gegengabe, die nie eintraf. Schließlich rief einer der Männer: „Dieser Kerl hat so gut wie gestohlen, was mir gehört!“ Und über alle Maßen aufgebracht legte er einen Fluch auf Tokoahu, kraft der Dinge, die Tokoahu von ihm angenommen hatte, so dass dieser starb.21 Auch das ist hau, auch das haben Māori berichtet. Die Bewegung des hau lenkt eine Gabe in Gestalt einer Gegengabe zurück. Wer keine Gegengabe leistet und die Bewegung also unterbricht, der lenkt ihre Kraft gegen sich selbst. Diesem Tokoahu dürften die Freunde kraft hau sogar mit List oder Gewalt eine Gegengabe entwenden. Ganz allgemein aber verfügen sie mit dem hau über die Kraft, den Bruch der Gemeinschaft durch einen Tokoahu durch den Bruch der Gemeinschaft mit ihm zu rächen. Das kann im schlimmsten Fall zum Tod durch Magie führen, aber nicht nur sie ist eine wirksame Reaktion. An einem, der die entsprechenden Verpflichtungen versäumt, so schreibt Marcel Mauss, „darf man sich durch Magie oder zumindest durch Schmähungen und Groll rächen“.22 Schmähungen und Groll, dergleichen erscheint uns heute verhältnismäßig harmlos und geringfügig. Im archaischen Zusammenhang aber heißt es alles andere als wenig. Davon, was es heißt, zeugt etwa die athenische Gesetzgebung unter Drakon, nach der schmähende Worte mit dem Tod gesühnt wurden. Und

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davon erzählt ausführlich auch das erste große Werk der abendländischen Literatur.

Der Groll des Achilles Groll – mit diesem Wort hebt die Ilias an, das große homerische Epos vom Krieg vor Troja: Μῆνιν ἄειδε θεά Πηληιάδεω Ἀχιλῆος Den Groll singe, Göttin, des Peleus-Sohnes Achilles Der Groll, das ist mēnis, und mit ihm beginnt die Ilias nicht nur, von ihm handelt sie insgesamt: vom Groll des Achilles. So wird er zwar üblicherweise nicht übersetzt, sondern als „Zorn des Achilles“, denn das klingt in unseren Ohren unbedingt edler und heroischer. Aber „Zorn“ trifft nicht das, worum es in dem Epos geht. Zorn lodert auf, verraucht wieder und man empfindet ihn über etwas. Am Groll dagegen hält man fest, einen Groll hegt man und man hegt ihn gegen jemanden. Und das genau ist es, was Achilles in der Ilias tut. Sein Groll, kein bloßer Zorn ist es, wovon dieses Epos singt – ein ganzes, langes Epos. Es muss also viel, sehr viel an diesem Groll liegen, weit mehr, als dass da jemanden eine heftige Stimmung überkommen hätte. Mit Schmähungen und Groll wenden sich die Menschen einer archaischen Gemeinschaft gegen den, der ihren Verpflichtungen nicht entspricht. Er leistet der Gemeinschaft nicht Gewähr, er schädigt sie, er kündigt sie auf. Und eben dies erwidern diejenigen, denen er sie aufkündigt, das ist der Sinn von Schmähungen, Groll und Fluch. So wie eine eingehaltene Verpflichtung Gemeinschaft herstellt und bekräftigt, wird Gemeinschaft geschwächt oder vernichtet durch die versäumte und missachtete Verpflichtung. Für uns hat dergleichen nur noch geringe Bedeutung: Ob die Maiers schlecht über uns reden, kann uns letztlich egal sein. Aber ich erinnere mich noch an den tiefen Schrecken in sehr jungen Jahren,

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als meine Brüder auf die Idee kamen, eine Unbotmäßigkeit meinerseits mit dem Satz zu quittieren: „Das gibt Rache“, oder nur: „Das werd’ ich mir merken“. Diese Rache trat nie ein und es wurde nicht einmal etwas Bestimmtes als Rache angedroht. Trotzdem haben diese Sätze für mich eine lange Zeit, in der sie immer wieder fielen, nicht ihren Schrecken verloren: Sie kündigten das grundsätzliche Einvernehmen auf, die verlässliche Zugewandtheit, auf die wir sonst untereinander bauen konnten. Das war die schlimmste aller Strafen. Ein großer Schrecken ist denn auch der, den Achills Groll bewirkt, so gewaltig groß, dass er ein ganzes Epos füllt. Achills Groll wird die Ilias besingen, so sagen ihre ersten Zeilen, den verderblichen, der zahllose Schmerzen über die Achaier brachte und viele kraftvolle Seelen von Helden dem Hades hinwarf, sie selbst aber zur Beute schuf den Hunden und den Vögeln zum Mahl, und so erfüllte sich des Zeus Ratschluss.23 Zeus persönlich hat also darüber befunden, erstens, dieser Groll müsse sein, und zweitens, er rechtfertige all die schrecklichen Folgen. Es ist der Ratschluss des höchsten Gottes, der Groll des Achilles ist ihm Grund genug für all die Not, die er den Achaiern bereiten wird, und die Göttin, die der Dichter anruft, die Muse, wird es nicht verachten, von diesem Groll in vielen tausend Versen zu singen. Offenbar also ist er bedeutend genug und das ist er, weil bedeutend ist, worum es bei ihm geht: Es geht um Gaben. Folgen wir deshalb für einige Momente einer Geschichte, die im 7. oder 8. Jahrhundert v. u. Z. niedergeschrieben wurde und entsprechend früher spielt. Die versammelten Heere der griechischstämmigen Könige liegen vor Ilion, vor Troja. Lange Jahre wird es dauern, bis die Stadt endlich fällt, und diese Jahre verbringen die Griechen im Umland von Troja auf jene gut eingeführte Weise, die Odysseus bei einer anderen Gelegenheit einmal so erwähnt:

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Von Ilion her trug mich der Wind und brachte mich zu den Kikonen, nach Ismaros. Dort zerstörte ich die Stadt und vernichtete die Männer, wir nahmen aus der Stadt Frauen und viele Güter und verteilten sie, auf dass mir keiner des gebührenden Anteils beraubt davonginge.24 Was Odysseus hier so ungerührt erzählt, versteht sich für ihn schlicht von selbst. So gehört es sich: eine fremde Stadt zerstören, ihre Männer töten, Frauen und Güter rauben. Anschließend aber gehört sich noch etwas anderes, nämlich das Erbeutete unter den eigenen Leute so zu verteilen, dass jeder das „Gleiche“ bekommt, isē, den Anteil, der jedem gebührt. Auch das ist eine Form der Gabe, mit welcher die Verpflichtung zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft eingelöst und bestärkt wird, nur dass sie hier die Form einer Verteilung hat. Was jedoch Odysseus bei den Seinen so vorbildlich beachtet und besorgt, das klappt bei den vielen griechischen Stämmen, die da gemeinsam vor Troja unterwegs sind, nicht ebenso. Agamemnon nämlich, dem die Heere der anderen Könige insgesamt unterstehen, gibt Achilles folgenden Anlass zu klagen: Habe ich doch niemals eine gleiche Gabe wie du, wann immer die Achaier eine gutbewohnte Stadt der Troer zerstören, sondern den größeren Teil des vielstürmenden Krieges besorgen meine Hände; doch wenn es zur Verteilung kommt, ist dein die weit größere Gabe, während ich mit einer geringeren vorlieb nehmend zu den Schiffen zurückkehre, wenn ich müde gekämpft bin. I, 163-168 Die Art von Gabe, um die es hier geht, heißt griechisch geras: eine Ehrenbezeugung, eine Gabe, mit der jeder Einzelne seiner Stellung in der Gemeinschaft entsprechend geehrt sein will. Agamemnon jedoch nimmt es mit ihr offenbar nicht recht genau, um der eigenen Ehre willen. Aber es kommt noch schlimmer.

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Denn es begibt sich, dass Agamemnon nach einem jener gemeinsamen Raubzüge die Tochter des Chryses als Gabe zugeteilt bekommt. Nun ist Chryses allerdings Priester des Apollon-Heiligtums in der überfallenen Stadt und hat den Überfall immerhin überlebt. Da er sich nicht mit dem Verlust abzufinden vermag, kommt er zu den Schiffen der Griechen und bietet, wie es heißt, „unermessliche Lösung“, also reiche Gaben, damit die Griechen seine Tochter freigeben. Agamemnon jedoch lehnt ab, will nichts annehmen und besteht darauf, die Frau zu behalten. Das heißt: Er hält sich nicht an die heilige Verpflichtung, Gaben anzunehmen, und dies verleiht nun dem Chryses gegen Agamemnon die Kraft zwar nicht des hau, aber des Gottes, dessen Priester er ist. Apollon, der fernhin Treffende, lässt sich von Chryses erbitten und tötet erst einmal Maultiere und Hunde der Griechen, bevor er unter den Griechen selbst zu wüten beginnt. Die lassen sich am zehnten Tage des Massakers schließlich von einem ihrer Seher erklären, wofür sie leiden müssen, und Agamemnon erfährt, „dass also darum der Ferntreffer den Griechen Schmerzen bereitet, weil ich für die Tochter des Chryses die prangende Lösung nicht annehmen wollte, sondern die Frau viel lieber behalten wollte im Haus“. Er muss einlenken, der Forderung des Gottes Genüge tun und die Frau, sein geras, zurückgeben. Doch das bedeutet, dass nun er seine Gabe einbüßt, den Anteil, der ihm bei der entsprechenden Verteilung zusteht. Und das gehört sich nicht, das kann Agamemnon nicht dulden. Also fordert er von den Griechen: Bringt mir dafür sofort eine andere Gabe, damit ich nicht als Einziger von den Argeiern ohne Gabe bin, da sich dies nicht geziemt. Seht ihr doch alle, wie mir meine Gabe dahingeht. I, 118-120 Das aber hat seine Schwierigkeiten. Der göttliche Achilles, der nur noch mühsam an sich hält, muss gegen die Forderung des Agamemnon einwenden:

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Atreus-Sohn, ruhmreicher, du Habgierigster von allen! Wie sollen dir denn eine Gabe bringen die hochgemuten Achaier? Wissen wir doch nicht davon, dass irgendwo viel Gemeingut liegen würde, sondern alles, was wir von den Städten erbeutet haben, ist aufgeteilt, und nicht gehört es sich, dass die Männer dies wieder herbringen und zusammenwerfen. Darum gib jetzt diese Frau dem Gott hin, und wir Achaier werden es dreifach und vierfach zurückerstatten, wenn Zeus uns denn einmal verleiht, die Stadt Troja, die gut ummauerte, zu zerstören. I, 122-129 Die Gaben, die Agamemnon gebühren, will ihm die Gemeinschaft durchaus zukommen lassen, nur nicht, indem die bereits zurückliegende Verteilung neu vorgenommen wird, sondern erst, wenn es erneut etwas zu verteilen gibt. Agamemnon jedoch beharrt, er dürfe auch dieses eine Mal nicht ohne Gabe bleiben, und falls da nichts komme von den Griechen, werde er sich diese Gabe einfach nehmen. Zu Achilles gewandt droht er: „Entweder deine oder des Aias Gabe oder die des Odysseus hole ich mir: Der mag dann zürnen, zu dem ich komme!“ Da senkt Achilles den Kopf und schaut Agamemnon „von unten herauf“ an – das heißt, es wird gefährlich: Achilles grollt. Und nun droht er selbst damit, die Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft zu brechen, so wie Agamemnon es mit seiner Forderung tut: Er, Achilles, wolle nicht weiter für Agamemnon kämpfen, werde die Griechen vor Troja verlassen und mit seinen Männern absegeln in die Heimat. Mit dieser Drohung aber kommt er bei Agamemnon an den Rechten, denn der weiß jetzt nur umso besser, wem er die Gabe abnehmen wird: So kehre nach Haus mit deinen Schiffen und deinen Gefährten und herrsche über die Myrmidonen! Doch du kümmerst mich nicht, noch kehre ich mich daran, dass du grollst! Doch drohe ich dir so: Da mir Phoibos Apollon

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die Chryses-Tochter fortnimmt, werde ich diese mit meinem Schiff und meinen Gefährten hinsenden. Doch gehe ich selber und hole Briseïs, die schönwangige, in meine Hütte, deine Gabe, damit du gut weißt, wie viel besser ich bin als du, und auf dass auch ein anderer sich hüte, sich mir gleich zu dünken und gleichzustellen ins Angesicht! I, 179-187 So geschieht es. Und Achilles beginnt seinen Groll zu hegen. Er scheidet aus der Gemeinschaft der Kämpfenden aus, zu der sich die Griechen vor Troja zusammengeschlossen haben. Und wie sie durch einen Orakelspruch bereits wissen, hat das Ausscheiden ihres größten Kämpfers zur Folge, dass sie, den Trojanern nunmehr unterlegen, reihenweise erschlagen werden. Aber es hilft nichts, Achills Groll hat seinen zwingenden Grund: dass sich in den Gaben, die eine Gemeinschaft einem jeden zuteilt, objektiv sein Status darstellt, sein Rang und seine Ehre. Andererseits besteht die isē, die „Gleichheit“ der Zuteilung, wirklich darin, dass dem Höheren mehr oder bessere Gaben zustehen als dem Geringeren. Zu Recht sähe Agamemnon folglich seinen Rang gemindert, seine „Güte“ und sein Bessersein beschädigt, wenn er auch nur dieses eine Mal nicht auf seinem höheren Status bestehen und deshalb auf sein geras verzichten würde. Lieber tut er umgekehrt dem Achilles die gleiche Minderung und Beschädigung an, die er bei sich nicht dulden kann und deretwegen Achilles grollen muss. Sein Groll hat also unabweisbaren, man darf durchaus sagen: heiligen Grund. Deshalb schalten sich hier die Götter ein. Und Athene lässt es sich nicht nehmen, schon bei seinem ersten Streit mit Agamemnon neben Achilles zu treten, um ihm gut zu raten. Da hält sie ihn zwar davon ab, Agamemnon augenblicks niederzustrecken, in etwas anderem dagegen bestärkt sie Achilles: Er solle Agamemnon auf jeden Fall ordentlich mit Schmähungen zusetzen. Und Achilles tut’s:

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Weinbeschwerter, mit den Augen eines Hundes und dem Herzen eines Hirsches! Weder zum Kampf dich zu rüsten zugleich mit dem Volk noch auf eine Lauer zu gehen mit den Besten der Achaier hast du jemals gewagt im Mut: Das scheint dir der Tod zu sein! Ist es doch viel einträglicher, im breiten Heer der Achaier Gaben dem abzunehmen, wer immer dir entgegenredet, Volksgut verzehrender König, der du über Nichtige gebietest: Denn sonst hättest du, Atreus-Sohn, jetzt zum letztenmal beleidigt! I, 225-232 Das musste einmal gesagt sein!

Wortkunde So stark sind die Verpflichtungen, die zwischen den Menschen einer Gemeinschaft gelten, solange es dort kein Geld gibt. So tief reicht die Bedeutung der verpflichtenden Gaben, solange Menschen ihren Austausch ohne Geld pflegen. Und für eben diese Verpflichtungen und Gaben gibt es ein altes, schönes Wort − und das heißt „Geld“. Mit dem altgermanischen „Geld“ hat sich im Deutschen ein Wort bewahrt, das aus der tiefsten Vorgeschichte dessen stammt, was wir heute so nennen. Die Wörter, die in anderen Sprachen für Geld stehen, weisen in der Regel nicht weiter zurück als bis zur Münze. Das englische money etwa oder das schwedische mynt leitet sich ebenso wie die deutsche „Münze“ von lateinisch moneta ab, das französische argent vom meistgebrauchten Münzmetall, das spanische plata oder die italienischen soldi von Namen für bestimmte Münzsorten. Das alte „Geld“ dagegen, schon in frühesten Schriftzeugnissen belegt, spricht von einer historischen Wirklichkeit, die der Münzung von Metallen noch vorausgeht. Markgraf Rüdiger hat zwar vorgeführt, dass „Geld“ auch sehr

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viel später, als es längst schon Münzen gibt, nichts mit unserem Geld zu tun hat. Trotzdem, gerade als dieses ur-alte Wort bietet es wichtigen Aufschluss in der Frage, wie Geld entsteht. Denn es benennt, woraus sich da etwas, das nicht Geld war, verwandelt hat zu dem Geld, das wir heute so bezeichnen. Man könnte sich deshalb wundern, weshalb dieses Wort bisher so gar nicht für die historische Herleitung von Geld herangezogen wurde. Inzwischen jedoch dürften wir den Grund dafür ahnen: Das alte Wort hat den modernen Gelderklärern deshalb nicht zur Erklärung gedient, weil es zu ihren Erklärungen nicht passt: weil eben „Geld“ ursprünglich so gar nichts von unserem Geld bedeutet. Das Wort widersetzt sich der modernen Neigung, Geld schon in grauen Vorzeiten zu erkennen, deshalb können sie das Wort „Geld“ und seine Geschichte nicht brauchen. Uns aber soll nicht schrecken, was es uns zu erzählen hat, wir wollen ihm lauschen und wollen es nicht sogleich übertönen mit Bedeutungen, die das Wort heute trägt. Versuchen wir uns also vorzustellen, „Geld“ wäre ein unbekanntes Wort, ein Wort, dessen Bedeutung wir nicht kennen und erst Stück für Stück erlernen müssten. Denn das ist es: Als dieses alte, allen germanischen Sprachen gemeinsame Urwort ist es uns heute unbekannt. Aber auch hier gilt zum Glück: nicht völlig unbekannt. Spuren seines alten Sinns, der uns sonst verloren ist, haben sich bis heute erhalten − in dem deutschen Verb „vergelten“. Ursprünglich lautete es ohne Vorsilbe einfach „gelten“, so dass man zum Beispiel hätte sagen können: „Das werde ich dir noch gelten!“ Von diesem Verb leitet sich das Substantiv „Gelt“ ab, so wie „Entgelt“ von „entgelten“. Die Schreibweise mit auslautendem -t ist denn auch die ursprüngliche und wird erst im 18. Jahrhundert bindend durch die bereits früher mögliche Form „Geld“ ersetzt. Um für uns das alte Wort sichtbar von dem modernen Begriff zu unterscheiden, werde ich es deshalb auch so schreiben – und der Deutlichkeit

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halber außerdem in Kapitälchen: GELT. Das große Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm führt zwischen „Gefoppe“ und „Getreibs“ – es ist des Vierten Bandes Erste Abtheilung Zweiter Teil – einen Artikel „Geld“, der von Spalte 2889 bis 2908 reicht. Dort heißt es zu Beginn: „gelt bezeichnet ursprünglich jegliche leistung die zu entrichten ist, besonders gegenleistung, eben wie gelten.“ Und unter „gelten“ heißt es entsprechend: „gelten wie gelt bezeichnet ursprünglich eine schuldige leistung, besonders gegenleistung.“ 25 Demnach bedeutet GELT alles und „jegliches“, was jemand verpflichtet und schuldig ist einem anderen zu leisten. Und das insbesondere – nicht nur, aber auch – als Gegenleistung, also wenn es bei einer wechselseitigen Verpflichtung gilt, etwas zu erwidern. Verpflichtungen, die Menschen gegen einander haben, sie heißen ursprünglich GELT und wir kennen sie bereits sehr gut. Wenn nämlich unser Ranapiri eine Gabe, die er bekommt, verpflichtet ist weiterzureichen an einen Dritten, so war dies eine „geschuldete Leistung“ und insofern GELT. Wenn jener Dritte nach einiger Zeit an seine Verpflichtung denkt, Ranapiri die Gabe zu erwidern, sie ihm also zu vergelten, wie wir noch heute sagen können, so war auch dies Vergelten GELT. Wenn Ranapiri dieselbe Gabe weiterreichen muss an dich, um dir deine erste zu vergelten, war dies wieder GELT : die Verpflichtung zu etwas, das zu erbringen Ranapiri schuldig war, eine „schuldige Leistung“. Aber es geht bei GELT ja durchaus nicht immer nur freundlich zu. Wenn Tokoahu die Gaben nicht erwidert, mit denen er bedacht wird, dann bestehen Vergeltung und GELT darin, dass einer seiner Freunde ihn zu Tode hext. Wenn Achilles seiner Ehrengabe beraubt wird, so ist sein Groll samt Folgen das GELT des Achilles – die Vergeltung, die er an Agamemnon übt. Und wenn Apoll die Griechen für Agamemnons frevelhafte Weigerung büßen lässt, so ist auch dies als Buße GELT gewesen.

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Heute gebrauchen wir das Verb „vergelten“ fast ausschließlich für diesen Fall einer belastenden Schuld, nämlich dass jemandem ein Vergehen böse „vergolten“ wird: als Rache oder zur Strafe. Noch immer können wir auch die freundliche Geste eines anderen mit einem Lächeln „vergelten“, aber wir werden es nur mehr selten so verwenden, zumindest wäre es heute unmöglich, ein erwiderndes Lächeln als „Vergeltung“ zu bezeichnen – es sei denn der Lächelnde wäre eine Medusa an Hässlichkeit. Das alte Wort GELT jedoch meint noch in vollem Umfang ein Vergelten allgemein, im Guten wie im Bösen: Es hieß „guot mit guote, übel mit übele gelten“ und der Fromme gar „giltit guot widar ubile“, vergilt gut gegen böse. GELT hieß wirklich auch Strafe und Buße. Im Sachsenspiegel, einer mittelalterlichen Sammlung von Rechtsvorschriften, heißt es beispielsweise: Ein Herr, dessen Leute einen Schaden verursachen „âne sînen rât und âne sîne tât“, also ohne dass er mit Rat oder Tat dazu beigetragen hätte, der bleibe dafür „âne gelt und âne laster“, ohne Buße und ohne Schuld. Hier meint GELT als „schuldige“ eine Gegenleistung, durch die eine Verfehlung wieder gutgemacht würde. Es ist ein anderer Fall als das Überreichen von Gaben mit dem Sinn, die Verbindung mit anderen allgemein friedlich und ordentlich aufrechtzuerhalten. Der verschuldete Schaden hat Frieden und Ordnung gebrochen und es gilt sie wiederherzustellen, mit Hilfe der Buße, der Entschädigung: einer Leistung, die den Schaden aufhebt, indem sie den Geschädigten befriedigt, ihn mit dem Schädiger wieder in ein friedliches Verhältnis setzt. Hier also gilt GELT einem bestimmten Vorfall, der die Ordnung stört, und der einen Leistung, die sie wiederherstellen soll. Doch auch darin liegt die verpflichtende Entsprechung eines Hin und Wider, von dem das Wort gelt ganz grundsätzlich spricht. Nämlich so: Vögel singen in einer Linde nahe einem Wald und es gibt ein Echo, der Wald wirft den Gesang mit gleichem Klang zurück: Oh, „wie dâ sanc sange galt“! Gesang antwortet auf Ge-

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sang, der eine gilt und vergilt den anderen – ein liebliches Hin und Wider als die schönste Form von gelten.26 Oder: Es treffen zwei Ritter aufeinander und jeder findet in dem anderen einen Gegner, im Kampf ihm so ebenbürtig wie noch keiner zuvor: „sine heten nie mêre in alsô kurzen stunden sô vollen gelt vunden“ – sie hatten noch nie in so kurzer Zeit so volle Entsprechung gefunden, so vollständig für jeden eigenen Hieb einen Gegenhieb einstecken müssen.27 Da bleiben zwei einander nichts schuldig und dieses Hin und Wider, wenn auch diesmal nicht gar so schön, heißt gelt. Oder: Walther von der Vogelweide singt vor den Damen des Hofes „umb ir blôzen gruoz“, nur um freundlicher Worte willen, die sie ihm gönnen mögen. Aber vergeblich, von den Damen kommt nichts. Nun gut, sagt er sich da, „swâ ich des geltes nû vergebene warten muoz“, wenn er also umsonst auf die Belohnung warten muss, dann mögen es gern andere versuchen, er jedenfalls wird den Damen den Nacken kehren – von einer anderen Kehrseite darf er höflicherweise nicht sprechen.28 Eigentlich jedoch hätten ihm die Damen das, was er ihnen geleistet hat, irgendwie erwidern müssen: Zum Lohn hätte es wenigstens eines Grußes bedurft und solcher Lohn hieß GELT. Auch Chryses leistet einem anderen etwas, wofür er Erwiderung fordern darf. Nur leistet er es nicht anderen Menschen, er leistet es Apollon, dem Gott. Ihm hat Chryses geopfert, ihm hat er zu einem Teil den Tempel bauen lassen und von ihm hat er dafür Gegenleistung zu erwarten. Deshalb kann Chryses so zu Apollon rufen: Höre mich, Silberbogner, der du schützend um Chryse wandelst! Wenn ich dir je den lieblichen Tempel überdacht habe oder wenn ich dir jemals fette Schenkel verbrannt habe von Stieren oder Ziegen, so erfülle mir dies Begehren: Büßen sollen die Danaer meine Tränen mit deinen Geschossen! I, 37, 39-42

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Für sein Opfer und den Dienst am Tempel steht dem Chryses als Gegenleistung das Wohlwollen des Gottes zu: die Erfüllung des geäußerten Begehrens. Und falls nichts sonst es verhindert, wird Apollon die Bitte erfüllen, wird der Gott die Opfer, die Chryses ihm dargebracht hat, entsprechend vergelten – er wird sie gelten. GELT bezeichnet deshalb auch das Opfer: „GELT in einem Tempel leisten“ hieß im Tempel ein Opfer bringen, ein Brandopfer etwa war „brynegield“. Doch nicht nur das Opfer als eine Gabe an die Götter heißt GELT, sondern der Kult insgesamt, zu dem sich die Menschen den Göttern gegenüber verpflichtet sahen. So wie die Opfergabe verstanden Menschen alle kultischen Handlungen als eine Leistung, die sie der Gottheit schuldig waren für deren Beistand als Gegenleistung. Und so hieß noch der christliche „Gottesdienst“ einmal unmissverständlich „gotes gelt“.

Exkurs: Das Opfer Neben der Herleitung des Geldes aus einer Tauschwirtschaft, die es in dieser Form nie gegeben hat, kursiert auch eine Reihe von Erklärungen gelehrteren Charakters. Eine der beliebtesten darunter meint, Geld hätte seinen Ursprung im Opfer. Mit jedem Opfer, das die Menschen einer Gottheit brachten, hätten sie sich in einer Weise betätigt, in der das Geld bereits grundsätzlich angelegt war. Zum Beispiel so: Ein Opfer wäre eine Art deal zwischen Mensch und Gott. Das Opfer hätte dazu gedient, den göttliche Beistand schon geradezu zu kaufen, und dieser Kauf hätte lediglich vom Umgang mit den Göttern auf den Umgang mit anderen Menschen übertragen werden müssen und schon wäre man notwendig auf das Geld gekommen. Oder man erkärt es so: Was geopfert wird, trete als Ersatz für etwas anderes ein, so wie Geld ersatzweise für dasjenige eintritt, was man mit ihm kaufen kann. Damit der Gott

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nicht mir das Leben nimmt, töte ich ihm ein anderes Lebewesen, das er an meiner Stelle bekommt. Oder damit er mir nicht die gesamte Ernte nimmt, sondern sie gedeihen lässt, gebe ich ihm einen Teil davon ab, den ich als Opfer verbrenne. Das Tier, das ich opfere, mache ich so zum Ersatz für mich selbst und die Gottheit wird das Tier nehmen und mir dafür mein Leben lassen. Der Anteil an der Ernte, den ich vernichte, steht als Ersatz für die gesamte und die Gottheit wird sich hoffentlich übers Ohr hauen lassen und den kleinen Teil akzeptieren anstelle der Ernte im Ganzen. Indem ich der Gottheit das Tier statt meiner opfere, kaufe ich ihr – so wird es gedeutet – gewissermaßen mein Leben mit dem Leben des Tieres ab, und mit dem Anteil an der Ernte das Recht auf die ganze: Das eine wird zum Ersatz, zum Kaufpreis und Äquivalent für das andere. Das Opfer wäre also bereits ganz wie Geld gedacht und müsste sich nur noch, zum Beispiel in Form von Münzen, sichtbar und handgreiflich zu Geld entwickeln. So wäre ohne weiteres auch der sprachliche Übergang von GELT zu Geld erklärt, vom Opfer, das GELT hieß, zu dem Geld, das aus dem Opfer geworden ist und das wir heute kennen. Allerdings übersähe diese Deutung auch eine sprachliche Tatsache: dass GELT durchaus nicht nur das Opfer meint. „Opfer“ ist lediglich eine spezielle Bedeutung von GELT neben anderen und ist wie sie alle abgeleitet von dessen Grundbedeutung: der wechselseitigen Verpflichtung, in der Menschen stehen – zueinander und zu den Göttern. Allen Bedeutungen von GELT, ob nun „Vergeltung“, „Belohnung“ oder „Buße“, liegt als gemeinsame Bedeutung nicht das Opfer zugrunde, sondern eben dies Verpflichtetsein der Menschen, das je nach Zusammenhang in unterschiedlicher Gestalt und Bedeutung auftritt: als bloßes Erwidern oder als strenge Vergeltung, als Lohn oder Strafe, als Gabe für das Wohlwollen von Menschen oder als Gabe für das Wohlwollen von Göttern. In all diesen Gestalten ist es GELT und als nur eine unter ihren firmiert das Opfer.

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Immerhin scheint diesem sprachlichen Befund etwas zu widerstreiten, was sonst als ausgemacht gilt: der historische Vorrang „des Religiösen“. Tatsächlich lässt sich in etwa sagen, dass die Welt für Menschen früher Zeiten grundsätzlich „religiös“ durchdrungen und mit entsprechenden Vorstellungen belegt war. Überträgt man das – wohlgemerkt: in dieser Unschärfe − auf das archaische Gefühl der Verpflichtung, auf das GELT, so könnte man daraus schließen, GELT wäre zuerst die Verpflichtung gegenüber Göttern gewesen, bevor sie profaniert wurde und die Menschen sie auch untereinander empfanden. So könnte man schließen – wenn der Begriff des Religiösen dabei recht verstanden wäre. Das ist er aber nicht. Er wird darin theologisch missverstanden. Religion, das ist ursprünglich nicht nur kein Christentum oder Islam, also keines der monotheistischen Glaubensbekenntnisse mit Offenbarungsschrift, die wir heute als Religionen kennen. Religion betraf gar nicht ausschließlich oder insbesondere die Sphäre von Göttern. Auch das lässt sich unter anderem sprachlich belegen. Das lateinische Wort religio heißt ganz allgemein: „die gewissenhafte Berücksichtigung, die auf einem inneren Gefühle beruhende gewissenhafte Sorgfalt bzw. Genauigkeit, die Gewissenhaftigkeit“.29 Und zwar meint religio − es kann nicht anders sein − die gewissenhafte Berücksichtigung dessen, wozu man verpflichtet ist: religio heißt buchstäblich die „Verpflichtung“. Cicero spricht von einer religio officii, der gewissenhaften Beachtung einer Pflicht, die ausdrücklich auch eine private sein konnte, officii privati. Es gab die religio vitae, eine gewissenhafte Lebensführung, man konnte jemandem mit religio, mit gewissenhafter Sorgfalt zu Diensten sein, es konnte um fides et religio eines Richters gut oder schlecht bestellt sein, um seine Treue und Zuverlässigkeit in der Amtsausübung. Und zu der sorgfältigen Beachtung des gebührenden Verhaltens gehört eben auch die des gebührenden Verhaltens gegen Götter. Nur auf diese Weise erhält

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das Wort religio und nur neben anderen die Bedeutung von „Götterverehrung“ und „Kult“: als Einhaltung der kultischen Vorschriften, der vorgeschriebenen kultischen Handlungen. GELT und religio liegen also sehr nahe beieinander: GELT als genau diejenige geschuldete Leistung, auf die auch religio gerichtet war, und religio als das Gefühl für diese Verpflichtung und ihre tätige Einhaltung − oder, auch das gilt für beide Wörter, gerade als Verstoß gegen das gebührende Verhalten, als Frevel, als eine Schuld, die der Sühnung bedurfte. Auf eine göttlich gedachte Sphäre beziehen sich beide, GELT und religio, lediglich als Teil ihrer Grundbedeutung, die ursprünglich auf das menschliche Zusammenleben bezogen ist. Die Vorstellung des Sakralen selbst, so lässt sich an beiden Begriffen sehen, gehört ganz der menschlichen Sphäre an und erhebt sich erst daraus zu einer Vorstellung des Göttlichen. Denn die Verpflichtung und ihre sorgfältige Beachtung, wie gelt und religio sie meinen, sie betreffen keine gesetzlichen Vorschriften, sondern Pflichten, die noch vor irgendwelchen Gesetzen oder über sie hinaus verbindlich waren. Sie folgen ungeschriebenen Gesetzen eines Verhaltens, das sich innerhalb einer Gemeinschaft gehörte und auf dem sie beruhte: Es waren grundlegende, unantastbare Verpflichtungen – und unantastbar, das genau meint: heilig, sakral. Zum Beispiel heißt es: magnam possidet religionem paternus maternusque sanguis − das väterliche und mütterliche Blut enthält eine große Verpflichtung, magnam religionem. Denn natürlich haben Menschen zuallererst ihr Zusammenleben mit anderen Menschen erfahren, also etwa ihre Angewiesenheit auf Vater und Mutter und zusammen mit ihnen die gemeinsame Abhängigkeit von der Natur, in und von der sie lebten. Es war nicht so, dass die Menschen auf die Welt kamen und sich erst einmal vor den Göttern fürchteten, sie freundlich stimmen wollten und daraufhin erst bemerkt hätten, dass sie auch von Menschen umgeben sind, mit

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denen sie ebenso verfahren könnten. Das Zusammenleben der Menschen selbst zeigte ihnen Abhängigkeit und Verpflichtung, zeitigte gelt und religio. Und nach deren Modell erst empfanden Menschen ihre Verpflichtung auch gegenüber Wesenheiten, die sie sich zusätzlich einbildeten und die sie als Objekte einer solchen Verpflichtung erst konstruieren mussten, die Götter. Selbst für so überaus beflissene Betreiber der Götterkulte wie die Römer hatte daher nicht die Furcht vor den Göttern, sondern religio den höchsten Rang und die weiteste Bedeutung: Als Livius die schlimmsten Fehler eines Menschen auflistet, die ihm einfallen wollen – er sagt sie dem Römerfeind Hannibal nach –, da beginnt er seine Aufzählung mit unmenschlicher Grausamkeit und „mehr als punischer“ Perfidie, steigert sie zu nihil veri, nihil sancti, „kein (Empfinden für) Wahres, kein (Empfinden für) Unantastbares“, und schließt endlich mit der Klimax: nullus deum metus, nullum ius iurandum, nulla religio – „keine Furcht vor den Göttern, kein Einhalten von Eiden, kein Beachten einer Verpflichtung (überhaupt)“.30 Wer keine Furcht vor den Göttern kennt, dem könnte sehr wohl noch zu eigen sein, was über ihr steht: religio. Erst wer die nicht mehr kennt, bei dem ist Hopfen und Malz verloren. Solche Dinge sind nicht gleichgültig für die Frage, wie Geld entstanden ist, aber sie entscheiden sie auch nicht und deshalb mögen diese kursorischen Gedanken genügen. Ohnedies bräuchte es kein Verweilen bei dem Thema „Opfer“, wenn gegenwärtig nicht zwei der erfolgreichsten Erklärungen für den Ursprung des Geldes das Opfer bemühen würden, Musterbeispiele für die verkehrteste Art historischer Herleitung. Die eine geht von einem Verfahren im antiken Athen aus, nach dem das Fleisch bei einem Opfer seine – wir kennen das – gebührende Verteilung fand: Bei den großen Festen im alten Griechenland, so berichtet Ernst Samhaber am Beispiel Athens, erhielt jeder Bürger „zwei Spieße, oboloi, die ihm entsprechende Stücke

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Fleisch einbrachten. Dadurch bekam der Spieß – an sich nur ein Stück Eisen und wegen seiner Länge, bis zu anderthalb Metern, nur schwer handlich – fast die Bedeutung eines Tauschwertes. Mit diesem alten Brauch brach König Pheidon von Argos, der um die Wende vom 8. zum 7. Jahrhundert v. Chr. regierte. Er zog die ›Bratspieße‹ ein und ersetzte sie durch Münzen. Das Volk aber nannte diese Münzen weiterhin ›Bratspieß‹, obolos.“ Noch heute kündet die Rede vom „Obulus“ von dieser Bedeutung.31 Und dann geht die Erklärung so: Mit den Spießen haben wir schon „fast“ Tauschwert und mit den Münzen, die an ihre Stellen treten, haben wir ihn ganz, also Geld, und so kam das Geld in die Welt. Der Spieß ist praktisch schon Tauschgeld und damit ist schon alles geklärt, denn: Wenn er Äquivalent für profanes Fleisch sein kann, warum dann nicht auch für Korn, Wein, Wolle oder Fleisch?“ 32 Ja, warum nicht, so stellt man die rhetorische Frage, die nicht fragt, sondern längst weiß. Immerhin weiß sich der Frager noch selbst einzuwenden: So wurde zunächst zwar nicht gefragt, aber das stört keinen großen Geist, denn die Voraussetzung dafür war da. Der Spieß hatte die Potenz bekommen, die sakrale Sphäre zu verlassen und als eiserner Wechsel für ein gewisses Quantum aller möglichen profanen Güter in den Alltagsverkehr einzugehen.33 Doch auch wenn er diese Potenz bekommen haben sollte, wie kam der Spieß dann dazu, aus ihr Realität zu machen? Antwort: „bald“. Er kommt einfach so dazu, ganz egal, wie: „Bald wurden die Spieße“ nämlich „als Äquivalente für jede Art von Lebensmitteln“ ausgegeben. Das zu behaupten, ist historischer Humbug, es

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ist blankweg erfunden, aber wenn wir uns mittels rhetorischer Frage schon eine so schöne Potenz zurechtgelegt haben, dann muss diese Potenz einfach auch Realität geworden sein − wäre doch schade drum! Und in dieser passend zurechtgelegten Realität konnte die Menschheit dann endlich losgehen und einkaufen mit ihren Symbol-Spießlein. Daher ist aus jenen Spießen das Geld entstanden: Die haben es der Menschheit vorgemacht, die hat es sich einleuchten lassen und heute haben wir den Schlamassel. Nein: Die Spieße werden nicht – auch nicht „fast“ – zu Tauschwerten oder Äquivalenten für das Fleisch, das sich der Bürger daran stecken darf. Es hat kultische Bedeutung, dass sie dem überreicht werden, dem die Teilhabe am Opfer gebührt: weil er Bürger ist und an der Gemeinschaft teil hat. Die Spieße sind sichtbares Zeichen dieser Teilhabe des Bürgers, sie sind kein Tauschwert, den sie mit den Fleischstücken gemein hätten. Die Spieße sind nicht etwa das Fleisch wert, das den gebührenden Anteil eines Mitglieds dieser Gemeinschaft ausmacht, sie sind nicht etwas wie das Äquivalent einer bestimmten Fleischmenge. Es wäre undenkbar, dass jemand, der nicht zu diesem Gemeinwesen gehörte und dem daher auch kein Anteil am Opfer zustand, irgendwie an einen solchen Spieß gelangt, beim Opferritual auftaucht, ihn auf den Tresen legt und damit Fleisch bestellt. Ebenso wenig könnte einer der Bürger seine zwei Spieße einem anderen Bürger überlassen und dieser käme dann nicht mit zweien, sondern mit vier Spießen an und könnte Fleisch verlangen für vier statt für zwei Euro – pardon, Spieße. Diese Spieße bezeichnen den Status des Bürgers und sind nicht frei handelbare Tauschwerte, Äquivalente, sie sind in nichts so etwas wie Geld. Und daran ändert sich nicht das Geringste, wenn der unhandliche Spieß zum symbolischen verkleinert wird und sich bequem in einer Hand halten lässt: Symbol für den Status war schon der originale Spieß und gerade dieses Symbol bleibt er, wenn er auch einen Spieß nur noch symbolisch darstellt.

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Aber, so heißt es, er wird doch zur Münze, zum obolus. Und von Münzen wissen wir, ohne überlegen zu müssen: Mit ihnen kauft man ein − Korn, Wein, Wolle und so fort. Weil wir es so kennen, war es so von der ersten Münze an, nicht wahr? Nein. Irgendwann zwar konnte mit Münzen auch etwas gekauft werden. Zu der Zeit jedoch, als die Spieße zu den oboloi genannten Münzen wurden, war dies ganz sicher nicht der Fall. Dass Pheidon die Symbol-Spieße durch diese Münzen ersetzt, führt gerade im Gegenteil vor, dass die oboloi in der Münzform die Bedeutung der Spießlein übernehmen. Damals bedeuteten Münzen zunächst nur, was auch die Spießlein bedeuteten, und dienten zu nichts anderem als sie. Sie waren nicht, einfach weil wir Münzen heute so kennen, automatisch zum Kaufen „aller möglichen profanen Güter“ da. Während diese Erklärung von einem einzigen Punkt, einem einzigen historischen Vorgang ausgeht und den zuletzt weltweite Verbreitung finden lässt, geht eine andere Herleitung des Geldes umgekehrt von etwas breit Allgemeinem aus, das sich ins besondere Einzelne spezifiziert hätte – so wie einem Geldtheoretiker die allgemeine Tatsache genügt, dass die Menschen irgendwann zu rechnen beginnen, um daraus die spezifische Logik von Geld und Markt abzuleiten. Christoph Türcke, von Haus aus Theologe, denkt entsprechend noch feinsinniger und stellt folgende „Philosophie des Geldes“ auf: Die „Hominidenhorde“ hatte sehr allgemein Angst, Angst etwa vor „wilden Tieren, Unwettern und Seuchen“, und um sich gegen die „Schreckneurose“ zu schützen, wenn sie wieder einmal erleben mussten, wie es blitzte und donnerte, verfielen die Hominiden auf die Idee einer systematischen „Wiederholung des Schrecklichen“; und die kann laut Türcke – worin auch sonst? – nur darin bestehen, Menschen zu opfern.34 Mit den Menschenopfern aber haben wir augenblicklich schon was vor uns? Genau, nämlich so: Die aktive Tötung des Opfers sei der „aus eigenem Impuls wiederholte, gewissermaßen in eigene

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Regie genommene Naturschrecken“ und „tritt an seine Stelle“, „mit anderen Worten: Er wird ihm gleichwertig – zu seinem Äquivalent.“ 35 Und was ein Äquivalent sofort und schon immer ist, das dürften wir bereits ahnen. Bei Türcke führt der Weg dorthin von geopferten Menschen über immer mindere Opfer abwärts: Menschenopfer waren sozusagen noch echtes Geld, da bekamen die Götter noch, was ihnen zustand, dann aber wurden nur noch Tiere geopfert, dann Teile von Tieren und so ging’s immer weiter bergab, in einer einzigen großen Deszendenz bis ganz unten zum gott- und opferverlassenen Heute. Die „epochalen Profanierungsschritte“ sind laut Türcke: „vom Menschen- zum Tieropfer, von größeren zu kleineren Tieren, vom Ganzen zum Teil, von Tieren zu Pflanzen“. Die Menschen betrogen die Götter also mehr und mehr um das vollgültige Opfer, bis hinab zum „Metallopfer“, das sie – eine einzige Gemeinheit – nicht mehr „innerhalb des sakralen Raums vollzogen“, sondern aus dem Tempel nach außen trugen, als Münzen. Und da das „zum epochemachenden Geschäftsmodell“ wird, weiß man, was man an einem Tempel hat: „Man darf ihn durchaus Bank nennen“ und alles ist schon irgendwie ganz wie heute, finde ich und findet auch Türcke: „Bis heute ist die Zentralbank die Instanz, die Kaufkraft in die Welt setzt“, also war der Tempel schon so etwas wie unsere Zentralbank und hat er Kaufkraft in die Welt gesetzt. Denn schon im Tempel gilt, wer’s noch nicht geahnt hat: „Wo Kapital ist, ist auch Lohnarbeit.“ 36 Und hoppla hopp, so geht’s dahin: Menschenopfer, Äquivalent, Kaufkraft, Kapital, Lohnarbeit. Nichts davon stimmt, nicht die historische Abfolge in der Art der Opfer, vom Menschen zu den Pflanzen, nicht die Kaufkraft, die einen Markt voraussetzen würde, den es nicht gab, gar nichts stimmt. Aber Türcke ist live dabei gewesen. Er steht mittendrin, als Pheidon seinen Leibgardisten die ersten Metallstückchen in die Hand drückt, und er schlendert mit, wenn der Leibgardist damit

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umgehend was macht? Selbstverständlich einkaufen gehen! All die Jahre hatten draußen schon die Läden gestanden und die Ladenbesitzer gewartet, ach, und niemand war gekommen, um etwas zu kaufen, denn noch hatte niemand Münzen erfunden – aber endlich geht es los, die Leibgardisten, wenn auch – warum nur? − niemand sonst, sind jetzt mit Münzen ausgestattet und gehen shoppen: „Am einkaufen gehenden Mitglied der Tyrannengarde lässt sich wunderbar studieren, …“ 37 – nun ich würde sagen, wie da jemand die Flintstones kuckt und ernsthaft glaubt in die Urwelt zu schauen: Die gehen ja auch einkaufen und fahren Auto.

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