Oder: Vom Rätsel angeborener Geschichte.
1 Varianten der Geschichtslosigkeit
1.1 Schritt-Takte
Das Kapitel "Rhythmus" in Elias Canettis Masse und Macht beginnt so: "Der Rhythmus ist ursprünglich ein Rhythmus der Füße. Jeder Mensch geht, und da er auf zwei Beinen geht und mit seinen Füßen abwechselnd am Boden aufschlägt, da er nur weiterkommt, wenn er immer wieder aufschlägt, entsteht, ob er es beabsichtigt oder nicht, ein rhythmisches Geräusch. Die beiden Füße treten nie mit genau derselben Kraft auf. Der Unterschied zwischen ihnen kann größer oder kleiner sein, je nach persönlicher Anlage oder Laune. Man kann aber auch rascher oder langsamer gehen, man kann laufen, plötzlich stillstehen oder springen.
Immer hat der Mensch auf die Schritte anderer Menschen gehört, er war sicher mehr auf sie bedacht als auf die eigenen. Auch die Tiere hatten ihren wohlvertrauten Gang. Von ihren Rhythmen waren viele reicher und vernehmlicher als die der Menschen. Huftiere flohen in Herden davon wie Regimenter aus lauter Trommlern. Die Kenntnis der Tiere, von denen er umgeben war, die ihn bedrohten und auf die er Jagd machte, war das älteste Wissen des Menschen. Im Rhythmus ihrer Bewegung lernte er sie kennen. Die früheste Schrift, die er lesen lernte, war die der Spuren: Es war eine Art von rhythmischer Notenschrift, die es immer gab; sie prägte sich von selber dem weichen Boden ein, und der Mensch, der sie las, verband mit ihr das Geräusch ihrer Entstehung."
Dieses Abenteuer-Idyll muß ich leider stören. Ein Bürger des 20.Jahrhunderts geht auf dem Trottoir, hört das Tock-Tock seiner Absätze und empfindet daran Rhythmus. Und so unwillkürlich diese Empfindung ist, so sicher weiß er, sie müsse den ursprünglichsten, natürlichsten Bedingungen der Menschheit entstammen, solchen, die ihn, den Bürger, mit dem Jäger und Sammler prähistorischer Zeiten verbinden, nein, kürzer noch: Bedingungen, "die es" ganz einfach schon "immer gab".
Das bürgerliche Wissen hält sich ja gerne für "das älteste Wissen des Menschen". Wo aber sollte das näher liegen als beim Rhythmus? Ihn zu empfinden, wird man nicht gelehrt, bekommt man nicht beigebracht, seine Empfindung stellt sich unwillkürlich ein. Keine Überlegung, die hinter sie zurückgreifen, kein Gedanke, von dem sie sich ableiten, kein Diskurs, dem sie sich verdanken könnte. Das Unhintergehbare der Rhythmusempfindung ist ihre strikte Natürlichkeit, und eben das
Das Hören nach dem Takt.
zwingt zu der Überzeugung, sie wäre auch ewig wie die Natur. Das Maß, wie weit zurückliegenden Zeiten sie deshalb zugeschrieben wird, gibt nur das Maß wieder, wie sehr sie uns natürlich ist. Es soll sie uneingeschränkt zu allen Zeiten so gegeben haben wie für uns; das heißt: so uneingeschränkt ist sie unserer Wahrnehmung apriori.
Daher die transzendentalen Konstruktionen in ihrer unbekümmerten Geschichtslosigkeit. Aber haben sie in diesem Fall, selbst wenn man vielleicht anders konstruieren wollte als mit den Füßen, nicht Recht? Bleibt nicht hier tatsächlich einmal etwas anthropologisch konstant? Kann Canetti nicht jedenfalls davon sicher ausgehen?
Es sei einmal zugestanden, daß jeder Mensch ein Indianer und Old Shatterhand ausgenommen beim Gehen unweigerlich, "ob er es beabsichtigt oder nicht", ein Geräusch verursache. Doch Canetti weiß mehr: Es sei ein "rhythmisches" Geräusch. Woher nun aber der Rhythmus in dem Geräusch? Kein Ton, kein Geräusch, kein Ereignis ist schon von sich aus rhythmisch; man muß es schon als rhythmisch empfinden. Unsere Empfindung macht eine klare Unterscheidung zwischen Geräuschen, die rhythmisch, und Geräuschen, die nicht rhythmisch sind. Und das macht auch Canetti. Also, was ist ihm und damit "dem" Menschen Rhythmus? Dies: Eine Folge von Schlägen oder von Klangelementen, die der Mensch "geht" mit etwa gleichem Zeitabstand erklingen, die "auf zwei Beinen", "nie mit genau derselben Kraft" zweiwertig nach ihrer Stärke geschieden sind, und die in dieser zweiwertigen Unterscheidung "abwechselnd" aufeinanderfolgen; außerdem unterschiedliche Tempi, Unterbrechungen und gewisse Modulationen kennen. So läßt es sich Canettis Ursprungserklärung vom Rhythmus entnehmen.
All das leuchtet uns sehr wohl ein, und zwar genau so unwillkürlich, wie uns das Tock-Tock gehender Füße als Rhythmus ins Ohr geht: in seinen gleichen Zeitabständen und mit dem TickTack seines Abwechselns nach schwerer und leichter. Was aber von Canetti so beschrieben ist, ergibt nicht etwa Rhythmus an und für sich, sondern eine ganz bestimmte Art von Rhythmus: Taktrhythmus. Und diesen gibt es nicht seit Menschen- oder Tieresgedenken, sondern seit dem 17.Jahrhundert. Damals erst, und zunächst nur in den Gesellschaften des mittleren und westlichen Europa, beginnt Rhythmus sich zum Taktrhythmus zu wandeln, beginnt Taktrhythmus "der" Rhythmus zu werden, setzt es ein, daß Menschen Rhythmus unwillkürlich nach Takten empfinden: so wie Canetti und so wie wir heute recht ausnahmslos alle.
1.2 Kleiner Auszug aus der Begriffs- und Sachgeschichte "Rhythmus" ist ursprünglich ein Wort der Griechen; über eine indogermanische Wurzel mit dem deutschen Wort "Strom" verwandt, leitet es sich ab von griechisch "rhein", "fließen". Und was also haben zum Beispiel Griechen ebenso wie die Römer empfunden, wenn sie vor sich hingegangen sind und das Geräusch ihrer Sandalen hörten? Keinen Rhythmus. Rhythmus war für sie die Folge von Klangelementen, die nach ihrer Dauer geschieden wurden, nach dieser unterschiedlichen Dauer zu Gruppen zusammengefaßt und die in solchen nach rein zeitlichen Proportionen bestimmten
Gruppen wiederkehrten. Was hat diese Art Rhythmus mit dem Taktrhythmus gemein? Nichts, als daß es überhaupt noch um eine Folge von Klangelementen geht.
Erstens: Der Wechsel der Elemente nach betont und unbetont, entscheidende Bestimmung des Taktrhythmus, ist dem griechischen Rhythmus fremd; der hat weder überhaupt etwas mit der Unterscheidung von betont gegen unbetont zu tun, noch würde er sich mit der Festlegung auf das Abwechseln vertragen - auch nicht auf das Abwechseln von lang und kurz.
Zweitens: Der Taktrhythmus setzt gleiche Zeiteinheiten, auf die sich zwar Töne von mancherlei unterschiedlicher Dauer verteilen können, die diesen Tönen aber wie ein Raster vorgegeben sind oder unterlegt werden; die Töne müssen sich in ein Raster gleicher Zeiteinheiten einfügen. Der griechische Rhythmus dagegen geht mit ungleichen Zeiteinheiten um, der Unterscheidung nach lang und kurz. Zwar können in ihm ohne weiteres mehrere lange oder mehrere kurze Klangelemente aufeinanderfolgen, aber erst ihre Unterscheidung nach der Dauer, und daß sie nicht wie ein Raster aneinandergereiht, sondern zu Gruppen aus langen und kurzen Klangelementen verbunden sind, ergibt hier überhaupt erst Rhythmus.
Drittens: Im Taktrhythmus müssen die Töne, die erklingen, nicht jeweils die gesamte Zeiteinheit ausfüllen, die man als Taktteil empfindet. Beim Geräusch des Gehens genügt es, daß der Absatz nur einen kurzen Schlag tut und daß die Zeit, bis der andere Fuß auftritt, jeweils geräuschlos verstreicht. Was im Taktrhythmus als Element empfunden wird, ist diese gleichsam leere Zeiteinheit: Die Pause zwischen dem einen Tock und dem nächsten hören wir als Bestandteil des rhythmischen Elements so gut, als würde über die gesamte Zeiteinheit hinweg ein Ton erklingen. Für die Griechen der Antike gab es das nicht. Rhythmus ist dort nur, was wirklich erklingt, er ist die Bestimmung eines Klangkontinuums oder einer kontinuierlichen Bewegung; daher auch das vom Fließen abgeleitete Wort. Eine Pause ließe ihn abbrechen, eine Folge von bloßem Klopfen, womit wir es uns so schön rhythmisch machen können, hatte für ein griechisches Ohr nichts von Rhythmus. Nur der erfüllte Klang wurde zu rhythmischen Gestalten aufgebaut.
Wie also hätte ein Grieche gehen müssen, um Canettis Ursprungsmythos zu erfüllen und mit den Füßen ein Geräusch zu verursachen, das ihm ein "rhythmisches Geräusch" gewesen wäre? Er hätte darauf achten müssen, seine Füße nicht wohlgesittet jeweils vom Boden zu heben, sondern konsequent mit ihnen über den Boden zu schlurfen, damit jeder Schritt einen anhaltenden Schleifton ergäbe und nicht bloß ein Tock; außerdem seine Schritte unterschiedlich lang zu machen, und zwar nicht etwa abwechselnd einen langen Schleifschritt mit links und einen kurzen Schleifschritt mit rechts, sondern lang und kurz nach durchaus komplizierteren Mustern, ohne alle Beachtung von stärker und schwächer. Ein solcher Gang würde vermutlich im Amt für silly walks freundliche Anerkennung finden. Das aber fehlte der Antike.
1.3
Taktzwang und Taktzeit
Alles das also, was uns ganz selbstverständlich Rhythmus ausmacht, ist einmal nicht Rhythmus gewesen. Man bemerke, wie sehr einen dies befremdet; wie wenig es vorstellbar scheint. Der Grund dafür ist einfach: Man kann sich Rhythmus nicht anders vorstellen, als man ihn empfindet.
Die Rhythmusempfindung hat in ihrer Unwillkürlichkeit etwas Zwingendes. Nietzsche hat das in seinem Aphorismus "Vom Ursprunge der Poesie" so ausgesprochen: "Der Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach, - wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter!"
Nietzsche schließt aus diesem Zwang, Rhythmus ginge immer "dem Tacte nach". Seine Erklärung gilt nicht dem Ursprung des Rhythmus, sondern einem Ursprung aus dem Rhythmus, und vielleicht geht Nietzsche ja nicht einmal fehl, wenn er diesen mit "jener elementaren Ueberwältigung" in Verbindung bringt, "welche der Mensch an sich beim Hören der Musik erfährt". Aber fehl geht er in dem unbedachten Glauben, es müsse "der" Rhythmus, es müsse immer dieselbe Art von Rhythmus gewesen sein, so elementar wie die Überwältigung selbst. "Narren des Rhythmus" seien wir "noch jetzt, nach Jahrtausende langer Arbeit", gar nichts habe sich da geändert seit den Zeiten des Ursprungs. Diesen Ursprung aber finden wir nicht etwa geschichtlich vor, wir empfinden ihn allein an unserer Überwältigung: an ihr empfinden wir Ursprung als dies zwingend Unwillkürliche, und dies verlegen wir als Ursprung deshalb in die Zeiten zurück. Unsere Rhythmusempfindung wird so zum Derivat, zu einem "noch jetzt" einer Ursprungszeit erklärt. Der Philosoph erkennt nicht, wie umgekehrt er den Rhythmus einer solchen Ursprungszeit rückwärts aus seiner gegenwärtig zwingenden Rhythmuswahrnehmung ableitet: "Längst bevor es Philosophen gab, gestand man der Musik die Kraft zu, die Affecte zu entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia animi zu mildern - und zwar gerade durch das Rhythmische in der Musik. Wenn die richtige Spannung und Harmonie der Seele verloren gegangen war, musste man tanzen, in dem Tacte des Sängers, - das war das Rezept dieser Heilkunst."
Aber kein Rezept hilft gegen die blinde Annahme, "das Rhythmische" ginge stets "in dem Tacte", wäre immer schon "das rhythmische Tiktak" gewesen, wie Nietzsche hier buchstäblich schreibt: also Taktrhythmus. Nietzsche war klassischer Philologe; hätte er es nicht aus dem Griechischen und Lateinischen besser wissen müssen, wo nichts nach Takten, nichts nach dem Tiktak von betont und unbetont geht?
Nein, alles geschichtliche Wissen verliert seine Kraft, wenn man aus dem Zwang der Gegenwart konstruiert. In seinen "Vorlesungen über die ästhetik" (nach 1820) bestimmt Hegel, wie es sich mit dem Rhythmus grundsätzlich verhalten müsse.
Dritter Teil, Dritter Abschnitt, Zweites Kapitel: Die Musik
2. Besondere Bestimmtheit der musikalischen Ausdrucksmittel
a. Zeitmaß, Takt, Rhythmus
Was nun zunächst die rein zeitliche Seite des musikalischen Hörens betrifft, so haben wir erstens von der Notwendigkeit zu sprechen, daß in der Musik die Zeit überhaupt das Herrschende sei; zweitens vom Takt als dem bloß verständig geregelten Zeitmaß; drittens vom Rhythmus, welcher diese abstrakte Regel zu beleben anfängt, indem er bestimmte Taktteile hervorhebt, andere dagegen zurücktreten läßt.
Zeit, Takt, Rhythmus, das geht in einem dahin, als könne es gar nicht anders gehen, als ergäben sich Takt und Rhythmus allein schon daraus, daß Musik in der Zeit verläuft. Takte, das sind hier erst einmal die gleichen und leeren Zeiteinheiten, und Rhythmus ist dann deren Ordnung nach betont/unbetont, nach hervorgehoben gegen nicht-hervorgehoben; macht insgesamt: den Taktrhythmus. Er, der so strikt der Neuzeit angehört und keiner Zeit vorher, wird hier mit derselben Notwendigkeit als der ewig-eine Rhythmus vorgewiesen, mit welcher der Weltgeist schließlich im preußischen Staat zu sich findet.
1.4 Taktdenkzwang
So weit die Philosophen, die da die ganze Welt nachkonstruieren und deshalb nicht auf solche Kleinigkeiten achten können, ob ihr unwillkürlicher Glaube an das eine Wesen von Rhythmus irgendwelches historisches Recht hat. Was halten die Fachleute dagegen? Die überlegen und beweisen dann sogar, daß ewig sein müsse, was sie empfinden, daß, "was unsre Vorfahren die Weise, die Römer Numerus und die Griechen Rhythmus nannten", "auf eignen, in der Natur gegründeten Principien beruhe". Zur gleichen Zeit etwa, als Hegel seine Vorlesungen zur ästhetik hält, schreibt so Johann August Apel in seiner großen "Metrik". Zwar weiß er, wie griechische Verse gebaut sind und was in ihnen also Rhythmus heißt; er erkennt sogar den eigenartigen Ausschluß, der sich dadurch ergibt, daß wir Rhythmus inzwischen anders wahrnehmen als etwa die Griechen, daß wir etwas anderes für Rhythmus nehmen als sie. Denn das ergibt notwendig den Ausschluß, daß wir das, was für die Griechen Rhythmus war, nicht mehr als Rhythmus empfinden. Apel weiß: Wer zu seiner Zeit und heutzutage ist das nicht anders antike Verse so liest, wie sie zu ihrer Zeit gedichtet und als rhythmisch gehört wurden, nämlich in ihrer sicher bestimmten Abfolge von lang und kurz, der vermag sie eben so nicht als rhythmisch zu empfinden. Er mag wie genau auch immer Bescheid wissen über Länge und Kürze der Silben, über den antiken Rhythmus allgemein und über den vorliegenden Versbau im Besonderen, Rhythmus ergibt sich ihm daran nicht: "Denn er bemüht sich vergebens mit dem Gehör dieses Schema singbar zu finden, und gleichwohl kann er sich nicht abläugnen, dass jene Stelle des Sophokles ein Vers sey, und das metrische Schema den Rhythmus jenes Verses bezeichne."
Wenn sich der neuzeitliche Zeitgenosse also dort vergebens bemüht, Rhythmus zu empfinden, wo ein antiker Sophokles zuverlässig Rhythmus empfunden hat, sollte man zuverlässig auch schließen, die Rhythmuswahrnehmung sei hier und dort einfach nicht dieselbe. Und wenn sie sich historisch wandelt, kann Rhythmus auch nicht auf einem Naturgesetz gründen, kann man nicht
ansetzen, "dass der Bau des[!] Verses auf eigenthümlichen, in seiner Natur gegründeten Gesetzen beruhe". Gerade das jedoch will Apel unbedingt behaupten. Deshalb wird die Schlußfolgerung umgekehrt und gegen die Zeiten gewendet: Wenn wir an den Versen so, wie Sophokles sie gedichtet hat, nicht Rhythmus empfinden, hätte folglich Sophokles seine Verse nicht so gedichtet, wie er sie gedichtet hat, sondern so, wie wir sie als rhythmisch empfinden. Und so gelangt man rasch und verkehrt zu der Glorie "unserer Theorie, dass sie beweiset, in allen Rhythmen sey Takt, Rhythmus ohne Takt lasse sich dem Wesen des Rhythmus nach nicht denken".
Und zwar nicht denken, weil nicht anders empfinden. Das heißt immerhin nicht weniger, als daß es hier eine strikte Verbindung gibt von Wahrnehmung und Erkenntnis. Diese Verbindung zeigt sich wirksam zum einen als Schranke: Weil wir Rhythmus nur und zwingend nach Takten wahrnehmen, können wir uns Rhythmus nicht anders als nach Takten denken. Und sie zeigt sich zum anderen als Übergriff: Wenn wir Rhythmus zwingend nach Takten denken, denken wir auch solche Rhythmen danach, die zu ihrer Zeit nichts mit Takten zu tun hatten; das heißt, wir fälschen sie. Und das haben auch die Fachleute denn weidlich getan.
1.5 angeborenes Taktgesetz
Wir machen selbst die antiken Verse zu Versen nach Takten. Wir legen das abwechselnde betont/unbetont darüber, kümmern uns nicht um die Betonungen, nicht um Längen und Kürzen der Sprache, und schon wird es uns rhythmisch: durch die abwechselnd daraufgelegten Betonungen. So ist die Übung in der Neuzeit, so lernt man es heute noch in der Schule, und so sind wahre Regimenter aus lauter Trommlern über die armen Hexameter gejagt worden, und jeder hat seine Ikten darauf geschlagen.
Das kann auch nicht anders sein, eben weil man Rhythmus nicht mehr anders empfindet. Gottfried Hermann aber meinte 1816 apriorisch beweisen zu können, daß es schon immer so gewesen sein müsse. Man überlege nur kurz, was damit behauptet ist: Die Griechen und Römer hätten also sorgsam ihre Verse nach Länge und Kürze der Silben gedichtet, wie es nun einmal aufs genaueste belegt, überliefert und an den Versen festzustellen ist; aber Rhythmus hätten sie nicht an diesen Längen und Kürzen empfunden, sondern einzig und allein an irgendwelchen völlig unabhängig davon auf die Silben geschlagenen Betonungen - von denen absolut nichts überliefert ist. Das ist etwa so, als wollte man die archäologisch eindeutige Feststellung, daß die Römer zur Heizung ihrer Thermen kunstvolle Hypokausten angelegt haben, mit der Behauptung zieren, die Wärme wäre aber von einer Zentralheizung gekommen. Wie hält man einen solchen Unsinn aus?
Der sonst so große Gottfried Hermann beweist den Unsinn, indem er alles, was er schließlich beweist, zu Anfang schon voraussetzt - und dann gar nicht anders kann, als den Unsinn zu glauben. Was er aber da voraussetzt, ist nicht nur dem Gelehrten des 19.Jahrhunderts so sehr a priori, daß er nichts von seinem Zirkelschluß bemerkt, sondern uns noch immer ebenso. Es gibt keinen Grund, sich über Hermann zu erheben; denn womit er seinen Beweis beginnt, das leuchtet auch uns sofort
ein. Da Rhythmus die Bestimmung eines zeitlichen Verlaufs betrifft, muß also dieser Verlauf, um rhythmisch zu sein, durch etwas bestimmt und geordnet sein; die erste Frage folglich: Worin besteht dies etwas? Die Antwort: "Es ist klar, daß dies allein in einem bestimmten Gesetz bestehe."
Natürlich, "apertum est". Noch scheint nichts, und doch ist schon alles entschieden. Nicht dadurch, daß Rhythmus Bestimmung eines zeitlichen Verlaufs sei, was er zweifellos immer auf irgendeine Weise ist; sondern daß diese Bestimmung in einem Gesetz bestehe.
Das sagt zweierlei. Ein Gesetz, das heißt sogleich: ein Gesetz. Wenn ein Gesetz das Wesen von Rhythmus bestimmt, kann es nur dies eine Wesen von Rhythmus geben. Tausende verschiedener Einzelrhythmen mögen sich nach diesem Gesetz richten und damit eben überhaupt Rhythmus sein, aber die Art von Rhythmus, das, was eben überhaupt Rhythmus ist, könnte sich damit nicht mehr wandeln; es könnte nur die eine Art von Rhythmus geben - apriorisch, ahistorisch. Aber wichtiger noch zweitens: Daß Rhythmus nach einem Gesetz verlaufe, das legt auch bereits fest, welche Art von Rhythmus diese einzige wäre. Denn tatsächlich gibt es nur eine einzige Art von Rhythmus, deren Bestimmung in einem Gesetz besteht - mirabile dictu: diejenige unseres Taktrhythmus.
Erst und allein mit dem Taktrhythmus wird das rhythmische Hören funktional, ist das, was als Rhythmus wahrgenommen wird, nach einem Verlaufsgesetz bestimmt. Was auch immer sonst als Rhythmus wahrgenommen wurde, also zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen Rhythmus war, nichts davon gehorcht in seinem Verlauf einem Gesetz. Das verbindet den antiken Rhythmus mit allen anderen Arten von Rhythmus, die es sonst noch gibt und gegeben hat. Es setzt sie alle in diesen entscheidenden Gegensatz zum Taktrhythmus: daß in ihnen bestimmte gegebene Klanggestalten oder Tonfolgen als solche aufeinander bezogen und damit zu rhythmischen werden, während es im Taktrhythmus erst dadurch zu einer rhythmischen Gestalt kommt, daß sich ihre Teile auf das Raster der Elementefolge hervorgehoben/nicht-hervorgehoben beziehen lassen. Ein Gesetz, wenn Rhythmus sich in allen seinen tausenderlei möglichen Einzelrhythmen danach bestimmen soll, bedarf der leeren Zeiteinheiten. Ein solches Gesetz kann nur darin bestehen, wie diese aufeinander bezogen werden; und dann kann es weiter nur darin bestehen, daß sie so aufeinander bezogen werden wie nun eben im Taktrhythmus.
Deshalb gelangt Gottfried Hermann mit einiger Stringenz und ohne weitere Subreptionen zu dem Nachweis, Rhythmus müsse sich genau so verhalten, wie wir es kennen, sobald nur der Punkt erschlichen ist, festzuhalten: "Jenes Gesetz muß uns darin, wie es Zeiteinheiten oder Abstände festlegt und anordnet, notwendig angeboren sein - nach dem Ausdruck der Philosophen: apriori."
Der aufwendige Nachweis, der bei Hermann vorangeht, da müsse etwas angeboren sein, starrt von Fehlschlüssen. Wozu Hermann diesen Nachweis jedoch benötigt, ist ohnehin nur jene lex und deren a priori. Und damit geht er ja soweit zu Recht um, als uns, historisch eingeschränkt also, jene Art von Rhythmus, die einem Verlaufsgesetz gehorcht, tatsächlich so unhintergehbar gegeben ist, als wäre sie und damit ihr Gesetz uns angeboren. Nichts anderes hat apriori mit Recht zu heißen:
unserer Erfahrung unhintergehbar, wie schon immer gegeben; es heißt nicht: angeboren und geschichtlich ein für allemal schon immer da.
Sobald er aber glaubt, allgemein von einem rhythmischen Gesetz und dessen a priori ausgehen zu können, weil er nicht sieht, daß eben damit schon unsere spezifische Rhythmuswahrnehmung vorausgesetzt ist, leitet Hermann dann ohne große Mühe ab, was er damit vorausgesetzt hat: daß Rhythmus unsere Art von Rhythmus sein müsse - Taktrhythmus. Ich kürze seine Ausführungen stark ab: Da einem Rhythmus, der in allen seinen tausenderlei möglichen Einzelrhythmen nach einem Gesetz bestimmt ist, nicht irgendwelche in sich bestimmte und unterschiedene Gestalten vorgegeben sein können, sondern eben das Gesetz dasjenige Vorgegebene ist, nach dem sich etwas erst als rhythmische Gestalt bestimmt, müssen seine Bezugselemente inhaltsleer einander gleich sein, also, der Zeitlichkeit von Rhythmus wegen, leere und gleiche Einheiten von Zeit. Aber diese müssen doch auch nach dem Gesetz bestimmt werden, nämlich als diese leeren Einheiten aufeinander bezogen, darin gegeneinander unterschieden und zu Gruppen geschlossen werden - mit einem Beginn der Gruppe: "So aber ist es. Denn erst so sehen wir bei Rhythmen einen Beginn, wenn wir in ihnen das wahrnehmen, was wir Iktus nennen; durch ihn tritt in jeweils einem Element des Rhythmus eine Kraft hervor, die den umliegenden Elementen fehlt."
Das ist die Hervorhebung je einer Einheit gegenüber den benachbarten und damit nichthervorgehobenen Einheiten: der Wechsel von betont und unbetont. Für Hermann ist es zugleich der Ictus, nämlich die Berechtigung, selbst die antiken Verse mit dem Taktschlag nach betont und unbetont zu belegen, und der Beweis, die Griechen und Römer hätten es zu ihrer Zeit schon genauso tun müssen.
1.6 germanischer Rasse-Takt
Nun gehört Gottfried Hermann tief ins 19.Jahrhundert - und das haben wir doch wohl hinter uns gelassen! Könnte es denn heute noch passieren, daß wir etwas, das uns unwillkürlich und selbstverständlich ist, einfach deshalb auch allen früheren Zeiten zuschreiben - transzendental und borniert zugleich? Ein gerade naheliegendes Beispiel: Wäre es denkbar, daß wir den Gesetzesbegriff, wie ihn Hermann verwendet und wie er auch im Begriff des Naturgesetzes vorliegt, einfach deshalb, weil er sich uns so unvermeidlich einstellt, auch bereits auf die Antike anwenden und etwa vom Hebel-"Gesetz" des Archimedes sprechen würden? Wo der Mann doch nichts anderes formuliert als eine statische Proportion und nicht er und nicht irgendjemand sonst in der Antike je an ein Naturgesetz gedacht, geschweige denn eines aufgestellt hat? Denn wann und wo beginnt es historisch mit dieser Art von "Gesetz"? Wiederum erst im 17.Jahrhundert und im mittleren, westlichen Europa. Selbst Galileo Galilei, der als einer der ersten ein Naturgesetz aufstellt auch das tut ja nicht die Natur , geht noch nicht mit dessen Begriff um.
Es ist leider keine Frage: daß auch wir früheren Zeiten etwas zuschreiben, nur weil es für uns zur Selbstverständlichkeit wurde, das kann passieren - denn es passiert bis heute. Allerdings mit einem
bedeutenden Unterschied: Heute versucht keiner mehr zu beweisen, daß Rhythmus immer der unsere gewesen sein müsse, keiner verschwendet auch nur einen Gedanken mehr darauf, nicht mehr transzendental, sondern blind setzt es jeder voraus. Der Reflex, das gegenwärtig Gegebene für das notwendig Ewige zu halten, ist stärker geworden, nicht etwa außer Kraft gesetzt; mühelos verdrängt er inzwischen alle Reflexion.
Gelehrte wie Apel und Hermann schätze ich dafür, daß sie noch aussprechen oder gar grundsätzlich durchdenken, worauf sie sich haltlos stützen. Beerbt werden sie in der Metrik dann von Leuten, die ihre unvermeidliche Frage nach der einen Urform "Wie sah der Urvers aus?" aufgrund eines besonders sinistren Urwissens mit dem Taktrhythmus beantworten: "Bei fast allen indoeuropäischen Völkern (Germanen, Slaven, Romanen u.a.) ist nach Werners Forschungsergebnissen [Heinz Werner: Die Ursprünge der Lyrik. München 1924.] die beliebte Urform strenger Rhythmik der daktylische, vierhebige Vers, verbunden mit Arbeitstempo oder mit Trommeln und Schlagen. Vierhebig ist wohl auch das freie Gefüge des Urverses gewesen."
Ja, die beliebte Urform, die Trommeln und das Schlagen. Die Sache mit dem Arbeitstempo habe ich noch in einer Metrik-Vorlesung der Frau Professor von Heydebrand gelernt, und ebenso daß sich aus dem Arbeitsrhythmus das blind Vorausgesetzte erklären lasse, nämlich Rhythmus immer und ewig nach Takten. "Takt, bei freier Taktzahl und freier Taktfüllung, ist ein Wesenshalt in der freirhythmischen Forschung. Unter Takt verstehen wir die zeitlich gleich gemessene Spannung von Iktus zu Iktus. Ohne jenen festen Halt ist überhaupt kein sicherer Standpunkt möglich."
Kein sicherer Standpunkt? Das darf natürlich nicht sein: ergo von Iktus zu Iktus, ergo zeitlich gleich, ergo Takt: "Taktmäßige Gliederung bleibt ein wichtiges Merkmal, welches die Poesie eindeutig von der Prosa abhebt. Wir rühren hier an die Eigenart der deutschen Form und ihres Gesetzes." Das entscheidet jetzt: Das Rhythmusgesetz wird deutsch und war es naturgemäß dann schon in den Urzeiten. Herr Closs schreibt so im Jahre 1947. Doch die Lehre von der Eigenart der Deutschen, und daß also nicht mehr undifferenziert "der" Mensch nach Takten hören soll, sondern nach neuerer Erkenntnis allein und insbesondere "der" Germane, ist zu dieser Zeit längst kanonisch geworden, nämlich unmittelbar vor dem tausendjährigen Reich. Durch Andreas Heusler.
Dieser Mann hat es vermocht, aus der Tatsache, daß Verse in den romanischen Sprache das allfällige betont/unbetont-Muster nicht aufnehmen anders als beim antiken Griechisch und Latein leben die Sprecher dieser Sprachen zum Glück ja noch heute und können bezeugen, daß ihre Verse die Ikten nicht tragen , Andreas Heusler hat es vermocht, aus dieser Tatsache die ursprüngliche Zweiteilung der Rhythmuswelt in deutsch und undeutsch zu machen; auf Seiten der Welschen gehe es mit dem Rhythmus nur irgendwie wuselig silbenzählend zu, auf Seiten der Germanen aber von den ersten Lagerfeuern an deutschformgesetzbewußt schon immer nach Takten. Das hat Andreas Heusler zur bestehenden Lehre gemacht - nicht weil er irgendetwas daran nachgewiesen hätte, sondern weil es allen unmittelbar eingeleuchtet hat: nach Takten, ja, nach Takten - wenn schon nicht bei allen anderen, so doch wenigstens und Hauptsache bei uns!
Gut, eine solche Lehre wird sich allenfalls bis ins Jahr'47 halten, aber länger? Die wenn schon nicht allgemein-menschliche, so doch rassegebundene Ewigkeit des Taktrhythmus - gehört die nicht sofort auf den Müllhaufen der Geschichte? Ach und weh, nein, Lehr- und Prüfungsstoff ist sie an Schule und Universität bis heute. Man denkt zwar nicht mehr daran, sich dafür auf das Germanentum zu berufen, man beruft sich ja auf überhaupt nichts mehr; aber man weiß felsenfest das Eine: Deutsche Verse - "zu allen Zeiten" nach Takten, nach Akzenten, nach betont und unbetont. Und wer in einer Prüfung den Aberwitz nicht konsequent zu vertreten weiß, bekommt ganz demokratisch-prüfungsordentlich eine schlechte Note.
1.7 Trampelpfade bis heute
Worin besteht dieser Aberwitz? Er trifft eine Aussage über "alle Zeiten", ohne sich auf irgendetwas stützen zu können als darauf, daß man heutzutage nun einmal so empfindet - daß man Rhythmus nicht mehr anders empfindet als nach dem betont/unbetont der Takte. Alles, worauf man sich bei der Retrojektion des Taktwesens in die Geschichte stützt, ist also die ohne jede Reflexion gemachte und hingenommene Voraussetzung, die Rhythmuswahrnehmung wäre anthropologisch konstant. Welch eigentümliches Reservat der Zeitlosigkeit! So wenig bräuchte es, um zu wissen, daß die Rhythmuswahrnehmung nicht konstant sein kann; aber kein Wissen und keine Reflexion hilft gegen diesen stärkeren Reflex.
Es ist kein Zufall, daß man schließlich daran ging, den Taktrhythmus transzendental zu begründen, um ihn dann unter anderem auf die antiken Verse schlagen zu können. Wäre er durch irgendetwas für diese früheren Zeiten belegt, spräche die Überlieferung auch nur an irgendeiner Stelle von seinem betont/unbetont, gäbe es auch nur irgendwelche Anhaltspunkte in den alten Zeugnissen vorzuweisen, dann hätte man der apriorischen Konstruktion nicht nötig. Diese hat aber nicht nur die fehlenden Belege zu ersetzen, sie hat sich auch gegen die eindeutig widerlegenden Belege durchzusetzen. Denn nicht bloß, daß die Überlieferung Taktrhythmus vor der Mitte des 16.Jahrhunderts nicht belegt, sie belegt jeweils ja deutlich genug, was Rhythmus war und daß es nicht Taktrhythmus war. Wie umfangreich, detailliert und genau etwa ist überliefert, wie die antiken Verse gebaut sind - nicht nach Betonungen, nicht nach Takten, nichts von Ikten. Was zur völligen Eindeutigkeit fehlt, ist bloß noch, daß ein antiker Mensch einmal niedergeschrieben hätte: Nein, ich beschwöre es, wir hören nicht nach Takten. Aber darf man Platons Staat das Amt eines Kohl unterstellen, nur weil Platon nicht ausdrücklich einen Bundeskanzler ausschließt? Die klassische Philologie jedenfalls hat sich von keiner Überlieferung irritieren lassen und wußte es besser als die antiken Autoren selbst.
Aber sie immerhin ist der historischen Fälschung inzwischen überführt. Nach jahrhundertelanger Geltung ist ihre sogenannte Iktustheorie inzwischen zurückgenommen worden, und man hat freundlich anerkannt, daß Griechen und Römer ihre Verse doch wirklich und wahrhaftig so gedichtet und wahrgenommen haben, wie sie Rhythmus empfanden und nicht wie
wir es tun. Welch erfreulicher Rückschritt der Wissenschaft! Doch nur diese antiken Verse sind gerettet, die anderen werden weiterhin gerichtet - nach dem Takt. Alles, was nicht romanisch ist, wird aufs Prokrustes-Bett der Einheiten nach betont und unbetont gespannt, die Silben werden gedehnt, sie werden zerhackt, und wenn das Blut schon alles überspritzt, dann wird mit Pausen gestillt: damit's mit den Takten aufgeht. Phönizischen, altisländischen, mittelhochdeutschen Versen - allen werden die Takte auferlegt, und nur der Takt fehlt, die Gewalt, die man ihnen so antut, nicht auch noch damit zu erklären, es sei ihre Natur, sie zu leiden: Jedem das Seine.
Oh, tausend- und abertausendfach leiden diese Verse Gewalt: Sie liefen nicht nach betont und unbetont und kannten keine Takte; deshalb passen sie jetzt nicht hinein und werden aber passend gemacht. Überall, wo solche älteren Verse abgedruckt oder beschrieben werden, ausnahmslos, wann immer ihrer Form, ihres Versbaus, ihres Rhythmus gedacht wird, vom kleinsten ReclamHeftchen bis zur aufwendigsten Spezialstudie: trocken, fraglos, rücksichtslos werden da Hebungen gezählt, taktmäßige Klauseln angegeben und der Rest der Füllungsfreiheit überlassen, der Zerstückelung des nach solcher Zählung überzähligen. All solche Verse, die nicht Hebung und Senkung, nicht das betont/unbetont, nicht das Zeitmaß von Takten haben kennen können, werden über diesen neuzeitlichen Leisten geschlagen, sie mögen dem so viel Widerstand bieten, wie immer sie wollen. Unter der unwillkürlichsten Berufung auf seine Natur bricht ihnen der Schuster die ihre. Indem er im Taktrhythmus über sie hinwegtrampelt, tut ihnen der zweibeinige, so ursprünglich empfindende Mensch Gewalt, "ob er es beabsichtigt oder nicht".
Nein, er beabsichtigt es nicht; aber deshalb sieht er auch nichts zu begründen. Nirgends wird man finden, daß einer noch einen Grund für die Annahme nennte, daß diese Verse überhaupt nach Hebungen gingen. Es bedarf keiner Begründung, wo keiner mehr fragt. Und wenn einer noch einmal fragt, kann jeder auf jeden anderen weisen: nach Hebungen, Betonungen, Akzenten, das sagen doch schließlich alle.
2
Der neuzeitliche Taktrhythmusreflex
2.1 Die Wirkung des Reflexes
Aber was hat das einen zu interessieren, wo es doch nur um Verse und nicht um Menschen geht? Zu was taugt es denn weiter, auch Rhythmus jetzt historisch zu durchdenken? Die Fehler der Metrik, was kümmern sie die Anthropologie? Mich tatsächlich bekümmern sie auch wegen der Verse; die Anthropologie aber sollten sie kümmern, weil sich ihr kaum sonst so tiefer Aufschluß verspricht.
Den verspricht nämlich dieser merkwürdige Befund: Ein Phänomen, dessen geschichtlich spätes Auftreten längst bekannt und umfassend belegt ist, wird dennoch mit großer Gewalt für ungeschichtlich, für überzeitlich konstant erklärt. Während es auf allen Gebieten sonst undenkbar ist, von Geschichte abzusehen, hier offenkundig ist es undenkbar, der Geschichte ins Auge zu
sehen. Hier wie kaum mehr sonst wird Geschichte ausgeblendet - unwillkürlich, unbeirrbar, in einem blinden Reflex. Nicht etwa bloß aus Nachlässigkeit oder durch eine Jahrhunderte währende Gedankenlosigkeit der Wissenschaft, sondern aktiv, mit großer Mühe und mit klarem Bewußtsein von dieser Anstrengung setzt man, wie an Gottfried Hermann zu sehen war, die Lehre von dem ewig-einen Rhythmus gegen alle eindeutige Überlieferung durch - bis heute.
Ein einzigartiges Phänomen; eines, das nachdrücklich nach Aufklärung verlangt, auch wenn einem alles sonst fern und gleichgültig sein sollte an dem, woran es zutage tritt: dem Rhythmus. Man hat ja nicht zu vermuten, daß es mit dessen Geschichtlichkeit deshalb dunkel geblieben wäre, weil sich von Anbeginn des Taktrhythmus an irgendwelche Dunkelmänner verschworen hätten, von einer anderen Art Rhythmus nichts mehr durchdringen zu lassen und nunmehr alles an Rhythmus, auch nachträglich, auf Takte zu bringen. Derlei hat es nicht gegeben, obwohl die Einmütigkeit, mit der die falsche Ahistorizität neben den offensichtlichen Belegen für das Gegenteil behauptet wird, ganz danach aussieht. Es muß etwas anderes sein, das dafür sorgt: etwas, das keinem bewußten Plan entspringt und doch stärker ist als alle planende Bewußtheit; etwas, das einmütig bei jedem, der nach dem Taktrhythmus wahrnimmt, dafür sorgt, daß er Rhythmus nicht bloß anders nicht mehr wahrnehmen, sondern anders auch nicht mehr denken kann; etwas, das allen so gemeinsam und das allen gemeinsam so unwillkürlich ist wie die Taktwahrnehmung, das sich aber auch dem bewußten Denken jedes einzelnen als ein sicherer Reflex vorgibt und reflexhaft jeden einzeln für sich dazu bestimmt, die Reflexion auf andere Verhältnisse nicht nur zu unterlassen, sondern zu unterdrücken.
Das klingt recht nach einer kollektiven Verdrängung, die hier statthabe, und es hat wirklich davon Züge. Aber es ist doch mehr und ist etwas anderes. Denn das geschichtlich Untergegangene hier also die älteren Arten von Rhythmus und von Rhythmuswahrnehmung wird nicht allein getilgt und einer damnatio memoriae unterworfen, also bloß negiert, als hätte es dergleichen nie gegeben. Sondern es wird positiv ersetzt durch das, was neuzeitlich und was uns selbstverständlich ist; das Neuzeitliche wird an die Stelle des Alten gesetzt, als wäre dieses nie etwas anderes gewesen, sondern schon immer gleich dem Neuen. Solange aber diese bei aller Haltlosigkeit so sehr kräftige Gleichsetzung unwillkürlich und unbewußt vorgenommen wird, ist natürlich auch unbewußt und unbekannt, was zu dieser Gleichsetzung so kräftig drängt, was sich also gleichsam noch einmal dahinter verbirgt. Man kann, sowenig man von dem ahistorischen Fehler weiß, den man hier ständig begeht, noch weniger davon wissen, weshalb man ihn begeht, was also zu ihm zwingt, welcher Reflex und welche mit diesem Reflex apriorisch gewordene Reflexionsform. Nur so viel ist davon auf Anhieb zu sagen: daß sich dies nicht nur auf den Rhythmus erstrecken kann; sonst müßte jedenfalls die bewußte Reflexion auf das geschichtlich Belegte dem Fehler nicht ihrerseits so gnadenlos unterliegen.
Zu erkennen, was es mit unserem neuzeitlichen Rhythmus auf sich hat, verspricht also die Erkenntnis, was es auf sich hat mit einem Reflex, der sich mit großer Kraft und selbst gegen die
angestrengteste Reflexion zu etwas falsch Ungeschichtlichem abdichtet. Etwas, das uns offenbar so undurchdringlich Natur ist, daß es dem Denken seiner Geschichtlichkeit eine unüberschreitbare Schranke setzt, verspricht, wenn es in seiner Natur durchdringlich wird, auch diese Schranke einmal durchbrochen zu sehen. Die neuzeitliche Rhythmuswahrnehmung, ausgezeichnet mit allen Insignien der innersten, unhintergehbaren Menschennatur, verspricht, in ihrer geschichtlichen Genese erkannt, eine Erkenntnis so tief in etwas Geschichtliches der Menschennatur, wie sie sich vor der Erkenntnis tief in jene Natur zurückzieht.
2.2 Die Epoche des Übergangs
Ich werde hier nicht diese Genese darlegen können. Aber was es mit unserer neuzeitlichen Rhythmuswahrnehmung auf sich hat, welch eigentümliche Feststellungen sich ergeben, wenn man ihr geschichtliches Hervortreten endlich einmal ernst nimmt, und daß das, wodurch dies Hervortreten bedingt sein muß, notwendig über den Rhythmus hinausweist, ja genuin gar nicht an den Rhythmus gebunden sein kann, das werde ich in aller Kürze ausführen.
Zunächst gilt es die Frage, woher man überhaupt so sicher weiß, daß der Taktrhythmus und die ihm entsprechende Rhythmuswahrnehmung erst mit dem 17.Jahrhundert einsetzt und daß es ihn vorher niemals und nirgends gegeben hat. Johann August Apel, der im 19. Jahrhundert ja partout nichts davon wissen will, stellt mit einigem Recht die folgende Überlegung an: "Nimmt man an, die erste Musik sey taktlos, und mithin der Takt eine Erfindung der neuern Zeit gewesen, so hätte diese neue Erscheinung ohne allen Zweifel Epoche in der Geschichte der Musik gemacht." Doch was findet er? "Allein nirgends findet man in der Geschichte der Musik einen Zeitpunkt bemerkt, wo aus taktlosen Rhythmen ein Uebergang zu dem gleichmässigen Takt statt gefunden habe. Der Takt erschien also niemals als etwas neues, zuvor noch unerhörtes, und so darf man wohl auch für historisch ausgemacht annehmen, dass er von Anfang an den Rhythmen eigenthümlich gewesen sey."
Da weiß Apel zu wenig! Denn der Übergang zum Taktrhythmus hat Epoche gemacht; der Takt, wie wir ihn kennen, ist als etwas neues, zuvor noch unerhörtes aufgetreten; und als er auftritt, hat er radikal alles von den alten Rhythmusverhältnissen unter seine Gewalt gezwungen, nichts mehr von ihnen übrig gelassen, nichts von dem, was unter ihnen Rhythmus konstituierte, auch nur als zusätzliche Möglichkeit geduldet. Wenn folglich jemals eine Veränderung im Rhythmus wahrlich Epoche gemacht hat, dann war es diese. Trotzdem weiß Apel nichts von ihr. Das ist erst einmal erstaunlich, wird sich aber noch als bedeutsam erweisen.
Die Musik ist es tatsächlich, der sich zwingend und zuverlässig entnehmen läßt, daß es erst mit Beginn der Neuzeit in unserem Sinn nach Takten zu gehen beginnt. Die überlieferten Zeugnisse geben von diesem Übergang genaue Auskunft. Im letzten Drittel des 16.Jahrhunderts setzt es damit ein, daß in gesungenen Partien Akzente, welche die Sprache trägt, an bestimmte Stellen des musikalischen Verlaufs gebunden werden - der bis dahin gegen die Lage solcher Akzente
gleichgültig war. Dann überzieht diese Akzentbindung alsbald den gesamten Verlauf, und zwar so, daß jeder Takt den es bis dahin nur als eine Einheit rein zeitlich zueinander in Proportion gesetzter Töne gab mit der Betonung beginnt und daß ihn der Wechsel betonter und unbetonter Elemente ausfüllt und ausmacht. Zugleich werden diese Elemente damit zu den einander zeitlich gleichen, gleichgesetzten Elementen, und die Takte zu etwas, was kein alter tactus jemals gewesen war.
1618 ist das Jahr, in dem diese neuen rhythmischen Verhältnisse zum erstenmal durch einen Zeitgenossen beschrieben werden. Kein Geringerer als RenĂ Descartes behandelt in seinem Compendium musicae unter anderem auch den Rhythmus, und was er dort als Rhythmus beschreibt, das eben ist zum erstenmal Taktrhythmus. Descartes beschreibt genau erstens die Elemente gleicher Dauer und zweitens deren Wechsel nach hervorgehoben gegenüber nichthervorgehoben. Und er beschreibt nicht nur dies, sondern der gründliche Denker auch hier er beschreibt bereits vollständig, was rhythmisch mit diesem zweiwertigen Betonungswechsel noch außerdem zusammenhängt, diese weiteren wichtigen Bestimmungen des Taktrhythmus: den Aufbau der Taktfolge aus Gruppen nur entweder aus zwei oder aber aus drei Elementen, Gruppen aus einem betonten Element und entweder einem oder aber zwei unbetonten; zweitens, daß die Noten grundsätzlich durch zwei oder eingeschränkt sonst nur durch drei geteilt werden, die ganze Note normalerweise also in Halbe, Viertel, Achtel, Sechzehntel, Zweiunddreißigstel und so fort; und schließlich daß die musikalischen Perioden sich entsprechend an eine nach der Zwei oder aber eingeschränkt nach der Drei potenzierte Anzahl von Takten halten, also wiederum Einheiten von zwei, vier, acht, sechzehn und gar zweiunddreißig Takten bilden
Wir würden wohl schwören, diese bestimmende Zweiwertigkeit gehöre zur Natur von Rhythmus überhaupt; sie sei nun einmal das Einfachste, gehe so selbstverständlich ins Ohr, und wenn man es nicht eigens komplizieren und künstlich anders festlegen wolle, käme als Grundlage von Rhythmus doch gar nichts anderes in Frage. Ja, für uns. Und doch ist diese Zweiwertigkeit damals neu und ist sie allem, was jemals vorher Rhythmus war, vollständig fremd - diese Zweiwertigkeit und mit ihr zugleich alles übrige von dem, was Descartes dort vom Rhythmus beschreibt. Afrikanische Trommeln etwa, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, schlugen ganz natürlich, und solange sie noch nicht in den Taktrhythmus eingespannt wurden, nach Gruppen aus sieben oder aus fünfzehn Teilen - Gruppen, vor denen unser Ohr nur kapitulieren kann. Alles und genau das also, was uns rhythmisch natürlich ist, ist nicht etwa ewig-natürlicher Rhythmus, sondern damals historisch erst aufgekommen: als das taktrhythmische Hören.
Denn noch etwas Wichtiges gehört zum Taktrhythmus, und auch das hat schon Descartes erkannt: daß diese Art von Rhythmus und von rhythmischem Aufbau eines Musikstücks nicht einfach als solche objektiv in der Musik liegt, wie immer diese objektiv aufgebaut sein mag, sondern daß sie auf einer Leistung unserer imaginatio beruhen muß, auf einer bestimmten subjektiven, aktiv zu erbringenden, aber unwillkürlichen Wahrnehmungsleistung. Und das ist zugleich der Grund, weshalb noch ein Johann August Apel nirgends "in der Geschichte der Musik
einen Zeitpunkt" hat finden können, "wo aus taktlosen Rhythmen ein Uebergang zu dem gleichmässigen Takt statt gefunden" hat.
2.3 Die Unwillkürlichkeit des Übergangs
Denn dieser Übergang geht damals unmerklich vor sich. Er läßt sich an den überlieferten Kompositionen und musiktheoretischen +aüs+erungen nachträglich genau verfolgen, doch als er sich vollzieht, weiß niemand von ihm. Und daß niemand von ihm weiß, dabei ist es dann sehr lange geblieben.
Wie ist das möglich? Heißt das rhythmisch Epoche machen, wenn es keiner merkt? Kann sich Rhythmus so grundsätzlich verändern, ohne daß den Musikern die Ohren davon dröhnen? Nun, die Musiker merken es sehr wohl, aber nur in kleinen Veränderungen, die ihnen das Neue abverlangt, Beachtung der sprachlichen Akzente etwa. Sie merken es nicht, indem sie darin das zusammenhängend und grundsätzlich Neue erkennen. Und von dem radikal Neuen dröhnen ihnen deshalb nicht die Ohren, weil sie es bereits im Ohr haben, als sie die Musik danach verändern und danach verändert hören. Das scheint ein plumpes Hysteron proteron zu sein und ist doch keines; aber ist entscheidend.
Der Übergang zum Taktrhythmus vollzieht sich unwillkürlich, er ist keine "Erfindung", wie sich Apel das Auftreten des Takts allein hätte vorstellen wollen. Der Taktrhythmus wird nicht eingeführt, gelehrt, entdeckt, er verdankt sich keiner Reform, entspringt keinem Diskurs, ist nicht die Leistung einer bestimmten Schule, und trotzdem setzt er sich durch, in allen Sparten der Musik, von der Tanzmusik angefangen in der gesamten weltlichen, in der geistlichen Musik, von Italien bis England. Auf diese stillschweigende Weise aber, ungewollt und unwillkürlich, kann er sich nur deswegen durchsetzen, weil er auf einer unwillkürlichen Wahrnehmungsleistung beruht. Nur weil er deren Folge ist, kann sich sein Auftreten in einem solchen stillschweigenden, jahrhundertelang unentdeckten und unreflektierten Übergang vollziehen. Sein Auftreten vollzieht sich ebenso unwillkürlich, wie jene Wahrnehmungsleistung unwillkürlich ist, und nur deshalb kann so lange unentdeckt und unreflektiert bleiben, daß damit ein radikal neuer Rhythmus auftritt, wie sehr grundsätzlich sich damit Rhythmus verändert hat und wie wenig bis dahin Rhythmus dieser Rhythmus war. Deshalb konnte noch Apel nichts davon vermerkt finden: Die Musikgeschichte hat es tatsächlich lange nicht vermerkt. Reflektiert als das Neue, das er ist, wurde der Taktrhythmus zum erstenmal in Georg Schünemanns "Geschichte des Dirigierens" aus dem Jahre 1913.
Doch was ist es dann mit Descartes? Descartes ist der erste, der den Taktrhythmus beschreibt. Aber schon er beschreibt ihn, nicht als wäre dieser Rhythmus etwas neues, etwas, das gerade erst aufgekommen ist, sondern als wäre Rhythmus immer und grundsätzlich dieser und könnte gar kein anderer sein. Descartes beschreibt als erster den Taktrhythmus und kennt schon keinen anderen mehr; gerade erst ist der neuzeitliche Takt neu aufgekommen, und schon gilt er, schon wird er empfunden als der ewig-eine. Schon gibt es den älteren Rhythmus nicht mehr, und schon ist es
dem, der nach dem Taktrhythmus hört, als hätte es nie einen anderen gegeben. Kaum entstanden, ist der Taktrhythmus da, als wäre immer nur er gewesen: nicht neu, sondern "von Anfang an". Deshalb weiß man so lange nichts von seinem Anfang.
Der junge Descartes leitet ihn schon nahezu more geometrico her, aus einigen "Praenotanda", die er aufstellt, so recht als wären sie in der Natur gegründete Prinzipien. Aus dem vierten etwa: "Derjenige Gegenstand wird am leichtesten wahrgenommen, in dem der Unterschied der Teile am geringsten ist", leitet Descartes umstandslos ab, daß Rhythmus aus gleichen Zeiteinheiten bestehen müsse, und dann weiter, daß diese Zeiteinheiten nach der Zwei oder aber allenfalls nach der Drei zu teilen und zu verbinden seien, "und nicht darüber hinaus": Eigenart des Taktrhythmus und ausschließlich des Taktrhythmus. Descartes' Begründung dafür, daß es so sein müsse, lautet einfach und zwingend: weil die Einheiten so am leichtesten vom Gehör erfaßt werden. Das trifft für sein Gehör zu und trifft für unser Gehör zu; aber es hatte vorher nicht zugetroffen.
Dann muß bei ihm noch die Betonung jeweils einer der zur Gruppe verbundenen Zeiteinheiten folgen, der Wechsel von betont und unbetont, und für dessen Notwendigkeit fällt Descartes schon ganz dieselbe transzendentale Begründung ein wie zwei Jahrhunderte später Gottfried Hermann: Ohne solche Betonung wäre die Einteilung in Gruppen und Einheiten ja gar nicht recht wahrzunehmen, oder nur wenigen jedenfalls würde es gelingen. Aber vor allem: So betone man eben ganz natürlich - "naturaliter", "naturaliter", es kann nicht anders sein. So ewig natürlich, wie uns ein Donnerschlag durch und durch gehe, würden wir eben auch von dem betont/unbetont der Takte berührt, und diese Natürlichkeit bewiese sich noch daran, "daß sogar die wilden Tiere zum Takt tanzen, wenn sie es gelehrt werden und sich daran gewöhnen, weil dazu nur ein natürlicher Trieb nötig ist". Eine wilde Behauptung, denn noch der am besten abgerichtete Tanzbär tanzt nicht nach Takten, und nicht einmal du, guter Kuckuck, wo es bei deinem Ruf doch so natürlich nahe läge, hältst den Takt fein innen, selbst wenn es das schöne Lied aus des Knaben Wunderhorn der Fabel wegen behaupten muß. Immerhin: Anders als bei Canetti, wo die Menschen den Taktrhythmus von den Tieren lernen sollen, lernen ihn bei Descartes die Tiere von den Menschen. Schon Descartes also beruft sich, wenn er Rhythmus als Taktrhythmus beschreibt, auf bestehende Natur und nicht etwa auf eine Veränderung, die da im Rhythmus statthabe und die er zu begründen oder für gut zu heißen hätte, damit sie sich gegen einen anderen, älteren Stand des Rhythmus durchsetze. Nein, diesen älteren Stand gibt es für Descartes überhaupt nicht, man kann nicht einmal sagen: Es gibt ihn für Descartes nicht mehr. Descartes weiß nur noch, wie er selbst und seine Zeitgenossen natürlich hören, und darin ist vom alten Zustand nichts mehr vorhanden. Der ist schon in diesem frühen Moment seiner Ablösung geschichtlich vollständig untergegangen, und übergeschichtlich hat sich das Neue an seine Stelle gesetzt.
2.4 Der neue Reflex
Und nun endlich, was ist dieses Neue? Was durch Descartes seine geschichtlich erste Beschreibung erfährt und was nicht sehr viel eher geschichtlich überhaupt erst aufkommt, ist inzwischen durch psychologische Experimente untersucht und in diesen Experimenten belegt worden als die Wirksamkeit eines außerordentlich starken Reflexes - als der Reflex unserer, der neuzeitlichen Rhythmuswahrnehmung.
Zum einen wurde nachgewiesen, daß wir Zeiteinheiten unwillkürlich entweder als gleich lang wahrnehmen oder, wenn sie stärker voneinander differieren, nach dem Verhältnis von 2: 1 oder 3: 1; und dies auch dann, wenn die Töne, deren Dauer wir nach diesen Verhältnissen wahrnehmen, objektiv meßbar durchaus andere Verhältnisse aufweisen. Das heißt, wir nehmen zeitliche Einheiten so wahr, als ob sie gleich lang wären oder als ob sie in zweifachem oder dreifachem Verhältnis zueinander stünden, auch wenn ihre Dauer dem objektiv nicht entspricht. Unsere Wahrnehmung leistet aktiv, zwingend und unwillkürlich die Rationalisierung der Dauer wahrgenommener Töne auf ein Maß, das sie, unsere Wahrnehmung, nicht etwa sich bloß gefallen läßt, sondern das sie bestimmend vorgibt und eben herstellt; auf das sie die Töne bringt, indem wir diese wahrnehmen, und das sie insofern nicht bloß den Tönen vorgibt, sondern in einem bedeutenderen Sinne uns selbst. Denn uns, die wir die Töne wahrnehmen, scheinen sie gleich lang zu sein oder doppelt oder dreifach so lang der eine wie der andere. Es ist unsere Wahrnehmung, die diesen Schein herstellt, unsere Wahrnehmung ist dieser Schein, dem wir, auf sie angewiesen und trivialerweise nun einmal nicht anders in der Lage wahrzunehmen als mittels unserer Wahrnehmung, unterliegen, ob wir es beabsichtigen oder nicht. Andere, kompliziertere zeitliche Verhältnisse können wir mit Mühe und durch Schulung wohl lernen zu unterscheiden, und wenn die Dauer von Tönen zu weit entfernt ist von jenen Verhältnissen, die wir vornehmlich auffassen, dann entgeht uns das schließlich auch nicht. Aber ins Ohr, natürlich und einfach, gehen uns nur diese Verhältnisse zeitlicher Einheiten - das heißt: stellen wir nur diese Verhältnisse her.
Zum anderen: der Wechsel von betont und unbetont. Dieser Betonungswechsel tritt zu unserer normierenden Zeitwahrnehmung nicht etwa nur hinzu, er ist nicht ein zweites Phänomen zusätzlich zu ihr, sondern gerade aus ihm wird sich erklären lassen, wie es zu unserer Festlegung der Zeiteinheiten kommt. Experimente, die auf diese Wirkung unseres Rhythmusreflexes gestoßen sind, arbeiten zum Beispiel mit einer Folge identischer Töne, die in gleichem zeitlichen Abstand voneinander erklingen. An einer solchen Tonfolge läßt sich jeweils feststellen, daß derjenige, der sie wahrnimmt, die Einzeltöne mitsamt der Zeiteinheit von einem Ton zum nächsten regelmäßig zu Gruppen aus je zweien zusammenfaßt und daß er diese Gruppierung daran empfindet, daß er den einen Ton als hervorgehoben gegenüber dem anderen wahrnimmt. Wir hören also die Töne unwillkürlich abwechselnd als betont und unbetont, obwohl, physikalisch gemessen, einer genauso klingt wie der andere. Den Unterschied, den Wechsel von betont und unbetont entnehmen wir nicht dem Klang, sondern legen ihn aktiv in den Klang hinein - unwillkürlich, und beinahe ohne diesem
Reflex unserer Wahrnehmung steuern zu können. Das heißt, wir nehmen die Klangeinheiten so wahr, als ob sie abwechselnd betont und unbetont wären. Unsere Wahrnehmung leistet aktiv, zwingend und unwillkürlich die Verbindung der Klangeinheiten zu Gruppen, die sie bestimmend vorgibt und eben herstellt, indem sie je zwei Klangeinheiten in ihrer Verbindung gegeneinander unterscheidet.
Sobald man es beschreibt, klingt es komplizierter, technischer und vor allem bewußter, als es in unserer Wahrnehmung ist. Für uns macht sich das alles 'von selbst'. Gesetzt, wir hören eine solche Folge von gleichmäßigen tocks, so legen wir unwillkürlich die Gruppierung eines Tick-Tack darauf; das heißt, wir hören sie als Tick-Tack Tick-Tack, wir hören sie unterschieden nach einem gewissen Hin und Her, obwohl kein Tock von diesem etwas hat. So hören wir das Tropfen eines Wasserhahns, so das jeweils identische Ticken eines Weckers, so das Schlagen unseres Herzens: hin-her, eins-zwei, auf-ab. Und indem wir es so hören, empfinden wir es als rhythmisch. Indem wir es aktiv in unserer Wahrnehmung so bestimmen, es so prägen, es spezifisch so verändern, nämlich verändert wahrnehmen gegenüber dem, wie es objektiv erklingt, wird es uns rhythmisch: machen wir es uns rhythmisch.
Und so bestimmend ist dieses Wirken unserer Rhythmuswahrnehmung, daß sich jemand gar gedrängt sieht, das Tock-Tock-Tock zum Ursprung von Rhythmus zu erklären. Aber Rhythmus entspringt keinem Klopfen, entspringt nicht dem, was für sich genommen eben gar nicht rhythmisch ist.
2.5 Die drei Momente des Taktrhythmus
Die Wirkungsweise unseres Rhythmusreflexes ist, aufs kürzeste gesagt, diese: Er setzt je zwei Klangelemente in das Hervorhebungsverhältnis. Und damit, so einfach und so abstrakt, konstituiert er vollständig das, was für uns Rhythmus ist, den Taktrhythmus.
Daß es wirklich dieser Reflex ist, das geben die Experimente des weiteren klar zu erkennen. In ihnen erweist sich als Wirkung unseres Wahrnehmungsreflexes nicht bloß das betont/unbetont, das wir unwillkürlich in eine Klangfolge einprägen und das so charakteristisch ist für den Taktrhythmus, sondern genau auch, was weiter dem Taktrhythmus spezifisch zugehört.
Das ist zum einen, daß wir, außer die Klangelemente je zu zweien zu verbinden, unwillkürlich nur noch diese weitere Möglichkeit haben, Gruppen aus dreien zu bilden, aus einem betonten und zwei unbetonten. Dem entspricht die Gebundenheit des Taktrhythmus an entweder gerades oder ungerades Taktgeschlecht, daß also die Elementargruppe eines Taktes entweder die Zweier-Gruppe aus betont und unbetont ist oder die Dreier-Gruppe aus betont und zweimal unbetont. Alle anderen Gruppenbildungen, etwa aus fünf oder aus sieben Elementen, kann ein Komponist selbstverständlich vorschreiben, ein Musiker kann sie spielen und wir können sie hören, aber sie wollen uns nicht 'ins Ohr gehen', das heißt wir verbinden Töne nicht unwillkürlich aktiv zu
solcherlei Gruppen, wie wir es reflexhaft mit der Zweier- und sonst nur noch mit der Dreier-Gruppe tun.
Zum anderen: Wir nehmen diese zweigliedrige und eingeschränkt die dreigliedrige Gruppenbildung nicht nur an den einzelnen Klangelementen vor, sondern potenzierend auch an den Gruppen aus diesen Elementen. Eine Folge aus vier im Experiment wiederum identischen Tönen hören wir deshalb nicht bloß als die Folge 1 2 34, sondern außerdem noch die Gruppe 1-2 hervorgehoben gegenüber der Gruppe 3 4, also: 12 3 4. Im Taktrhythmus ist das die bekannte Unterscheidung etwa der Taktschläge eines Viervierteltaktes in genau diesem Sinn, eine Unterscheidung, die nicht etwa verlangt, daß irgendeine der Viertel anders gespielt würde als die andern, sondern die sich in unserem Hören der Taktteile unwillkürlich erstellt. Und dieses potenzierte Einwirken des Hervorhebungsverhältnisses ist nicht etwa beschränkt auf die einmalige Potenzierung, sondern wirkt noch weiter, in der Musik wie in den stureren Experimenten: indem wir noch etwa die Gruppe aus 1 bis 4 entsprechend auf die nachfolgende Gruppe aus 5 bis 8 beziehen und die Gruppe aus 1 bis 8 wiederum auf die entsprechende nächste und so fort. Das ergibt die Periodenbildung nach vor allem den Zweier-Potenzen.
Mit diesen drei Bestimmungen: der Gruppierung der Elemente nach betont/unbetont, der Möglichkeit nur von Zweier- oder der Dreier-Gruppe und der Potenzierung dieser Gruppenbildung ist das Prinzip des Taktrhythmus genau und vollständig beschrieben; und eben diese Bestimmungen haben sich in den verschiedenen Experimenten als diejenigen erwiesen, die wir bei der Wahrnehmung einer Tonfolge sofern diese es zuläßt reflexhaft in sie hineinlegen, auch wenn sie objektiv nichts von diesen Bestimmungen aufweist. Alle und genau diese Bestimmungen des Taktrhythmus sind bewirkt durch einen Reflex unserer Wahrnehmung. Und damit ist der Taktrhythmus insgesamt Wirkung dieses Reflexes, er wird durch diesen Reflex konstituiert.
2.6 Hervorhebungstechnik und Sprachklang
Die einfache Zweier-Gruppe aus betont/unbetont und die Potenzierung dieser Gruppenbildung erklärt sich auf Anhieb mit der Feststellung, daß dieser Reflex je zwei Klangelemente in das Hervorhebungsverhältnis setzt. Aber wie ergibt sich daraus unsere Art der Wahrnehmung von Zeiteinheiten?
Daß unser Reflex je zwei Klangelemente in das Hervorhebungsverhältnis setzt, heißt nicht nur, daß er sie nach hervorgehoben gegen nicht-hervorgehoben unterscheidet, sondern daß er sie eben dadurch verbindet, aufeinander bezieht, sie überhaupt als Elemente zueinander in Entsprechung setzt. Seine potenzierte Einwirkung zeigt, daß ihm dabei nicht etwa durch das, was erklingt und worauf er einwirkt, schon vorgegeben ist, was für ihn ein Element zu sein hat. Er reagiert ja nicht bloß auf Einzeltöne, die ihm als die einzelnen Töne deshalb die einzig möglichen Elemente wären, sondern er faßt sie zu Gruppen zusammen und bezieht auch diese Gruppen von Tönen wiederum als Elemente aufeinander. Außerdem nimmt er nicht allein die Töne, die tatsächlich erklingen, zu
seinen Elementen, sondern nimmt den tonlosen Zeitabstand von einem Ton zum nächsten, sofern es einen solchen Abstand gibt, ebenso dazu. Unser Rhythmusreflex ist in seiner Bestimmung der Elemente auch nicht durch bestimmte klangliche Eigenschaften der Töne gebunden, er bezieht ja nicht etwa bloß die Töne von gleicher Tonhöhe aufeinander oder nur solche, die in einem bestimmten Verhältnis der Dauer zueinander stehen. In der Bestimmung, was er zum Element nimmt, zeigt er sich vielmehr gleichgültig gegen den klanglichen Inhalt; das eben meint, daß er leere Einheiten aufeinander bezieht. Diese Einheiten macht er zwar fest an dem, was erklingt, aber zu Elementen bestimmt er sie inhaltsleer, und das heißt: als bloße Zeiteinheiten. Er setzt somit Zeiteinheiten zueinander in Entsprechung, und das bedeutet, wir nehmen Zeiteinheiten, solange sie nicht zu sehr voneinander differieren, als einander entsprechend, als gleich wahr - die ZeitEinheiten folglich als gleich lang. Da unser Reflex aber diese gleichgesetzten Einheiten nach einem zweiwertigen Verhältnis als Elemente zu Gruppen verbindet oder sie umgekehrt als Gruppen von Elementen auffaßt, ergibt sich daraus weiter die Verbindung und die Teilung der Zeiteinheiten zu Gruppen aus zwei - oder aber aus drei.
Wie sich nun die Dreier-Gruppe aus dem zweiwertigen Verhältnis von hervorgehoben gegen nicht-hervorgehoben ergibt und als die einzige Gruppe außer der Zweier-Gruppe ergeben kann, das spare ich hier aus. Wichtiger ist etwas anderes: Die Wirkung unseres Rhythmusreflexes hat nicht etwa dort ihr Ende, wo die Töne nicht mehr identisch einer wie der andere klingen. Damit er sie unterscheidet nach hervorgehoben gegen nicht-hervorgehoben, können die Töne sehr wohl vollständig ununterscheidbar gleich klingen; aber sie müssen es nicht. Sie können in der Musik bekanntlich auf unbeschreiblich vielfältige Weise unterschieden sein, und wir reagieren doch rhythmisch auf sie, indem wir sie nach Takten hören. Und auf bestimmte Unterschiede, die er an den Tönen wahrnimmt und also gleichsam in ihnen vorfindet, reagiert unser Reflex dabei spezifisch - und er reagiert mit der Wahl, die ihm seine Wirkungsweise als einzige läßt: nämlich wie er sein Hervorhebungsverhältnis auf die Töne verteilt. Experimente haben etwa vorgeführt, daß wir von abwechselnd aufeinanderfolgenden langen und kurzen Tönen jeweils die langen als die hervorgehobenen empfinden und die kurzen als die nicht-hervorgehobenen; von abwechselnd lauter und leiser erklingenden Tönen empfinden wir - was Wunder - die lauteren als hervorgehoben; und ähnlich weiter. Unser Rhythmusreflex heftet also, wenn er das Hervorhebungsverhältnis auf die Elemente legt, die Bestimmungen dieses seines Verhältnisses, "hervorgehoben" und "nichthervorgehoben", an Verhältnisbestimmungen, die wir den Tönen entnehmen und die dem Hervorhebungsverhältnis durch ihre Zweiwertigkeit entsprechen. Die Bestimmung durch unseren Reflex als "hervorgehoben" verbindet sich in einem solchen Fall mit der objektiven Bestimmung des Tons, lauter oder länger zu sein als der benachbarte. Sie bindet sich an diese, das heißt zum einen, sie verschmilzt in unserer Wahrnehmung mit dieser objektiven Klangbestimmung, und es heißt zum anderen, sie ist dadurch eben an bestimmte Elemente gebunden.
Das Zusammenspiel von den Hervorhebungsbestimmungen, die unser Reflex in den wahrgenommenen Klang einwirkt, und den Verhältnisbestimmungen, die auf objektiven Unterschieden der Klangelemente beruhen, ist so nur in seinen gröbsten Zügen beschrieben. Auf welche feinen Unterschiede unser Rhythmusreflex dabei im Klang reagiert und wie fein er dabei das durchwirkt, was wir durch ihn bestimmt wahrnehmen, das hört man, und ohne daß ich es weiter beschreiben muß, am besten dort, wo er auf den Klang der Sprache trifft: in den Gedichten nach betont und unbetont. Man experimentiere sogleich einmal selbst:
Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald, Ich hört die Vöglein singen, Sie sangen so jung, sie sangen so alt, Die kleinen Waldvögelein in dem Wald, Wie gern hört ich sie singen.
2.7 Kritik der Metrik
Unsere Rhythmuswahrnehmung bewirkt auch an Sprache, daß sie uns so rhythmisch wird: nach dem Wechsel von betont und unbetont. Was weiß davon eine Wissenschaft, die den Rhythmus nach betont/unbetont zu allen Zeiten gegeben glaubt? Nichts. Und sie will auch nichts davon wissen. Was deshalb in diesen Dingen Stand der Forschung ist, läßt sich schön sehen, wenn es in einem beliebig gewählten Grundlagenbuch dazu heißt: "Prinzipiell besteht ein Unterschied zwischen antiker, romanischer und germanisch-deutscher Metrik: Die antike Metrik rechnet mit langen und kurzen Silben - sie mißt quantitativ die Tondauer. Die romanische Metrik zählt die Silben, oft ohne Rücksicht auf den Wortton. Die germanisch-deutsche akzentuiert dagegen - sie wägt betonte und unbetonte Silben nach Tonhöhe (musikalischer Akzent) und nach Tonstärke (dynamischer Akzent)." Also wie bekannt: Daß es nach Akzenten, nach betont/unbetont gehe, soll da schon einmal zum germanisch-deutschen Wesen jener Metrik gehören und entsprechend durch alle Zeiten hindurch gelten und gegolten haben. Und womit soll es in Versen solcher Metrik rhythmisch werden? "Mit Hebungen und Senkungen nach dem Wortakzent (z.B. gademus gitr ivens dum sィmus)." So die heute bestehende Lehre, die vermutlich jeder kennt und niemand Anlaß sieht in Frage zu ziehen. Und doch müßte sogleich auffallen, daß da etwas nicht stimmen kann. Der Grundlagenforscher spricht vom Wortakzent, der Hebungen und Senkungen ergebe, und bemerkt gar nicht, daß er durchaus mehr Akzente notiert als nur die der Wörter: gaudemus, so wird das Wort betont, gademus hat er ergänzt; gitur sagt ihm die Sprache, gitr fügt er hinzu; ivenes, so der Wortakzent, ivens, so wird es rhythmisch.
Woher kommen diese zusätzlichen, diese unmißverständlichen Nicht-Wortakzente? Wie wird die Sprache, der sie nicht zugehören, durch sie rhythmisch, nämlich zu Versen, "die rhythmisch gebaut sind"? Mit dem Wissen von der Wirkungsweise unseres Rhythmusreflexes fällt die Antwort nicht schwer: Diejenigen Klangelemente der Sprache, die Silben, die in ihrem Klang nicht durch
Betonung unterschieden sind von ihren benachbarten, unterscheidet unser Reflex, indem er von zweien jeweils eine mittels Akzent hervorhebt; das sind die Akzente, die bei unserer rhythmischen, einer Vers-Wahrnehmung von Sprache zusätzlich zu den sprachlich gegebenen auftreten. Und an solche Silben, die bereits sprachlich, etwa durch Wortakzent, gegenüber ihren benachbarten hervorgehoben sind, bindet unser Reflex dabei "seine" Akzente; dort verschmilzt dann die Hervorhebungsbestimmung unseres Reflexes mit derjenigen des Wortakzents. Und indem auf diese Weise unser Rhythmusreflex auf die Sprache als eine Folge von Klangelementen einwirkt, wird sie uns rhythmisch.
So treten in unserer unwillkürlichen Wahrnehmung zu den sprachlich gegebenen Akzenten die reflexhaft eingewirkten Akzente zum einen hinzu und fallen diese zum anderen mit jenen zusammen. Rhythmisch nehmen wir die Sprache nun auf diese Weise akzentuiert wahr: statt nur die sprachlichen Betonungen, gaudemus gitur, hören wir alternierend gademus gitr. Weil wir jedoch auch alle diese Akzente, auch die durch unseren Reflex ergänzten, an der Sprache wahrnehmen, nehmen wir sie so wahr, als ob sie auch alle schon in der Sprache lägen, als ob sie durch die Sprache vorgegeben, kurz: als ob sie alle Wortakzente wären. Sie sind es nicht, aber so nehmen wir sie wahr, glauben deshalb, sie wären es, und solange man nicht auf die Wirksamkeit unserer Rhythmuswahrnehmung reflektiert, muß man es auch glauben - ein reflexhafter Irrtum. Und der regiert, wie man sieht, den Stand der Wissenschaft.
Er besteht, wenn man es einmal allgemein benennt, darin: Bestimmungen, die das wahrnehmende Subjekt in das wahrgenommene Objekt hineinlegt, für Bestimmungen zu halten, die dem Objekt als solchem zugehören. An einem Beispiel aus dem Bereich des Sehens reflektiert: Es ist, als wollte man bei einer optischen Täuschung, bei der wir gerade Linien gekrümmt sehen, erklären, die Linien müßten auch objektiv gekrümmt sein. So macht es die Metrik: alle Akzente, die wir an solchen Versen als deren Versmaß wahrnehmen, behauptet sie, lägen auf irgendeine Weise schon in der Sprache gegeben vor - als hätte dieselbe Wissenschaft nicht unablässig das Gegenteil festzustellen; als machte sie sich nicht geradezu eine Ehre daraus, immer weiter danach zu fahnden, wie denn diese unerklärlichen Akzente nun in der Sprache geborgen wären, eben weil sie sich dort einfach nicht finden lassen wollen; und als gäbe es nicht schon über ein Jahrhundert lang die Erkenntnis, daß wir durch unseren Rhythmusreflex Akzente in Klangelemente hineinlegen, die nicht schon im Klang selber liegen. Nein, Linguistik und Literaturwissenschaft beharren darauf: Eine Linie, die wir gekrümmt sehen, muß auch wirklich gekrümmt sein, mag das Lineal dagegen beweisen, was immer es will.
Ein erschütterndes Maß unmündiger Reflexion. Und sie hat sich an den Versen weidlich ausgetobt. Jeder, zu dessen Schulzeit noch Gedichte behandelt und vielleicht gar laut vorgetragen wurden, wird sich an den Zwang erinnern, einen Vers auf die Abfolge von betont und unbetont zu bringen, also sein Versmaß festzustellen. Was beim Vortrag als der leichte Beiklang eines Auf und Ab zu vernehmen war, mußte nun als Betonung oder Nicht-Betonung den Silben direkt
zugeschrieben werden, ein zartes "wandelnden" wurde zu einem schwerfüßigen "wan-deln-den", man wußte nicht, warum; was machte diese leichteste aller Schlußsilben plötzlich so schwer? Dann hieß es verwunderlicherweise: weil das Versmaß es so verlangte. Aber waren wir denn nicht gerade dabei, umgekehrt das Versmaß festzustellen nach dem, was die Silben verlangten? Nun sollten wir also das Versmaß schon vorher kennen und die Silbenfolge nach ihm bestimmen? Und dann so lesen! Das Versmaß sollte deutlich werden, also mußte man die Silben nach den Erfordernissen des Versmaßes, folglich schön streng abwechselnd oder allenfalls einmal daktylisch hüpfend, beschweren, und wenn man dann die pflichtgemäßen Betonungen auf die Silben donnerte, war es auch falsch, weil man doch keinesfalls leiernd lesen durfte, - also weg mit den Betonungen, oder nur ein klein bißchen von ihnen?
Alles war irgendwie unklar, unverständlich, vorgeschrieben, nicht richtig Sprachklang, nicht richtig Rhythmus, schwerfällig, unerfreulich, eine Rechnerei - und das nun sollte Sprache sein in ihrer schönsten Gestalt! Ach, und all diese Freudlosigkeit nur, weil jenes Abwechseln von betont und unbetont ganz in der Sprache selbst liegen sollte und dafür unüberhörbar auch in die Sprache hineingelegt werden mußte: durch Skandieren. Weil die Sprache alle die rhythmisch abwechselnden Betonungen schon in sich tragen sollte und deshalb nicht frei für sich klingen durfte; weil nicht erkannt war, daß die Sprache nur etwas gleichmäßiger verweilend zu erklingen hat als sonst, auf daß sie in unserer Wahrnehmung unwillkürlich den Wechsel von schwer und leicht erhalte. Nur darin besteht die Kunst: Sprache so zu sprechen, daß unser Rhythmusreflex Anhalt an ihr finde; nicht aber so, daß dessen rhythmische Wirkung als Betonungen direkt schon in den Klang gelegt wird.
Was die Metrik dazu an Erklärungen bietet - was kann das sein? Sie stellt zwar unschwer fest, daß die Akzente, die wir schön rhythmisch in den Versen als deren Versmaß wahrnehmen, keineswegs alle Wortakzente sind oder Wortgruppenakzente oder sonst irgendwelche sprachlichen Akzente; sie stellt sogar fest, daß die rhythmisch verteilten Akzente von den sprachlichen abweichen können, daß also eine sprachlich betonte Silbe dem Versmaß nach unbetont ist oder umgekehrt eine sprachlich unbetonte dem Versmaß nach betont. Die sprachlichen und die rhythmischen Akzente können also nicht grundsätzlich dieselben sein, die rhythmischen nicht gleich den sprachlichen, sonst wäre ein solches Abweichen gar nicht möglich. Aber die Metrik fragt nicht etwa, wie es folglich möglich ist wenn sie es fragte, geriete sie unweigerlich auf die Erkenntnis, daß da unser Rhythmusreflex einwirkt, und das darf offenbar nicht sein , sondern sie stellt nur umständlich fest, daß die Abweichung sein darf. Was nach einer Erklärung schreit, dem gibt sie lediglich Erlaubnis, zu sein. Das reicht dann von dem milden Tadel, ein solches Abweichen der rhythmischen Akzente von den sprachlichen sei eben eine Lizenz, bis zu dem, was ein anderer daherspintisiert, einem "sozusagen zwischen Dichter und Rezipienten vereinbarten Rahmen", an den sich dieses Abweichen halten müsse, um was? Um erlaubt zu sein! Von einer solchen Rahmenvereinbarung hat zwar seit Menschengedenken kein Dichter und kein Rezipient je
irgendetwas gehört, aber was konstruiert ein Linguist nicht alles zusammen, um nur diese wichtigste Frage zu vermeiden: wie wir in Versen zweierlei Art von Betonungen zugleich wahrnehmen können.
Denn die Antwort darauf ist eindeutig: Das kann nur sein, indem wir in die Sprache mit ihren Betonungen, wenn wir sie rhythmisch wahrnehmen, unwillkürlich noch selbst, mittels unserer Wahrnehmung, jene reflexhaft subjektiv bestimmte Akzentfolge legen. Von den akzentrhythmischen Experimenten und ihren Ergebnissen weiß die Linguistik, aber von jener Akzentfolge, die darin bewiesen ist, will sie nichts wissen. Denn nicht genug damit, daß sie nichts glaubt erklären zu müssen, wenn sie gerade für krumm und Akzente, die von sprachlichen abweichen, dennoch für sprachliche Akzente erklärt. Sie schwingt sich auf, die Erklärung mit unserem Rhythmusreflex zu widerlegen, sie hält einen Blödsinn wie ihre gerahmte Lizenzvereinbarung für ein Argument dagegen, daß ein solcher Reflex überhaupt existiere. Auf die optische Täuschung übertragen: Die Linie, die wir gekrümmt sehen, wäre auch wirklich gekrümmt, so die Wissenschaft, dürfe aber außerdem noch so gerade sein, wie sie es wirklich ist, und weil sie es sein dürfe, liege in diesem Fall keine optische Täuschung vor. Man wird schließlich verstehen, weshalb ich sagte, daß dieser Reflex der Erkenntnis offenbar eine besonders hohe Schranke setzt.
3 Die Radikalität des Neuen
Und zuletzt wird auch zu verstehen sein, weshalb niemand gern an diese Schranke rührt. Dafür gilt es zunächst noch einmal die Verbindung zwischen der Musikgeschichte und der Geschichte unseres Rhythmusreflexes herzustellen. Wenn in den Gesellschaften des mittleren und westlichen Europa erst gegen Ende des 16.Jahrhunderts Musik überhaupt beginnt, sich nach Takten einzurichten, dann kann auch dieser Reflex erst damals wirksam geworden sein. Denn daß es ihn gibt, daß jemand nach ihm wahrnimmt, daß er Reflex ist und als Reflex wirksam ist, heißt nun einmal ganz einfach, daß er auch wirkt. Und daß er wirkt, beweist sich unter anderem eben daran, daß die Musik, also dasjenige klangliche Material, worüber die Menschen, die sie hervorbringen, frei nach ihrem Sinn formend zu bestimmen vermögen, zu jener Zeit ganz nach diesem Reflex umgestaltet wird. Alle frühere Musik verträgt sich in ihren rhythmischen Bestimmungen nicht mit denen, die unser Rhythmusreflex verlangt, die er aktiv in das Gehörte hineinlegt und die er deshalb aktiv auch denjenigen in der Musik zu beachten drängt, der die Musik hervorbringt, sie spielt oder komponiert. Wo der Reflex wirkt, muß er Musik deshalb nach seinen Bestimmungen ordnen, solange dem nicht bewußter und gewollter Widerstand entgegengebracht wird. Folglich kann er umgekehrt nicht gewirkt haben, solange Musik nicht nach seinen Bestimmungen, das heißt nicht nach den Bestimmungen des Taktrhythmus geordnet war.
Es hat den uns natürlichen Rhythmusreflex also historisch früher nicht gegeben, und er ergab sich zunächst auch nur in den genannten Gesellschaften. Dies ist eine Erkenntnis von
weitreichenden Konsequenzen, und manche von ihnen haben die unangenehme Eigenschaft, alle Anzeichen des Undenkbaren zu tragen.
Erstens: Taktrhythmus und taktrhythmische Wahrnehmung gibt es erst mit Beginn derjenigen Neuzeit, die mit dem 17. Jahrhundert auch auf anderen Gebieten so sehr radikal Neues hervortreten läßt. Nichts von dem, was den Taktrhythmus und unsere neuzeitliche Rhythmuswahrnehmung ausmacht, darf deshalb den Zeiten davor unterstellt werden einfach deswegen, weil es uns unwillkürlich nur so eingehen will: nicht der Wechsel von hervorgehoben und nichthervorgehoben, nicht die unwillkürliche Akzentuierung, nicht die Zweiwertigkeit von Gruppenbildungen, nicht deren zweiwertige Potenzierbarkeit, nicht die Festlegung nur auf Zweieroder Dreier-Gruppe.
Zweitens: Verse nach Akzenten, nach betont/unbetont, nach Hebung und Senkung in diesem Sinn, akzentrhythmische, taktmetrische oder wie immer man sie nennen mag, hat es vor dieser Zeit nicht gegeben. So auch die Überlieferung: Im Englischen stammt die erste Erwähnung eines solchen Versbaus aus dem Jahre 1575, im Deutschen aus dem Jahre 1624. Sämtliche Behauptungen, auch frühere Verse wären schon so gedichtet worden, stammen von Lesern aus jener Neuzeit, sind falsch und belegen nichts weiter als die Macht, die der neuzeitliche Rhythmusreflex über diese Leser hatte - und weiterhin hat: auch wer heute die alten Verse liest, wird sie sich, historisch falsch, nur nach Akzenten eingehen lassen.
Drittens, und nun wird es nicht nur für Rhythmusforschung, Linguistik und Literaturwissenschaft unangenehm: Historisch entstanden ist dort also ein Reflex von der unwillkürlichsten und, wenn man so will, natürlichsten Art; etwas, das radikal unhintergehbar Natur ist. Etwas, das uns rein angeboren scheinen muß, ist in Wahrheit historisch entstanden und kann uns nicht angeboren sein. Etwas von derjenigen tiefsten Menschennatur, die sich bisher jeder Entschlüsselung ihrer Historizität grundsätzlich entzogen hat und die bisher nur als der Block des anthropologisch Gegebenen hinzunehmen und anzuerkennen war, zwingt hier dazu, sie historisch zu entschlüsseln. Und da beginnen die ernsten Schwierigkeiten; denn hier versagen alle bisherigen Techniken, etwas neu Hervortretendes geschichtlich herzuleiten. Das hieß bisher stets, es darauf zurückzuführen, daß jemand ein erstesmal darauf gekommen war, daß es einer vom anderen übernahm, daß es irgendwie üblich wurde und konventionalisiert; oder daß es sich aus der Sache ergab. Nichts davon ist hier zu brauchen.
Angeboren kann dieser spezifisch neuzeitliche Rhythmusreflex nicht sein oder man müßte absurderweise vermuten, innerhalb weniger Jahrzehnte und nur in bestimmten Gesellschaften hätte sich ein genetischer Umbau vollzogen. Wie aber kann man also gesellschaftsweit! einen solchen Reflex erwerben? Erlernen kann man ihn nicht, das ist bei dieser Art Reflex ausgeschlossen, wir können nicht gelehrt werden, so und so hätten wir unwillkürlich zu reagieren, wahrzunehmen, - und wir werden es ja tatsächlich, wie jeder weiß, beim Rhythmus auch nicht gelehrt. Aber, schlimmer, wir können diesen Reflex auch nicht dem, was wir hören, entnehmen und können ihn nicht daran
einüben. Auch hier ist der Vergleich mit der optischen Täuschung hilfreich: Wir können nicht durch eine Zeichnung mit geraden Linien daran gewöhnt werden, diese Linien nicht gerade zu sehen. Historisch: Hätte man sich erst durch eine nach Takten gespielte Musik an das Takthören gewöhnt und darin geübt gesetzt selbst das Unmögliche, man könnte eine solche Musik überhaupt ohne die Leistung dieses Reflexes nach Takten wahrnehmen , dann hätte die allgemeine Beachtung der Takte in der Musik vorher eingeführt, vorgeschrieben oder empfohlen werden müssen, und dann hätte das Aufkommen des Taktrhythmus sogleich Epoche gemacht; der Takt wurde jedoch nie eingeführt, sondern nur mit einemmal als natürlich empfunden. Als ein Bereich, an dem der taktrhythmische Reflex zu gewinnen wäre, fällt damit gerade der akustische Bereich und der Bereich des Rhythmus insgesamt fort.
Aber leider nicht nur er. Denn in keinem Bereich kann ein Reflex, der aktiv das Wahrgenommene in der Wahrnehmung ändert, an etwas eingeübt werden, das zu diesem Wahrgenommenen gehört. Es muß also etwas geben, daß es auf andere Weise erfordert, diesen Reflex aufzubringen. Auch andere zweiwertige Phänomene können ihn ja nicht bedingen: die Zustände von Spannung und Entspannung etwa und andere körperliche Vorgänge, auf die man unseren Rhythmus schon so oft hat zurückführen wollen, der Wechsel von Tag und Nacht, Gliederungsbegriffe wie rechts und links, oben und unten, oder sagen wir gleich Yin und Yang - all das hat es auch schon vor dem 17.Jahrhundert gegeben, an ihnen kann es nicht hängen.
Woraus sich uns dieser Reflex und diese Art der rhythmischen Wahrnehmung ergibt, muß also erst im Laufe des 16. Jahrhunderts auftreten; es muß damals zuerst in jenen bestimmten Gesellschaften auftreten, bevor es sich auf weitere ausdehnt; es muß seit damals seinen Bestand haben bis heute, aber muß inzwischen so recht global verbreitet sein: Wo würde heute Musik nicht mehr nach Takten gespielt? Es muß, historisch und gesellschaftlich gebunden, den einzelnen Menschen dazu bestimmen, diesen Reflex aufzubringen und ihn womöglich nur auch auf die Klangwahrnehmung zu übertragen, ohne daß es selbst in einem, nach dem Reflex bereits strukturierten Klang bestünde. Es muß unter den entsprechenden gesellschaftlichen Bedingungen bestimmend und allgemein jeden Menschen dazu bringen, und es muß jeden Menschen dazu bringen, ohne daß er es merkt.
Eine Wissenschaft, die jahrhundertelang an neuzeitliche Ikten in den antiken Versen geglaubt hat und die sich heute ohne Schwierigkeiten einen "sozusagen zwischen Dichter und Rezipienten vereinbarten Rahmen" über Dinge eingehen läßt, die es nach ihren Erklärungen gar nicht geben könnte, die wird hier sofort Bescheid wissen: So etwas kann es nicht geben! Ich halte dagegen: Es muß hier etwas geben und zu erkennen geben, was es bisher noch nicht einmal zu überlegen gab. Wenn sich schon trotz aller Kognitionswissenschaft nur sehr wenige Spezialisten diesem Reflex unserer Wahrnehmung gewidmet haben, auch nur der Tatsache seines geschichtlichen Hervortretens hat bisher buchstäblich niemand ins Auge gesehen. Umso weniger konnte sich je die Frage seiner Genese stellen. Jetzt aber ist sie gestellt. Von der Antwort, die ich meine in Händen zu
haben, sei nur noch dies Schlimmste angedeutet: daß dasselbe, was diesen Wahrnehmungsreflex bedingt, zugleich die Entstehensbedingung ist für etwas, das zu jener Zeit ebenfalls Revolution macht: das Denken der modernen Naturwissenschaft und das Denken neuzeitlicher Philosophie.
Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960, 30.
Skandiert haben die Griechen und Römer sehr wohl auch mit den Füßen. Aber wenn Fuß oder Hand zu dem, was erklang, bewegt wurden, galt ihre kontinuierliche Bewegung allein der Bestimmung der Dauer der Elementegruppen. Die Bewegung nach oben (Arsis) konnte sehr wohl unterschiedlich lang dauern wie die Bewegung nach unten (Thesis), je nachdem, wie sich die Gruppe der Töne aus lang und kurz aufteilen ließ. Mit einer Unterscheidung nach betont und unbetont, mit der die Begriffe "Hebung" und "Senkung" in der Neuzeit verbunden werden, haben sie "ursprünglich" nichts zu tun.
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Zweites Buch84; KSA 3, 439-442. Daraus auch die folgenden Zitate.
Als Philologe weiß er es besser (vgl. seine Philologica II, 281-292), aber das hilft nichts.
Theorie Werkausgabe (hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel), Frankfurt am Main 1970, 15, 163.
Johann August Apel, Metrik, Leipzig 1814/16, I,6.
Apel, Metrik, I, 9.
Apel, Metrik, I,5 f. Apel, Metrik, I,16.
Gottfried Hermann, Elementa doctrinae metricae, Leipzig 1816, 2. Die Übersetzung stammt hier und wie im folgenden von mir.
Vgl. etwa Harald Heckmann, Der Takt in der Musiklehre des siebzehnten Jahrhunderts, in: Archiv für Musikwissenschaft 10 (1953), 116-139, hier 125.
Hermann, Elementa doctrinae metricae, 5.
Hermann, Elementa doctrinae metricae, 9.
Das ist zum erstenmal dokumentiert von Edgar Zilsel, Die Entstehung des Begriffs des physikalischen Gesetzes (1942); abgedruckt in: Ders., Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, Frankfurt am Main 1976, 66-97.
August Closs, Die freien Rhythmen in der deutschen Lyrik. Versuch einer übersichtlichen Zusammenfassung ihrer entwicklungsgeschichtlichen Eigengesetzlichkeit, Bern 1947, 22.
Closs, Die freien Rhythmen, 25.
Andreas Heusler, Deutsche Versgeschichte. Mit Einschluß des altenglischen und altnordischen Stabreimverses, Berlin, Leipzig 1925-29.
Siehe z.B. Gesine Taubert, Kurze deutsche Verslehre. Examensvorbereitung, Referendariat, Unterricht, Isen 1992.
So z. B. Theo Vennemann gen. Nierfeld, Der Zusammenbruch der Quantität im Spätmittelalter und sein Einfluß auf die Metrik, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 42 (1995), 185-223, hier 186.
Am besten und abschließend durch Wilfried Stroh, Arsis und Thesis - oder: Wie hat man lateinische Verse gesprochen?, in: von Albrecht/Schubert (Hg.), Musik und Dichtung, Frankfurt a.M. (u. a.) 1990, 87-119. Trotzdem wird der Iktus-Glaube auch weiterhin verbreitet; z.B. in dem Band "Metrik und Medienwechsel" (hg. von H. L. C. Tristram, Tübingen 1991) durch die Beiträge von Wolfgang Meid (13-22) und Paul Klopsch (95-106).
Apel, Metrik, I, 14 f.
Es liegt außer in Band X der Ausgabe von Adam/Tannery als Nachdruck mit einer (unglaublich schlechten und fehlerhaften) Übersetzung vor, Darmstadt 21992. Einschlägig sind die Kapitel "Praenotanda" und "De Numero vel Tempore in Sonis observando", aus denen ich im folgenden (in eigener Übersetzung) zitiere.
Georg Schünemann, Geschichte des Dirigierens, Leipzig 1913.
Die klassische Zusammenfassung solcher Experimente ist der Artikel von Herbert Woodrow, Time Perception, in: Stanley S. Stevens (Hg.), Handbook of Experimental Psychology, New York 1951, 1224-1236. Die Experimente, auf die ich im folgenden verweise, sind allesamt dort beschrieben.
Vgl. z.B. Dirk-Jan Povel, Internal Representation of Simple Temporal Patterns, in: Journal of Experimental Psychology. Human Perception and Performance. 7 (1981), 3-18.
Es sei denn, zum Beispiel ein Fünfertakt setzt sich wie in Take five musikalisch jeweils deutlich wieder aus Dreier- und Zweier-Gruppe zusammen.
Und verweise dafür auf ein künftiges Buch zu diesen Fragen; vgl. die letzte Fußnote. Hilkert Weddige, Einführung in die germanistische Mediävistik, München 1987, 146. Weddige, Einführung, 147.
Christian Wagenknecht, Deutsche Metrik. Eine historische Einführung, München 31993, 20ff., Kapitel 1.2.4.
Christoph Küper, Über Akzent, Alternation, Prosodie und eine gescheiterte endlich gültige Theorie von den deutschen Versen oder: Wie man die Metrik mit dem Bade ausschütten kann, in: Poetica 27 (1995), 470-481, hier 481.
Man behandelt dies, in Unkenntnis des neuzeitlichen Rhythmusreflexes, als die "Reform" des Martin Opitz; vgl. etwa Wagenknecht, Deutsche Metrik, Kapitel5. Opitz jedoch spricht nur als erster aus, wie er Verssprache nun anders rhythmisch hört als noch kurze Zeit vorher (Opitz' Übergang von der älteren Art des Versbaus zur akzentmetrischen ist dokumentiert bei Jörg-Ulrich Fechner, Opitz auf dem Weg zu seiner Reform. Das Widmungsgedicht für Hindenberg von 1624, in: Daphnis 11 (1982), 439-462.), und fordert gewissermaßen, beim Dichten von nun an auf dieses veränderte Hören zu achten.
Längst zurückgewiesen durch Woodrow, Time Perception, 1234.
Die Genese des neuzeitlichen Rhythmusreflexes in ihrem genauen historischen Zusammenhang werde ich in einem Buch vorlegen, an dem ich zur Zeit noch arbeite. Für die
Theorie und Geschichte der Akzentverse kann ich auf meine frühere Darstellung verweisen: Propädeutik einer endlich gültigen Theorie von den deutschen Versen, Tübingen 1991. Die darin noch recht vorläufig gegebene Erklärung der Probleme wird ein Buch leisten, das geschrieben, aber noch nicht gedruckt ist.