Die Banken und ihre Schweiz, von Peter Hablützel

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PETER HABLÜTZEL

DIE BANKEN UND IHRE

SCHWEIZ PERSPEKTIVEN EINER KRISE

Conzett Oesch


Peter Hablützel Die Banken und ihre Schweiz



Peter Hablützel

Die Banken und ihre Schweiz Perspektiven einer Krise

Mit einem Vorwort von Jürg Conzett und einem Beitrag von Paschen von Flotow

Conzett Verlag bei Oesch


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Copyright © 2010 by Conzett Verlag/Oesch Verlag, Zürich in Kooperation mit Sunflower Foundation, Zürich Umschlagbild: Michael Sengers, Zürich Satz: Oesch Verlag Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-0350-9006-2

Unser Buchprogramm finden Sie im Internet unter: www.oeschverlag.ch Mehr Informationen zur Sunflower Foundation: www.sunflower.ch


Inhalt

Vorwort von Jürg Conzett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Ausgangspunkt und Absicht der Studie . . . . Finanzmarktkrise: eine Systemkrise?. . . . . . . . . . . . . . . Problemstellung und Zielsetzung dieser Studie. . . . . . Grundlagen und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt, Aufbau und Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krise und Krisenwahrnehmung in der Schweiz . . . . . Sonderfall, nationale Identität und Mythenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte als Konstruktion der Wirklichkeit . . . . . . . Zeitgeschichte, Politik und historische Analyse . . . . . . Modell des Finanzmarkt-Kapitalismus . . . . . . . . . . . . .

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2. Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone . . . Anfänge der Bankwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung der Nationalbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bankengesetz von 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufschwung in der Kriegs- und Nachkriegszeit . . . . . . Flexible Wechselkurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wachsende Macht der Grossbanken . . . . . . . . . . . . . . Immobilienblase und Konzentrationsprozess . . . . . . .

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Inhalt

3. Globalisierung von Märkten und Mentalitäten . . . . Finanzmärkte und Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . Primat finanzieller Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzindustrie als globales System . . . . . . . . . . . . . . . Globalisierung des Finanzplatzes Schweiz . . . . . . . . . . Anpassung des staatlichen Rahmens . . . . . . . . . . . . . . Bankenaufsicht: Basel I und Basel II . . . . . . . . . . . . . . Warnung der Nationalbank vor Systemkrisen . . . . . . .

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4. Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungleichgewichte und zyklische Krisen . . . . . . . . . . . . Subprimekrise wird zur Systemkrise . . . . . . . . . . . . . . . Internationale Regulierung globaler Märkte? . . . . . . . Finanzmarktkrise in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . «Beresina» der Schweizer Finanzmarktpolitik . . . . . . . Grossbanken: Too big to fail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie weiter in der Finanzwirtschaft? . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral . . . Gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Reintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moderne und Modernisierungsdiskurse . . . . . . . . . . . Ökonomischer Diskurs: Nachhaltiges Wachstum . . . . Politischer Diskurs: Marktordnung und Staatsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultureller Diskurs: Ethik und persönliche Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstreflexive zweite Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

6. Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten der Schweizer Politik: eine Dekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte als Erfolgsstory: eine Rekonstruktion . . . . . Ende des Wachstumskonsenses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polarisierung und Blockierung der Politik . . . . . . . . . .

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7. Historische Ortsbestimmung und politisches Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzmarktkrise als historischer Wendepunkt? . . . . . Kontingenz und Krisenverständnis . . . . . . . . . . . . . . . These 1: Krisenperzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . These 2: Finanzmarktregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . These 3: Internationale Öffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . These 4: Nachhaltige Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . These 5: Public Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . These 6: Politik als Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . These 7: Stärkung der Zivilgesellschaft. . . . . . . . . . . . . Neo-Moderne, Geld und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang Was würde Georg Simmel zur heutigen Krise sagen? Von Paschen von Flotow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwendete und weiterführende Literatur . . . . . . . . . Über den Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

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um Thema «Die Schweiz und ihre Banken» ist schon vieles geschrieben worden. Nach der jüngsten Finanzmarktkrise stellt sich die Frage, ob dieses Verhältnis zwischen unserem Land und einer wichtigen Wirtschaftsbranche nicht besser unter dem Titel «Die Banken und ihre Schweiz» betrachtet und beschrieben werden sollte. Peter Hablützel kommt in seiner kritischen Studie zum Schluss, die (Gross-) Banken hätten seit den 1970er Jahren, vor allem aber seit der forcierten Globalisierung der 1990er Jahre die öffentliche Meinung in der Schweiz immer stärker beeinflusst. Sie hätten damit nicht zuletzt auch die aktive Unterstützung der offiziellen Schweiz für ihre Expansionspläne gewinnen können. Die politische Mehrheit habe lange überhaupt nichts dagegen einzuwenden gehabt. Sie sei praktisch immun gewesen gegen jede inländische wie ausländische Kritik, habe den Finanzplatz Schweiz tabuisiert und das Bankgeheimnis zu einem nationalen Mythos hochstilisiert. Erst die Ereignisse im Zusammenhang mit der jüngsten Krise würden nun ein Umdenken erzwingen. Der Staat verliere seine Legitimation nach innen und nach aussen, wenn er sich länger durch private Interessen dermassen instrumentalisieren lasse. Peter Hablützel ist ein intimer Kenner des politischen Systems der Schweiz und der heiklen Schnittstelle zwischen Staat und Wirtschaft. Er hat in den letzten dreissig Jahren vier schweizerische Finanzminister als direkte Vorgesetzte 9


Vorwort

erlebt. Seine Studie zeigt, dass sich reiche persönliche Erfahrung aus der Praxis und kritische, wissenschaftliche Analysen fruchtbar verbinden lassen. Dabei kommt ihm ein interdisziplinärer Ansatz zugute, der ökonomische und sozialwissenschaftliche Fragestellungen kombiniert. Entscheidend scheint mir aber, dass es Peter Hablützel mit einer zeithistorischen Perspektive gelingt, die Finanzmarktkrise in grössere Zusammenhänge einzuordnen. Geschichte ist oft der blinde Fleck der modernen Ökonomie. Die vorliegende Arbeit macht klar, dass es für die Analyse und für die Deutung grundlegenden Wandels einer historischen Betrachtung dringend bedarf. Dieses Buch ist im Zusammenhang mit einem Vortragsund Diskussionszyklus des MoneyForums zum Thema «Finanzmarktkrise – Herausforderung und Chance» entstanden. Peter Hablützel hat diesen Zyklus im Auftrag der Sunflower Foundation organisiert und moderiert. An fünf Abenden im Herbst und Winter 2009/10 ist ein interessantes, fachübergreifendes Gespräch zu Problemen des Finanzplatzes Schweiz und seiner Zukunft zustande gekommen, für das ich an dieser Stelle allen Beteiligten nochmals herzlich danken möchte. Es freut mich besonders, dass wir hier den Originalbeitrag eines unserer Referenten, Paschen von Flotow, veröffentlichen dürfen. Ich bin erstaunt, mit welcher Klarheit Georg Simmel vor mehr als hundert Jahren grundlegende Probleme unserer Wirtschaftsgesellschaft vorausgesehen hat. Paschen von Flotow gelingt es ausgezeichnet, die Quintessenz von Simmels Gedanken für unsere Gegenwart fruchtbar zu machen. Zürich, 9. März 2010

Dr. Jürg Conzett Präsident der Sunflower Foundation

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Einleitung: Ausgangspunkt und Absicht der Studie

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it einer heftigen Implosion der Finanzwirtschaft ist im Herbst 2008 der wichtigste Leitsektor der modernen Dienstleistungsgesellschaft dramatisch eingebrochen. Die Erschütterung trifft die Weltwirtschaft als Ganze und nicht nur sie. Auch die Denk- und Verhaltensmuster einer an Geldwert und Gewinn orientierten Kultur sind von dieser Finanzkrise tangiert. Fast alles in unserem sozialen Leben hat sich in den letzten Jahren zunehmend um Finanzen gedreht. In Wirtschaft, Politik und Gesellschaft – auf Märkten, in Organisationen, am Arbeitsplatz, ja, bis in die persönlichen Beziehungen hinein – haben wir eine Monetarisierung beinahe aller Werte erlebt. Geld ist – wie vom Soziologen Georg Simmel vor hundert Jahren vorausgeahnt – zum allumfassenden Wertmassstab und in Form von «Vermögen», von Kapital, zugleich zum wichtigsten Wert an sich geworden. Der finanzielle Gewinn als mächtigster Treiber steuert nicht nur die globalisierte Finanzwirtschaft, sondern fast jede Entwicklung in unserer Welt. Umso mehr herrscht heute überall grosse Unsicherheit, welche Bedeutung wir der Finanzmarktkrise zumessen sollen und woran wir uns in Zukunft orientieren können.

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Einleitung: Ausgangspunkt und Absicht der Studie

Finanzmarktkrise: eine Systemkrise? Bedeutung und Erfolg des Finanzplatzes Schweiz bilden ein zentrales Element im Selbstverständnis sowie im politischen Denken und Handeln unseres Landes. Ein florierender Finanzplatz ist gewissermassen die wirtschaftliche Inkarnation unserer Identität als nationaler Sonderfall. Nun erleben wir gleichsam als eine Ironie der Zeitgeschichte, dass uns ausgerechnet eine Krise der Finanzmärkte zu dem macht, was wir eigentlich sind: ein kleines Land inmitten Europas, das mit seiner offenen Volkswirtschaft vom Umfeld besonders abhängig ist. Ein kleines Land, das grosse Mühe hat, mit den politischen und kulturellen Folgen der Globalisierung umzugehen, die es mit seiner erfolgreichen Export- und Finanzwirtschaft doch selber wesentlich vorangetrieben hat. Ein kleines Land auch, das mit den spezifischen Problemen und Risiken seines überdimensionierten, hochkonzentrierten und mit dem Ausland eng verflochtenen Bankensystems nur schwer zu Rande kommt. Die Finanzmarktkrise ist für die Schweiz eine besonders heikle Erfahrung, denn sie demontiert den nationalen Mythos unserer politischen Unabhängigkeit. Sie führt uns drastisch vor Augen, wie existenziell wir vom internationalen Umfeld abhängig sind. Schmerzhaft wird uns bewusst: Auf globalisierten Märkten bieten Landesgrenzen vor Systemkrisen keinen Schutz mehr. Die Katastrophe an der Wall Street hat auch den Finanzplatz Schweiz in eine tiefe Krise gerissen. Vieles ist bedroht, was wir bisher für selbstverständlich hielten. Die Krise, die mehr und mehr auch auf die Realwirtschaft übergreift, droht ökonomische und politische Gewissheiten aufzuzehren. Es brechen bange Fragen auf, nicht nur zum Finanzplatz Schweiz, sondern auch zur Zukunft von 12


Finanzmarktkrise: eine Systemkrise?

Volkswirtschaft, Beschäftigung und sozialer Sicherheit in unserem Lande sowie zur Einbettung der Schweiz in eine global vernetzte und immer stärker politisierte Welt. Die Finanzmarktkrise hat uns unsanft aus einer Art nationaler Selbstüberschätzung gerissen und in eine Welt katapultiert, deren grundlegende Veränderungen wir in den letzten Jahrzehnten partiell nicht mehr wahrnehmen wollten. Die Turbulenzen auf den Finanzmärkten und ihre Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft haben uns gleichsam auf dem linken Fuss erwischt und die Schweiz in eine der schwierigsten Orientierungskrisen ihrer Geschichte geführt. Wir müssen uns heute mit Problemen befassen und nach Antworten suchen, wo wir bis vor kurzem nicht einmal ernsthaft Fragen stellten. Die Finanzmarktkrise demontiert nicht nur unsere Unabhängigkeitsfantasien. Sie demaskiert auch unser politisches System. Sie demonstriert, wie willfährig sich die Behörden gegenüber wirtschaftlichen Grossinteressen verhalten. In der jüngsten Vergangenheit haben nicht nur höchste Repräsentanten der Schweiz mehrfach ihr Gesicht verloren. Auch das System als Ganzes büsste an Glaubwürdigkeit ein. Man könnte etwas pointiert formulieren, die Krise habe der Schweiz die liberale Maske vom Gesicht gerissen. Es ist zwar nicht gerade so, dass darunter die Fratze einer Bananenrepublik zum Vorschein kommt – aber immerhin Tatsachen, die ein gerne idealisiertes Selbstbild erschüttern können. Zwei Ereignisse werden diesbezüglich noch lange im Gedächtnis haften bleiben: Im Oktober 2008 mussten Bund und Nationalbank mit einer massiven Finanzspritze der grössten Bank zu Hilfe eilen, die sich mit einer verfehlten Geschäftspolitik an den Rand des Abgrunds manövriert hatte. Und im Februar 2009 verletzten die Behörden schweize13


Einleitung: Ausgangspunkt und Absicht der Studie

risches Recht, um dieses Flaggschiff des Finanzplatzes aus den Fängen der US-Justiz zu befreien, in die es aufgrund mutwilliger Verstösse gegen amerikanische Gesetze geraten war. Diese beiden Ereignisse sind von symbolischer Bedeutung und werfen die kritische Frage auf, welchen Stellenwert liberale Ordnungspolitik und Rechtssicherheit in unserem Lande noch haben, wenn handfeste Geschäftsinteressen einer privaten Grossbank auf dem Spiele stehen. Opportunismus in der Politik ist gewiss nichts Neues. Gerade in der kleinen Schweiz mit den vielfach verbandelten Interessen und einem starken Milizsystem hat die föderalistisch und direktdemokratisch ausgebremste Politik schon immer Mühe bekundet, mächtige Akteure der Wirtschaft an strenge Regeln zu binden. Aber dass bei uns – in Abwandlung eines Zitats von Clausewitz – Politik die Fortsetzung des privaten Geschäfts mit andern Mitteln sein könnte, hätte man in dieser Deutlichkeit vorher doch kaum zu behaupten gewagt. Der doppelte Sündenfall vom Oktober 2008 und vom Februar 2009 ist eine radikale Herausforderung an die schweizerische Politik, die auch ernst genommen werden muss, falls die direkten Folgen der Krise nicht so dramatisch ausfallen wie ursprünglich befürchtet. Wer ohne strukturelle Änderungen am (Finanz-)System zum Courant normal zurückkehren will, macht Politik in diesem Land vollends unglaubwürdig und nimmt bewusst in Kauf, dass wir schon bald wieder vor ähnlichen oder noch schlimmeren Problemen stehen. Die Diskussionen um die Finanzmarktkrise und um die Frage, wie Wirtschaft und Politik der Schweiz darauf reagieren sollten, erinnern mich an die Studien vor mehr als dreissig Jahren im Zusammenhang mit meiner Dissertation, in der ich verschiedene Formen von politischem Krisenbewusstsein und die je damit korrespondierenden historischen 14


Problemstellung und Zielsetzung dieser Studie

Perspektiven untersuchte (Hablützel 1980). Die damals propagierte Unterscheidung in der Perzeption von Krisen lässt sich auch heute nutzbringend verwenden: Wer das bestehende System bewahren will, interpretiert Turbulenzen gerne als zufällige Ereigniskrise und möchte mit möglichst geringen Änderungen im System den Status quo rasch wiederherstellen. Wer nicht nur zufällige, sondern im System angelegte technische Fehler als Ursachen einer Strukturkrise ortet, versucht mit Änderungen am System eine Wiederholung der Krise zu verhindern. Wer indes unsere kulturelle Einbindung in tradierte Handlungsabläufe erkennt und sieht, dass wir an Strukturen anknüpfen und diese mit unserem Denken und Handeln immer wieder (re-)produzieren, wird Turbulenzen als Ausdruck einer Systemkrise verstehen und sie als Chance nutzen wollen, um mit einer bewussten Änderung des Systems neue Entwicklungsmöglichkeiten zu erschliessen.

Problemstellung und Zielsetzung dieser Studie Damit sind wir mitten in der zentralen Problemstellung der vorliegenden Studie: Was machen wir aus der Krise, in die wir geraten sind? Wenn wir sie kleinreden, könnten wir die riesige Chance verpassen, unsere vertrauten Bilder der Wirklichkeit den erlebten Realitäten wieder anzunähern und damit an Zukunftsfähigkeit zu gewinnen. Das gilt sowohl bezüglich Weltwirtschaft und Finanzindustrie wie auch in Bezug auf das politische System der Schweiz. Sind Krisen immer auch Chancen? Wohl nur, wenn wir die Möglichkeiten erkennen, die sie uns bieten. Krisen verunsichern zwar, weil manche Gewissheiten schwinden. Unsere Konstruktionen der Wirklichkeit verlieren an Überzeu15


Einleitung: Ausgangspunkt und Absicht der Studie

gungskraft. Dafür tun sich jedoch neue Sichtweisen auf. Krisen helfen, Denkmuster aufzubrechen und Handlungsroutinen zu hinterfragen. Sie bringen Diskurse über unsere Herkunft und unsere Zukunft in Gang. Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte geraten so in Bewegung. Die kommunikative Aufweichung von individueller und gesellschaftlicher Erinnerung macht Gegenwart mehrdeutig. Damit gewinnt der historische Prozess gewissermassen einen höheren Freiheitsgrad und öffnet uns neue Möglichkeiten der politischen Gestaltung. Wer Krisen so zu nutzen weiss, stärkt Lernvermögen und Zukunftsfähigkeit. Was kann die jüngste Finanzmarktkrise bewegen? Welche Gewissheiten, welche Wirklichkeitskonstruktionen brechen auf? Und bietet diese Krise Chancen? Auch für die Schweiz, die vom Schicksal der Finanzwirtschaft besonders betroffen scheint? Welche neuen Perspektiven eröffnet diese Krise auf Vergangenheit und Zukunft unseres Landes? Sind wir bereit, die traditionelle Sicht der historischen Entwicklung kritisch zu hinterfragen? Sind wir fähig, unser politisches Handeln zu überdenken? Und sind wir denn auch willens, die daraus entstehenden Chancen zu nutzen? Diesen Fragen will ich in der vorliegenden Studie nachgehen, weil sie für unser Land und seinen Finanzplatz von existenzieller Bedeutung sind. Man könnte nun vorschnell meinen, für die Beantwortung solcher Fragen sei in erster Linie die Ökonomie zuständig. Und in der Tat gibt es inzwischen Beiträge aus dieser Wissenschaft, die den Ausbruch der Finanzmarktkrise einleuchtend erklären und ihren Verlauf auch trefflich beschreiben. Die Selbstverständlichkeit, mit der gewisse Ökonomen heute die Krise als eine völlig normale Erscheinung darstellen, lässt uns staunend mit der Frage zurück, weshalb sie denn diese Krise nicht früher kommen sahen und ent16


Problemstellung und Zielsetzung dieser Studie

sprechend davor gewarnt haben. Ich bin im Lauf meiner Recherchen immer mehr zur Überzeugung gelangt, dass wir die eigentliche Bedeutung der Krise erst erkennen können, wenn wir sie in ihrer historischen Dimension zu verstehen versuchen. Wer die Implosion der Finanzwirtschaft begreifen will, muss den Prozess ihrer Aufblähung untersuchen. Ihr Aufstieg zur wirtschaftlichen Vormacht und zur politischen und kulturellen Hegemonie ist das Aussergewöhnliche, das die letzten Jahrzehnte geprägt hat. Doch wer sich für die Veränderung unserer Wirtschaft hin zu einer immer mehr durch die Finanzen getriebenen Entwicklung interessiert, wird durch die gängige Ökonomie kaum hilfreich unterstützt. Die neoklassischen Theorien des Mainstreams mit ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit bauen ihre Modelle auf anthropologischen Konstanten auf (wie dem immer rational entscheidenden Homo oeconomicus). Sie halten Geld für ein neutrales Zahlungsmittel ohne spezifischen Eigenwert, dessen Geschichte man ruhig vernachlässigen kann, und interessieren sich kaum für den Wandel von Auffassungen und Werthaltungen. Und schliesslich pressen sie ihre Erkenntnisse in mathematische Formeln, die der Veränderung von historischen Kontexten viel zu wenig Beachtung schenken. Aber gerade darin liegt das Problem: Geschichte ist der blinde Fleck der modernen Ökonomie. Historische Entwicklungen spielen sich, wenn überhaupt, in den kaum diskutierten Randbedingungen ab, um die sich andere Wissenschaften kümmern müssen. Eigenartig: Die Wirtschaft ist das gesellschaftliche Subsystem mit der radikalsten Veränderungsdynamik und mit dem grössten Beeinflussungspotenzial auf alle andern Subsysteme. Aber sie wird durch eine Wissenschaft «professionell» beobachtet und beschrieben, die aufgrund ihrer 17


Einleitung: Ausgangspunkt und Absicht der Studie

Gleichgewichtsmodelle von Systemumwelten und Systementwicklungen wenig wissen will und damit Gefahr läuft auszublenden, dass der ökonomische Wandel auch seine gesellschaftlichen Grundlagen und damit den Rahmen, die Qualität und die Bedeutung jeglichen Wandels, also auch sich selbst, verändert. Diese fatale Verdrängung der Historizität aus der ökonomischen Reflexion macht die Wirtschaftswissenschaft oft unsensibel für das Problem der Reichweite ihrer Theorien und verführt sie zum Opportunismus im Sinne einer Legitimation dessen, was sich historisch durchgesetzt hat. Falls wir die Finanzmarktkrise mit ihren wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Implikationen wirklich verstehen und ihre Bedeutung für unsere Zukunft ergründen wollen, kommen wir um eine kritische Aufarbeitung ihrer historischen Dimensionen nicht herum. Wir sollten dabei vor allem den furiosen Aufstieg der Finanzindustrie in den letzten Jahrzehnten zu erklären versuchen. Das gilt namentlich auch für unseren «Sonderfall» Schweiz mit seiner überdimensionierten, hochkonzentrierten und stark auslandabhängigen Finanzwirtschaft. Wenn wir die Krise als Chance für eine kritische Aufarbeitung unserer nationalen Entwicklung und ihrer Einbettung in übergreifende Kontexte wahrnehmen, kann auch der «Sonderfall» Schweiz in einem neuen Licht erscheinen. Es hängt von unseren kritischen Fragen und konstruktiven Antworten ab, ob es uns heute gelingt, die Krise für die Neugestaltung der Zukunft zu nutzen, und ob wir morgen dann sehen können, dass die Finanzmarktkrise als Wendepunkt in unserer Zeitgeschichte verstanden werden darf.

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Grundlagen und Quellen

Grundlagen und Quellen Was wissen wir über die Zeitgeschichte der Schweiz und über die Vorgeschichte der Finanzmarktkrise? Welcher Stellenwert kam der Finanzwirtschaft in der Geschichte unseres Landes vor allem in den letzten Jahrzehnten zu? Worauf kann ich mich stützen, wenn ich die Entwicklung des Finanzplatzes und der Finanzmarktpolitik analysieren und als Teil unserer jüngsten Geschichte interpretieren will? Auf Zeitgenossenschaft ist nicht immer Verlass, aber ich will trotzdem nicht leugnen, dass mein Bild in vielem durch eigene Beobachtungen und persönliche Erinnerungen geprägt worden ist. Das beginnt mit meiner Kindheit in der frühen Nachkriegszeit und in einer Familie, in der das freiwirtschaftliche Gedankengut einen hohen Stellenwert genoss. Auch während Studium und Beruf bewegte ich mich meist in politisch sehr interessierten Milieus; da konnte die 68er-Zeit nicht spurlos an einem vorbeigehen. 1980 bis 2005 war ich mit Ausnahme von fünf Jahren im Eidgenössischen Finanzdepartement beschäftigt und direkt dem Finanzminister unterstellt; ich erlebte vier Bundesräte aus nächster Nähe. An der Schnittstelle von Politik und Verwaltung kriegt man vieles mit, was die systemische Betrachtungsweise fördert; so war es für mich immer klar, dass am Schicksal der Finanzwirtschaft gerade auch die Behörden massgeblich beteiligt sind. Seit 2007 bin ich im Auftrag der Sunflower Foundation für deren MoneyForum tätig und habe manche Kontakte zu Praktikern und Theoretikern der Finanzwirtschaft knüpfen können, was mein Interesse für diese Branche wecken, mein Verständnis für ihre Prozesse und Gepflogenheiten fördern und damit meinen Horizont einschlägig erweitern half. 19


Einleitung: Ausgangspunkt und Absicht der Studie

Das Problem von Nähe und Distanz taucht in der Zeitgeschichte immer wieder auf. Es wird deutlicher, wenn man die eigenen Zugänge zum Thema mit den Arbeiten anderer vergleichen kann. Zur Finanzplatzentwicklung und zu einzelnen Banken und Problemen ist in den letzten Jahren viel Wissenschaftliches, Autobiografisches und Journalistisches publiziert worden. Wissenswertes kann man auf den Websites des Swiss Banking Institute und der Universität St. Gallen finden. Die Entwicklungen vor und in der Krise, namentlich was die UBS oder das Bankgeheimnis betrifft, sind in Darstellungen aufgearbeitet worden, die sich spannend wie Kriminalromane lesen, aber dennoch einen seriös recherchierten Eindruck machen (Baumann/Rutsch 2008, Zaki 2008, Hässig 2009, Parma/Vontobel 2009). Kritisches kann man heute auch in den Medien lesen, zum Beispiel die Kolumnen von Binswanger, de Weck, Strahm und Schöchlin, natürlich in der WoZ oder bei kontrapunkt (Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik). Auch unter Volks- und Betriebswirten melden sich scharfe Kritiker der Finanzwirtschaft zu Wort, so etwa neuerdings selbst Wittmann 2009; einige haben die Krise vorausgeahnt (Bernet 2005) oder schon seit langem vor ihr gewarnt (vgl. Malik 2008). Die Sicht der wichtigsten Akteure vermitteln die Websites SwissBanking der SBVg (Schweizerischen Bankiervereinigung), der Finanzmarktaufsicht FINMA (bis 2008 Eidg. Bankenkommission EBK), des Eidg. Finanzdepartements EFD respektive der Eidg. Finanzverwaltung EFV. Hilfreich ist die Schweizerische Nationalbank, namentlich mit ihren Jahresund Stabilitätsberichten; ihre grosse Festschrift «Die Schweizerische Nationalbank 1907–2007» (SNB 2007) ist ein Meisterwerk und eine wahre Fundgrube für den Wirtschaftshistoriker. Hier zeigen sich Ansätze einer selbstrefle20


Grundlagen und Quellen

xiven und systemischen Sichtweise, die man auch allen andern Akteuren gerne wünschen würde. Sehr verpflichtet fühle ich mich dem analytischen Zugriff von Paul Krugman; des Nobelpreisträgers (von 2008) souveräne Darstellung von Finanzindustrie und Weltwirtschaftsentwicklung der letzten 20 Jahre trägt viel zu einem historischen Verständnis der Finanzmarktkrise bei (Krugman 2009). Ebenso erhellend war für mich die kritische Analyse «Kasino-Kapitalismus» aus der Feder des Präsidenten, HansWerner Sinn, des Weltverbands der Finanzwissenschaftler (Sinn 2009). Krugman und Sinn weichen nicht grundsätzlich von den Erkenntnissen internationaler Organisationen ab, die das Geschehen auf den Finanzmärkten professionell beobachten (z. B. International Monetary Fund IMF, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BIZ), aber sie schürfen mit ihren Analysen tiefer und kommen deshalb für die künftige Finanzmarktpolitik auch zu radikaleren Forderungen. Die Wirtschaftssoziologie bringt die Finanzmarktkrise in Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung; ihr Modell des «Finanzmarkt-Kapitalismus» (Windolf 2005, Deutschmann 2008) basiert auf den Erkenntnissen der Politischen Ökonomie (Huffschmid 2002) und kann aus meiner Sicht die schwierigen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte besonders gut erklären. Was unsere jüngere Zeitgeschichte betrifft, so gibt es zwar eine Menge schöner Monografien, vor allem auch zur Aufarbeitung der Schweizer Geschichte im Zweiten Weltkrieg wie etwa den bekannten Bergier-Bericht (UEK 2002) oder den spannenden Sammelband «Gedächtnis, Geld und Gesetz» (Tanner/Weigel 2002), aber auch die brillante Studie «Verweigerte Erinnerung», die unter anderem die Debatte 21


Einleitung: Ausgangspunkt und Absicht der Studie

seit den 1990er Jahren über die anonymen Bankkonten in der Schweiz im Detail schildert (Maissen 2005). Doch an eine integrierte Darstellung der Schweizer Zeitgeschichte seit 1945 hat sich – mit Ausnahme vielleicht von Dejung (2008) – seit unserer 2. Auflage (Gilg/Hablützel 1986), also seit nunmehr 23 Jahren (!), meines Wissens niemand mehr gewagt. Auch aus heutiger Perspektive halte ich unsere damalige Interpretation der Nachkriegsjahrzehnte noch immer für vertretbar, bin aber selber sehr erstaunt, wie stark sich Probleme, Lebensgefühl und Sichtweisen seit Mitte der 80er Jahre verändert haben. Wer sich über neuere Interpretationsansätze zur gesellschaftlichen Entwicklung der Schweiz in den letzten zwei Jahrzehnten schlau machen will, muss zu den Soziologen, Politologen und Ökonomen hinüberschielen, soweit sich diese trotz akademischer Spezialisierungs- und Quantifizierungszwänge überhaupt noch zu qualitativen oder gar historischen Aussagen von Belang verleiten lassen (etwa Eberle/Imhof 2000 oder Imhof/Eberle 2005 und Scholtz/Nollert 2007). Um im Meer von Fakten und Meinungen nicht zu ertrinken und den Überblick über das Geschehen einigermassen zu wahren, hilft die «Année politique suisse / Schweizerische Politik im Jahre …», eine professionell gemachte Chronik des öffentlichen Lebens, die vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern herausgegeben wird. An diesem seit 1966 erscheinenden Jahrbuch habe ich in jungen Jahren selbst mitgewirkt. Für das Jahr 1977 verfasste ich damals das Kapitel «Geld, Währung und Kredit»; gegen meine Darstellung der Chiasso-Affäre drohte die Schweizerische Kreditanstalt mit einer Klage, musste dieses Vorhaben aber bald wieder fallen lassen, da weitere Fakten ans Tageslicht kamen, die meine kritische Interpretation bestätigten. 22


Inhalt, Aufbau und Absicht

Inhalt, Aufbau und Absicht Wie ist diese Studie gegliedert? Wie gehe ich vor? Was ist das Erkenntnisinteresse und welche forschungsstrategischen und politischen Absichten verfolge ich? Wir gehen von der Frage aus, welche Bedeutung der Finanzmarktkrise zukommt und ob die Krise einen Wendepunkt in der historischen Entwicklung darstellt (Kapitel 1). Die Überlegungen dazu dienen gleichzeitig auch als Einführung in Theorie und Methodik der Zeitgeschichte und zur Darstellung des Finanzmarkt-Kapitalismus als eines idealtypischen Erklärungsmodells für die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Auf dieser Grundlage sollen dann der steile Aufstieg des Finanzplatzes Schweiz zu nationaler Dominanz (Kapitel 2) und seine seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend problematische Transformation im Zeichen der Globalisierung (Kapitel 3) geschildert werden, denn die gegenwärtige Krisensituation ist ohne ihre Entstehungsgeschichte kaum verständlich. Die Analyse der Finanzmarktkrise (Kapitel 4) setzt bei der Frage an, wie sich aus Spekulationsblasen schliesslich eine weltweite Systemkrise entwickeln konnte. Aufgrund von Bedeutung, Konzentration und Auslandverflechtung ihres Finanzplatzes ist die Schweiz von dieser Krise besonders betroffen. Weil die Behörden das nicht offen zugeben wollen, greift ihre Krisenpolitik zu kurz. Auch die Hoffnung, angesichts einer veränderten internationalen Konstellation die überkommenen Standortvorteile im nationalen Alleingang ans Trockene zu bringen, erweist sich Schritt für Schritt als Illusion. Die Schweiz ist mit ihren früher erfolgreichen Denk- und Verhaltensmustern an wirtschaftliche und politi23


Einleitung: Ausgangspunkt und Absicht der Studie

sche Grenzen gestossen. An der Aussenfront, vor allem bei der sturen Verteidigung von Bankgeheimnis und Steuerhinterziehung, erlebt die Finanzmarktpolitik der Schweiz ihr «Beresina». Weil die Finanzmarktkrise einen zentralen Leitsektor der westlichen Gesellschaft betrifft, muss die Analyse thematisch noch etwas breiter und tiefer ausgreifen. Ich werde versuchen, die geschilderte Entwicklung der Finanzwirtschaft im Kontext ausgewählter gesellschaftspolitischer und sozialwissenschaftlicher Diskurse der letzten Jahrzehnte zu interpretieren (Kapitel 5). Das kann natürlich nur mit einer engen Auswahl von möglichen Perspektiven geschehen; Fragen zur Nachhaltigkeit des Wirtschaftswachstums, zum Verhältnis von Markt und Staat sowie zur kulturellen Einbindung des Einzelnen in die Gesellschaft stehen dabei im Fokus des Interesses. Gerade in der Finanzmarktkrise zeigen sich Besonderheiten unseres Landes, und es stellt sich die Frage, ob die Schweiz den Sonderfall ihrer historischen Entwicklung auch in Zukunft pflegen und so endgültig zum politischen Sonderling mutieren will (Kapitel 6). Bei solchen Fragen geht es immer auch um das Problem der Kontingenz, also um Veränderbarkeit und Freiheit respektive um Pfadabhängigkeit und Schicksal der historischen Entwicklung. Erst im Zusammenhang dieser Überlegungen wird eine historische Ortsbestimmung der Gegenwart möglich, die sinnvolles und selbstverantwortliches, auf Zukunftsfähigkeit gerichtetes politisches Handeln erlaubt. In sieben Thesen fasse ich zusammen, was sich nach meiner Einschätzung aus der Finanzmarktkrise für die Schweiz als politisches Fazit ergibt (Kapitel 7). Ich will nicht verhehlen, dass diese Studie aus einer tiefen 24


Inhalt, Aufbau und Absicht

Sorge um die Zukunft der Schweiz geschrieben worden ist. Unsere Zukunftsfähigkeit hängt davon ab, welche Schlüsse wir aus bisherigen Entwicklungen und Erfahrungen für unser künftiges Verhalten ziehen – vor allem auch davon, ob es uns gelingen wird, aus der selbst konstruierten Falle des Sonderfalldenkens auszubrechen. Die Schweiz kann allein nicht prosperieren; sie ist wirtschaftlich und politisch auf internationale Kooperation angewiesen. Erst die Einsicht in diese Notwendigkeit lässt uns die Freiheit politischer Gestaltung richtig nutzen. Die Finanzmarktkrise holt uns auf den Boden der Realität zurück. Sie bietet einmalige Chancen für eine politische Neuorientierung. Wir sollten sie deshalb zum Anlass nehmen, um unser Bild der Schweiz ernsthaft zu überprüfen. Was mich beim Niederschreiben der Gedanken zunehmend ärgert und erschreckt, sind Indizien, dass manche Meinungsmacher und Entscheidungsträger diese Krise kleinreden und verdrängen, um nicht daraus lernen zu müssen. Man kriegt immer öfter den Eindruck, die konjunkturellen Aufhellungen der zweiten Hälfte des Jahres 2009, die wir den massiven Interventionen von Regierungen und Zentralbanken, also öffentlichen Geldern, zu verdanken haben, würden nun zum Anlass genommen, die postmoderne Party der privaten Bereicherung und des «anything goes» einfach so weiterzufeiern. Um Verantwortung abzuschieben, wird teilweise gar als völlig normal erklärt, was uns noch vor wenigen Monaten bis an den Rand des ökonomischen und politischen Abgrunds geführt hat. Doch wie will man die Fehler korrigieren, ohne sie einzugestehen? Wenn wir so weiterfahren wie vor dem Einbruch, kommt die nächste Krise so sicher wie das Amen in der Kirche, aber sie wird vermutlich viel schwieriger zu bewältigen sein. 25


Einleitung: Ausgangspunkt und Absicht der Studie

Diese Studie will zeigen, dass es verantwortungslos wäre, die Spielregeln nicht zu ändern. Sie fordert intellektuelle Redlichkeit bei der Aufarbeitung der Krise. Und sie setzt auf eine systemische Ordnungspolitik, die unser nationales und internationales Zusammenleben nachhaltiger gestalten kann. Ich hoffe, meine Überlegungen können zur Klärung beitragen, in welche Richtung wir gehen und welche Veränderungen wir vorantreiben sollten.

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1. Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

D

ie jüngste Finanzmarktkrise hat uns unsanft aufgeschreckt. Ein zyklisches Auf und Ab mit Bildung finanzieller Blasen, die plötzlich platzen, ist zwar längst nichts Neues mehr. Wer die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre nur einigermassen aufmerksam verfolgt hat, wird bei den Turbulenzen 2007 bis 2009 kaum von einem «Schwarzen Schwan» sprechen wollen, der völlig unerwartet aufgetaucht sei (Taleb 2008). Dass der Boom auf dem amerikanischen Liegenschaftsmarkt irgendwann ein Ende haben würde, war für die meisten Beobachter klar. Dass das Platzen der Immobilienblase in den USA die Finanzmärkte global erschüttern und an den Rand des Abgrunds führen würde, war das Überraschende. Eine weltweite Systemkrise von solcher Vehemenz und mit dermassen verheerender Wirkung auf die Realwirtschaft hätte wohl kaum jemand erwartet.

Krise und Krisenwahrnehmung in der Schweiz Die Schweiz ist von der Finanzmarktkrise besonders hart getroffen worden. Seit Ausbruch der Krise im Sommer 2007 bis Februar 2009 hat der Finanzplatz Schweiz Abschreibungsverluste von 75 Mrd. USD hinnehmen müssen. In Relation zum Bruttoinlandprodukt von 2007 sind das 17,9 Prozent, verglichen mit 5,4 Prozent für die USA oder nur 2,3 27


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

Prozent für die Bundesrepublik Deutschland. Sind wir uns dessen voll bewusst, dass die schweizerische Volkswirtschaft also gut dreimal mehr einbüsste als diejenige der USA und fast achtmal mehr als jene Deutschlands? Die Schweizer Banken haben in derselben Zeit 53,8 Prozent ihres Eigenkapitals von 2007 verloren und stehen mit dieser verheerenden Einbusse an der Spitze aller Länder (vgl. Sinn 2009, 190 und 216). Dabei sind wir noch nicht am Ende des gefährlichen Tunnels angelangt. Im April 2009 rechnete der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einem zusätzlichen Abschreibungsbedarf im Bankensystem von weltweit 1000 Mrd. USD; inzwischen hat der IWF seine Warnung zwar etwas abgeschwächt, aber er hat noch keineswegs Entwarnung gegeben (IMF 2009). Im Sommer 2009 schätzte auch die Schweizerische Nationalbank die Möglichkeit von künftigen Bankverlusten als sehr hoch ein. Im Dezember 2009 stellt sie einen fragilen Aufschwung fest, sieht aber immer noch ein Deflationsrisiko und will eine erneute Verschlechterung der Lage nicht ausschliessen (SNB 2009). Die Situation hat sich in der zweiten Jahreshälfte 2009 zwar etwas aufgehellt. Aber ob das Licht, das wir zu erkennen glauben, vom Tunnelausgang oder von einem entgegenkommenden Zug stammt, liess sich auch im Herbst 2009 noch nicht mit Sicherheit bestimmen (Weder di Mauro, in Avenir Suisse 2009). Und fast alle Ökonomen sind sich einig, dass wir gegenwärtig die schwerste Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren durchleben, deren äusserst problematische Auswirkungen auf Beschäftigung und Staatsfinanzen erst noch bevorstehen. Die Schweiz als kleines Land gehört zu den grössten Finanzzentren der Welt. Sie ist mit sieben Billionen Franken der drittstärkste Vermögensverwalter und in Bezug auf die 28


Krise und Krisenwahrnehmung in der Schweiz

Verwaltung ausländischer Gelder (Offshore Banking) der weltweit wichtigste Tresor. Die Bedeutung des Bankenplatzes für die Volkswirtschaft ist in der Schweiz wesentlich höher als beispielsweise in den USA oder Grossbritannien; der ganze Finanzsektor (inkl. Versicherungen) generiert hierzulande nach den Berechnungen des Eidg. Finanzdepartements (EFD Kennzahlen 2008, 2009) einen ausnehmend grossen Anteil am Bruttoinlandprodukt (12 %), an der Beschäftigung (6 %) und am Steueraufkommen aller Staatsebenen (13 %). Noch eine andere Eigenheit des Finanzplatzes Schweiz hat grosse wirtschaftliche und politische Bedeutung: Die Finanzindustrie ist so hoch konzentriert wie nirgendwo sonst. Die beiden Grossbanken hielten 2005 90 % der Bilanzsumme aller hiesigen Banken, was mehr als dem achtfachen Betrag der gesamten Jahreswertschöpfung der schweizerischen Volkswirtschaft entsprach (SNB 2007 429 f.). Im Vergleich dazu entspricht die Bilanzsumme aller amerikanischen Banken zusammen nur gerade einem Jahres-BIP (Bruttoinlandsprodukt) der USA. Die Schweiz hat mit den zwei Grossbanken also ein gefährliches Klumpenrisiko am Hals, das sie im Falle eines GAU wohl kaum zu stemmen vermöchte. Aber die beiden sind so gross geworden, dass man sie in einer Krise auch nicht fallen lassen kann; ihre Insolvenz würde den Zahlungsverkehr lahmlegen und die ganze Volkswirtschaft erschüttern. Die UBS allein führt gut 70 000 Kontokorrentkonti von KMUs; wer möchte schon verantworten, dass sie alle die Löhne nicht mehr auszahlen könnten? Das grosse Gewicht, der hohe Konzentrationsgrad und die Auslandverflechtung unseres Bankensystems erklären zum Teil, weshalb uns die Finanzmarktkrise besonders hart getroffen hat. Doch was ist der Grund, dass wir das Ausmass 29


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

und die Bedeutung der Krise kaum zur Kenntnis nehmen wollen? Manche Experten und die meisten Politiker schrecken davor zurück, die spezifischen Probleme unseres Finanzplatzes zu benennen. Viele zeigen erhebliche Mühe, den Stellenwert von Turbulenzen auf dem Finanzmarkt realistisch einzuschätzen. Selbst die Exekutive hat lange nicht wahrhaben wollen, in welch tiefe Krise unser Land geraten ist. Obwohl die Schweizerische Nationalbank die Lage schon 2007 als «sehr ernst» einschätzte, versuchte der Bundesrat noch am 7. März 2008 das Parlament zu beruhigen: «Der Bankensektor ist nicht gefährdet. Die weltweit tätigen Grossbanken (…) können auch schmerzhafte Verluste verkraften (…) Massnahmen zum Schutz der Schweizer Volkswirtschaft sind nicht erforderlich» (Antwort auf eine Interpellation der SP-Fraktion im Nationalrat vom 5. 12. 07). Noch im Sommer 2008 konnten das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) und das Volkswirtschaftsdepartement (EVD) in den Finanzmarktturbulenzen keine Bedrohung für die schweizerische Volkswirtschaft erkennen. Dabei hätte man die speziell hohe Anfälligkeit unseres kleinen Landes auf Krisen im globalisierten Finanzsektor längst thematisieren müssen. Selbst der Wachstumsbericht von 2008 lässt sich durch die Blasen und die scheinbar hohe «Produktivität» der Finanzwirtschaft blenden. Er ortet – gleich wie seine Vorgänger – die zentrale politische Herausforderung für die Schweiz nicht in ihrer Abhängigkeit von internationalen Märkten, sondern darin, den angeblich überbordenden Staat in die Schranken zu weisen. Durch die neoliberale Brille erscheint die Welt manchmal doch in eigenartiger Verzerrung. Unmittelbar vor Bekanntwerden der massiven Eingriffe seitens der Behörden haben bedeutende Exponenten ein30


Krise und Krisenwahrnehmung in der Schweiz

flussreicher Wirtschaftsverbände die Schweiz noch als glücklichen Sonderfall gepriesen, der Staatsinterventionen im Finanzbereich nicht nötig habe. «La crise n’existe pas!», titelte die Weltwoche am 16. Oktober 2008. War das schlichte Ignoranz oder eine schlechte PR-Übung für überholte ideologische Positionen? Immerhin, die Öffentlichkeit war durch die Medien über die gefährliche Situation der Grossbanken so weit informiert, dass der Paukenschlag des staatlichen Eingriffs zwar mit einer gewissen Konsternation des Publikums, aber doch eher mit Erleichterung als mit grundsätzlicher Ablehnung aufgenommen wurde. Mit den Beschlüssen vom 15. Oktober 2008 haben Bundesrat, Eidgenössische Bankenkommission und Schweizerische Nationalbank SNB dann doch erkennen lassen, dass sie die Probleme auf dem Finanzmarkt für gravierend und volkswirtschaftlich gefährlich halten. Dass sie deshalb ausserordentliche Massnahmen ergriffen und Notrecht in Anspruch genommen haben, will ich überhaupt nicht kritisieren. Diese Überraschungsaktion zeugt immerhin von Professionalität und einem politischen Mut, den man den Behörden nicht immer zutraut. Aber ich vermisse eine (selbst-)kritische Analyse, weshalb es zu einer solch «schweren Störung der Sicherheit» nach Art. 185 Abs. 3 der Bundesverfassung gekommen ist. Auch die gesetzliche Grundlage für das elegante Handeln der Notenbank scheint mir etwas schmalbrüstig zu sein. Nach Nationalbankgesetz Art. 5 soll die SNB zwar zur Systemstabilisierung beitragen; erlaubt sind ihr aber nur abgesicherte Hilfen bei Liquiditätsproblemen, nicht Eingriffe bei Insolvenzproblemen einer einzelnen Bank. Worum es sich im Herbst 2008 beim Fall der UBS konkret gehandelt hat, scheint zumindest fraglich. In seiner Botschaft vom 5. November 2008 zeigt der Bun31


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

desrat wenig Bereitschaft, die tieferen Ursachen der Bankenkrise und ihre für die Schweiz ganz besonders gefährlichen Auswirkungen auszuleuchten. Noch viel weniger ist er geneigt, das Versagen der staatlichen Aufsicht offen zu diskutieren und Vorkehren in Aussicht zu stellen, die derart gravierende Fehleinschätzungen in Zukunft verhindern. Er begnügt sich mit der Absicht, das Vertrauen in das heutige Finanzsystem möglichst rasch wiederherzustellen. Verzichtet er deshalb auf die Behandlung von tiefer greifenden Fragen, die das Publikum eventuell verunsichern könnten? Oder will er nur davon ablenken, wie tief die Behörden in die Finanzmarktkrise verstrickt sind? Die Botschaft soll die Öffentlichkeit beruhigen, gut. Aber wenn man verlorenes Vertrauen wieder aufbauen will, darf man dem Publikum nicht Sand in die Augen streuen. Zwischen den Zeilen lesen wir, dass bei einer für die Zukunft gar nicht auszuschliessenden erneuten Krise eines der beiden Bankgiganten wohl wiederum Vater Staat in die Bresche springen müsste. Nicht einmal der etwas verbesserte Einlegerschutz ist so ausgelegt, dass er das Insolvenzrisiko einer Grossbank abdecken könnte. Auch ein Jahr später zeigt man sich von Seiten der Behörden immer noch resistent gegenüber jeder Krisenperzeption, die eigene Fehler aufdecken könnte. Die FINMA, Nachfolgerin der Eidg. Bankenkommission, geht mit ihrem ausführlichen Bericht vom 14. September 2009 zu «Finanzmarktkrise und Finanzmarktaufsicht» stracks in die Vorwärtsverteidigung: Es könne «kein spezifisches Fehlverhalten schweizerischer Aufsichtsbehörden» festgestellt werden, schreibt sie (S. 14), obwohl doch gerade die Absegnung aggressiven Risikoverhaltens von überdimensionierten Grossbanken ein kleines Land wie die Schweiz in eine besonders heikle Situation bringen musste; die Eidgenössische 32


Krise und Krisenwahrnehmung in der Schweiz

Bankenkommission habe im Juli 2004 bloss eine risikoadäquatere Modellierung des Value at Risk, eine verbesserte Risikomessung und damit ein besseres Risikomanagement für die UBS erzielen wollen. «Diese Bewilligung ist auch rückblickend vertretbar», behauptet die FINMA unverfroren (S. 31). Aber genau diese Bewilligung hat dazu geführt, dass die UBS ihre Schulden massiv erhöhen durfte und trotz Warnungen der Nationalbank mit der weltweit tiefsten Eigenkapitalquote von 1,8% in die Finanzmarktkrise rasselte. Den Absturz hat die UBS deshalb nicht mehr aus eigener Kraft überstehen können, was sicher nicht die Absicht, aber doch eine Folge problematischer Entscheidungen auch der EBK war. Den Gipfel der Verharmlosung erklimmt das Eidgenössische Finanzdepartement mit dem Bericht vom 11. September 2009 an die WAK (Wirtschafts- und Abgaben-Kommission) des Nationalrats zu «Situation und Perspektiven des Finanzplatzes Schweiz»; es schwafelt sogar von einer «guten Kapitalisierung [der UBS] zu Beginn der Krise» (S. 22), ohne sich aber um eine einleuchtende Erklärung zu bemühen, warum die UBS von der Krise doch dermassen stark betroffen wurde. Eine ausreichend kapitalisierte Bank hätte wohl keine Staatshilfe beanspruchen müssen. Hier wird eindeutig Mitverantwortung von der Bankenaufsicht abgeschoben. Dürfen wir Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Behörden vertrauen, die eine Beschönigung offensichtlicher Fehlurteile für nötig halten? Ausmass, Bedeutung und Gefahren der Finanzmarktkrise werden hierzulande nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Man versucht hauptsächlich, die systemischen Aspekte und Zusammenhänge herunterzuspielen, und blendet die Tatsache aus, dass sich die Schweizer (Gross-)Banken mit ihren globalen Finanzgeschäften in einem ganz besonderen Masse 33


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

übernommen haben. Sie sind – im Wissen und mit dem Segen der Aufsichtsbehörde – mit extrem wenig Eigenkapital versehen in die Finanzmarktkrise geschlittert und stellen damit ein Paradebeispiel für den «Casino-Kapitalismus» dar, der dank hoher Fremdfinanzierung mit riskanten, spekulativen Geschäften höchste Gewinne erzielt, massive Verluste aber weitgehend sozialisiert respektive verstaatlicht (Sinn 2009). Das will nicht heissen, die Schweizer Behörden hätten die UBS im Herbst 2008 in den Konkurs schicken sollen. Grösse und besondere Struktur des Finanzplatzes, seine volkswirtschaftliche Funktion, aber auch seine ökonomische, juristische und politische Einbindung in globale Zusammenhänge machten eine Rettung der UBS durch den Staat wohl unausweichlich. Damit ist aber das systemische Problem noch lange nicht gelöst. Es hat sich eher noch verschärft, weil nun alle wissen, dass der Staat systemrelevante Banken nicht fallen lassen kann. Daraus resultiert nicht nur ein wettbewerbsverzerrender Konkurrenzvorteil für die Grossbanken, sondern ein geradezu perverser Anreiz, die Hochrisikospiele wieder aufzunehmen, sobald die Krise überwunden scheint. Noch wissen wir nicht, wer aus der Krise was gelernt hat. Ohne Änderungen des Finanzsystems könnten wir deshalb schon bald wieder vor derselben Problematik stehen wie im Oktober 2008. Aber wer die Systemkrise nicht wahrhaben will, ist zu Systemänderungen kaum bereit. Oder umgekehrt: Wer das System nicht ändern möchte, muss versuchen, die systemischen Probleme möglichst auszublenden. Und genau das erleben wir heute in der politischen Debatte unseres Landes. Gegen Vorschläge, durch markante, für die Grossbanken spürbare Erhöhungen des Eigenkapitals oder durch Decke34


Sonderfall, nationale Identität und Mythenbildung

lung von Löhnen und Boni genau jene Anreize etwas abzubauen, die zum verheerenden Casino-Kapitalismus führten, tritt sofort der Finanzminister auf den Plan. Und stellt die Nationalbank für unsere Geldinstitute eine Grössenbeschränkung zur Diskussion, wehrt sich gegen derlei Ansinnen umgehend die Volkswirtschaftsministerin. Und alle Forderungen, mit einer Banklizenz für die Postfinance tragfähige Parallelstrukturen im schweizerischen Finanzierungsund Zahlungssystem aufzubauen, werden schon im Parlament beerdigt. Das schwächt den Wettbewerb und die Krisenresilienz in unserem Finanzsystem und zwingt die Post, das viele Geld der kleinen Kunden, das ihr gerade auch in kritischen Zeiten zufliesst, teilweise im Ausland anzulegen.

Sonderfall, nationale Identität und Mythenbildung Wie kann man erklären, dass die offizielle Schweiz die tiefe Krise gar nicht richtig wahrhaben will? Warum werden die Grossbanken so geschont und gehätschelt? Lassen sich die Schweizer Behörden korrumpieren oder steht der Bankenplatz als nationales Kulturgut unter Denkmal- und Heimatschutz? Labt sich die kleine Schweiz an der schieren Grösse und an der Macht ihrer Bankgiganten? Möchten die Eliten ihr «Unbehagen im Kleinstaat» (Karl Schmid, 1963) mit weltweit geachteter (oder besser: gefürchteter) Bankenmacht kompensieren? Neben rein wirtschaftlichen Interessen scheinen jedenfalls auch psychologisch und kulturell interessante Elemente mit im Spiel zu sein. Vielleicht handelt es sich beim Finanzplatz um eine ähnlich tabuisierte Geschichte wie bei der überdimensionierten Schweizer Armee. Beide, Finanzplatz und Armee, haben eine Grössenordnung 35


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

und eine Bedeutung erreicht, die sich rein aus ihrer wirtschaftspolitischen respektive sicherheitspolitischen Funktion kaum mehr rechtfertigen lassen. Beide sind zu einem nationalen Mythos verklärt worden und prägen unser Bild von der Schweiz als einem Sonderfall. Welchen Stellenwert hat der Finanzplatz für unsere nationale Identität? Wie wichtig ist uns ein rigoroses, auch die Steuerhinterziehung begünstigendes Bankgeheimnis? Selbst wenn es die Schweiz auf dem internationalen Parkett zu einer «Hehlernation» stempelt und sie in immer grössere Schwierigkeiten bringt? Oder ist es gerade die Kritik aus dem Ausland, die uns als Nation zusammenschweisst? Was verbindet Genf und Lugano mit Zürich, Basel und St. Gallen, zum Teil sogar über Partei- und Sprachgrenzen hinweg? Was wollen der Finanzminister mit verbalen Drohgebärden und die Aussenministerin mit ihrem theatralischen Einsatz für ein wohl eher überholtes Geschäftsmodell im Schweizer Banking demonstrieren? Das Bankgeheimnis hat auf symbolischer und politischer Ebene zuweilen fast noch grössere Bedeutung erlangt, als ihm im wirtschaftlichen Kalkül der Finanzindustrie zukommt. Zwar gehört das Bankgeheimnis seit jeher zum Geschäftsmodell der Privatbanken, dem sich nun auch die Grossbanken wieder stärker anzunähern scheinen, seit ihnen das Private Banking die grössten Gewinne verspricht. Noch in den 1990er Jahren, als das lukrative Geschäft mit den institutionellen Anlegern im Vordergrund stand, konnte man den Eindruck gewinnen, dass das Bankgeheimnis für die Grossbanken nicht mehr ganz so wichtig sei. Doch das Bankgeheimnis ist für die Schweiz längst zu einem nationalen Mythos geworden. An ihm soll nicht nur unser Land (finanziell) genesen; manche möchten damit auch 36


Sonderfall, nationale Identität und Mythenbildung

das Ausland neoliberale Mores lehren, wie der Staat seine Steuerzahler zu behandeln habe. Gewisse Kreise verlangen gar, das Bankgeheimnis als Symbol der schweizerischen Unabhängigkeit auf Verfassungsstufe zu verankern. Für sie ist dieses historische Relikt aus den Dreissigerjahren zum Inbegriff für die «Swissness» geworden. Aber man kriegt den Eindruck, dieses Ansinnen sei selbst den Banken etwas peinlich. Zumal den beiden Grossbanken, die mit Patriotismus nicht mehr viel am Hut haben, seit sie sich von nationalen Institutionen zu globalisierten Finanzkonzernen gewandelt haben. Doch der nationale Mythos Bankgeheimnis hat sich auf der symbolischen Ebene gleichsam verselbständigt und erweist sich oft als stärker als nüchterne Interessenabwägung. Mythen erzeugen, wenn sie erfolgreich sind, ihre eigene Wirklichkeit. Etwas fällt auf: Je mehr sich unsere Finanzindustrie von den Bedürfnissen der Realwirtschaft ablöst und die Schweiz in ihre riskanten Spiele auf globalisierten Märkten verwickelt, desto dreister wird die Abhängigkeit unseres Landes vom Ausland geleugnet, ja, gewissermassen politisch tabuisiert. Je mehr uns Wirtschaft, Konsumverhalten und Wissen mit Europa und der übrigen Welt eng verbinden, umso penetranter wird nicht unser Finanzplatz, sondern die Schweiz als ein «Sonderfall» zelebriert, der nur im Unterschied und als Gegensatz zum politischen und kulturellen Mainstream Europas zu verstehen sei. Damit lassen sich die Besonderheiten des schweizerischen Bankensystems, die auch aus volkswirtschaftlicher Sicht als fragwürdig erscheinen, gegen jede Kritik immunisieren. Wer unsere (Gross-)Banken in Frage stellt, stellt unser Land, stellt uns in Frage. Spannend ist, aus welchem Geschichtsbild unsere nationalen Mythen aufzusteigen scheinen. Es ist die Abwehr ge37


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

gen äussere Feinde, gegen die Arglist der Zeit, die uns zusammenschweisst. Die Schweiz ist keine Nation. Sie ist ein Konglomerat aus verschiedenen Kulturen und kleinräumigen Entitäten. Ihre Widersprüche kann sie dann am besten überwinden und zu einer Einheit wachsen, wenn sie sich von aussen bedroht fühlt. Deshalb spielt der Zweite Weltkrieg in unserem historischen und politischen Bewusstsein eine besonders grosse Rolle. Denn es gab weder vorher noch nachher eine Phase der Schweizer Geschichte, in der die Gegensätze und Konflikte zwischen deutsch und welsch, katholisch und protestantisch, ländlich und städtisch, arm und reich, oben und unten, links und rechts so gut überbrückt (und unterdrückt) werden konnten wie in dieser Bedrohungslage. Es war die grosse, die hehre Zeit für die Schweiz mit einem gemeinsamen existenziellen Ziel und mit einem Militär- und Arbeitsdienst, der sinnstiftend und identitätsbildend wirkte. Eine Zeit, in der man schon fast von einer Nation hätte sprechen können. In der Abwehr gegen das Böse und Fremde empfand man sich jedenfalls als eine Schicksalsgemeinschaft und echte «Willensnation» (vgl. Villiger 2009). Deshalb ist hierzulande noch 1989 der Beginn des Aktivdienstes 50 Jahre zuvor weit stärker gefeiert worden als 1995 das Kriegsende. Und deshalb muss auch heute noch damit rechnen, des Verrats an der Schweiz bezichtigt zu werden, wer aufzeigt, dass die Abwehr des Bösen immer auch mit Elementen der Kollaboration durchsetzt war. Hinter dieser verklärenden Sicht der Schweiz im Zweiten Weltkrieg tauchen Bilder auf, die schon in den Dreissigerund Vierzigerjahren den Widerstandswillen festigen sollten: die Gründungssaga der Eidgenossenschaft. Es ist geradezu unheimlich, wie reflexartig im Streit um das Bankgeheimnis das Bild der fremden Vögte aufscheint. Hitler – Moskau – 38


Geschichte als Konstruktion der Wirklichkeit

Brüssel symbolisieren eine Kontinuität der Bedrohungslage. Aber dahinter stehen immer gleich 1291 und die Schlachten von Morgarten bis Sempach: Schon damals haben wir uns erfolgreich gegen fremde Ritter und Richter gewehrt, und wir werden uns auch gegen EU, G 8 und G 20 behaupten. Was uns bei diesem Gebrauch von Geschichte vielleicht doch zu denken geben sollte: In Europa benutzt neben der Schweiz einzig noch Serbien mythisch verklärte Bilder aus dem Mittelalter, um die nationale Identität zu beschwören (vgl. Marchal 2009).

Geschichte als Konstruktion der Wirklichkeit Dieser sonderbare Regress auf Geschichten über das Mittelalter und den Zweiten Weltkrieg blendet vieles aus, was für das Verständnis und die Interpretation unserer gegenwärtigen Probleme weit wichtiger wäre. Namentlich die Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte nehmen wir kaum differenziert zur Kenntnis, wenn wir die historische Dimension unserer politischen Identität ausloten. Was hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg, seit den 1970er, den 1990er Jahren wesentlich verändert? Welche Kontinuitäten und welche Brüche beeinflussen unser Denken und Handeln? Wie hat sich die Schweiz gewandelt und wohin steuert sie heute in einem rasch sich ändernden Kontext, der die globale Interdependenz zur zentralen Herausforderung werden lässt? Da stehen doch bedeutend relevantere Fragen an als Mutmassungen darüber, ob wohl die Kriegsgurgeln der Innerschweiz vor 700 Jahren in nur scheinbar ähnlichen Situationen zur Hellebarde gegriffen hätten. Zur Begründung des Sonderfalls Schweiz wird meist die 39


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

Geschichte unseres Landes als Argument ins Feld geführt. Aber man vergisst dabei gerne, dass Geschichtsbilder die Ergebnisse von Interpretationen und damit unsere Konstruktionen sind. Wohl das gescheiteste Buch, das ich während meines Studiums in den späteren 60er Jahren gelesen habe, hiess «Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen»; der Philosoph Theodor Lessing hatte es schon 1919 publiziert. Seine Thesen nahmen Erkenntnisse des modernen Konstruktivismus vorweg und schienen mir damals revolutionär: Die Geschichte als solche hat keinen Sinn, sagt Lessing; wir müssen den Sinn in die Geschichte hinein interpretieren. Oder besser: Erst unser Denken und Handeln verleihen der Geschichte Sinn. Und: Die Vergangenheit beeinflusst zwar unsere Perzeption der Wirklichkeit und damit unser Entscheidungshandeln; das tut sie aber weit weniger durch objektive «Fakten» als vielmehr mit den subjektiven Vorstellungen und Bildern, die wir uns davon machen. Die Geschichte wirkt also vor allem durch die Geschichten, die wir über sie erzählen. Die historische Rekonstruktion (vergangener) sozialer Wirklichkeit ist ein zentraler Bestandteil der sozialen Konstruktion von (gegenwärtiger) Wirklichkeit. Unsere Sicht des «Seins» ist geprägt durch unser Bild des «GewordenSeins». Deshalb tendieren historische Betrachtungen zur Legitimation des Gewordenen. Geschichten haben meist konservierenden Charakter. Indem sie nach möglichst stringenten Erklärungen dessen suchen, was sich real durchgesetzt hat, stellen sie Entscheidungen und Entwicklungen oft als alternativlos oder als Ergebnis menschlicher Planung, wenn nicht sogar göttlicher Vorsehung dar. Diese Art von «Grossen Erzählungen» oder «Meistererzählungen» eignet sich vorzüglich für Biografien mächtiger Männer, für Festschriften 40


Geschichte als Konstruktion der Wirklichkeit

erfolgreicher Firmen und bis vor kurzem auch für nationalstaatliche Epen, die den Staatsbürgern politische Identität vermitteln wollen. Wirtschaftlicher und zivilisatorischer Fortschritt in nationalstaatlichem Rahmen – dieses erfolgreiche Narrativ der Moderne hat das Geschichtsbild im 19. und 20. Jahrhundert tief geprägt. Aber gerade Erscheinungen wie die Finanzmarktkrise zeigen deutlich, dass es heute schwierig, ja, eigentlich unmöglich geworden ist, wichtige historische Entwicklungen wie etwa auch den Aufstieg der Schweiz zu einem Finanzplatz von internationaler Bedeutung im Modus nationalstaatlicher Erfolgsgeschichten zu beschreiben. Denn einerseits sprengen die globalen Entwicklungen und Vernetzungen den nationalen Rahmen für die Perzeption von Modernisierungsprozessen. Anderseits sehen wir heute auch die Widersprüche und Entwicklungsbrüche in solchen Prozessen wesentlich deutlicher. Die einstigen Erfolge und märchenhaften Gewinne unserer Grossbanken erscheinen uns nach deren dramatischem Fall in einem etwas fahleren Licht, und die klägliche Figur, die unsere Magistraten in der Verfolgung vermeintlich nationaler Interessen abgeben, lässt berechtigte Zweifel aufkommen, ob eine traditionelle Interpretation nationaler Souveränität immer noch zeitgemäss ist. Krisen machen uns hellhörig und kritischer; hoffentlich sogar auch selbstkritischer. Manchmal machen sie uns offener für mögliche Alternativen, die sich historisch bisher nicht haben durchsetzen können, aber immer noch als Potenziale im Schoss unserer Gegenwart schlummern. Nicht selten erkennt man neue Chancen für die Zukunft beim ernsthaften Versuch, die Vergangenheit in einem etwas anderen Lichte zu sehen. Dann kann plötzlich als sinnvoll, ja, als wünschbar erscheinen, was bisher als sinnlos galt und unbeachtet blieb 41


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

oder gar als Unsinn vehement bekämpft wurde. Sinn ist die wichtigste Ressource mentaler Orientierung; er kommt in sozialen Prozessen überall dort zum Zug, wo die Sinne allein überfordert wären. Doch was macht Sinn und was bedeutet Sinn? Die Begriffe sinnlos und Unsinn brauchen wir dann, wenn wir etwas nicht in einen vernünftigen Zusammenhang einfügen können. Sinn entsteht also aus Kontexten. Erst vor relevanten Hintergründen und aus der Deutung wichtiger Zusammenhänge kann man etwas als sinnvoll verstehen. Sinn hat eine narrative Struktur; er wird erzählend (re-)konstruiert und mit Hilfe von Geschichten transportiert. Und allen Geschichten vom Kindermärchen über Autobiografien bis hin zur Geschichte als Wissenschaft eignet eine zeitdifferente Betrachtungsweise: Sie beschreiben ihre Objekte, wie sie zeitgleich kaum hätten beobachtet werden können. Denn sie stellen die geschilderten Ereignisse und Vorgänge in Zusammenhänge, die man oft erst im Nachhinein erkennt (vgl. z. B. Rüsen 2001). So konnte etwa der «Grosse Krieg» 1914–1918 erst zum «Ersten Weltkrieg» werden, als sich ein zweiter daraus entwickelt hatte. Und erst nach einer unerwarteten Wende fällt einem manchmal auf, was man schon lange als Vorboten der Entwicklung hätte wahrnehmen können. Geschichten dienen mit ihrer narrativen Struktur auch der Legitimation politischen Handelns, indem sie Entscheidungen und Entwicklungen im Lichte ihrer erwarteten, offensichtlichen oder doch vermeintlichen Folgen die einzig richtige, die «wahre» Bedeutung zu verleihen suchen. Im Prozess des Erzählens können Geschichten auch eine Art Eigenleben entwickeln. Denn die in Sprache geronnenen Erkenntnisse werden als sinnvolle Erzählungen gegen mögli42


Geschichte als Konstruktion der Wirklichkeit

che Einwände gleichsam immunisiert. Gedächtniskritik und moderne Hirnforschung kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Etwas zugespitzt: Wir sind unsere Erinnerung, aber wir erinnern uns weniger an das, was effektiv war, sondern vielmehr an den sinnvollen Reim, den wir uns über die Realität schon immer gemacht haben. Und ob die Erfahrung der Gegenwart, also was uns an Neuem widerfährt, uns auch wirklich zu ändern vermag, wird sich erst in der Zukunft weisen: nämlich darin, ob sich unsere Erinnerung geändert haben wird (vgl. Roth 2001 und Fried 2004). Diese Erkenntnisse über die Funktion von Geschichte und Geschichten sind in den letzten Jahrzehnten durch Wissenschaft und Praxis ausgebaut und verfestigt worden. Aus den USA stammt beispielsweise ein Führungsverständnis, das voll auf das «Story Telling» setzt. Auch in Pädagogik und Identitätsarbeit hat man den hohen Stellenwert von Geschichten erkannt. Mit Geschichten vergewissern wir uns der eigenen Identität. Wenn Sie gefragt werden, wer Sie sind, beginnen Sie eine Geschichte zu erzählen. Und achten Sie mal darauf, welch grosse Bedeutung Geschichten am Arbeitsplatz, in der Familie, im Freundeskreis, in Ihrem täglichen Leben zukommt. Wie oft müssen wir unseren Kindern immer wieder die gleichen Geschichten erzählen? Geschichten sind Vehikel für die Sozialisation und Bausteine unserer Identität. Vor allem gemeinsam (immer wieder) erzählte oder besser noch: gemeinsam erlebte Geschichten bilden die Grundlage für erfolgreiches gemeinsames Handeln. Wenn etwa die Mitglieder eines Teams ihren Projektauftrag mit möglichst identischen Geschichten erzählen können, ist die Chance gross, dass ihr Vorhaben nicht an Kommunikationsproblemen scheitert (dabei ist interessant: nach glaubhaften Schätzungen sind bisher ca. 80 Prozent aller erfolglosen EDV-Projek43


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

te nicht etwa an technologischen, sondern an kommunikativen Problemen gescheitert).

Zeitgeschichte, Politik und historische Analyse Was nun die Finanzmarktkrise betrifft, so sind ihre Ursachen noch wenig diskutiert und ihre Folgen heute nur schwer abschätzbar. Wir haben es mit Entwicklungen zu tun, die noch nicht abgeschlossen und selbst unter Spezialisten umstritten sind. Wir sind noch nicht sicher, welche Geschichten über die Gegenwart wir in Zukunft als relevant betrachten werden. Trotzdem möchten wir das Geschehen in Perspektive sehen und als eine Geschichte verstehen, ohne uns in Details zu verlieren. Vor allem möchten wir erkennen, wo wichtige Prozesse ihren Bifurkationspunkt erreicht haben, wo also eine Wende der Entwicklung wahrscheinlich oder möglich wird. Wenn ich als Zeithistoriker die Finanzmarktkrise verständlich machen will, dann muss ich eine einleuchtende, eine sinnvolle Geschichte erzählen, die unsere heutigen Probleme als Folge früherer Entscheidungen und Prozesse begreifbar macht; eine Geschichte auch, die den chaotischen Strom der Ereignisse in eine strukturbildende Periodisierung bettet und die geschilderte Entwicklung zum besseren Verständnis in relevante Kontexte fügt. Ob es mir dabei gelingt, die wirklich wichtigen Ereignisse auszuwählen und den richtigen Zusammenhängen Bedeutung zu verleihen, wird erst die Zukunft weisen. Dort liegen nämlich die Referenzpunkte für eine zeitdifferente Betrachtung unserer Gegenwart. Erst in der Zukunft wird klarer erkennbar, ob wir heute die richtigen Entscheide fällen. Deshalb fliessen Erwar44


Zeitgeschichte, Politik und historische Analyse

tungen, Ängste und Hoffnungen in die Analyse mit ein und machen Zeitgeschichte zu einem eminent politischen Geschäft. Zeitgeschichte trägt Verantwortung dafür, dass die politischen Debatten Anschluss finden können an einen historischen Diskurs, der die unmittelbare Vorgeschichte unserer Gegenwart nicht ausblendet. Einen Diskurs, der im Fluss gesellschaftlicher Entwicklungen realistischere Orientierungen ermöglicht als die mythisch überhöhten Kriegsgeschichten. Wir können doch heute nicht mehr bei jedem Problem sofort zum Zweihänder greifen und so tun, als gäbe es nur «Anpassung oder Widerstand». (Das konnten übrigens auch unsere Vorfahren nicht, wie die seriöse historische Forschung längst nachgewiesen hat.) Wir müssen auch den Grautönen in unserer komplexen Welt Rechnung tragen, wenn wir den historischen Ort unserer Gegenwart und die Chancen und Risiken für unser politisches Entscheidungshandeln besser erkennen wollen. Das geht nur, wenn wir Brüche und Widersprüche akzeptieren, wenn wir das Konflikthaltige vielleicht sogar bewusst aufspüren und auf seine Triebkräfte befragen. Zeitgeschichte ist hochpolitisch; sie muss streitbar sein. Mit vorschneller Einebnung von Sichtweisen und Meinungsvielfalt ist weder der wissenschaftlichen Erkenntnis noch dem politischen Frieden gedient. Zeitgeschichte kann – im besten Fall – einen Konsens bewirken, aber sie darf bei ihrem Bemühen, eine Orientierung im zeitlichen Ablauf zu schaffen, den inhaltlichen Konsens nicht als schon gegeben voraussetzen. Das gilt auch für unser Vorhaben. Wenn wir über den arg gebeutelten Finanzplatz Schweiz und über eine vernünftige Finanzmarktpolitik diskutieren wollen, sollten wir die Entwicklungen studieren, welche die gegenwärtigen Probleme 45


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

verursacht haben. Ich bevorzuge dabei eine Sichtweise, die als dialektisch und zugleich als systemisch bezeichnet werden kann. Ich versuche, die Entwicklungen aus ihren Widersprüchen und ihrer Konflikthaltigkeit zu erfassen und sie zugleich in grössere Zusammenhänge zu fügen, aus denen sich ihr möglicher historischer Sinn ergibt. Aus solch dialektisch-systemischer Sicht erscheint die aktuelle Finanzmarktkrise als ein Wendepunkt in der Geschichte der Moderne: In Konsequenz der kapitalistischen Durchdringung der modernen Gesellschaften und ihres globalen Ausgreifens ist die Finanzwirtschaft zum dominanten gesellschaftlichen Subsystem avanciert. Mit ihrer Orientierung am immer kurzfristigeren privaten Gewinn löst sie aber Konflikte und Krisen aus, die nachhaltige Entwicklung verunmöglichen. Die Finanzwirtschaft muss deshalb an lebensdienliche, sozialverträgliche und ökologisch sowie demografisch vertretbare Wachstumsziele politisch zurückgebunden werden. Dazu sind die Nationalstaaten jedoch kaum mehr fähig, denn sie befinden sich infolge der rasanten Globalisierung in einem ruinösen Standortwettbewerb um Steuervorteile und um die Finanzierung ihrer öffentlichen Güter. Für die Zukunft hat deshalb absoluten Vorrang, dass diese verheerende Rivalität durch internationale Kooperationen gedämpft und überwunden wird. Eine interdependente Welt entscheidet mit der Aussenpolitik von heute über die Chancen der Innenpolitik von morgen. Das soll kein Plädoyer für einen neuen Etatismus, sondern für einen wirkungsvollen ordnungspolitischen Rahmen sein. Ich kann – was unsere Gegenwart betrifft – bei aller Sympathie für radikale Systemkritik keine realisierbare und humane Alternative zum marktwirtschaftlich organisierten Kapitalismus erkennen. Dieses System am privaten Gewinn ori46


Zeitgeschichte, Politik und historische Analyse

entierter dezentraler Entscheidungen bringt mit seiner Dynamik und Kreativität eindrückliche Leistungen hervor; es generiert den permanenten Wettbewerb als Motor im Prozess der Modernisierung. Zugleich produziert es aber Konflikte und systemische Risiken, die seine Selbststabilisierung immer wieder gefährden. Ein starker politischer und ethischer Rahmen ist nötig, wenn das ganze Programm der Moderne, zu dem neben wirtschaftlichem Fortschritt auch politische Demokratie und soziale Gerechtigkeit gehören, eine Realisierungschance haben soll. Das ist keine sozialistische Erkenntnis; das war schon den bürgerlichen Demokraten des 18. und 19. Jahrhunderts und selbst noch den Ordoliberalen um die Mitte des 20. Jahrhunderts völlig klar. Aber dieser immer noch stark auf das Nationale fixierte Rahmen muss jetzt neu gestaltet werden. Im Zeitalter des globalen Finanzmarkt-Kapitalismus reichen nationale Regeln nicht mehr aus, weil globale Spiele international wirkende Spielregeln notwendig machen. Das gilt nicht nur im Sport, aber dort scheint es heute schon allen einsichtig zu sein. Die Finanzmarktkrise ist eine echte Chance für eine internationale Sicht der Dinge, weil sie die grenzüberschreitenden systemischen Gefährdungen drastisch aufzeigt und deshalb eigentlich eine Wende zur weltweiten Kooperation in der Marktregulierung und Marktaufsicht erzwingen müsste. Aber Krisen sind Phasen grosser Unsicherheit; sie bergen auch die Gefahr, dass sich ein System noch verhärtet. Die relative Zukunftsoffenheit unserer heutigen Situation kann höchst unterschiedlich beantwortet werden. Es wäre politisch naiv zu glauben, ein Re-Design der globalen Finanzmärkte nach der Krise führe automatisch zu systemisch vernünftigen internationalen Regelungen, die Nachhaltigkeit und mehr Gerechtigkeit garantieren könnten. Konstruktive 47


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

Lösungen müssen politisch erstritten werden, und man darf dabei das Zeitfenster nicht verpassen, in dem radikale Änderungen des geltenden Regimes noch möglich sind. Ob die Schweiz die Notwendigkeit engerer internationaler Zusammenarbeit als eine Chance begreifen kann und ihre Zukunft entsprechend zu gestalten versteht, ist eine politische Schicksalsfrage. Sie entscheidet sich nicht zuletzt daran, wie wir diese Krise vor dem Erfahrungshorizont unserer Zeitgeschichte interpretieren. Als Land, das von der Finanzwirtschaft stärker profitierte als andere Länder, das aber diesem globalisierten gesellschaftlichen Subsystem auch stärker ausgeliefert ist, sind wir wohl gut beraten, wenn wir die Finanzmarktkrise ernsthaft analysieren. Dazu gehört, dass wir die Entwicklung des Finanzsektors aus einer historischen Perspektive zu erfassen versuchen. Das Aussergewöhnliche, für das wir Erklärungen finden sollten, ist nämlich nicht die Finanzmarktkrise an sich, sondern ihre markante Vorgeschichte: der Wandel der Banken und Finanzintermediäre von traditionellen Dienstleistern zu erfolgreichen und alles beherrschenden Geldmaschinen. Die Ursachen der Krise, ihre Auslöser und ihr Verlauf sind vergleichsweise einfach zu verstehen, wenn wir begreifen, warum und wie die ausserordentlichen Gewinne in der Finanzindustrie zustande kamen. Nicht der Absturz ist das historisch sehr schwierig zu erklärende Phänomen, sondern der rasante Aufstieg der modernen Finanzwirtschaft auf solch schwindelerregende Höhen. Das eigentlich Skandalöse bei all diesem Treiben war nicht etwa die Gier der Banker, sondern der Umstand, dass man sie ihre riskanten Geschäfte fast unwidersprochen machen liess. Dass die meisten Ökonomen die spekulativen Gewinne beklatschten, gehört zu den Peinlichkeiten einer Wis48


Zeitgeschichte, Politik und historische Analyse

senschaft, die mit beinahe religiöser Inbrunst das Heil des (quantitativen!) Wachstums predigt und hohe Profite als einen vermeintlich rationalen Ersatz für Sinn begreift (Nelson 2001). Im Volk regte sich zwar schon früh der Unwille über wachsende Bezüge und exorbitante Boni gewisser Manager, was die NZZ als «Neidökonomie» verspottete. Auch für die akademische Zunft waren die merklich verschobenen Einkommens- und Wohlstandsrelationen kaum Anlass, die tieferen Ursachen und die relevanten Auswirkungen solcher Veränderungen kritisch zu hinterfragen. Dabei hätte man in den absurden Lohnspreizungen das Indiz für ein gestresstes oder gar «krankes» System erkennen können, in dem finanzielle Erfolge immer weniger den Leistungen im traditionellen Sinne entsprachen. Man hätte doch sehen müssen, dass solche Praktiken die Werte der Arbeitsgesellschaft unterminieren, deren moralischen Zerfall man gleichzeitig beklagte. Hohen Profitraten selbst im zweistelligen Bereich haftete nichts Fragwürdiges oder gar Unanständiges an. In einer Art von säkularisiertem Calvinismus legitimierte der Profit jegliches Tun und jegliche Form von Wachstum. Wer die Verteilungsfrage zu stellen versuchte oder nach den Verlierern in diesem Gewinnspiel ohne Grenzen zu fragen wagte, störte den Wachstums-Gottesdienst. Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung liessen sich von hohen Gewinnen korrumpieren, in der Hoffnung, davon mit profitieren zu können. Manche für den gesellschaftlichen Kitt und für eine nachhaltige Entwicklung wichtige Werte wurden durch den Geldwert rasch realisierbarer Gewinne diskreditiert und verdrängt. Der Verlust bisher gültiger Massstäbe und die Verzerrung traditionell als «gesund» geltender Relationen in Wirtschaft und Gesellschaft sind Ausdruck einer politischen und kulturellen Krise, mit der wir künftig auch dann noch 49


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

konfrontiert sein werden, wenn die Finanzmarktkrise rascher überwunden sein sollte als noch vor wenigen Monaten angenommen. Die hier vorgetragene Interpretation ist zugegebenermassen nicht frei von subjektiver Einschätzung und persönlichen Werthaltungen. Historische Analysen gesellschaftlicher Veränderungen können schon aus Gründen der Erkenntnistheorie nie in einem strengen Sinne objektiv sein. Sie sollten jedoch einen hohen Grad an Intersubjektivität anstreben, um wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen. Das heisst nicht, dass wir ein Bild der Vergangenheit zeichnen müssen, das auf möglichst breite Zustimmung stösst. Es heisst vielmehr Nachvollziehbarkeit (und damit auch Kritisierbarkeit) der wichtigen Denkprozesse und Entscheidungen, die unserem Bild der Vergangenheit zugrunde liegen. Der Zeithistoriker droht im Meer der bekannten Daten zu ertrinken. Sein Hauptproblem ist die Auswahl der relevanten Fakten und Deutungen. Er muss entscheiden, worauf er verzichten will, denn er kann unmöglich alles Wissenswerte zur Darstellung bringen. Dabei steht die Relevanz seiner Fragen und Antworten auf dem Prüfstand: Die Rückschau auf die Vergangenheit muss für das Verständnis der Gegenwart und die Vorschau auf die Zukunft bedeutsam sein. Jede Analyse, jede Beschreibung geht von Theorien aus oder doch von Modellen und Konzepten, also von Bildern über den Zusammenhang der Dinge und Prozesse in unserer Welt. Wer eine Geschichte erzählt, ist darauf angewiesen, dass er aus dem Vorverständnis seiner Zuhörerschaft Unmengen gespeicherter Erfahrungen und Erkenntnisse abrufen kann, ohne die seine Geschichte kaum verstanden würde. Er kann umgekehrt mit seiner Geschichte – bewusst oder unbewusst – auch Urteile und Einsichten transportieren, oh50


Zeitgeschichte, Politik und historische Analyse

ne dass er diese offen aussprechen muss. Unsere alltägliche Kommunikation ist voll von solch impliziten Botschaften, die in unserem Bewusstsein nur zum Teil explizit gemacht werden. Bei wissenschaftlichen Analysen geht man aber davon aus, dass sie die wichtigen Denkmodelle offenlegen, die sie verwenden. Sie machen ihr eigenes Vorverständnis explizit und kritisierbar, weil wissenschaftlicher Fortschritt nur so möglich scheint. Was die vorliegende Studie betrifft, so muss ich gestehen, dass mein Vorverständnis als eher diffus zu taxieren ist. Natürlich war auch ich beeindruckt vom beispiellosen Erfolg der Finanzwirtschaft in den letzten Jahrzehnten, aber gleichzeitig besorgt, weil die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche und die Monetarisierung aller Werte den Modernisierungsprozess immer mehr dominierten. Als Personaldirektor einer grossen Verwaltung seit 1989 musste ich miterleben, wie die Finanzen in Politik und Wirtschaft, in der Öffentlichkeit, in der Betriebsführung und in der Privatsphäre vom Mittel zum Zweck avancierten. Selbstredend war finanzielle Steuerung auch im Bereich der Humanressourcen eine Notwendigkeit. Aber im knallharten Konflikt der Interessen wurde Geld vom Wertmassstab immer mehr zu einem Wert an sich, als Quelle von Macht und Ansehen geschätzt und gefürchtet, behaftet mit Hoffnungen und Ängsten, in seiner Motivations- und Kontrollfunktion manchmal wohl auch etwas überschätzt. Die Finanzen prägen heute jeden Entscheidungsprozess und sind zum mächtigsten Treiber einer Gesellschaft im raschen Wandel geworden, die man ohne eine entsprechende Analyse kaum mehr verstehen und adäquat beschreiben kann.

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Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

Modell des Finanzmarkt-Kapitalismus Grosse Teile dieser Studie waren schon skizziert, als ich bei meinen Recherchen im Bereich der Wirtschaftssoziologie auf ein neues Konzept stiess, mit dem ich wichtige Erkenntnisse gleichsam im Nachhinein in einen logischen Zusammenhang und auf den Begriff bringen kann: das Modell des Finanzmarkt-Kapitalismus. Es handelt sich hier um eine «Theorie mittlerer Reichweite», die nicht wie naturwissenschaftliche Gesetze weltweite und ewige Erklärungskraft reklamiert. Ihr Geltungsanspruch ist wesentlich bescheidener: Es geht um eine integrierte Sichtweise der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen nur gerade der allerjüngsten Vergangenheit, eine Sichtweise, die uns aber dank ihrer interdisziplinären Fragestellung besser begreifen lässt, was sich in den letzten drei Jahrzehnten Grundlegendes in unseren westlichen Gesellschaften verändert hat. Dieses Konzept soll im Folgenden in seinen grossen Zügen kurz vorgestellt und als ein Modell skizziert werden, das sich für den Zeithistoriker als äusserst hilfreich erweist, weil es den Blick für Gemeinsamkeiten und Unterschiede vergleichbarer Länder zu schärfen vermag. Wie die meisten Kapitalismus-Konzepte (so jene von Karl Marx, Max Weber, Werner Sombart, Karl Polanyi oder Joseph Schumpeter bis hin zum «Spätkapitalismus» der Neomarxisten) versucht auch das Konzept des FinanzmarktKapitalismus, Wirtschaft und Gesellschaft in ihren Widersprüchen und in ihren gegenseitigen systemischen Abhängigkeiten als einen spannungsreichen historischen Prozess zu verstehen. Es verbindet ökonomische mit sozialwissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden und lässt sich als interdisziplinärer Ansatz nicht in zu enge Fachgrenzen 52


Modell des Finanzmarkt-Kapitalismus

zwängen. Basierend auf der Politischen Ökonomie der modernen Finanzmärkte (Huffschmid 1999 bzw. 2002), werden die wirtschaftlichen und politischen, die sozialen und kulturellen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte so miteinander verknüpft und beleuchtet, dass die spezifischen Konturen eines durch die globalisierten Finanzmärkte gesteuerten «Produktionsregimes» und damit eines neuen gesellschaftlichen Handlungssystems deutlich hervortreten (vgl. Windolf 2005, aber auch schon Kühl 2003 und namentlich Deutschmann 2008). Interessant finde ich dabei, dass der markante Machtgewinn des Finanzsektors in einen historischen Kontext gestellt und aus neu entstandenen funktionalen Zusammenhängen heraus begriffen wird. Wer die verheerenden Vorgänge der jüngsten Epoche erklären will, muss deshalb nicht nur mit der fehlenden Moral oder der grenzenlosen Gier der Banker argumentieren. Historischen Ausgangspunkt für den vom Konzept des Finanzmarkt-Kapitalismus ins Visier genommenen sozialen Wandel bildet der koordinierte oder kooperative, durch (Gross-)Industrie, Fordismus, Keynesianismus und Sozialstaat geprägte Kapitalismus der Nachkriegszeit, der seit den 1970er und namentlich in den 1990er Jahren durch einen mehr kompetitiven und viel stärker von den weltweiten finanziellen Prozessen getriebenen Kapitalismus zusehends verdrängt und abgelöst worden ist. Das rasante Wirtschaftswachstum der Nachkriegsjahrzehnte war vor allem über festverzinsliche Kredite der Grossbanken finanziert worden. Diese Institute waren bestrebt, ihre Schuldner (rück-)zahlungsfähig und bei Laune zu halten. Unter dem Einfluss ihrer konservativen Hausbanken strebten die Unternehmen nicht nach Profitmaximierung, sondern verfolgten ihre Wachstumsziele mit eher risikoaversen Strategien. Banken 53


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

und Unternehmen waren beide an einer langfristigen Stabilisierung ihrer Ertragslage interessiert, weshalb sie einer Begrenzung der Konkurrenz durch Kartellierung der Märkte nicht abgeneigt waren. Diese Konstellation der Interessenlagen sah jener im «Organisierten Kapitalismus» vor 1914, in Rudolf Hilferdings «Finanzkapital» glänzend analysiert, in vielem ähnlich, aber der Staat hatte in der imperialistischen Epoche eine wesentlich dominantere, die sozialen Konflikte meist nach aussen ablenkende Funktion. Nach einem halben Jahrhundert der Weltkriege und Krisen bot die amerikanische Vorherrschaft eine neue Chance für die kapitalistische Durchdringung der Welt. Erst im Zeichen des Kalten Krieges machten die nationale Schliessung und die politische Vermachtung der Produkte-, Kapital- und Arbeitsmärkte wieder einer internationalen Öffnung und Liberalisierung Platz. Im kooperativen (oder auch: (neo-) korporativen) Kapitalismus der Nachkriegsjahrzehnte waren es neben dem Staat vor allem die grossen Verbände, welche die Gesellschaft zusammenhielten. Auf der Grundlage des durch die Banken finanzierten Wachstums ermöglichten die Sozialpartner einen gesellschaftlichen und politischen Konsens, der Arbeiterschaft und Kapitalismus zu versöhnen vermochte – allerdings mit merklichen Unterschieden von Land zu Land. Massenkonsum und sozialstaatliche Absicherung der Lohnarbeit verschafften dem kapitalistischen System eine breite Loyalität der Massen, aber auch genug Nachfrage für die rasch wachsende Produktion. Dieses System war lange Zeit äusserst erfolgreich. Es geriet letztlich durch seine Erfolge in Schwierigkeiten: Gewinne und Vermögen wuchsen noch rascher an als Löhne und Konsum. Tendenziell sanken deshalb die Investitionen, denn auf den realen Gütermärkten liessen sich nicht mehr so hohe 54


Modell des Finanzmarkt-Kapitalismus

Profite erzielen. Bereits Ende der 1960er Jahre kriselte die keynesianische Konjunktursteuerung und «Eurodollars» unterliefen die Währungspolitik. Die 1970er Jahre brachten dann das Ende der fixen Wechselkurse, die Ölpreiskrise und schliesslich den markanten Einbruch des realen Wirtschaftswachstums, der sich auch als Strukturbruch erweisen sollte. Trotz der Staatsintervention versank die Wirtschaft in einen Zustand der Stagflation, also in eine Stagnation kombiniert mit sehr hohen Inflationsraten. Wo Wachstum noch oder wieder möglich war, konnte dieses bescheidene Wachstum fortan Lohnanstieg, Sicherheit der Arbeitsplätze und Vollbeschäftigung nicht mehr garantieren. Die Folgekosten des raschen Wachstums vor der Krise kumulierten mit den Kosten des Marktversagens in und nach der Krise, was zu hohen Defiziten der öffentlichen Hände führte und schliesslich den (Sozial-)Staat arg in Bedrängnis brachte. In den angelsächsischen Ländern brachten die 1980er, in den kontinental-europäischen erst die 1990er Jahre den Wechsel zu einem Regime, das stärker dem Monetarismus und Neoliberalismus verpflichtet war (zumindest verbal; die hohe (Staats-)Verschuldung in den USA könnte man mit guten Gründen auch als «Keynesianismus durch die Hintertür» bezeichnen). Eine intakte Konsenskultur der Sozialpartner war unter solchen Bedingungen kaum mehr aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig liess sich in der Wirtschaft eine markante Gewichtsverlagerung von der Kreditfinanzierung zur Finanzierung über den Kapitalmarkt beobachten. Die rasch wachsenden Privatvermögen wurden vor allem in Aktien angelegt, und international agierende Investmentfonds sowie Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften spielten dabei als Interessenverwalter der neuen Eigentümer eine zentrale Rolle. Diese institutionellen Anleger dominierten bald 55


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

die Finanzmärkte, die in den 1970er und 80er Jahren stark liberalisiert wurden und kräftig expandieren konnten. Das zentrale Interesse der Fonds ist die Steigerung ihrer kurzfristigen Rendite. Sie nehmen meist nur kleine Unternehmensanteile in ihr Portfolio auf und können diese auch jederzeit wieder abstossen, wenn sie mit der Performance nicht zufrieden sind. Im Durchschnitt halten InvestmentFonds die Aktien kaum länger als ein Jahr. Die Kurzfriststrategie ist Folge ihrer Finanzmarkt-Orientierung, denn im Wettbewerb um Kundengelder zählt der rasch realisierbare Gewinn. Dieses Profitdenken überträgt sich vor allem in börsenkotierten Unternehmen auf Verwaltungsrat und Management, die mit Aktienoptionen geködert und belohnt oder mit Exit-Strategien, also dem Verkauf von Aktien, respektive mit feindlichen Übernahmen bedroht und sanktioniert werden können. An technischer Kompetenz orientierte unternehmerische Innovationen und die nötigen langfristigen Investitionen verlieren an Bedeutung. Dafür rücken Effizienz, Kostenminimierung, Restrukturierungen und Konzentration auf das Kerngeschäft, Leanmanagement und Personalabbau oder (andere) gezielte Manipulationen zur raschen Steigerung der Aktienkurse in den Fokus. Diese neue «Finanzialisierung» der Wirtschaft wirkt sich auf Gesellschaft und Politik verheerend aus. Arbeitsplätze verlieren an Sicherheit, Reallöhne sinken, und es entsteht auch in den reichen Ländern trotz Flexibilisierung der Arbeitskraft bis zur Selbstausbeutung in der Ich-AG ein Prekariat, eine Schicht von Menschen, die auch in Anstellungsverhältnissen zumindest zeitweise auf Versicherungs- oder Sozialleistungen angewiesen sind. Nach Jahrzehnten des Abbaus ungleicher Chancen während der Epoche von Wohlfahrtsstaat und Keynesianismus nimmt die soziale Ungleich56


Modell des Finanzmarkt-Kapitalismus

heit neu wieder zu. Trotz Shareholder-Value und dem lauten Ruf nach «Eigentümerdemokratie» sind es eben nicht die vielen Kleinaktionäre, die sich im Finanzmarkt-Kapitalismus bereichern können, sondern die Topmanager und Börsenhändler mit der exorbitanten Steigerung ihrer Einkommen. Der überforderte Sozialstaat gerät unter Druck, nicht zuletzt auch von Seiten der Finanzmarktakteure: Diese verschärfen die Standortkonkurrenz zwischen den Nationalstaaten. Es geht um Steuervorteile, weitergehende Marktliberalisierungen und um Privatisierung von Staatsaufgaben, Letztere natürlich interessant als Investitionsmöglichkeiten für das anlagesuchende Kapital. Der neue Finanzmarkt-Kapitalismus ist ein weitgehend globalisiertes Regime. Es braucht weder den aktiven Staat noch kümmert es sich um einen nationalen Konsens der Interessen. Aber seine Zwänge werden bis in die lokalen Güter-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte spürbar und setzen zusehends auch politische Behörden unter Anpassungsdruck, seit den 1990er Jahren praktisch rund um den ganzen Globus. Was heisst das für den Bankensektor? Das traditionelle Kommerzgeschäft mit seiner Einbettung in regionale und nationale Finanzmärkte erleidet einen Bedeutungs- und Machtverlust. An die Stelle gegenseitigen Vertrauens in den Beziehungsnetzwerken tritt die Performance, ausgedrückt in nackten Zahlen, jederzeit weltweit greifbar dank modernster Informatik; nun prüfen global orientierte RatingAgenturen die Bonität der Unternehmen. Seit Mitte der 1990er Jahre verkaufen die (Gross-)Banken schrittweise ihre Industriebeteiligungen und ziehen sich aus den Aufsichtsund Verwaltungsräten der Grossunternehmen zurück. Um ihre Führungsposition im Finanzsektor zu sichern und auszubauen, versuchen sie in das lukrativere Geschäft des In57


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

vestment-Banking umzusteigen. Denn nur wer sich anpasst, selber erfolgreiche Fonds betreibt, einen Eigenhandel aufbaut und Dienstleistungen für internationale Grosskunden erbringt, kann aus dem Transformationsprozess der Finanzmärkte fette Gewinne schlagen. Finanzmärkte sind wie alle Märkte Institutionen zur Reduktion von Komplexität. Auch sie verarbeiten relevante Informationen letztlich zu Preisen. Finanzmärkte sind aber keine gewöhnlichen Märkte, die Angebot und Nachfrage rasch in ein Gleichgewicht bringen. Auf ihnen werden nicht normale Güter oder Dienste gehandelt, sondern Zahlungsversprechen, also künftig zu erwartende Erträge. Sie transformieren hohe Unsicherheiten durch fiktive Kapitalisierung in handelbare Risiken. Die Preisbildung für Zahlungsversprechen ist das Ergebnis von Erwartungs-Erwartungen, also von Einschätzungen der Investoren und Analysten, wie die Marktteilnehmer auf mögliche Ereignisse in der Zukunft reagieren werden. Finanzmärkte sind hypersensibel und anfällig für Emotionen; sie neigen zum Herdenverhalten und verstärken permanent ihre eigenen Erwartungen, was Überund Unterbewertungen zur Folge hat. Sie können sich von der Realökonomie weit entfernen, ehe sie aufgrund so genannter Fundamentaldaten wieder an die realen Gütermärkte rückgekoppelt werden. Diese Volatilität illustriert ihre spezifische Anreizstruktur: Die Marktteilnehmer sind mehr an kurzfristigem Gewinn als an langfristigem Wachstum interessiert. Ihr spekulatives Verhalten fördert die Blasenbildung, was über kurz oder lang zu Finanzmarktkrisen führen muss. Und erst nach dem Platzen dieser Blasen wird dann jeweils deutlich, dass die monetären Aufblähungen kaum je echtes Wachstum generierten, sondern vielfach gar einen Verlust an ökonomischer Substanz verschleiert haben. 58


Modell des Finanzmarkt-Kapitalismus

Der hier idealtypisch skizzierte Übergang vom kooperativen oder (neo-)korporativen Kapitalismus der Nachkriegsepoche zum Finanzmarkt-Kapitalismus der Gegenwart hat sich real auf unterschiedliche Weise vollzogen. Gesellschaftliche Entwicklungen sind pfadabhängig. Die liberale Tradition hat in den angelsächsischen Ländern den früheren Übergang zum «Shareholder Kapitalismus» (Rappaport 1986/ 1994) begünstigt, aber auch hier waren vorher korporative Tendenzen am Werk, wenn wir z. B. an den amerikanischen New Deal oder an die Macht britischer Gewerkschaften bis in die 70er Jahre denken. Umgekehrt hat in Kontinentaleuropa, vor allem in Deutschland, (und etwa auch in Japan) der starke Hang zu staatlichen Regelungen und sozialem Ausgleich den späteren Übergang zum Finanzmarkt-Kapitalismus teilweise überlebt. Erfolgreiche Institutionen sind zäh. Der «Rheinische Kapitalismus» und die Soziale Marktwirtschaft haben Politik und Sozialverhalten der Wirtschaftswunderkinder tief geprägt, so dass die Globalisierung zwar eine gewisse Konvergenz, nicht aber eine totale Konformität der Systeme erzwingen konnte. Seit Auflösung der sowjetischen Herrschaft spielt sich nun die Systemkonkurrenz unter verschiedenen Ausprägungen des Kapitalismus ab. Ob sich das zunächst erfolgreichere amerikanische Modell und damit der Finanzmarkt-Kapitalismus in Reinkultur weltweit wird durchsetzen können, ist nach der verheerenden Finanzmarktkrise von 2007 bis 2009 wieder völlig offen. Der Finanzmarkt-Kapitalismus als idealtypisches Modell der jüngsten Entwicklung ist für den Zeithistoriker äusserst hilfreich. Das Konzept liefert uns einen interessanten Raster, um die schweizerische Finanzwirtschaft der letzten Jahrzehnte auf ihre Eigenheiten zu befragen und damit zu testen, inwiefern die Schweiz als «Sonderfall» zu bezeichnen ist. 59


Finanzmarktkrise, Sonderfall Schweiz und Zeitgeschichte

Auf den ersten Blick scheint unser Land bezüglich Finanzmarkt-Kapitalismus eher ein Paradebeispiel als ein Sonderfall zu sein. Wirtschaftlich hat sich dieses Regime hierzulande weitgehend durchgesetzt. Die Implementierung fand aber vor einem speziellen politischen und kulturellen Hintergrund statt, der den Strukturen und Orientierungsmustern des kooperativen Kapitalismus noch immer stark verhaftet ist. Auf diesen Widerspruch zwischen wirtschaftlicher Überanpassung und politischer Nostalgie werden wir unsere Analyse auch auszurichten haben.

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2. Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone

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er Aufstieg der schweizerischen Finanzwirtschaft zu nationaler Dominanz und zu internationaler Bedeutung ist im Wesentlichen eine Geschichte erst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das mutet aus heutiger Sicht doch eher überraschend an. Viele meinen, der überragende Einfluss des schweizerischen Bankgewerbes sei schon viel älteren Datums. Zwar waren Banken und Geld auch hierzulande schon seit langem wichtig, aber ein Finanzplatz von grossem Einfluss und Gewicht konnte sich erst entwickeln, als drei miteinander verschränkte Bedingungen erfüllt waren. Es brauchte dazu (1.) einen politisch gesetzten rechtlichen Rahmen, staatlich garantierten Schutz und währungs- oder geldpolitische Stabilität, um die Erwartungssicherheit der privaten Wirtschaft zu erhöhen; (2.) ein kräftiges Wirtschaftswachstum, verbunden mit einem Konzentrationsprozess, um Grossbanken als hochprofessionelle Player entstehen zu lassen; (3.) eine enge Verflechtung mit andern Volkswirtschaften, ohne die der Finanzsektor eines kleinen Landes nur wenig lukrative Expansionschancen hätte.

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Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone

Anfänge der Bankwirtschaft Den Schweizern wird traditionell ein speziell enges Verhältnis zum Geld nachgesagt: «Pas d’argent, pas de Suisse!» behauptet ein altes Sprichwort wohl nicht zu Unrecht. Passhandel und fremde Dienste brachten viel Geld in das an Bodenschätzen arme Land. Die protestantischen Städte der Alten Eidgenossenschaft atmeten früh den Geist des Kapitalismus vielleicht mit Ausnahme des territorial orientierten Bern, das den Einkünften aus Grund und Boden stärker verhaftet blieb. Der Protestantismus hat auch in der Schweiz das Arbeitsethos und die Orientierung am Wirtschaftserfolg gefördert, ohne dass es hier allerdings zu einer ähnlich expansiven Entwicklung wie in Holland während des 17. Jahrhunderts gekommen wäre. In Genf hatte der Bischof 1387 das Zinsverbot aufgehoben; seit dem 14. Jahrhundert spielte diese Stadt finanziell eine gewisse Rolle, die sich im Zeichen des Calvinismus und dann vor allem im 18.Jahrhundert markant verstärkte. Viele seiner tüchtigen Bankiers waren in vergebliche Versuche involviert, das marode Ancien Régime in Frankreich zu retten. Das mag mit ein Grund gewesen sein, weshalb sie von Voltaire verspottet wurden. Neulich hat Philipp Hildebrand (2008) an einen Spross der Genfer Bankiers erinnert, der seine Heimat früh verliess und sich in der Neuen Welt verdient gemacht hat: Albert Gallatin, Bewunderer der amerikanischen Revolution und als Nachfolger Hamiltons 1801 bis 1814 der US-Finanzminister mit bisher längster Amtsdauer. Im 19. Jahrhundert wuchs der Bankensektor in der Schweiz wie in andern Länder entsprechend den spezifischen Bedürfnissen, die sich durch den fortschreitenden Industrialisierungsprozess ergaben. Da die Privatbankiers mit 62


Anfänge der Bankwirtschaft

ihrer unbeschränkten Haftung den wachsenden Kreditbedarf bald nicht mehr allein abdecken konnten, entstanden neue Bankinstitute, die sich verschiedenen Gruppen zuordnen lassen: Während die Privatbanken auf den historischen Plätzen Genf, Basel, St. Gallen, Zürich und später auch Lugano schon immer mit dem weltoffenen Grossbürgertum dieser Städte verbunden waren und sich vorwiegend der Verwaltung respektabler, teils auch ausländischer Vermögen und dem Handel mit Luxusgütern widmeten, versorgten Sparkassen, Regional- und Genossenschaftsbanken vor allem Gewerbe, Landwirtschaft und Hauseigentümer mit aus traditionellem Zinsdifferenzgeschäft billig refinanzierten Krediten. Die Kantonalbanken, Institute mit Staatsgarantie für ihre Einleger, sind als zentrale Errungenschaft der Demokratischen Bewegung der 1860er und 70er Jahre ausdrücklich im Interesse des kleinbürgerlichen Mittelstandes gegründet worden. Demgegenüber entwickelten sich die Grossbanken parallel mit der Finanzierung bedeutender Industrievorhaben, namentlich im Verkehrs- und später auch im Energiebereich (von der Gotthardbahn bis zu Elektrowatt und Motor Columbus), für die zum Teil auch ausländisches Kapital herangezogen werden musste. Sie waren als Aktiengesellschaften organisiert. Sie engagierten sich in der immer wichtiger werdenden Exportfinanzierung und stiegen erst relativ spät in das Private Banking, also die Verwaltung grosser Vermögen, und in das Retail Banking, das breite Mengengeschäft mit kleineren Privatkunden und KMUs, ein. Im Gegensatz zu andern Ländern spezialisierten sich die meisten Banken in der Schweiz nicht etwa nach unterschiedlichen Aufgaben, sondern eher geografisch; mit Ausnahme der national und bald auch international orientierten Grossbanken blieben sie vor63


Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone

wiegend auf das lokale und regionale Geschäft fokussiert. So hat die frühe Entwicklung des Geld- und Kreditwesens die kleinräumige Wirtschaftsstruktur unseres kleinen Landes und den Hang zur Kirchturmpolitik eher noch gefestigt als überwunden. Bei aller Aktivität im Bankensektor, ein internationaler Finanzplatz konnte sich in der Schweiz lange nicht entwickeln. Die Kolonialmächte hatten diesbezüglich grosse Vorteile, was sich das kleine Binnenland aber geschickt zunutze machte. Noch bis vor hundert Jahren waren die Bankplätze der Schweiz kaum mehr als Satelliten des französischen Marktes. Viele Emissionen sowie die Finanzierung von Importen und Exporten wurden vor dem Ersten Weltkrieg hauptsächlich über Paris abgewickelt. Für den erfolgreichen Aufstieg unserer Finanzwirtschaft in internationale Sphären fehlten damals die entsprechenden staatlich gesetzten Rahmenbedingungen. Ein grenzüberschreitendes Vertrauen in die Schweizer Banken setzte das Engagement des Bundesstaats für die Sicherheit des Zahlungssystems voraus.

Bedeutung der Nationalbank Die Verfassung von 1848 übertrug das Münzregal dem Bund. 1865 trat die Schweiz der Lateinischen Münzunion bei, was zu einer völligen Integration der Schweizer Währung in das französische System führte; noch während des Ersten Weltkriegs waren in der Schweiz mehr französische Francs im Umlauf als Schweizer Franken. 1874 erhielt der Bund die Aufgabe, das Banknotenwesen zu regeln, und 1891 das ausschliessliche Recht zur Ausgabe von Banknoten. Aber erst im Sommer 1907 konnte die Schweizerische National64


Bedeutung der Nationalbank

bank ihren Geschäftsbetrieb aufnehmen und die notwendigen Voraussetzungen für eine florierende Finanzwirtschaft in unserem Land schaffen. Nach langem Streit um das Konzept des Noteninstituts als Staats- oder als Privatbank hatte man endlich einen typisch helvetischen Kompromiss gefunden, der den Interessen des Bundes, der Kantone und der Privatwirtschaft zu genügen vermochte. Die Noten wurden aber noch nicht gesetzliches Zahlungsmittel, sondern waren nur Geldersatz, jederzeit eintauschbar, weshalb die Nationalbank eine Metalldeckung von mindestens 40 Prozent des Notenumlaufs aufrechterhalten musste. Im Ersten Weltkrieg sah man sich gezwungen, Banknoten als vollwertiges Zahlungsmittel anzuerkennen, aber formell ist in der Schweiz die Goldwährung erst durch eine Verfassungsänderung im Jahre 2000 beseitigt worden. Den Anteil der Nationalbank am Aufbau, an der Entwicklung und an der Pflege eines sicheren und effizienten Finanzsystems darf man nicht unterschätzen. Da ihr mit der Zeit die Verantwortung nicht nur für den Notenumlauf, sondern auch für das gesamte Geldwesen, für die Kredit- und Währungspolitik sowie für Infrastruktur und Stabilität der Zahlungssysteme zufiel, entwickelte sie sich zu einem der wichtigsten Träger der schweizerischen Wirtschaftspolitik. Diese sollte «den Gesamtinteressen des Landes dienen», doch in einer kleinen, vom Umfeld extrem abhängigen Volkswirtschaft war das oft schwieriger als die Quadratur des Kreises. Im heiklen dynamischen Trilemma, (1.) den Aussenwert des Frankens zu stabilisieren, (2.) die Preisstabilität im Innern zu sichern und (3.) die Konjunktur respektive die Beschäftigung zu fördern, hatten die Behörden nicht immer eine sehr glückliche Hand. Sie setzten das Land einem Wechselbad von galoppierender Inflation im Ersten Weltkrieg 65


Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone

und verheerender Deflation in den Dreissigerjahren aus. Ihr stures Festhalten am Ziel der Goldparität bewirkte eine hohe und lange andauernde Arbeitslosigkeit, ehe sich der Bundesrat im Herbst 1936 im Schlepptau von Frankreich und Belgien zu einer Abwertung des Frankens um 30 Prozent durchringen konnte. Sicher war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine sehr schwierige Periode voller Ausnahmesituationen, Krisen und Katastrophen, in der die Schweizer Behörden ihr finanzmarktrelevantes Instrumentarium entwickeln und einüben mussten. Aber auch später erwies es sich nicht immer als einfach, zwischen verschiedenen Interessen und Ideologien einen pragmatischen Kurs zu steuern, der vor allem eine Optimierung des Gesamtsystems fest im Auge behielt. In unserem Land waren Ordnungspolitik und Interessenpolitik kaum je sauber auseinanderzuhalten. Und schon damals standen Marktversagen und Staatsintervention, aber auch handfeste Interessenkonflikte und Staatsversagen in einem engen Zusammenhang.

Bankengesetz von 1934 Die schwere Krise der 30er Jahre hat in der Schweiz wie überall zu einer stärkeren Intervention des Staates in die Wirtschaft geführt. Hier hielt sich jedoch in manchem eine deutliche Skepsis gegen einen allzu mächtigen (Steuer-)Staat, was nicht zuletzt in der Verankerung eines rigorosen Bankgeheimnisses im Bankengesetz von 1934 Ausdruck fand. Konkreter Anlass, Auskünfte über Bankgeschäfte auch gegenüber (Steuer-)Behörden zu Offizialdelikten zu erklären, war nicht etwa die Drangsalierung der Juden im Dritten 66


Bankengesetz von 1934

Reich, wie oft behauptet wird, sondern die Abwehr einer etwas übergriffigen Steuerpolizei Frankreichs (vgl. Hug 2002). Sicher sind dank diesem speziellen Schutz den Schweizer Banken schon in den Dreissiger- und Vierzigerjahren Kundengelder zugeflossen. So erwähnt zum Beispiel Alma Mahler-Werfel in ihrer Autobiografie, sie habe ihre Guthaben 1938 von Wien abgezogen, über die Grenze schmuggeln lassen und auf Schweizer Banken angelegt. Aber grosse Bedeutung erhielt das Bankgeheimnis eigentlich erst bei der rasanten Entwicklung der Finanzmärkte im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die Grosse Depression, die auch in der Schweiz zu Bankzusammenbrüchen führte, warf noch viel grundsätzlichere Probleme der kapitalistischen Gesellschaft auf. Man musste zur Kenntnis nehmen, dass eine intakte Geldversorgung für die Wirtschaft von existenzieller Bedeutung ist. Das konnte auch die Politik nicht untätig lassen. Der Staat habe den Finanzsektor einer besonderen Aufsicht zu unterstellen, zeigte sich der Bundesrat in seiner Botschaft vom 2. Februar 1934 zum Bankengesetz überzeugt: «Das hervorstechende Merkmal der modernen Wirtschaft liegt (…) in der Häufung einer grossen wirtschaftlichen Macht in den Händen einer kleinen Zahl von Personen, die nicht Eigentümer, sondern lediglich Verwahrer der Kapitalien sind, die sie anzulegen und zu verwalten haben. Der unbeschränkte Einfluss derer, die den Geldmarkt beherrschen und den Kredit verteilen, ist unbestreitbar einer der grossen Machtfaktoren der Gegenwart. Bei diesen Verhältnissen ist die Banktätigkeit eine Art öffentlicher Dienst geworden» (Bundesblatt 1934 I 171; Hervorhebung durch P. H.) Solch kritische Sätze des damals noch rein bürgerlich bestückten Bundesrats muss man genüsslich auf der Zunge zer67


Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone

gehen lassen. Vor lauter «political correctness» würde die Exekutive heute so was wohl nicht einmal mehr zu denken wagen. Das Bankengesetz von 1934 erklärt den Finanzmarkt zu einem speziellen Wirtschaftssektor, der staatlich besonders geregelt und stärker kontrolliert werden müsse. Denn er bilde eine wichtige Grundlage für das gesamte Wirtschaftssystem, ja, er erbringe für den Einzelnen und für die Gesellschaft absolut notwendige Dienstleistungen. Um das angeschlagene Vertrauen wiederherzustellen, müssten die Banken moderne Führungsstrukturen erhalten, mit genügend Eigenmitteln und Liquidität ausgestattet sein, zur Transparenz verpflichtet, extern revidiert und professionell beaufsichtigt werden, während die Einleger bundesweit bei Verlusten wenigstens minimal abzusichern seien. Argumentiert wird geschickt mit dem hohen Nutzen, den die Bankbranche durch die eingeforderten Standards und Sicherheiten sowie aus dem daraus neu sich bildenden Vertrauen gewinne. Zur Überwachung der Finanzinstitute solle als eine neue Spezialbehörde die Eidg. Bankenkommission (EBK) walten; sie habe auf die Situation jeder einzelnen Bank gebührend Rücksicht zu nehmen. Die Änderung von wichtigen Zinssätzen und geplante grössere Auslandgeschäfte seien aus Gründen der Marktüberwachung hinfort der Nationalbank zu melden. Der Gesetzesentwurf verband notwendige Staatsinterventionen mit einer differenzierten Behandlung der Normadressaten und gewährte dem Volk zugleich den von der Linken lautstark geforderten Einlegerschutz; er passierte die Räte ohne grosse Probleme und provozierte keine Referendumsabstimmung.

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Aufschwung in der Kriegs- und Nachkriegszeit

Aufschwung in der Kriegs- und Nachkriegszeit Die politische Instabilität und die Weltkriege der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, kombiniert mit Standortvorteilen wie Neutralität und der Wirtschaft wohl gesonnenes Rechtssystem, machten Zürich, Genf, Basel und Lugano zu geschützten Häfen auch für ausländische Vermögen. Aber was im grenzüberschreitenden Geschäft rasch zu gewinnen war, konnte auch bald wieder zerrinnen; so erlebten die Grossbanken in der Schweiz damals einen ersten Boom und eine erste grosse Krise. Im Zweiten Weltkrieg nutzte die Schweiz ihren gefährlichen Standort zwischen den Fronten verständlicherweise auch für die eigenen (finanz-)wirtschaftlichen Interessen. Dass sie die Konvertierbarkeit des Frankens aufrechterhielt, war für ihr Überleben als Staat gewiss von Vorteil. Aber dass die Nationalbank fast bis zum Kriegsende deutsches Raubgold in grossem Umfang übernahm, brachte unser Land den siegreichen Alliierten gegenüber in eine äusserst prekäre Situation, aus der es sich mit einer Zahlung von 250 Millionen Franken freikaufen musste. Mit dem Washingtoner Abkommen 1946 gelang es der Schweiz, aus der Isolation der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit auszubrechen. Sie war bemüht, die Konvertibilität des Schweizer Frankens über einen quasi autonomen Nachvollzug der Bedingungen des Währungssystems von Bretton Woods (1944) sicherzustellen, und im alsbald beginnenden Kalten Krieg gelang es ihr rasch, sich in die amerikanisch dominierte Weltwirtschaft geschickt zu integrieren. Mit ihrem intakten Produktionsapparat konnte sie den Nachholbedarf der kriegsversehrten Länder bedienen und profitierte so auch indirekt vom Marshallplan und vom raschen wirtschaftlichen Wiederaufstieg Europas. Als exportorientiertes 69


Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone

Land engagierte sie sich für den Abbau von Industriezöllen und anderen Hemmnissen des Welthandels, auch in den entsprechenden internationalen Organisationen wie etwa dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen GATT. Aber politisch wollte sie sich möglichst nicht einbinden lassen; sie blieb deshalb der UNO fern und hielt sich auch auf Distanz zur politischen Integration Europas. Die Gründung der Freihandelszone EFTA 1960 und das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG 1973 markieren Höhepunkte einer explizit formulierten Strategie, die aussenwirtschaftliche Aktivitäten mit aussenpolitischer Zurückhaltung erfolgreich zu verbinden suchte. Dieser politische Konservatismus konnte unter dem Label der Neutralität vermarktet werden und versprach grosse institutionelle Sicherheit trotz raschen wirtschaftlichen Wandels. In Verbindung mit intakter Sozialpartnerschaft und hoher innenpolitischer Stabilität, mit geografischer Lage, Professionalität, rigorosem Bankgeheimnis und harter Währung bot sich damit die Schweiz im Ausland als attraktiver und sicherer Finanzplatz an. Als die europäischen Währungen 1958 zur freien Konvertierbarkeit zurückfanden, waren die Voraussetzungen für einen «Take off» der Schweizer Finanzwirtschaft gegeben. Das Geschäft mit dem Ausland erhielt mächtig Auftrieb; der Exportboom rief nach einer effizienten Finanzierung, was die Struktur des Schweizer Bankenplatzes bald grundlegend veränderte. Mitte des 20. Jahrhunderts generierten die Kantonalbanken noch mehr als 40 % des Bankenumsatzes der Schweiz; auf die Gruppe der Regionalbanken und Sparkassen sowie auf die Gruppe der damals noch fünf Grossbanken entfiel je ca. ein Viertel. Dann setzte ein rasantes Wachstum mit Raten ein, die in den späten 1960ern zum Teil über 10 % pro Jahr 70


Aufschwung in der Kriegs- und Nachkriegszeit

betrugen, vor allem einer Expansion des Auslandsgeschäfts zu verdanken waren und hauptsächlich den Grossbanken zugute kamen. Da diese viel rascher wuchsen als die andern Banken, gelang es ihnen bald, ihren Anteil am Umsatz zu verdoppeln. Auch damals profitierten die Schweiz und ihr Finanzplatz von den Problemen des internationalen Umfelds. Die auf Hochtouren laufende und ressourcenverzehrende Weltwirtschaft hatte zu teils immensen Inflationsraten und währungspolitischen Verwerfungen geführt, vor denen viele potente Anleger in den Schweizer Franken flüchteten. Die Nationalbank hatte noch keine genügende Rechtsgrundlage, um den Ansturm abzuwehren, der unsere Währung immer mehr stärkte und damit tendenziell den Export mit seinen indus-triellen Arbeitsplätzen gefährdete. Das Noteninstitut musste mittels Gentlemen’s Agreements die Banken dazu bewegen, dass sie sich bei der Entgegennahme von Geldern aus dem Ausland eine gewisse Zurückhaltung auferlegten. Bei Wahrung der Geldparität drohten die inflationären Preissteigerungen im Ausland auch auf das inländische Preisniveau überzugreifen; die Inflation in der Schweiz betrug zeitweise bis 10 % pro Jahr. Mit Polizeimassnahmen auf Grundlage von dringlichen Bundesbeschlüssen – auch im Bereich von Währung und Kredit – versuchte man Mitte der 60er und Anfang der 70er Jahre die Konjunkturüberhitzung zu dämpfen; für ausländische Gelder wurde zeitweise ein Verzinsungsverbot oder sogar die Erhebung eines Negativzinses verfügt. Als 1973 der Ölpreisschock die Weltwirtschaft traf, wirkten die Konjunkturmassnahmen prozyklisch und bescherten der Schweiz einen heftigeren Wachstumseinbruch als in der Krisenzeit der 30er Jahre. Der Produktionsrückgang war markanter als in allen OECD-Staaten und es 71


Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone

gingen 300 000 oder 10 Prozent aller Arbeitsplätze verloren. Wir spürten allerdings nicht so viel von diesem massiven Einbruch, weil wir die Arbeitslosigkeit zu einem grossen Teil exportierten und 200 000 Fremdarbeiter nach Hause schickten.

Flexible Wechselkurse Das Dogma fixer Wechselkurse beschränkte zwar die Handlungsmöglichkeiten der Wirtschaftspolitik, aber man darf nicht vergessen, dass es sich bei unterbewertetem Franken für gewisse Interessen durchaus auch bezahlt machte: Die Exporte blieben für das Ausland erschwinglich, der Binnenmarkt war geschützt vor Importkonkurrenz und die Banken zogen Gewinn aus dem Devisenhandel. Erst der Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods 1971 und der Übergang 1973 zu flexiblen Wechselkursen erlaubten eine eigenständige Geldpolitik der Schweiz. Das am Dollar respektive am Gold fixierte Bretton-Woods-System scheiterte, weil die Amerikaner – schon damals – über ihren Verhältnissen lebten und im Zeichen des Vietnamkrieges die Goldparität des Dollars aufgeben mussten. Der – in späterem Lichte – historische Entscheid der Schweiz, den serbelnden Dollar (vorläufig) nicht mehr zu stützen, wurde in der Absicht gefällt, bald wieder zur Goldparität zurückzukehren. Weil aber andere Zentralbanken dem Beispiel der Schweizerischen Nationalbank SNB folgten und nicht mehr zu fixen Kursen wechseln wollten, wurde Fritz Leutwiler, damals noch Leiter des federführenden Departements III der SNB und zusammen mit Bundesrat Celio für den Entscheid verantwortlich, fast wie durch Zufall zu einer nationalen und internationalen Lichtgestalt des Floatings. 72


Flexible Wechselkurse

Dabei hatte ausgerechnet Leutwiler als junger Mann die 1951 hochkant verworfene Freigeldinitiative an vorderster Front bekämpft, die eine Geldmengensteuerung für den Franken verlangte und damit einen proto-monetaristischen Kern aufwies. Ab 1975 versuchte dann die Nationalbank unter Leutwilers Führung und insgesamt mit einigem Erfolg, die Kaufkraft des Frankens über eine aktive Geldmengensteuerung zu erhalten. Sie folgte der monetaristischen Auffassung, dass die Preise nur dann stabil gehalten werden können, wenn sich Geldmenge und Realwirtschaft parallel entwickeln. Die Nationalbank bestimmte entsprechend ihren Wirtschaftsprognosen jährlich ein Geldmengenziel, das sie vor allem mit Devisenkäufen und -verkäufen zu erreichen suchte. Als Gegenpartei für diese riesigen Transaktionen in mehrstelliger Millionenhöhe boten sich die Grossbanken an, die so an der Geldpolitik mitverdienen konnten. Das Floating wurde unter Leutwiler nicht stur nach dem Lehrbuch, sondern mit einer pragmatischen Politik gehandhabt: Industrielle Interessen und Arbeitsplätze nicht ganz aus den Augen verlierend, liess sich als primäres Ziel die Binnenteuerung in Grenzen halten, ohne den Aussenwert des Frankens in exportgefährdende Höhen zu treiben. Die Schweiz konnte mit dieser ausgewogenen und allseits akzeptierten Politik das währungspolitische Chaos der frühen Nachkriegsjahrzehnte weitgehend überwinden, was nicht zuletzt ihrem aufstrebenden Finanzplatz sehr zugute kam. Und wieder wurde unsere Währung zum attraktiven Hort für Gelder, die vor hohen Inflations- und Steuerraten anderer Länder in sichere Schweizer Häfen flüchteten. Bei solchen Geschäften wurde teils auch unlautere Hilfe von Schweizer Banken in Anspruch genommen. Einige Skandale – namentlich die 1977 ruchbar gewordenen illegalen 73


Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone

Transaktionen italienischer Fluchtgelder nach Lichtenstein durch die Filiale Chiasso der Schweizerischen Kreditanstalt – gaben zu Befürchtungen Anlass, die gesetzlichen Regelungen und die Führung der Grossbanken seien der sprunghaften Expansion des Finanzsektors nicht mehr gewachsen. Solche Befürchtungen wurden auch durch den raschen Anstieg der ausserhalb der Bankbilanzen im Namen der Bank, aber auf Rechnung des Kunden getätigten Treuhandgeschäfte geschürt; diese von der ausländischen Kundschaft sehr geschätzte schweizerische Spezialität, nicht der Verrechnungssteuer unterliegend, aber vom Bankgeheimnis geschützt, war in den 1970er Jahren von praktisch null auf gut 120 Milliarden Franken gewachsen. Es gab wohl keine international tätigen Financiers, aber auch kaum einen Diktator, die sich der streng vertraulichen Dienste von Schweizer Banken nicht bedient hätten. Der Finanzplatz Schweiz kam zusätzlich immer wieder ins Gerede, weil er zeitweise bis 70 Prozent des internationalen Goldhandels abwickeln und damit auch zuerst das Apartheidsregime Südafrikas, später afrikanische Warlords stützen half. 1978 lancierte die Sozialdemokratische Partei der Schweiz eine Volksinitiative zum Schutz der Bankkunden und zur Kontrolle der Bankenmacht, die über die Lockerung des Bankgeheimnisses insbesondere auch die Steuerhinterziehung und die Hortung von Fluchtgeldern bekämpfen wollte. Die Stimmung im Land war damals gegenüber den Banken recht kritisch, und die Wirtschaft bekam die Bedeutung der Medien für ihre Reputation so richtig zu spüren: Als Chefredaktor der neuen «Tat» inszenierte Roger Schawinski eine professionelle SKAndalisierungskampagne, die das Thema in den Schlagzeilen hielt. Die Finanzinstitute und ihr Verband reagierten jedoch geschickt mit einer 74


Wachsende Macht der Grossbanken

«Vereinbarung über die Sorgfaltspflicht der Banken bei der Entgegennahme von Geldern», und es gelang ihnen mit einer millionenschweren Propaganda, ihr ernsthaft angeschlagenes Image wieder so aufzupolieren, dass die Bankeninitiative in der Volksabstimmung 1984 deutlich auf der Strecke blieb. Das Bankgeheimnis war damit für einige Jahre weg von der politischen Traktandenliste. Die Banken hatten eine Art kultureller Hegemonie errungen, gegen die selbst so produktive linke Publizisten wie Jean Ziegler lange vergeblich anschrieben (etwa 1976 mit «Eine Schweiz über jeden Verdacht erhaben» oder 1990 mit «Die Schweiz wäscht weisser», Publikationen, die im Ausland viel erfolgreicher waren).

Wachsende Macht der Grossbanken Das Schicksal der Bankeninitiative illustriert exemplarisch den wachsenden Einfluss der Banken in der Schweiz. Die grosse Publizität um die Bankskandale war für die Interessen des Finanzplatzes nicht ungefährlich. Linke und religiöse Antikapitalisten, entwicklungspolitische Aktivisten und grüne Wachstumsskeptiker verbanden sich zwar in der «Aktion Finanzplatz Schweiz» zu einer argumentativ starken Lobby. Aber es gelang ihnen nicht, die im Volk vorhandene Empörung in wirtschaftspolitisch glaubwürdige Alternativen umzugiessen, die breitere Schichten hätten überzeugen können. Zudem fanden die Bankinteressen handfeste Unterstützung im politischen System. Bundesrat Ritschard, der sozialdemokratische Finanzminister, gab zwar der Initiative wenig Chancen, wollte sie aber als Druckmittel gebrauchen, um die Aufsicht über die Banken zu verschärfen. Doch seine 75


Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone

streng bürgerlichen Verwaltungskader verzögerten in Absprache mit den Wirtschaftsverbänden die geplante Revision des Bankengesetzes, so dass die Initiative ohne einen indirekten Gegenvorschlag zur Abstimmung gebracht werden musste. Kaum war die Initiative vom Tisch, wurde die Gesetzesrevision verwässert und schliesslich begraben; ein Lehrstück in politischer Taktik der «Berner Mechanik». Ihr hohes Ansehen verdankten die Banken nicht zuletzt vielen PR-Aktionen, von denen mir die Gratisverteilung von SKA-Skimützen am lebendigsten in Erinnerung geblieben ist. Zwischen 1978 und 1983 brachte die Grossbank 800 000 solcher weissrotblauer Strickmützen in Umlauf. Sie waren bei der Jugend äusserst beliebt, wurden aber in den Schulhäusern oft verwechselt, was eine Läuseplage in der ganzen Schweiz zur Folge hatte. Breite Kundenwerbung und ein entsprechendes Marketing hatten zum Ziel, den Banken weitere Kundensegmente im Inland zu erschliessen; für das im Wachsen begriffene lukrative Kommerzgeschäft bildeten Spargelder eine stabile und kostengünstige Refinanzierungsmöglichkeit, weshalb nun auch die Grossbanken das Retailgeschäft förderten. Bis zu den 1990er Jahren stand die Finanzierung von Projekten der Wirtschaft, das Kommerzgeschäft, im Zentrum der Schweizer Bankinteressen. Nach dem markanten Konjunktureinbruch 1974/75 war der Wettbewerb wesentlich härter geworden, und die Wirtschaft spürte den Veränderungsdruck deutlich. Es begann die hohe Zeit der Beratungsfirmen, die die Wirtschaft mit den immer neusten Managementtrends versorgten. Viele Unternehmen durchliefen radikale Umstrukturierungen und liessen sich dabei mehr oder weniger freiwillig von den mächtigen Grossbanken begleiten, die in fast allen wichtigen Verwaltungsräten 76


Wachsende Macht der Grossbanken

Einsitz nahmen. In diesen Jahren blühte das «old boys’ network»; man kannte sich recht gut auf den Teppichetagen, wo der Markt mit Kartellabsprachen in geordnete Bahnen gelenkt werden konnte. Nicht die kurzfristigen Gewinne am Markt, sondern die langfristig produktiven Investitionen standen im Vordergrund. Diesem Zweck diente die Beziehungspflege zwischen Unternehmungen und ihren «Hausbanken». Auch Insidergeschäfte waren damals noch nicht verpönt und dienten oft zur Aufbesserung der keineswegs exorbitanten Managementgehälter. Erst 1989/90 wurden die Schweizer Banken aufgrund einer Intervention der Kartellkommission gezwungen, ihr Zinskartell und andere den Wettbewerb behindernde Absprachen aufzuheben. Kein Zweifel: Die Finanzwirtschaft und insbesondere die Grossbanken haben zu einer gewissen Öffnung und zur Modernisierung der Schweiz seit den mittleren 1960er Jahren Wesentliches beigetragen. So nahmen sie zum Beispiel bei der Umstellung auf EDV eine Pionierrolle wahr. Auf dem Arbeitsmarkt galten sie als äusserst attraktiv, selbst für die anspruchsvolle 68er-Wohlstandsgeneration. In Führungs- und Organisationsfragen, bei den Arbeitsbedingungen und namentlich in der Aus- und Weiterbildung ihres Personals setzten sie Massstäbe, nachdem noch bis in die 60er Jahre eher bürokratische Verkrustungen vorgeherrscht hatten. Deutlich kann ich mich an den Sommer 1966 erinnern: Während meiner ersten langen Semesterferien durfte ich in der Kontokorrentabteilung der SKA Zürich ein Zubrot verdienen. Obwohl damals gerade ein Verarbeitungssystem mit Lochkarten eingeführt wurde, prägten immer noch gespitzte Bleistifte und Ärmelschoner (im wörtlichen Sinne!), sture Routine und strengste Hierarchie den Arbeitsstil. Die «Bankbeamten», wie sie zu jener Zeit immer noch hiessen, unter77


Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone

schieden sich kaum von Staatsbeamten, ausser dass sie in den Pausen vor allem über Geld redeten und mehrmals täglich die Börsen- und Devisenkurse konsultierten. Wenige Jahre später hat sich das Bild stark verändert: Mit prunkvollen Neuund stilsicheren Umbauten sind die Bankgebäude zu den eigentlichen Tempeln des modernen Kapitalismus geworden, bevölkert von modernen Menschen, die – englisch sprechend – klassische Eleganz mit trendiger Mode, Engagement und Stress mit persönlicher Coolness zu verbinden suchen. Die Grossbanken erfreuten sich steigender Umsätze und wachsender Erträge. Sie sponserten mittlerweile Sport, Kunst, Kultur und Wissenschaft in grosszügiger Weise und wurden – neben der Swissair – zu eigentlichen Vorzeigefirmen der Schweiz. An einigen Hochschulen entstanden Lehrstühle für Bankwissenschaft, die mit ihrem Aus- und Weiterbildungsangebot den Anschluss an die Standards des angelsächsischen Banking ermöglichten. Hans Bär hat daran erinnert, dass die Banken zu Beginn der Siebzigerjahre noch keine Kostenrechnung kannten. Viele Bankiers zweifelten, ob es sinnvoll sei, das betriebswirtschaftliche Rechnungswesen der Industrie auf den Dienstleistungssektor zu übertragen, denn sie «hatten grösste Mühe, ihre ‹Produkte› zu definieren. Sie fanden, sie hätten keine» (Bär 2004, 281 f.). Bei allem Ansehen ihrer Spitzenkräfte, starken Persönlichkeiten vom Schlage eines Alfred Schaefer oder Robert Holzach, gab sich die Wirtschaftselite indes durchaus nicht abgehoben. Gerade die Grossbanken pflegten breite Kontakte zur (männlich dominierten) Gesellschaft, namentlich über das Militär. Von der Schweizerischen Bankgesellschaft hiess es, nur Offiziere würden ins Bankkader befördert und um Mitglied der Geschäftsleitung zu werden, müsse man Oberst im Generalstab sein. 78


Wachsende Macht der Grossbanken

Auch zur Politik unterhielten die Banken damals enge Beziehungen. Als Persönlicher Mitarbeiter von Bundesrat Ritschard habe ich Anfang der 80er Jahre miterlebt, wie sich die Spitzen von Bankiervereinigung und Grossbanken mit dem Finanzminister im «Bernerhof» zu offenen Aussprachen trafen. Gegenseitiger Respekt war auch spürbar, wenn man sich in der Sache mal nicht einig war. Die Bankenbosse gaben zwar deutlich zu erkennen, dass sie sich ihrer überragenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung durchaus bewusst waren. Sie signalisierten aber auch eine gewisse Systemtreue, halfen bei der Suche nach einem Interessenausgleich und stellten das Primat der Politik letztlich nicht in Frage, vermutlich weil sie sich ihres grossen Einflusses in der Öffentlichkeit und auf die politische Willensbildung sicher waren. Bis in die 1980er Jahre blieb der Finanzplatz Schweiz an den Interessen der Industrie orientiert. Er finanzierte ihre Investitionen und Exporte, optimierte ihre Kosten und Erträge und versicherte ihre Risiken. Die Banken waren mit Emissionen für neue Finanzmittel besorgt. Aber bezüglich Macht und Bedeutung blieben sie eindeutig als Nummer zwei hinter der Grossindustrie zurück, die sich hierzulande dank einer willfährigen, alte industrielle Strukturen konservierenden Fremdarbeiterpolitik noch lange einen sehr hohen Anteil an Beschäftigung und Wertschöpfung, aber auch an Einfluss auf die Politik erhalten konnte. Sehr gut illustrieren lässt sich dieser Sachverhalt beim Stempel, einer Abgabe, die seit 1918 auf allen Wertpapieremissionen geschuldet war. Vor allem seit der Entstehung des Eurobondmarktes in den 60er Jahren erwies sich diese Steuer für den Finanzplatz Schweiz als spürbarer Wettbewerbsnachteil gegenüber London, Paris und Luxemburg. 79


Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone

Doch die Kritik der Banken fruchtete wenig: Noch 1973 führte eine Gesetzesrevision gegen ihren Willen sogar eine generelle Umsatzabgabe auf allen Transaktionen von Wertschriften ein, auch auf ausländischen Obligationen. Als nach mehreren erfolglosen Vorstössen mit einer Gesetzesrevision 1991 der Stempel auf den Obligationen ausländischer Schuldner abgeschafft wurde, war das lukrative Eurobondgeschäft längst nach London abgewandert und liess sich nicht mehr in die Schweiz zurückholen. An dieser Geschichte ist speziell interessant, dass 1973 nicht nur die Etatisten am Stempel als bedeutender Einnahmequelle des Bundes festhalten wollten. Es gab auch eine Interessenkoalition von Teilen der einflussreichen Exportwirtschaft, ihren Zulieferbetrieben, der Arbeitnehmerschaft und der Währungsbehörden gegen einen zu rasch wachsenden Finanzplatz, weil sie eine Attraktivitäts- und Wertsteigerung des Frankens und dadurch eine Gefährdung des Werkplatzes befürchteten. 1991 gab es diese Interessenkoalition nicht mehr, und die wirtschaftliche Tektonik hatte sich gewaltig verschoben. Nun war, etwas verspätet, auch die Schweiz zu einer Dienstleistungsgesellschaft geworden, und die Grossbanken gaben fortan in der «nationalen Liga» der wirtschaftlichen und politischen Kräfte den Ton an, obwohl ihr Interesse eigentlich bereits dem «Weltcup» global agierender Bankgiganten galt.

Immobilienblase und Konzentrationsprozess Der hohen Sparquote entsprechend, wies die Schweiz lange auch eine sehr hohe Bankendichte auf. Erst relativ spät vollzog sich eine markante Restrukturierung im Bankgewerbe. 80


Immobilienblase und Konzentrationsprozess

Nachdem aus einer (in der Schweiz hausgemachten) Immobilienblase die Luft entwichen war, kam es in den frühen 90er Jahren zu einer Bankenkrise mit Gesamtverlusten von mehr als 50 Milliarden Franken. Des Kartellschutzes entblösst und rauerem Wettbewerb ausgesetzt, hatten darunter vor allem die kleineren Institute zu leiden. 1991 musste die Spar- und Leihkasse in Thun ihre Schalter schliessen. Das Fernsehen übertrug Bilder von Schlange stehenden Bankgläubigern, die an Szenen der Dreissigerjahre gemahnen konnten. Für mehr als die Hälfte der damals noch rund 180 Spar- und Regionalkassen bedeutete der Preiseinbruch auf dem Immobilienmarkt das endgültige Aus, allerdings ohne dass noch weitere Kleinsparer ihr Geld verloren hätten. Auch manche Kantonalbanken brachten sich damals in echte Schwierigkeiten; die Kantone Solothurn und Appenzell Ausserrhoden mussten ihre Banken sogar abstossen. Die Berner Kantonalbank, die sich auf undurchsichtige Geschäfte mit dem Raider Werner K. Rey eingelassen hatte, produzierte einen Verlust von 3 Milliarden Franken, was die Steuerzahler noch jahrelang belastete. Die überlebenden Kleinbanken verstärkten in der Folge die Zusammenarbeit oder fusionierten zu grösseren Gebilden wie etwa der Valiant Bank und legten damit die Grundlage für künftige Erfolge. Das grösste Erbe beim Bankensterben traten indes die Grossbanken an. Auch sie hatten bedeutende Verluste zu beklagen, konnten diese aber mit wachsenden Gewinnen aus dem Auslandgeschäft kompensieren. Sie übernahmen viele kleinere Institute, und ihr Engagement wurde meist begrüsst, weil es als eine Chance zur Erhaltung von flächendeckenden Dienstleistungen galt. Der Ausdehnung ihres Filialnetzes liessen die Grossbanken aber später einschneidende Rationalisierungsmassnahmen fol81


Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone

gen, die den Kundenwünschen im Retailgeschäft nicht immer entsprachen. Viele Filialen wurden wieder geschlossen, Dienstleistungen abgebaut oder verteuert und die kleinen Schalterkunden zum Bankomaten oder ins E-Banking abgedrängt. Gleichzeitig vollzog sich auf dem Finanzplatz Schweiz auch eine Flurbereinigung unter den fünf noch bestehenden Grossbanken. Die altehrwürdige Kreditanstalt gliederte sich 1990 die noch ältere Bank Leu und 1993 die Volksbank ein; sie mutierte zur CS Holding, später zur Credit Suisse Group, die im Zeichen einer top-down-implementierten Allfinanz-Strategie 1997 auch die Winterthur Versicherungen übernahm. Bankgesellschaft und Bankverein fusionierten 1998 zur UBS, der mit Abstand grössten Schweizer Bank. Eine Fusion von Credit Suisse CS und Schweizerischer Bankgesellschaft SBG war nicht zustande gekommen; diese Elefantenhochzeit hätte zur grössten nichtjapanischen Bank der Welt geführt und die Arbeitsplätze vor allem im Inland wohl zu Tausenden wegrationalisiert. Aber auch so bescherten die 1990er Jahre dem Finanzplatz Schweiz einen Abbau um 250 Banken auf noch 375 Institute und einen Rückgang des Bankpersonals von 121 000 auf 107 000 Beschäftigte. Aus diesem gewaltigen Konzentrationsprozess gingen die UBS und die Credit Suisse als den Schweizer Markt völlig beherrschende und auf dem Weltmarkt konkurrenzfähige Universalbanken hervor. Gemessen an der Börsenkapitalisierung, belegten UBS und CS im Jahre 1999 immerhin die Plätze drei und vier unter allen Banken Europas. Und mit 1300 Mrd. Franken an Kundengeldern avancierte die UBS zur weltgrössten Vermögensverwalterin. Die Fusionen wurden damals inszeniert, als seien sie Ent82


Immobilienblase und Konzentrationsprozess

scheidungen aus der Stärke heraus. Den Aktienbesitzern versprach man Wertsteigerungen in grossem Ausmass. Heute wissen wir, dass zum Beispiel der Bankverein auf eine Fusion mit der besser kapitalisierten, aber auch trägeren Bankgesellschaft dringend angewiesen war, weil seine Eigenkapitaldecke durch die Einkaufstour in angelsächsischen Gefilden knapp geworden war. Viele Engagements im Ausland und im bankfremden Geschäft der Versicherungsbranche erwiesen sich mittel- und längerfristig klar als Flops, weil das entsprechende Know-how fehlte, die unterschiedlichen Kulturen sich nicht vertrugen oder die Führung so komplexer Gebilde zu schwierig geworden war. Die überzahlten Akquisitionen schwächten die Giganten und mussten teilweise rückgängig gemacht werden. Aber in den 90er Jahren war Kritik am Trend zur Grösse tabu, weil man mit raschem Wachstum von der Globalisierung profitieren wollte, auf die wir im nächsten Kapitel eingehen werden. Angesichts der Entwicklungen in der Bankenbranche blieben die Aufsichtsorgane nicht untätig. Die rasanten Veränderungen seit Mitte der 1960er und die Krisenfälle der 1990er Jahre führten die Verletzlichkeit des Bankensystems vor Augen und bewirkten eine intensivere Zusammenarbeit zwischen der Bankenkommission und der Nationalbank. Man konzentrierte sich aber auf die Krisenanfälligkeit einzelner Bankinstitute und verstärkte die mikroprudenzielle Aufsicht; die systemischen Probleme wurden eher unterschätzt. Infolge einer (zu) raschen Expansion, so befürchtete zwar die Nationalbank schon in ihrer Festschrift 1982, «(…) droht die Schweiz als internationaler Finanzplatz in Grössenordnungen hineinzuwachsen, die mit dem wirtschaftlichen Potential des Landes kaum mehr in Einklang stehen» (SNB 1982, 75). Zwei systemische Probleme der 83


Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone

Schweizer Grossbanken, «too big to fail» und «too big to rescue», sind hier also bereits ein Vierteljahrhundert vor der grossen Finanzmarktkrise sachte angesprochen worden. Der Risiken einer hohen Konzentration im Bankgewerbe wurde man sich aber erst allmählich bewusst. Immerhin hat die Wettbewerbskommission die Bewilligung zur Fusion von Bankgesellschaft und Bankverein 1998 mit einigen Auflagen verknüpft, um ein Monopol des neuen Bankriesen UBS in gewissen Regionen des Landes zu verhindern. Doch die Gefahr eines Klumpenrisikos durch die besondere Struktur und Auslandverflechtung unseres Finanzplatzes hat man lange nicht wahrhaben wollen. Das Sekretariat der Eidgenössischen Bankenkommission EBK wurde 1998 zwar um eine Abteilung zur Überwachung der beiden Grossbanken ergänzt. Aber die spezielle und zuvorkommende Aufsicht über die beiden Bankriesen hatte schliesslich zur Folge, dass UBS und CS ein wesentlich höherer Verschuldungsgrad zugestanden wurde als allen anderen Banken. Politik und Regulator waren in eine fatale Nähe zu ihren zwei bevorzugten Klienten geraten und taten alles, um die Schweizer Grossbanken für den internationalen Wettbewerb zu stärken. Erfolg auf dem Weltmarkt könnten nur die ganz Grossen haben, so war man in der Branche überzeugt. Und von diesem unabdingbaren Zwang zur Grösse liessen sich in der kleinen Schweiz auch Behörden und Öffentlichkeit problemlos überzeugen.

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3. Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

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ie internationale Orientierung der Schweizer Wirtschaft ist nicht nur geografisch eine Notwendigkeit. Die Offenheit unserer Ökonomie basiert auf den Erfahrungen von Jahrhunderten. Die kleine Schweiz hat das grosse Geld schon seit jeher im Geschäft mit dem Ausland gemacht. Vom Passhandel seit dem Mittelalter über den Menschenhandel der Reisläuferei und die Beteiligung an «Schwarzen Geschäften» (Sklavenhandel) bis hin zum rasanten Aufstieg von Handelshäusern, Tourismus und Industrie im 19. Jahrhundert war wirtschaftlicher Erfolg hierzulande stets stark vom Austausch mit dem Ausland abhängig. Die fleissig akkumulierten Vermögen, die ihren herrschaftlichen Ausdruck einst in Patrizierhäusern in Städten, in Marktflecken wie Altdorf, Glarus, Schwyz und Stans sowie zu Lande gefunden haben und heute gerne mit protzigen Villen am Zürich-, Zuger- und Genfersee zur Schau gestellt werden, sind selten unseren kargen Böden mit ihren eher bescheidenen Erträgen abgerungen worden. Auch der Aufstieg des Finanzplatzes Schweiz zu nationaler Dominanz im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ist nicht einem autochthonen Wirtschaftswunder zu verdanken. Seinen Erfolg kann man nur verstehen, wenn man einen Blick auf die zunehmende Internationalisierung der Finanzwirtschaft wirft. Das expandierende Auslandgeschäft und der Konzentrationsprozess im Schweizer Bankgewerbe sind Aus85


Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

druck einer globalen Entwicklung. Der Finanzsektor war weltweit der wichtigste Treiber und zugleich der grösste Profiteur eines besonderen Globalisierungsschubs, der zunächst die Märkte und dann auch die Mentalitäten erfasste.

Finanzmärkte und Globalisierung Schon Rudolf Hilferding hat in seinem «Finanzkapital» (1910) aufgezeigt, wie der Welthandel und die Kapitalverflechtung ausgangs des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Vormachtstellung der Banken und der Finanzwirtschaft führten. Wenn man die internationale Durchdringung von Wirtschaftsräumen betrachtet, so war 1913 bereits ein hoher Globalisierungsgrad erreicht, der erst in den 1980er Jahren wiedererlangt und überschritten wurde. So gesehen kann man den Prozess der Globalisierung als einen säkularen Trend verstehen, der 1914 bis 1945 durch Weltkriege und Weltwirtschaftskrise nur mittelfristig unterbrochen wurde. Dieser Prozess hat sich seit den 1970er Jahren beschleunigt und seit den 1990er Jahren über die ganze Erde ausgebreitet. Er ist nicht mehr in erster Linie durch industrielle Güterproduktion und Handel getrieben, sondern durch Informationssysteme und Finanzen. Diese jüngste Welle der Globalisierung hat Macht und Einfluss der Finanzwirtschaft enorm verstärkt. Wie ein Supersystem hat sie in allen Teilen der Welt sämtliche Bereiche des Lebens überlagert und drängt ihre eigene Rationalität mehr und mehr den verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen auf. Im Rückblick erscheint der Übergang zum Floating als Fanal für eine neue Stufe der Entwicklung moderner Geldwirtschaften: Jetzt wurden auch nationale Währungen, bis86


Finanzmärkte und Globalisierung

her als wichtigste Informationssysteme der einzelnen Volkswirtschaften von den politischen Behörden streng kontrolliert, an internationalen Märkten frei handelbar. Mit dem Zusammenbruch des Systems fixer Wechselkurse Anfang der 70er Jahre entglitt der Devisenhandel der nationalstaatlichen Kontrolle, was den Finanzmärkten mächtig Auftrieb gab. In der Folge lösten die Liberalisierung der Kapitalmärkte und weitere Deregulierungen zunächst nur im Westen, dann weltweit eine beispiellose Globalisierungswelle aus. Diese Entwicklung wurde von den Behörden nicht nur geduldet, sondern ermöglicht und vorangetrieben. Fast überall hatte das Floating den Einfluss der Zentralbanken auf Wirtschaftspolitik und Finanzsysteme verstärkt, ohne sie den Prozessen von Partei- und Tagespolitik direkt auszusetzen. Im Schosse der schon 1930 in Basel gegründeten BIZ (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich), gewissermassen einer Bank der Zentralbanken, aber auch im Rahmen des IWF (des Internationalen Währungsfonds) und der Weltbank in Washington sowie in eher informellen Gremien wie G 7, G 8, Zehnerclub und G 20 oder G 30 wurden die notwendigen Massnahmen zur Erhaltung eines internationalen Zahlungssystems laufend abgesprochen. Wie andere reiche Länder hat auch die Schweiz im Rahmen internationaler Institutionen immer wieder grosse Kredite finanziert und Garantien geleistet, um bei Währungs-, Insolvenz- und Entwicklungsproblemen die Zahlungsfähigkeit ihrer Handelspartner sicherzustellen. Zur finanzpolitischen Vernetzung der Schweiz und zur Pflege dieses internationalen Kontextes beanspruchte die Nationalbank viel Handlungsspielraum, den sie seit der Ära Leutwiler auch zu nutzen wusste. Die ersten Banker, die im wahren Sinne global dachten, sich glo87


Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

bal vernetzten und global handelten, waren die Zentralbanker. Unsere Nationalbank darf in ihrem Zusammenwirken mit anderen Zentralbanken als ein wichtiger «Enabler» der Finanzmarktglobalisierung betrachtet werden. Die Finanzwirtschaft nutzte die neuen Möglichkeiten zur globalen Entfaltung. Die Deregulierung im Finanzsektor bestand neben dem Abbau gesetzlicher Schranken im Kapitalverkehr zu einem guten Teil darin, dass die neu gewonnenen Freiheiten und Geschäftsmöglichkeiten nur teilweise und nur sehr zögerlich einer staatlichen Kontrolle unterzogen wurden. Die Finanzmärkte legten ein rasantes Wachstum vor. Ihre Entwicklung ist zunächst eine eindrückliche Erfolgsgeschichte, wie man etwa beim Obligationenmarkt aufzeigen kann: Während 1980 weltweit noch für weniger als 4000 Mrd. USD Obligationen in den Portfolios lagen, ist diese Zahl in 25 Jahren um das 15-Fache auf 58 000 Mrd. USD gewachsen. Mit gut der Hälfte dieser Anleihen finanzieren die Regierungen ihre markant gestiegenen Haushaltsdefizite; aber das dynamischste Marktsegment bildeten die Unternehmensanleihen und die Verbriefung von Krediten im Hypothekar- und im Konsumbereich. Im gleichen Zeitraum ist die Kapitalisierung der an den wichtigsten Börsen der Welt gehandelten Aktien von 2800 Mrd. USD um das 12-Fache auf 33 000 Mrd. USD gestiegen. Interessant bezüglich Globalisierung ist dabei die gegenseitige Durchdringung der nationalen Märkte, die 1980 noch stark segmentiert erschienen. Damals waren Vermögenswerte in der Höhe von rund 25 % des weltweiten BIP im Ausland platziert; das entsprach einem Globalisierungsgrad, wie er kurz vor dem Ersten Weltkrieg bereits erreicht worden war. Im Jahre 2000 lag dieser Anteil bei 90 % des BIP. Und was die stark mit dem Weltmarkt verflochtene Schweiz betrifft, so stiegen ihre im 88


Primat finanzieller Steuerung

Ausland angelegten Vermögen auf mehr als 500 % unseres BIP.

Primat finanzieller Steuerung Globalisierte Finanzmärkte lenken das (Spar-)Kapital dorthin, wo es am meisten Profit verspricht. Institutionelle Anleger wussten die grenzüberschreitenden Möglichkeiten ebenso zu nutzen wie multinationale Konzerne, die nun ihre Aufwände auf den Faktormärkten und für Steuern noch besser optimieren konnten. Diese globale Konkurrenz hat den Wettbewerb um Standortvorteile gefördert und die Bedingungen auch in der Realwirtschaft umgepflügt. Seit den 1990er Jahren ist deutlich geworden, wie radikal sich der Fokus der ganzen Wirtschaft von Fragen der Produktion auf Finanzierungsfragen verschoben hat. Noch in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hielt sich – zumindest was Europa betrifft – die Tradition, dass Manager und Eigner ihre Unternehmungen als produzierende Einheiten zu erhalten und zu stärken versuchten. Sie investierten nicht, um den Aktienwert zu steigern, sondern um Erträge zu erwirtschaften, die das Überleben der Firmen und damit auch der Arbeitsplätze langfristig sichern sollten. Gerade das Wirtschaftswunder liess aber das Finanzvermögen anwachsen, während die Märkte in manchen Branchen eine gewisse Sättigung erfuhren und die Gewinne infolge intensiverer Konkurrenz zu schrumpfen begannen. Immer mehr dominierten in der Folge rein finanzwirtschaftliche Sichtweisen das politische und das wirtschaftliche Geschehen. Der Profit, der Shareholder-Value, wurde zum allein gültigen Kriterium erfolgreichen Wirtschaftens hoch89


Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

stilisiert. Das unternehmerische Paradigma, wie es Schumpeter noch beschrieb, hat an Bedeutung verloren: Es geht nicht mehr darum, eine Produktionsidee industriell umzusetzen und mit dem Kundennutzen auch den eigenen Gewinn sicherzustellen. Der Kapitalgewinn wird zum Selbstzweck und zum Ziel allen Wirtschaftens erklärt. Die Topmanager fühlen sich seither dazu verpflichtet, ihre Entscheide auf eine überdurchschnittliche Wertsteigerung der Aktien auszurichten. Mit grosszügigen materiellen Anreizen versucht man sie auch entsprechend zu motivieren und hofft, damit die Principal-Agent-Problematik, also die Machtfrage zwischen den Aktionären und dem Top-Management, im Sinne der Kapitalinteressen zu entschärfen, ohne allerdings in Rechnung zu ziehen, welch neue Missbrauchsmöglichkeiten dadurch entstehen. Im hohen Stellenwert des direkten finanziellen Erfolgs kommen aber nicht nur die persönlichen Interessen der Manager und Financiers zum Ausdruck; es spiegelt sich darin auch der Umstand, dass fast die ganze Bevölkerung an der Börse investiert ist, zumindest als Mitglieder von Kassen der beruflichen Vorsorge, die meist auf hohe Kapitalgewinne angewiesen sind, wenn sie ihre Versprechungen erfüllen wollen. Die vorwiegend finanzielle Sichtweise bewirkt eine immer kurzfristigere Orientierung des Managements und der Aktionäre, was eine weitsichtige Unternehmensführung und den Aufbau von Potenzial für die Zukunft erschwert. Oft werden die erwirtschafteten Erträge in den profitabler erscheinenden Finanzsektor statt in die Realwirtschaft re-investiert, und viele Industriefirmen orientieren sich in ihren zentralen Entscheiden längst am Finanzmarkt, nicht mehr am langfristigen Kundennutzen. Damit liefert sich die Wirtschaft als Ganze der kurzfristigen, spekulativen Logik der 90


Primat finanzieller Steuerung

Börsen und ihrer Analysten aus. Märchenhafte Gewinne sind so möglich, wenn innere Werte aktiviert und ausgeschlachtet werden. Aber oft können auch über Jahrzehnte erarbeitete reale Werte gleichsam mit einem Federstrich zunichte gemacht werden, wenn die Kapitaleigner andernorts lukrativere Gewinnmöglichkeiten vermuten. Die Problematik dieser Entwicklung hin zu einer rein finanziellen Steuerung von Unternehmen und Wirtschaft liegt darin, dass es an den Börsen und überhaupt in der modernen Finanzindustrie immer weniger um echte, reale Werte geht als vielmehr um Erwartungen bezüglich Wertveränderungen in Form von monetären Grössen. An den Börsen herrschen – in authentischen Worten von Börsenprofis – Herdentrieb und reine Gier oder Angst. Sie schlagen sich rasch in einer irrationalen Verstärkung von Aufwärts- und Abwärtstrends nieder. Man staunt nicht schlecht, dass sich die Wirtschaftswelt an einer so zentralen Stelle ihrer existenziellen Entscheidungen von volatilen, ja, chaotischen Prozessen steuern lässt, die das ganze System gefährden können. Sie wird dabei unterstützt vom Mainstream der Wirtschaftswissenschaft, die sonst doch stets auf rationale Modelle vertraut. Aber bisher hat man die Irrationalität der Börsen offenbar als Preis für eine scheinbar unabhängige, unpolitische, sich selber lenkende «Steuerung» der Wirtschaft im Sinne eines autonomen oder selbstreferenziellen Systems in Kauf genommen. Und die Wissenschaft tut, was sie am besten kann: Sie kapriziert sich auf eine so genannte «objektive», mathematisierte Beschreibung von quantifizierbaren Vorgängen; Wertebasis und gesellschaftliche Auswirkungen finanzwirtschaftlicher Vorgänge werden aus dem Forschungsdesign konsequent ausgeklammert. Der so entstehende Realitätsverlust dürfte sich früher oder später rächen. 91


Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

Finanzindustrie als globales System Die Quantifizierung aller Produkte und die Digitalisierung von Entscheidprozessen waren zentrale Elemente bei der Ausdifferenzierung der Finanzwirtschaft zu einem eigenständigen, den Globus überziehenden, aber stark auf sich selbst bezogenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Subsystem. Mit Financial Engineering liess sich eine spezifische Professionalität für die neue Art des Wirtschaftens reklamieren, was der Legitimation dieser gefährlichen Entwicklung diente. Der Finanzsektor hat sich immer stärker spezialisiert und ist mit kaum noch durchschaubaren Produkten zur «Finanzindustrie» geworden, ein Begriff, den man früher bezeichnenderweise nicht kannte, der aber sehr gut zum Ausdruck bringt, dass diese Ausdifferenzierung aus einer einst für Wirtschaft und Gesellschaft «Dienst»-leistenden eine (zumindest virtuell) selber produzierende Branche gemacht hat. Was bei der Produktion dieser Branche allerdings als eigentliche Wertschöpfung gelten darf und was wohl eher als «Wertabschöpfung» bezeichnet werden müsste, bleibe mal dahingestellt. Jedenfalls waren aus den (bank-)eigenen Geschäften mit Finanzen bald grössere Gewinne herauszuholen als mit der Finanzierung fremder Geschäfte. Das Geld der Kunden wurde immer mehr zum Hebel, um mit wenig Eigenkapital (und deshalb auch mit relativ wenig eigenem Risiko) grosse (Spekulations-)Gewinne zu erzielen. Der Wandel im Finanzsektor von den traditionellen Dienstleistungen zu den spekulativen Geschäften hin hat schleichend stattgefunden. Das Fristentransformations- und Zinsdifferenzgeschäft, also das Sammeln von relativ billigen und kurzfristigen Sparguthaben zu längerfristig investierba92


Finanzindustrie als globales System

rem und deshalb teurerem Kapital, sowie die Vermögensverwaltung und andere Aktivitäten des traditionellen Banking florierten zwar weiterhin, aber sie verloren allmählich an Bedeutung und Ansehen gegenüber dem Investmentbanking, bei dem mit Börsengängen, Fusionen und Restrukturierungen von international tätigen Grossfirmen und mit Geschäften auf eigene Rechung rasch wesentlich mehr Gewinn gemacht werden konnte. Neben den Bankinstituten traten vermehrt auch neue Player auf den Finanzmärkten auf wie etwa die institutionellen Anleger (zum Beispiel die Pensionskassen), regulierte und öffentlich zugelassene Anlagefonds, die Kundengelder in Aktien, Obligationen und andere Handelsobjekte wie Rohstoffe investieren. Hinzu kamen die kaum regulierten Hedgefonds, die für grosse Anleger und mit Aufnahme immenser Kredite höchste Renditen auch bei sinkenden Märkten zu erzielen versuchen dank alternativer Strategien im Devisenhandel oder etwa mit Leerverkäufen von Aktien. Gleichzeitig wurden laufend neuartige, äusserst komplexe Finanzprodukte eingesetzt, die zunächst durchaus Sinn machen konnten für die Finanzierung, die Absicherung, die Risikominderung oder die Risikostreuung verschiedener Geschäfte: Futures (auf einen Termin abgeschlossene Kontrakte), Optionen (Anrechte auf später zu tätigende Geschäfte), Swaps (Tauschgeschäfte, zum Beispiel von Devisen, meist mit komparativen Kostenvorteilen für beide Seiten), Verbriefungen von verschiedensten Forderungen (die Schulden handelbar machen) und Derivate (Produkte mit variablen Preisen, abgeleitet von gewissen Basiswerten wie Zinsen, Devisen und andern Indizes). Diese Vehikel sind immer mehr zu reinen Spekulationszwecken und zur kurzfristigen Gewinnmaximierung eingesetzt worden; sie sind kaum mehr durchschaubar und enthalten oft 93


Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

Risiken, die auch von Profis (selbst von Rating-Agenturen) nur schlecht beurteilt werden können. Die Entwicklung einer globalisierten Finanzindustrie mit ihren neuen Produkten und Akteuren wäre ohne eine moderne Infrastruktur nicht vorstellbar. Auch die neuen Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologie haben das Bank- und Börsenwesen revolutioniert. Verglichen mit den Kapazitäten der elektronischen Börsen muten der Handel am Ring und seine Verarbeitungsprozesse im Backoffice geradezu nostalgisch an. Heute stehen praktisch rund um die ganze Welt zeitgleich dieselben Informationen zur Verfügung; im Devisenhandel und Interbankengeschäft werden täglich und stündlich Riesensummen verschoben, die man sich vor lauter Nullen gar nicht mehr richtig vorstellen kann. Die Virtualisierung des Geldes von den Kreditkartensystemen bis zum internationalen Austausch und Verbund von Banken und Börsen potenziert das Primat der Finanzwirtschaft. Moderne Finanzmärkte sind keine Produzenten-, sondern globale Händlermärkte. An Börsen und vor allem in den «Trading Floors» der Grossbanken beobachten sich die Händler weltweit über den Bildschirm wechselseitig und tauschen Währungen und andere Finanzinstrumente, die nicht für den Konsum bestimmt sind. Sie positionieren sich mit unglaublich hohen Summen als Käufer (long) oder Verkäufer (short) am globalisierten Markt, in der Absicht, vom Steigen oder Sinken der Kurse zu profitieren. Erfolg und Misserfolg dieser online vernetzten Marktmacher hängen von Wissen und Erfahrung ab, aber noch viel mehr von ihrer Fähigkeit, Marktstimmungen fast intuitiv zu erfassen und blitzschnell darauf zu reagieren. Auf den «Trading Floors» herrscht eine aggressive Stimmung, die in unschöne Verbal94


Finanzindustrie als globales System

attacken ausarten kann, wenn zum Beispiel ein Handelspartner entscheidende Sekunden verstreichen lässt, bevor er auf ein Angebot antwortet. Kein Wunder, dass sich die Händler diese äusserst stressige Tätigkeit gerne vergolden lassen. Das globale Netzwerk mit Tausenden von Finanzintermediären macht das System flexibel und stark zugleich; kleinere Probleme und Krisen im System sind rasch behebbar, weil Millionen von dezentralen Entscheidungen im Markt einen Ausgleich finden. Dass grössere Probleme im Markt aufgrund der komplexen Interdependenzen jedoch zu Krisen des Systems werden und auf das ganze Netzwerk durchschlagen könnten, vor allem wenn das Vertrauen zwischen den Akteuren stark erschüttert sein sollte, solche Gefahren hat man kaum thematisiert. Vom Erfolg verwöhnt, fühlten sich Trader, aber auch viele Banker als «Masters of the Universe» und entwickelten eine Arroganz, die immer mehr auch in exorbitanten Löhnen und Boni zum Ausdruck kam. Diese Masslosigkeit entsprang vielleicht weniger einer (Konsum-)Gier als vielmehr dem Selbstverständnis einer neu sich bildenden Elite, dass die Harten, Tüchtigen und Erfolgreichen Anspruch auf ihren Teil an der eingebrachten Beute hätten und dass in gestiegenen Geldwerten eben das Mass ihrer Tüchtigkeit und Potenz zum Ausdruck komme. Die Ethnologen würden wohl in vielen Unternehmenskulturen der Finanzindustrie männerbündisches Jagdverhalten erkennen können. Die individuelle und kollektive Selbstüberschätzung dieser global gut vernetzten, vom Rest der Gesellschaft aber abgehobenen Finanzelite ergab sich aus dem Umstand, dass ähnlich wie bei Midas, dem sagenumwobenen Phrygerkönig, (fast) alles zu Geld wurde, was immer sie in ihre Geschäftsprozesse einbezog. 95


Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

Sicher waren bei diesen Geschäftsprozessen Tüchtigkeit und Cleverness gefragt, aber die unglaublich hohen Gewinne im Finanzsektor sind doch eher die Folgen tief greifender Veränderungen, wie sie seit den 1990er Jahren kumulierten: (1) Der Einbezug beinahe aller Länder der ganzen Welt in ein zusammenhängendes Finanz- und Wirtschaftssystem mit kaum beschränkten Möglichkeiten, bisher brachliegende Ressourcen und komparative Vorteile global zu nutzen, (2) die Quantensprünge von Technologie und Infrastruktur, namentlich im Informations- und Kommunikationsbereich, die die Welt zum globalen Dorf schrumpfen liessen, (3) die Schwäche der (vorwiegend national aufgestellten) Politik gegenüber (globalen) Problemen wie ruinösem Standortwettbewerb, Migration, (Sozial-)Staatsfinanzierung und Ökologie, und schliesslich (4) der beschleunigte kulturelle Wandel, der die Individuen aus traditionalen Bindungen in eine globalisierte Leistungs- und Konsumgesellschaft katapultiert, die ihren archimedischen Punkt mehr und mehr im Geldwert zu finden glaubt, da Geld als universeller Massstab aller Werte auch die Erfüllung sämtlicher Wünsche verspricht. All diese turbulenten Entwicklungen haben sowohl die Gewinnchancen wie auch die Verlustrisiken im Finanzsektor multipliziert. Solange man die Chancen und Risiken richtig einzuschätzen wusste, waren hohe Gewinne vorprogrammiert. Die global vernetzte Finanzwirtschaft brauchte auf diesen Trends nur zu surfen; sie hat neue Werte weniger selber geschaffen als vielmehr bisher nicht realisierte Werte aktiviert und abgeschöpft. Ihre Leistung bestand darin, dass sie die Gunst der Stunde nutzte. Die Finanzindustrie hat sich mit wenig eigener (Arbeits-)Leistung, mit beachtlichem Marketinggeschick und zum Teil gar mit hoher krimineller 96


Finanzindustrie als globales System

Energie riesige Gewinne angeeignet, die anderswo erarbeitet und durch gesellschaftliche Entwicklungen ermöglicht oder in wirtschaftlichen und politischen Prozessen aufbereitet worden sind, an denen sie nur einen geringen Anteil für sich selber reklamieren kann: also eine gigantische Umverteilung von Vermögen durch eine private Wirtschaftsbranche, die im Schutz von staatlich legitimierten Finanz- und gesicherten Zahlungssystemen ihre Interessen global zu verfolgen und dabei ihre Gewinne zu maximieren verstand. Der Erfolg der Finanzindustrie hing insbesondere auch mit der Liberalisierung ihrer Märkte zusammen, um die sich viele Regierungen und Parlamente seit den 1980er Jahren bemühten. Im Herbst 1986 hatte die Regierung Thatcher mit dem Big Bang eine Deregulierung von Börse und Banken eingeläutet, die der Londoner City gewaltig Auftrieb gab. Andere Finanzplätze, vor allem im angelsächsischen und asiatischen Raum, folgten im Bestreben, sich global besser zu positionieren. Dabei haben es gerade die mächtigen Länder immer wieder verstanden, eine liberale Öffnung der Märkte geschickt in den Dienst ihrer nationalen Interessen zu stellen. Der Ruf nach freiem Wettbewerb diente oft einer knallharten Standortpolitik. Die Amerikaner sind Meister in diesem Spiel. Kaum anderswo sind globale Sicht- und kommerzielle Handlungsweise, oft repräsentiert in altehrwürdigen Firmen jüdischen Ursprungs, mit Regierungsmacht und Nationalismus, ja, mit Chauvinismus so stark amalgamiert wie an der New Yorker Wall Street.

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Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

Globalisierung des Finanzplatzes Schweiz Unter diesen Umständen war es für den Schweizer Finanzplatz nicht ganz einfach, sich im Globalisierungsprozess zu behaupten. Die Grossbanken hatten zwar seit Mitte der 1960er Jahre den Ausbau ihres Auslandgeschäfts forciert, nachdem vereinzelt schon 1898 (Bankverein in London) und 1939/40 (Kreditanstalt respektive Bankverein in New York) erste Auslandvertretungen eröffnet worden waren. Die Schweizer Banken blieben indessen lange ihrer nationalen Basis verhaftet. Aufgrund von bestem Know-how, Qualitätsbewusstsein und modernster Infrastruktur verfügte der Finanzplatz zwar über ein hohes Ansehen auch im Ausland, aber viele frühere Standortvorteile haben sich in den 1990er Jahren merklich relativiert, weil andere Finanzplätze für neue Kundengruppen an Attraktivität gewannen. Vor allem die Grossbanken bauten deshalb ihre Positionen in London, New York, Singapur und anderen Kapitalen des Kapitals über den Zukauf wichtiger Firmen aus. Die UBS zum Beispiel glich zuletzt mit 40 Prozent ihrer Beschäftigten in Übersee und nur noch 35 Prozent in der Schweiz fast mehr einer amerikanischen als einer schweizerischen Bank. Zur gleichen Zeit hat auch die Anzahl ausländischer Banken in der Schweiz markant zugenommen. Der eigentliche Globalisierungsschub im schweizerischen Finanzsektor vollzog sich – auch mentalitätsmässig – in den 1990er Jahren, parallel zum Konzentrationsprozess, den wir schon im letzten Kapitel behandelt haben. Es war eine Zeit wirtschaftlicher Umstrukturierungen nach einer Wachstumsschwäche, die durch den geldpolitischen Purismus der Nationalbank bis 1996 noch verlängert und vertieft worden war. Der hohe Frankenkurs lenkte die schweizerischen In98


Globalisierung des Finanzplatzes Schweiz

vestitionen vermehrt ins Ausland und bescherte der Schweiz eine rasche Deindustrialisierung, der auch traditionsreiche Grosskonzerne wie Sulzer zum Opfer fielen. Die Financiers und Beratungsfirmen richteten sich ganz auf die Optimierung des Shareholder-Value im Rahmen globaler Möglichkeiten aus und wurden dabei von den Grossbanken unterstützt, obwohl auch diese ins Schussfeld von Gewinnmaximierern geraten konnten, wie der Angriff Martin Ebners und seiner BZ-Bank auf die Bankgesellschaft illustriert. Die Finanzwirtschaft hatte sich von ihrer bisherigen Rolle als Stütze und Garant der nationalen Industrie gelöst und begann auch in der Schweiz, ihr Gewinnspiel nach den globalen Regeln der Kunst zu perfektionieren. Ich konnte diesen Globalisierungsschub von interessanter Warte aus mitverfolgen: Als Personaldirektor des Bundes gehörte ich einem Arbeitskreis der ZGP (Zürcher Gesellschaft für Personalmanagement) an, der die obersten Personalleiter der 50 grössten Schweizer Unternehmen jährlich zweimal zu intensiven und vertraulichen Aussprachen versammelte. Während in der ersten Hälfte der 90er Jahre die Ziele und Hoffnungen, Probleme und Ängste, aber auch die Besoldungen aller Kollegen noch ziemlich ähnlich waren, drifteten seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre die Vertreter von Grossverteilern und öffentlichem Sektor auf der einen und jene von Grossbanken, Versicherungen und multinationalen Konzernen auf der andern Seite hinsichtlich dieser Aspekte immer stärker auseinander. Letztere trugen nun zwar besoldungsmässig ein Mehrfaches nach Hause, mussten aber öfter und abrupt die Stelle wechseln und konnten nie sicher sein, ob sie selbst, ihre Organisationseinheit oder gar ihre Firma das nächste halbe Jahr unbeschadet überstehen würden. Und vor allem: Sie hatten kaum mehr für einen 99


Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

nachhaltigen Ausgleich der Interessen von Unternehmen und Belegschaft zu sorgen, sondern wurden zu betriebswirtschaftlich versierten Handlangern ihrer global orientierten Konzernleitungen und zu effizienten Vollstreckern von deren meist kurzfristigen Entscheiden im Dienste des Shareholder-Value. «Hire and fire», kombiniert mit hohen Leistungslöhnen und attraktiven Boni; damit hatte eine globale oder besser: eine amerikanische Kultur bei den Grossbanken und vielen multinationalen Konzernen Einzug gehalten. Der Zukauf von bedeutenden Firmen des angelsächsischen Raums hatte zwar öfter zu spürbaren Kulturkonflikten geführt. Die alten Garden im Schweizer Bankkader waren noch in seriöser, bürokratischer Tradition gross geworden und fühlten sich zum Teil überfordert oder gar angewidert von amerikanischen Geschäftspraktiken, die in ihrer Zielstrebigkeit flexible Offenheit fast spielerisch mit Schlauheit und Brutalität zu kombinieren verstehen. Zumindest an ihrer Spitze sind die beiden Grossbanken aber eindeutig dem amerikanischen Vorbild gefolgt. Das lässt sich schon am Karrierepfad ihrer höchsten Repräsentanten (etwa Rainer Gut für die CS oder Marcel Ospel für die UBS) zeigen, aber auch daran, dass man nun Angelsachsen bis ins Topmanagement aufsteigen liess. Als kritischer Beobachter von aussen wird man den Eindruck nicht ganz los, dass die Bewunderung an der Bahnhofstrasse für Wall Street und Londoner City nicht immer völlig frei war von leichten, aber doch nagenden Minderwertigkeitsgefühlen eines kleinen Landes gegenüber der grossen, weiten Welt. Die Überidentifizierung mit dem modernen Banking und der harte Bruch mit mancher nationalen Tradition liessen sich als Folge solcher Komplexe viel100


Globalisierung des Finanzplatzes Schweiz

leicht erklären. Anders als bei den Amerikanern sind Selbstbewusstsein und Identität unserer Banker nicht mehr in der heimatlichen Basis und in den kulturellen Gepflogenheiten des eigenen Landes verankert. Die Mentalität hat sich ins Gegenteil verkehrt. Statt Kunden-, Qualitäts- und Sicherheitsorientierung, mit der die Bankiers früher die traditionell hohe Sparquote in der Schweiz zu pflegen versuchten, steht heute der lukrative «Deal» im Vordergrund, für den man auch hohe Risiken in Kauf zu nehmen hat. Firmennutzen und Eigennutz haben die traditionelle Dienstleistungsgesinnung weitgehend abgelöst und den Finanzplatz Schweiz seiner Herkunft entfremdet. Wohl am deutlichsten kommt dieser Wandel im Verhältnis der Finanzelite zur Politik unseres Landes zum Ausdruck. Die verschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme haben sich in den letzten Jahren funktional stärker ausdifferenziert und spezialisiert. Die Eliten orientieren sich in ihrer Professionalisierung und in ihrem Habitus umso mehr an internationalen Standards, als ihre Bereiche global vernetzt sind. Das zeigt sich auch in den akademischen Disziplinen. Was die Finanzelite betrifft, muss man leider feststellen, dass sie sich seit den 90er Jahren radikal amerikanisiert und von nationalen Einbindungen (politische Parteien, Offizierskorps etc.) abgekoppelt hat. Gegenüber der Politik wurde gar eine gewisse Arroganz, ja, Verachtung spürbar. Mit Weissbüchern und andern Belehrungen gab man den Politikern von oben herab den neoliberalen Tarif bekannt, ohne sich ernsthaft in einen Diskurs einzubringen. Den Gipfel der Arroganz erklomm im Herbst 2001 UBS-Chef Ospel, als es darum ging, die Swissair in letzter Minute vielleicht doch noch vor einem Grounding zu retten. Bundesrat Villiger versuchte, Ospel telefonisch zu erreichen, aber dieser verweigerte dem Finanz101


Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

minister das Gespräch. Welch ein Affront und welch ein Unterschied zur Gesprächskultur zwischen Bankiers und Bundesrat Ritschard zwanzig Jahre zuvor! Wer hätte 2001 geahnt, dass in der Finanzmarktkrise sieben Jahre später einer der UBS-internen Scharfmacher gegen die Swissair und Nachfolger Marcel Ospels als VR-Präsident der UBS, Peter Kurer, beim Bund die hohle Hand machen würde, um die angeschlagene Grossbank vor dem drohenden Untergang zu retten?

Anpassung des staatlichen Rahmens Eine Geringschätzung der Politik durch die Finanzelite war und ist schon deshalb nicht gerechtfertigt, weil die Politik den Rahmen setzte, in dem aus international tätigen Schweizer Banken erst global agierende Multis werden konnten. Dass sich der Finanzplatz Schweiz erfolgreich in ein globales Wirtschafts- und Finanzsystem integriert hat, ist zu weiten Teilen auch ein Verdienst der Politik. Mit dem Beitritt zu Währungsfonds und Weltbank signalisierte die Schweiz 1992 den Willen, in diesem System Verantwortung mitzutragen. Schon in den frühen 1980er Jahren war den Behörden klar geworden, dass die aktive Mitarbeit und jahrelange Mitfinanzierung durch einen offiziellen Beitritt zu diesen Institutionen auch politisch abgesegnet werden sollten, aber sie fürchteten – vor allem nach der Kanterniederlage von 1986 in der UNO-Beitrittsfrage – die isolationistische Stimmung in der Bevölkerung. Es war ein Glücksfall, dass sich nach der Auflösung der Sowjetunion die Möglichkeit ergab, zusammen mit Polen, Serbien und fünf ehemaligen Sowjetrepubliken (auch als «Helvetistan» bekannt) eine neue Stimm102


Anpassung des staatlichen Rahmens

rechtsgruppe zu bilden, die der kleinen Schweiz Einsitz in die oberste Leitung der Bretton-Woods-Institutionen verschaffte. Bundesrat Stich nutzte diese Gelegenheit und brachte das Geschäft durch die Volksabstimmung – nur einige Monate bevor der Souverän am 6. Dezember 1992 den Beitritt zum EWR ablehnte. Trotz der Niederlage von 1992 hat die Europapolitik zur Modernisierung unseres Rechts und damit zur Integration der Schweiz in ein globales Wirtschafts- und Finanzsystem beigetragen. Aus Eurolex wurde Swisslex; autonomer Nachvollzug und Bilateralismus haben den Wirtschaftsstandort Schweiz vor einer gefährlichen Selbstisolierung lange verschont, ohne dass gewisse Vorteile im Bank- und im Steuerbereich sofort aufgegeben werden mussten. Hätte sich die Schweiz Europa politisch stärker angenähert, wäre eine Globalisierung ihres Finanzplatzes nach «amerikanischem» Vorbild wohl schwieriger gewesen. Allerdings hätte dann auch die Illusion weniger Platz greifen dürfen, man könne quasi zwischen den Blöcken und in Ausnützung ihrer inneren Widersprüche finanzwirtschaftliche und steuerpolitische Rosinen picken. Mit ihrem speziellen Bankgeheimnis stiess die Schweiz immer öfter auf Kritik und Widerstand auf internationalem Parkett. Stein des Anstosses war dabei weniger der Persönlichkeitsschutz von Bankkunden, deren finanzielle Verhältnisse hierzulande quasi zur Intimsphäre zählen. Zu Peinlichkeiten führte diese extreme Sichtweise dann, wenn die Banken den Schutz des Intimbereichs auch für die ihre Länder aussaugenden Diktatoren und andere Halunken missbrauchten, was leider immer wieder vorkam und den guten Ruf der Schweiz in Frage stellte. Was aber andere Länder wirklich missmutig stimmte, war die für sie unübliche Un103


Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

terscheidung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung und der Umstand, dass die Schweiz bei Letzterer keine internationale Rechtshilfe gewährt – eine äusserst heikle juristische Differenzierung, die das Gerechtigkeitsempfinden breiter Kreise wohl ebenso strapaziert, wie sie umgekehrt den Interessen potenter Kunden von Schweizer Banken entgegenkommt. In Verbindung mit relativ tiefen Steuern, Steuerbefreiung auf gewissen Anlageformen und einer den reichen Ausländern kantonal gewährten Pauschalbesteuerung nach Aufwand liess sich der Vorwurf nicht so leicht entkräften, der Finanzplatz Schweiz entwickle sich zum Steuerparadies oder sogar zu einer Steueroase. Solche Kritik aus dem Ausland mochte nicht immer von der Absicht frei sein, von eigenen Peinlichkeiten (Trusts, Kanalinseln etc.) abzulenken und der Schweizer Konkurrenz zu schaden. Mit dem Zinsbesteuerungsabkommen von 2003 zwischen der EU und der Schweiz liess sich die Kritik zunächst etwas dämpfen; nun werden die Bankkunden zugunsten ihrer Wohnsitzländer zur Kasse gebeten, ohne dass ihre Namen den Steuerbehörden gemeldet werden. Betroffen sind aber nur natürliche Personen, und die Entstehung von Vermögen bleibt weiterhin steuerfrei. Bundesrat Villiger äusserte Ende der 90er Jahre im Kreis engerer Mitarbeiter die Meinung, dass dieser Kompromiss im Steuerstreit mit der Europäischen Union der Schweiz eine Verschnaufpause von höchstens zehn Jahren verschaffen könnte. Die Einschätzung Villigers hat sich als richtig erwiesen. Leider hat aber der Finanzplatz die Pause nicht genutzt, um sich auf Geschäftsmodelle ohne Steuerhinterziehung einzustellen. Weniger zimperlich setzten die Amerikaner ihre Interessen durch, wenn ihnen das Bankgeheimnis der Schweiz in die Quere kam. Als Anfang der 80er Jahre Kunden von 104


Anpassung des staatlichen Rahmens

Schweizer Banken mit Insiderdeals an den Börsen riesige Gewinne abschöpften und sich bei diesem Tun auf schweizerisches Recht beriefen, drohten die USA mit Gerichtsverfahren und Geschäftsverboten, worauf auch die Schweiz eine Strafnorm gegen den Insiderhandel erliess und damit derlei Praktiken hinfort den Schutz des Bankgeheimnisses entzog. Als wenig später auf dem Finanzplatz Schweiz etwa mit der Pizza- oder Libanon-Connection 1987 und andern Drogenaffären spektakuläre Fälle von Geldwäscherei aufflogen, musste die Schweiz auf amerikanischen Druck hin ein Geldwäschereigesetz erlassen, dessen Anwendung im Zeichen des Kriegs gegen den Terrorismus nochmals verschärft worden ist. 2002 schliesslich mussten die Schweizer Banken ein «Qualified Intermediary»-Abkommen unterzeichnen und sich zur Zusammenarbeit mit den US-Steuerbehörden verpflichten, wenn sie weiter auf dem amerikanischen Markt tätig bleiben wollten. Dass die traditionelle Interessenvertretung gegenüber den Amerikanern nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr verfing, hätte man am deutlichsten beim Streit um nachrichtenlose Vermögen auf Schweizer Bankkonten aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges zur Kenntnis nehmen können. Weder anfänglich die kalte Arroganz der Banken bei der Abwehr aller nicht bis ins Detail dokumentierten Ansprüche seitens der Kunden noch später die etwas konziliantere Haltung der Behörden gegenüber dem Volcker-Komitee und im Zusammenhang mit Task Force und Unabhängiger Expertenkommission, auch nicht die humanitäre Idee eines Solidaritätsfonds für inländische und ausländische Projekte sowie weitere versöhnliche Gesten konnten verhindern, dass die Schweiz und ihr Finanzplatz von den Amerikanern regelrecht vorgeführt wurden. Der höchst bri105


Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

santen Kombination von privaten Sammelklagen, Unterstützung durch Regierungsstellen, publizitätserpichten Politikern und Gerichten, Skandalisierung in der Öffentlichkeit und einer vordergründig moralisierenden, aber knallharten und eigentlich schamlosen Interessenvertretung war unser Land nicht gewachsen. Die Grossbanken, deren arrogantes Verhalten den Skandal zuerst ausgelöst hatte, mussten 1998 in einen Milliardendeal einwilligen, um ihre schieren Geschäftsinteressen gegen anlaufende Boykotte zu verteidigen. Dass nach solch bitteren Erfahrungen mit einer teilweise bigotten Neuen Welt die helle Begeisterung an der Bahnhofstrasse für modernes US-Banking nicht einer etwas skeptischeren und nüchternen Einschätzung wich, zumindest was das doch als recht speziell zu bezeichnende amerikanische Verständnis von Geld, Macht, Recht und Moral betrifft, ist nachträglich nur schwer begreifbar. Vielleicht hat diese Niederlage die Schweizer Minderwertigkeitskomplexe eher noch verstärkt und insgeheim auch den Wunsch wachsen lassen, es diesen cleveren Amerikanern doch einmal noch gleichzutun.

Bankenaufsicht: Basel I und Basel II Die zunehmende Beschleunigung und Verflechtung der Geldströme und die virtuelle Geldschöpfung durch die Finanzindustrie hat der Globalisierung neue Dynamik und ein neues Gesicht verliehen. Die Einflussmöglichkeiten der Staaten auf die Wirtschaft sind dabei arg beschnitten worden, denn die nationalen Wirtschaftspolitiken sehen sich im Bemühen um Standortvorteile den viel beweglicheren Kapitalinteressen mehr und mehr ausgeliefert. Diese Problema106


Bankenaufsicht: Basel I und Basel II

tik prägt auch die Bankenaufsicht. Die Krise der 30er Jahre hatte zwar weltweit eine scharfe Regulierung und staatliche Aufsicht des Bankensektors zur Folge. Mit einem Sicherheitspolster von Eigenmitteln und mit Liquiditätsvorschriften, oft kombiniert mit einem Einlegerschutz, versuchte man in fast allen Staaten, sich vor einem Bankencrash zu schützen. Der Zusammenbruch der deutschen HerstattBank 1974 zeigte die neuen Gefahren und Schwierigkeiten eines Konkurses im international tätigen Banking auf. Unter der Ägide der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BIZ in Basel und auf Veranlassung der Zentralbankpräsidenten des «Zehnerklubs» der wirtschaftlich einflussreichs-ten Staaten wurde deshalb der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht gegründet, in dem auch die Schweiz mit der Bankenkommission/FINMA und mit der Nationalbank vertreten ist. 1983 regelte man mit einem Konkordat die inter- nationale Zusammenarbeit der Bankenaufseher im Krisenfall. Mit dem Basler Akkord von 1988 (Basel I) wurden Eckwerte für nationale Vorschriften bezüglich Eigenmittel der international tätigen Banken vereinbart, aber rechtlich nicht als verbindlich erklärt. Gefordert wurde eine Unterlegung der Bankausleihungen, nach Schuldnerkategorien grob abgestuft, mit bankeigenem Kapital von durchschnittlich acht Prozent. Die Bestimmungen wurden in der Folge stärker ausdifferenziert und in jahrelanger Detailarbeit zu einem komplizierten Regelwerk verfeinert (Basel II). Damit liess sich zwar ein Regulierungsparadoxon beheben, indem riskante Ausleihungen zu hohen Zinssätzen nun auch entsprechend hohe Eigenmittel nötig machen und so gegenüber Ausleihungen mit höherer Bonität und tieferen Risikoprämien nicht mehr als privilegiert erscheinen. Letztlich resultieren aber aus dieser aufwändigen Übung insgesamt tiefere Ei107


Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

genmittel für die Banken, weniger (teure) Sicherheitspolster und eine problematische Abhängigkeit der Aufsichtsbehörden vom Know-how und von den Risikomodellen der Beaufsichtigten. Das rasche Wachstum der Bankbilanzen konnte mit dieser Regelung nicht gebremst werden; ganz im Gegenteil, der Anreiz zum Leverage, zum Einsatz eines Hebels aus zusätzlichem Fremdkapital und damit zu einem höheren Verschuldungsgrad der Banken, stieg. In der Schweiz war man schon Mitte der 70er Jahre von der Eigenmittelberechnung nach Bankpassiven, also nach den anvertrauten Fremdmitteln, zur risikobewussteren Berechnungsmethode nach Massgabe der Bankaktiven übergegangen. Überhaupt war die Schweiz bestrebt, hohe Sicherheit zu vertretbaren Kosten zu bieten und bei diesem Optimierungsprozess im Vergleich mit anderen Finanzplätzen möglichst konkurrenzfähig zu bleiben. Aus diesem Grund löste ein modernes Börsengesetz auf Bundesebene von 1995, das stark auf Selbstregulierung der Branche setzt, die traditionellen kantonalen Regelungen ab. Die Infrastruktur zur effizienten Abwicklung der Finanzmarktgeschäfte wurde auf Initiative und auf Kosten der Marktteilnehmer modernisiert, vollständig integriert und mit dem Ausland vernetzt. Das SIC (Swiss Interbank Clearing) zum Beispiel wickelt täglich 1,5 Millionen Transaktionen mit einem Gesamtwert von 220 Milliarden Schweizer Franken ab. Die Behörden achten darauf, dass sich die Banken und andere Finanzintermediäre auf eine sichere Infrastruktur als Fundament des Finanzmarktes verlassen können. Diese hohen Sicherheitsstandards standen beim allmählichen Übergang von Basel I zu Basel II allerdings nicht im Vordergrund. Die schweizerische Bankenaufsicht hat ihren Interpretationsspielraum vielmehr auf gefährliche Art zu108


Bankenaufsicht: Basel I und Basel II

gunsten kurzfristiger Interessen der Finanzindustrie ausgenutzt. Bereits 1998 wurden Bundesrat und Bankenkommission durch eine Motion Strahm (SP, BE) aufgefordert, den global tätigen Banken zur Absicherung von systemischen Risiken höhere Eigenmittel vorzuschreiben. Obwohl der Nationalrat den Vorstoss im Jahre 2000 als Postulat überwies, geschah nicht eben viel, und noch 2006 begründete die Regierung ihre Untätigkeit damit, dass die Vorschriften der Bankenkommission den internationalen Empfehlungen von Basel II durchaus genügen würden und deshalb wohl auch als Risikoabsicherung ausreichen müssten. Dass eine kleine Volkswirtschaft mit sehr grossen Banken einem speziellen Risiko ausgesetzt ist, wollten die Behörden lieber nicht zur Kenntnis nehmen. Die Eidgenössische Bankenkommission EBK hatte 2004 in grosszügigster Auslegung der Basler Empfehlungen und trotz massiver Vorhaltungen seitens der Nationalbank neue Risikomodelle und Berechnungen der UBS abgesegnet, so dass sich die Grossbank für ihre riskanten Geschäfte auf dem amerikanischen Markt noch stärker verschulden konnte und mit der weltweit (!) tiefsten Eigenmittelquote von weniger als zwei Prozent in die Finanzmarktkrise schlitterte. Diese politische Unterstützung im internationalen Standortwettbewerb hat sich in der Krise als Bumerang erwiesen. Die Milliardenverluste auf dem Finanzplatz haben wir neben dem verantwortungslosen Verhalten vieler Banker und der Gewinngier in der gesamten Gesellschaft auch einer fahrlässigen Risikobeurteilung durch Bankenkommission und Finanzdepartement zu verdanken.

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Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

Warnung der Nationalbank vor Systemkrisen Auch die Gestaltungsmacht der Notenbanken hat durch den Globalisierungsprozess gelitten, obwohl gerade sie als Garanten der Finanzsysteme und in ihrer Funktion als Bank der Banken eigentlich wichtiger geworden sind. Die monetaristische Lehre war immer bestrebt, die Zentralbanken dem Einfluss der Politik möglichst zu entziehen, sie aber gleichzeitig auf die Erhaltung der Preisstabilität als das einzig zu verfolgende Ziel einzuschwören. Solche Absichten im Schoss der bürgerlichen Parteien haben in der Schweiz der 90er Jahre heftige Diskussionen ausgelöst; für die Verteidigung der Arbeitsplätze in unserem exportabhängigen Land sei eine aktive Wechselkurspolitik ebenso wichtig, konterte die Linke. Heute ist man froh, dass ein Kompromiss in den neuen Verfassungsartikel Eingang gefunden hat, der zwar dem Ziel der Preisstabilität den Vorrang gibt, Interventionen der Nationalbank am Devisenmarkt zum Schutz der Währung aber nicht verhindert. Wer heute die Protokolle der Parlamentsdebatten in den 90er Jahren studiert, ist erstaunt, welche Themen man im Finanzmarktbereich prioritär behandelt hat. Während der Deutsche Bundestag kritische Enqueten über die Folgen der Globalisierung diskutierte, wurde in unserem Parlament über Jahre eine polarisierte Debatte geführt, nach welchem Schlüssel die ausserordentlichen Gewinne aus dem Verkauf überschüssiger Goldreserven der SNB verteilt werden und für welche Zwecke sie Verwendung finden sollten. Immerhin hat man schliesslich die Golddeckung des Schweizer Frankens auch formell aufgegeben, und 2004 ist ein neues Nationalbankgesetz in Kraft getreten, das unsere Notenbank im Bemühen, das Finanzsystem zu sichern, legitimiert und sie auch für die Zukunft handlungsfähig macht. 110


Warnung der Nationalbank vor Systemkrisen

Als Zentralbank stehen der SNB weitgehende Kompetenzen zu. Aber sie muss sich heute subtil auf die Interessen der andern Finanzmarktakteure einlassen, weil das hochkomplexe System kaum mehr hierarchisch steuerbar ist. Wer dynamische Systeme von hoher Komplexität zielorientiert beeinflussen will, kann weder auf die bürokratische Art und Weise des Juristen (wenn – dann) noch final wie der Manager vorgehen, der Ziele setzt und den Mitteleinsatz optimiert, sondern er sollte bewusst ein systemisches Verständnis für das Ganze entwickeln: Wie präsentiert sich aktuell die Situation, wie dürfte sie sich verändern, wie kann man welche Kräfte beeinflussen und mit bescheidenen Mitteln die grösstmögliche Wirkung auf das Gesamtsystem so ausüben, dass es sich in die gewünschte Richtung bewegt? Es braucht dazu eine Kombination von Beharrlichkeit im Grundsätzlichen und Flexibilität in der Kooperation mit Partnern. Die systemische Steuerung verlangt Empathie, Lernfähigkeit und Flair für eine Kommunikation, die hohe Aufmerksamkeit weckt und die eigenen Positionen erklären, relevante Mitspieler davon überzeugen, ja, für sich gewinnen kann. Die Politik der Nationalbank spiegelt diese Entwicklung hin zu einer systemischen Steuerung. Ihre Geldpolitik dient bekanntlich dem vorrangigen Ziel, die Kaufkraft des Schweizer Frankens im Landesinnern zu erhalten, ohne die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft nach aussen zu gefährden. Dieses schwierige, widersprüchliche Unterfangen versuchte man seit dem Übergang zum Floating mit einer Steuerung der Geldmenge zu erreichen.Die gewaltige Expansion der Finanzmärkte in den 1990er Jahren machte die Geldmengensteuerung obsolet. Die Nationalbank merkte, dass sie mit direkten Interventionen am Devisenmarkt ihre geldpolitischen Ziele kaum mehr erreichen konnte, da die Glo111


Globalisierung von Märkten und Mentalitäten

balisierung und Geldschöpfung der Finanzindustrie mit den neuen Möglichkeiten der Informationstechnologie eine völlig andere Situation geschaffen hatten. Weil sie das Geschehen nicht mehr im Griff hatte, musste sie lernen, ihre mächtigen Partner auf dem Finanzmarkt so zu beeinflussen, dass diese sich zielkonform verhielten. Sie hat zu diesem Zweck die Sprache und manche Instrumente der modernen Bankwirtschaft übernommen und steuert seit dem Jahr 2000 über den Repomarkt, also den kurzfristigen An- und Verkauf von Wertpapieren, ein bestimmtes Zielband des so genannten Libor an, also des Marktzinses, den sich die Banken gegenseitig im Interbankengeschäft verrechnen. Mit Hilfe dieser so genannten Offenmarktoperationen kann die Nationalbank den Preis des Schweizer Frankens am Geldmarkt beeinflussen und damit quasi indirekt ihre geldpolitischen Ziele erreichen. Die Nationalbank hat ein systemisches Verständnis entwickelt: Sie beobachtet genau, was ihre Partner tun, und wählt ihr Verhalten komplementär und zwar so, dass sich das Gesamtsystem in die gewünschte Richtung bewegt. Denn schwierige Prozesse in komplexen Systemen werden mit Vorteil von ihrem gewünschten Ende her gesteuert. Die Annäherung an privatwirtschaftliche Denk- und Handlungsweisen war nötig, weil die Nationalbank ohne potente Partner auf den Finanzmärkten wenig ausrichten kann. Aber ihre Funktion, ihre Zielsetzung ist eine ganz andere: Es geht ihr nicht um Gewinn, sondern um Nachhaltigkeit; für sie stehen das Gesamtsystem und dessen Zukunft im Fokus. Nicht alles, was die Banken in ihrem Gewinnstreben kurzfristig für gut befinden, ist automatisch auch längerfristig gut für die Schweiz und ihr Finanzsystem. Die relevanten Partner in der Perzeption ihrer Eigeninteressen so zu beeinflussen, dass sie 112


Warnung der Nationalbank vor Systemkrisen

dauerhaft im nachhaltigen Interesse des ganzen Systems agieren, das ist die hohe Schule systemischer Steuerung. Man könnte nun vorschnell vermuten, die Anpassung an das Denken und Verhalten ihrer privatwirtschaftlichen Partner habe die Nationalbank korrumpiert; sie sei zur Gefangenen des Bankensystems geworden. Fairerweise muss man jedoch sagen, dass es gerade die Nationalbank war, die aus ihrer systemischen Sicht immer wieder vor einer möglichen Krise gewarnt hat. Sie wies wiederholt auf die Gefahren von Konzentration und Aufblähungen in unserem Bankensystem hin und versuchte, das Schlimmste zu verhindern. Dennoch entsteht der Eindruck, dass sich diesbezüglich das Direktorium der SNB auch nicht immer einig war und die geäusserten Bedenken deshalb an Durchschlagskraft verloren. Die Nationalbank konnte sich leider gegen andere Aufsichtsinstanzen nicht durchsetzen, die immer noch einer traditionellen Standortpolitik frönten und sich den erfolgsverwöhnten Grossbanken gegenüber zu willfährig zeigten.

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4. Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

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ie Globalisierung der Finanzmärkte hat die moderne Welt in eine neue Ära geführt. Die Finanzwirtschaft konnte sich durch die rasante Entwicklung vor allem seit den 90er Jahren weitgehend aus den normativen Fängen ihrer nationalen Kontexte lösen und ist zu einem in der Tat globalen System geworden. Sie hat sich durch diesen Prozess gewissermassen verselbständigt, nicht nur in der Schweiz, sondern vor allem in den USA, aber auch in Grossbritannien und im übrigen Europa sowie in einigen Ländern Asiens. Dabei spielten die Investmentbanken an der New Yorker Wall Street, aber auch ein paar europäische Grossbanken, darunter etwa die UBS und die CS, sowie die grossen Anlagefonds eine entscheidende Rolle. Die globale Neuorientierung hat die Finanzwirtschaft verändert: Sie ist zur so genannten «Finanzindustrie» geworden, stark abgehoben von der übrigen Wirtschaft und eigenen referenziellen Routinen verpflichtet. Im Fokus steht nicht mehr ihr Dienstleistungsauftrag für die Gesamtwirtschaft, sondern ihr Gewinnstreben, ihr Wille zu Einfluss und Macht. Sie wirkt trotz oder gerade wegen ihrer scheinbaren Autonomie entscheidend auf die Realwirtschaft zurück und nimmt massgeblich Einfluss auf die Geschicke von Politik und Gesellschaft. Just auf jenen Plätzen, wo dieser Prozess finanzwirtschaftlicher Globalisierung am weitesten fortgeschritten erscheint, gehen Finanzindustrie und politisches System sonderbare 115


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

Allianzen ein: Die Politik versorgt die Finanzindustrie mit Sicherheit und Liquidität, legitimiert ihre staatlich kaum regulierte Entwicklung und hält ihr so den Rücken frei gegen jede Kritik an diesem wirtschafts- und demokratiepolitisch doch bemerkenswerten Zustand. Die Finanzindustrie präsentiert dafür märchenhafte Gewinne und garantiert wachsende Steuereinnahmen, attraktive Arbeitsplätze und Wachstumsimpulse auf die übrige Wirtschaft. Insbesondere im angelsächsischen Raum ist diese Allianz kaum abhängig von der parteipolitischen Einfärbung der Regierung. Thatcher und Reagan haben hier Fundamente gelegt, die selbst die linksliberalen Regierungen Blair oder Clinton überdauerten. Allerdings hat erst Bush Junior den amerikanischen Finanzmarkt weitestgehend dereguliert. Doch der Take-off des modernen Investmentbanking mit seinen derivativen Produkten fand unter Clinton (1993–2001) statt, ebenso 1999 die eher symbolische Aufhebung der Glass-Steagal-Act, die es den amerikanischen Kreditbanken aufgrund der staatlichen Sicherung ihrer Einlagen seit 1933 erschwert hatte, sich in allzu risikoreichen Geschäften zu engagieren. Jetzt drängt sich öfter der Eindruck auf, der Finanzwirtschaft sei es gelungen, die Politik zu instrumentalisieren. Und noch unter Obama möchte man meinen, gegenüber Wall Street fehle es der Administration zeitweise am nötigen Biss. Das mag nicht zuletzt darin begründet sein, dass dieselben Leute, unterstützt von denselben Seilschaften, über Jahrzehnte an ihren steilen Karrieren werkeln, die sie vom Investmentbanking über Lobbying und Politik bis in die höchsten Jobs von Fed (Zentralbank), Treasury (Finanzministerium) und Präsidentenstab hieven und sie von dort wieder zurück in die Spitzenpositionen der Finanzwirtschaft bringen. Diese erfolgreiche Allianz von Finanzindustrie, Zentral116


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

bank und Regierung hat das System gegen Kritik weitgehend immun gemacht. Das zeigte sich schon Ende der 1990er Jahre, als Brooksley Born, Chefin der CFTC (Commodity Futures Trading Commission), einer speziellen Finanzmarktaufsichtsbehörde, den unkontrollierten, nicht an Börsen abgewickelten OTC(over the counter)-Handel mit derivativen Produkten anprangerte und anhand der Krise des berühmten LTCM-Hedgefonds 1998 die Gefährlichkeit dieser Produkte auch aufzeigen konnte. Doch Fed-Chef Greenspan und Finanzminister Rubin gelang es, unterstützt von weiteren Trabanten eines deregulierten Finanzsystems wie dem jungen Timothy Geithner, Born beim Präsidenten und vor dem Kongress als eine hysterische Querulantin anzuschwärzen, so dass sie jeden politischen Rückhalt verlor und 1999 den Hut nehmen musste. (Brooksley Born ist 2009 für ihre Klarsicht und Unabhängigkeit und namentlich für ihren Mut mit dem «John F. Kennedy Profile in Courage Award» ausgezeichnet worden, während ein sichtlich gebrochener Alan Greenspan vor dem Kongress eingestehen musste, dass er seiner Überzeugung, der Finanzmarkt könne sich selber regulieren, völlig abgeschworen hat.) Auch die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BIZ warnte seit 2003 nachdrücklich vor der Instabilität der Finanzmärkte, und 2006 wies ihr Chefökonom William White darauf hin, dass das Zuschiessen von Liquidität, um die Märkte abzusichern, zu exzessiven Wertzuwächsen und leichtfertigem Umgang mit Risiken führen könne. Aber auch diese prominente Warnung und manch andere Kassandrarufe wurden in den Wind geschlagen und so lange nicht wirklich ernst genommen, als die grossen Bankhäuser Jahr für Jahr neue Rekorde an Umsätzen und Gewinnen verzeichnen konnten.

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Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

Ungleichgewichte und zyklische Krisen Doch von Anfang an steckte der Wurm in dieser äusserlich so erfolgreichen Entwicklung. Die negativen Folgen des durch Finanzen dominierten Systems sind schon lange sichtbar. Es führt zu grossen Disparitäten weltweit und verstärkt die bereits vorhandenen globalen Ungleichgewichte. Auch innerhalb von Nationen und Organisationen akzentuiert es die Gegensätze. Wettbewerb um jeden Preis fördert nicht nur die wirtschaftliche Effizienz, ohne Ausgleich verstärkt er auch die schon vorhandenen Ungerechtigkeiten. The winner takes all. Hochproblematisch sind vor allem die zyklischen Krisen der Finanzwirtschaft, die nach einer euphorischen Aufblähung Gewinn verheissender Geschäfte plötzlich zu riesigen Verlusten und gewaltigen Umverteilungen führen. Dabei spielen an den Börsen Psychologie, Herdentrieb, Angst und Gier, aber auch Spannung und Spiel eine wichtige Rolle. Wer einmal angebissen hat an diesem hektischen Run nach dem grossen, schnellen Geld, kann kaum mehr loslassen. Suchtprobleme zeigen sich eben nicht nur an den Rändern der modernen Gesellschaft, sondern mitten in ihren mächtigen Schaltzentralen. Die zyklischen Krisen wachsen derweil an, bis sie das ganze System in Frage stellen und die reale Wirtschaft mit in die Krise reissen. Die katastrophalen Auswirkungen dieser Zyklen zeigten sich zunächst eher an der weltwirtschaftlichen Peripherie. Die Schwellenländer Lateinamerikas und Asiens, namentlich ihre meist schwachen Währungen, waren davon besonders betroffen. Aber schon 1987 traf es kurz auch die amerikanischen Märkte, und in den 90er Jahren wurden Japan und Russland schwer erschüttert. Infolge der Russlandkrise 118


Ungleichgewichte und zyklische Krisen

1998 erlitt der Vorzeige-Hedgefonds LTCM (Long Term Capital Management), dessen Direktoren und Nobelpreisträger 1997 Scholes und Merton die Weltformel einer immerwährenden Geldmaschine erfunden zu haben glaubten, milliardenschwere Verluste. Damit wurden eigentlich auch die Zentralen der globalen Finanzmärkte vorgewarnt (die UBS verlor damals eine Milliarde, was VR-Präsident Cabiallavetta den Kopf kostete). Doch Alan Greenspan gelang es, die Wall Street von der Notwendigkeit einer koordinierten Rettungsaktion zugunsten des maroden Hedgefonds zu überzeugen. Auch das Platzen der New-Economy-Blase, das 2000 und 2001 weltweit viel breitgestreutes Vermögen vernichtet hatte, konnte die schrille Party der Geldvermehrung noch nicht beenden. Denn auch jetzt gelang es Alan Greenspan, das Schlimmste zu verhindern. Mit extrem billigem Notenbankgeld schwemmten das Fed und andere Zentralbanken die Finanzmärkte, was – scheinbar – ein erneutes steiles Wachstum auslöste, in Tat und Wahrheit aber nur neue Blasen produzierte. Bis schliesslich der grosse Zusammenbruch von 2007/8 eine ungeheure Vernichtung von Reichtum auf der ganzen Welt zur Folge hatte. Im Jahre 2000 wurden weltweit 36 Billionen Dollar allein in Anleihen angelegt. Bis zum Jahr 2006 hatte sich diese Zahl mit 70 Billionen Dollar fast verdoppelt. Dann zeigten sich die ersten Probleme bei den Zinszahlungen und 2008 gingen mehr als 50 Billionen Dollar an globalem Vermögen durch einen bis dato einzigartigen Finanzcrash verloren. Dieser Crash macht überaus deutlich, was den Finanzmarkt-Kapitalismus im Innersten zusammenhält, und bringt die Problematik unseres modernen Geldsystems messerscharf auf den Punkt: Die Vermögen der einen sind die Schulden der andern; beide Seiten sind voneinander abhängig. Wenn die Schulden nicht 119


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

mehr bedient werden können, lösen sich auch die Vermögen in Luft auf! Die Riesensummen anlagesuchenden Kapitals sind als Folge einer sechzig Jahre dauernden und damit historisch einmaligen Akkumulationsphase zu verstehen. In früheren Epochen haben Weltkriege und Wirtschaftskrisen periodisch einen grossen Teil des Kapitals vernichtet, und das Wachstum konnte jeweils auf einem tieferen Niveau zur neuen Runde der Vermögensbildung ansetzen. Die Verhinderung oder Abschwächung und Verzögerung der Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg haben bei allen Problemen im regionalen Bereich bis zum Jahr 2008 ein Wachstum der Weltwirtschaft als Ganzer ermöglicht. Die Zentralbanken haben jeweils und meist in Absprache untereinander das Bankensystem mit sehr viel Liquidität versorgt, um die Auswirkungen der Krisen in Grenzen zu halten. Oft haben sie mit diesen Spritzen aber gleich den Stoff für die nächste Krise geliefert. Die Eingriffe der Notenbanken verschoben die notwendigen Korrekturen nur in die Zukunft; an den fundamentalen Systemproblemen haben sie aber nichts verändert. Für Paul Krugman, den Nobelpreisträger für Ökonomie des Jahres 2008, war der grosse Zusammenbruch keine Überraschung mehr; der Kollaps sei schon im Voraus sehr deutlich erkennbar gewesen (Krugman 2008). Wer die Veränderungen des Finanzsystems über die ganzen Zyklen hinweg betrachtet habe, könne nicht wie Taleb (2008) und andere Ökonomen von plötzlich auftauchenden «schwarzen Schwänen» sprechen. Die Finanzwirtschaft sei nach jeder Krise noch komplexer, noch verflochtener und intransparenter und damit auch krisenanfälliger geworden. Dazu beigetragen habe wohl auch die «Therapie» des billigen Geldes. Nach Krugman ist aber ausschlaggebend, dass in den letzten 120


Ungleichgewichte und zyklische Krisen

zwanzig Jahren der nichtregulierte Bereich des Finanzsektors immer mächtiger wurde. 2007 war das so genannte Schattenbankensystem schon gleich gross wie alle regulierten Banken zusammen! Der vordergründige Erfolg alternativer Anlageformen habe das Publikum unvorsichtig gemacht, hohe Risiken würden immer bedenkenloser eingegangen. Vor allem die Hedgefonds hätten mit ihren riskanten Spekulationen als Multiplikatoren für die Krisen auf den Finanzmärkten gewirkt, das könne man schon seit Beginn der 90er Jahre beobachten. Auch die negativen Ausstrahlungen in die Realwirtschaft seien weniger den staatlich beaufsichtigten Kreditbanken als vielmehr den in den Vereinigten Staaten kaum regulierten grossen Investmentbanken und namentlich den unkontrollierten Anlagefonds zu verdanken. Nach Hans-Werner Sinn (2009), dem Präsidenten der internationalen Vereinigung der Finanzwissenschaftler, haben die Spekulationsblasen im Finanzsektor nicht nur grosse Hektik, sondern auch eine zunehmende Verrohung, ja, Enthemmung bewirkt. Eine neue Schicht, die rasch zu viel Geld gekommen ist, hebt (sich) ab und kassiert Löhne und Boni, die nicht mehr zu verantworten sind. Durch die Streuung und eine vermeintliche Versicherung von Risiken, den intransparenten Handel ausserhalb der Börsen (OTC), die Weitergabe und mehrfache Verbriefung von Schuldpapieren und das Wetten auf alles Mögliche sei – so Sinn – ein riesiges Casino entstanden. Damit würden die kulturellen Grundlagen des Wirtschaftens erodiert, z. B. das Rechts- und Unrechtsbewusstsein: Kriminelle Machenschaften, etwa bei der Rechnungslegung oder durch Bluff im Marketing komplexer Produkte, seien die Folge und Enron oder Madoff nur die Spitzen des Eisbergs. Es habe sich eine Unkultur eta121


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

bliert, mit allem und jedem rasch Geld zu verdienen und die Geschäftspartner übers Ohr zu hauen, schlimmer als auf den Schmuddelmärkten für Automobil-Occasionen. So könne das Vertrauen, das für das Finanzgeschäft die notwendige Voraussetzung bilde, weder gewonnen noch erhalten werden. Es war dann auch das mangelnde Vertrauen, diesmal unter den Banken selber, das eine amerikanische Immobilienkrise rasch zur weltweit schwersten Krise des Finanzsystems seit den 1930er Jahren hat anwachsen lassen.

Subprimekrise wird zur Systemkrise Die Finanzmarktkrise ist von vielen Autoren analysiert und dargestellt worden. Aus Schweizer Sicht sind u. a. die SNBStabilitätsberichte (2008, 2009) und der Bericht der FINMA (2009) zu empfehlen, weil sie das internationale Geschehen mit den Abläufen in der Schweiz gut zu verschränken wissen. Empfehlenswert scheint mir auch Hans-Werner Sinn (2009), der aufgrund seiner zutiefst bürgerlich-liberalen Haltung nicht in die Ecke linker Kritiker abgeschoben werden kann. Die folgende Darstellung der Subprimekrise hält sich eng an den Text der DVD «Die Billionen-Dollar-Krise», den Natascha Schleich für das MoneyMuseum/Sunflower Foundation verfasst hat (MoneyMuseum 2009). Der Auslöser der Krise 2007/8 waren geplatzte US-Immobilienkredite. Jahrelang vergaben Hypothekenmakler und Banken Kredite in Milliardenhöhe an Verbraucher ohne jegliche Sicherheiten. In einem selbst für Finanzexperten undurchsichtigen Verfahren wurden sie in «topsichere» Wertpapiere verwandelt und dann von US-Investmentbanken rund um den Globus an Institutionen, Firmen und private 122


Subprimekrise wird zur Systemkrise

Anleger verkauft, ohne dass diese anfänglich ahnen konnten, welche Risiken in ihren Portfolios schlummerten. «Collateralized Debt Obligations», kurz CDO, nennen sich diese Wertpapiere. Das jahrelang boomende Geschäft platzte am 15. September 2008. Nach 158 Jahren Geschäftstätigkeit meldete die viertgrösste US-amerikanische Bank Lehman Brothers mit Verlusten in Höhe von 613 Milliarden Dollar Insolvenz an. Als Nächstes fegten die toxischen Papiere die Investmentbanken Goldman Sachs, Merrill Lynch und Morgan Stanley vom Parkett; sie mussten von Geschäftsbanken übernommen werden. Diese Krise der Investmentbanken löste weltweit ein wirtschaftliches Beben aus. Jeder, der jetzt in den Verdacht geriet, mit ihnen Geschäfte gemacht zu haben, stand über Nacht vor dem Abgrund. Egal ob der finanzielle Giftmüll im Spiel war oder nicht. Als kurz darauf mit der AIG das Aus der grössten Versicherung der Welt folgte, wird klar: Nicht einzelne Finanzunternehmen stehen im Epizentrum der Krise. Fast alle Teilnehmer des Geldmarktes sind durch die brisanten Wertpapiere miteinander verwoben. Das gefürchtetste Monster der Finanzwelt ist entfesselt: die Unsicherheit. Der Vertrauensverlust in die Stabilität des Finanzsystems, Angst, auch der nächste Geschäftspartner könnte mit dem «toxic waste» belastet sein und zahlungsunfähig werden, veranlasste Investoren weltweit panikartig zur Rückgabe von Anteilscheinen. Schlagartig steckte der Geldmarkt in der Klemme, im «Credit Crunch». Dort wo sich grosse Unternehmen innerhalb weniger Stunden Milliardenbeträge für ihre Geschäfte leihen, war plötzlich nichts mehr zu holen. In Folge meldeten bis zum Jahresende 2008 allein in den USA 21 Banken Konkurs an, 11 Grossbanken mussten vom Staat gerettet wer123


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

den und 62 Hedgefonds gingen bankrott. Die Katastrophe griff um sich wie ein unüberschaubarer Flächenbrand, der die gesamte Weltwirtschaft bedroht und einen Wertverlust an allen Börsen dieser Welt von sage und schreibe 50 Billionen Dollar verursacht hat. Am Anfang dieser dramatischen Geschichte stand eine Menge anlagesuchenden Geldes, man schätzt etwa 40 Billionen Dollar zu Beginn des Jahrtausends. Es sind die Ersparnisse von Versicherungen, öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Banken, Unternehmen und Privatanlegern aus aller Welt; darunter auch Länder, die plötzlich reich geworden sind, wie Indien, China und Saudi-Arabien. Sie alle sind auf der Suche nach lukrativen Kapitalanlagen, nach einem solventen Schuldner – denn Geld vermehrt sich nur, wenn es teuer verliehen wird. Zu den interessantesten Schuldnern zählen die Vereinigten Staaten von Amerika. US-Staatsobligationen gehören zu den beliebtesten Anlagen, da sie bei geringem Risiko eine passable Rendite in Höhe des US-Leitzinses versprechen. Zielstrebig steuerten die Investoren daher die USA als sichersten Renditehafen der Welt an. Doch just zu diesem Zeitpunkt senkte Alan Greenspan, Chef der amerikanischen Notenbank «Federal Reserve», den US-Leitzins von 6,5 auf 1 Prozent. Er wollte dringend den Konsum durch billige Verbraucherkredite ankurbeln – zur Stärkung der krisengeschüttelten Märkte, die seit dem Platzen der New-Economy-Blase und dem 11. September 2001 nicht mehr so richtig in Fahrt kommen wollten. Während die Investoren auf immer mehr Geld sassen, erteilte Greenspan ihnen mit der Senkung des Leitzinses eine klare Absage. Knapp 40 Billionen Dollar wussten zu diesem Zeitpunkt nicht wohin. Und täglich wurde es mehr Geld, dem immer weniger Anlagemöglichkeiten gegenüberstan124


Subprimekrise wird zur Systemkrise

den. In Aktien oder Firmenanleihen wollte keiner so richtig investieren; sie galten in diesen unsicheren Zeiten als riskant und wenig lukrativ. Gesucht wurde eine gewinnbringende und zugleich sichere Kapitalanlage. In dieser Situation versprechen die grossen Investmentbanken an der New Yorker Wall Street Hilfe. Seit Jahren erzielen Banken wie Goldman Sachs, JP Morgan, Merrill Lynch, Morgan Stanley und Lehman Brothers erfolgreich Gewinne mit dem Verkauf von Anteilen an Immobilienkrediten – im Fachjargon «Mortgaged Backed Securities», kurz MBS oder zu Deutsch: hypothekenbesicherte Wertpapiere. Die Banken versprechen den Investoren nun mit den MBS eine topsichere Wertanlage und wittern dabei selbst das grosse Geschäft. Hinter diesen Wertpapieren stehen Häuser, Wohnungen und grosse Bauvorhaben, deren Preise nach oben tendieren. Weltweit steigen Geldhäuser und Finanzinvestoren wie die Deutsche Bank, die Schweizer UBS, die französische Crédit Agricole, die britische Royal Bank of Scotland, die japanische Mizuho-Gruppe mit ein in das Boot. Der amerikanische Immobilienmarkt bläht sich nun zu einer gefährlichen Spekulationsblase auf. Ein Markt mit Millionen von US-Amerikanern, die dank des niedrigen Leitzinses immer mehr und vor allem immer höhere Kredite zur Erfüllung ihres «American Dream» beantragen. Der Traum vom Eigenheim ist tief verankert im amerikanischen Selbstverständnis. Und wer ein Haus bauen oder eine Immobilie erwerben möchte, nimmt in der Regel einen Kredit auf. Dank der historisch niedrigen Zinsen sind die Kosten für «normale» Hypotheken mit festverzinslicher Laufzeit von meist dreissig Jahren jetzt so tief wie selten zuvor. Werden die Hypotheken im Rahmen staatlicher Eigenheimförderung vergeben, gelten sie als «Prime Mortgages», 125


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

als erstklassige Hypotheken, da sie vom Staat zusätzlich gegenüber dem Gläubiger abgesichert sind. Die meisten privaten Bauvorhaben in den USA werden mit wenig oder gar keinem Eigenkapital finanziert. Und «normale» Hypotheken dürfen vom Kreditnehmer jederzeit gekündigt werden, so dass sich ein System der ständigen Umschuldung etabliert hat: Sobald die Zinssätze sinken, werden teure Kredite regelmässig durch preiswertere abgelöst. Dabei verringert sich die monatliche Belastung durch den Kredit. Solange die Immobilienpreise steigen, lassen sich die Kredite erhöhen. Die Differenz zwischen den Kreditsummen kann als Guthaben einbehalten werden und dient den USBürgern zur Finanzierung eines Zweitwagens oder weiterer Konsumgüter. Anstatt das Geld zu sparen, verschulden sich die meisten mit immer höheren Krediten. In vielen Fällen geschieht das sogar auf Anraten ihrer Banken, steckt dahinter doch das Ziel, den Konsum über Kredite zu beleben. Denn die US-Wirtschaft hängt zu 70 Prozent von Verbraucherausgaben ab. Als 2004 die Eigenheimquote in den USA ihren Höhepunkt erreicht, haben die Hausbesitzer durch das Umschulden ihrer Kredite rund 600 Milliarden Dollar für den Konsum freimachen können. Für die Geschäftsbanken eröffnete sich mit dem Interesse der Investoren am US-Immobilienmarkt ein lukratives Geschäftsfeld. Sie sahen sich nach Partnern um und fanden sie in den Investmentbanken der New Yorker Wall Street, die die nötigen Kontakte zu den internationalen Finanzmärkten und damit zu Investoren aus allen möglichen Ländern hatten. Geld war jetzt extrem günstig. Für nur 1 Prozent kauften die Geschäftsbanken bei der Fed Geld ein, um es in Form von Niedrigzinskrediten an Unternehmen und private Haushalte weiterzureichen, so dass sich beinahe jeder Amerika126


Subprimekrise wird zur Systemkrise

ner einen Kredit leisten konnte. Die Banken verkauften die Kreditforderungen an Zweckgesellschaften, die aus ihnen handelbare Wertpapiere machten und diese an Investmentbanken weiterverkauften. Dieser Kreditrisikotransfer wurde möglich durch so genannte Verbriefung von Krediten. Der Verkäufer überträgt Forderungen an einen Käufer, und der Käufer refinanziert den Kauf durch die Herausgabe von Wertpapieren. Kreditforderungen eignen sich besonders, da die Zins- und Tilgungszahlungen einen stetigen Kapitalrückfluss versprechen. Hinter den «Mortgage Backed Securities» (MBS) verbergen sich ausschliesslich Forderungen von Immobilienkrediten. Die «Asset Backed Securities» (ABS) beinhalten verbriefte Forderungen von Studentenkrediten, Kreditkarten, Automobilraten- und Konsumentenkrediten. Und «Collateralized Debt Obligations» (CDO) beinhalten eine Mischung aus ABS und MBS sowie weiteren Krediten und Anleihen unterschiedlichster Arten. Sie gelten daher als extrem komplex und kaum durchschaubar. Ziel der Verbriefung ist, die Banken vor platzenden Krediten zu bewahren. Mittels Verbriefung können Banken die Forderungen aus ihren Bilanzen nehmen, den Kredit veräussern und haben im Schadensfall gar nichts mehr mit dem Kredit zu tun. Das Risiko und den Kredit trägt dann der Investor. Aus dem einstigen Kreditinstitut wird so ein reiner Kreditvermittler. Im nächsten Schritt verkaufen Zweckgesellschaften die geschaffenen Wertpapiere an Investmentbanken, die diese wiederum an Investoren verkaufen. Dazu werden die erworbenen Wertpapiere neu strukturiert und bewertet. Tausende bis zehntausende Kreditverträge müssen auf ihre risikorelevanten Teile hin unter die Lupe genommen werden: wirtschaftliche Verhältnisse der Schuldner, Bearbeitungsaufwand des Kredites, seine Zinshöhe und 127


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Laufzeit etc. Die Verträge werden quasi zerstückelt und nach Risikostufen neu sortiert. Das ganze Konstrukt heisst am Ende «forderungsbesichertes Wertpapier» und wird zur Kreditbewertung einer Ratingagentur vorgelegt. Diese vergibt Prüfsiegel für jede Tranche. Tranchen, die mit einem dreifachen A («Prime») bewertet sind, gelten als besonders sichere Anlagen, deren Renditen fallen daher auch nicht so hoch aus. Die unterste C-Tranche gilt dagegen als besonders riskant, verspricht dafür aber eine höhere Rendite. Die Raten der Eigenheimbauer fliessen nach dem Terrassenprinzip an die Investoren zurück: Zuerst wird die sicherste, die ATranche bedient und erst zum Schluss die riskante C-Tranche. So versiegen im Falle von Zahlungsschwierigkeiten seitens der Schuldner zuerst die Zahlungen für die riskante CTranche und dann die B-Tranche, also für die weniger sicheren Kredite («Subprime»). Um die nur schwer zu kalkulierenden Zinsverluste durch das vorzeitige Kündigen der Hypotheken besser kontrollieren zu können, wurden auf dem Höhepunkt des Booms der US-Immobilien verstärkt Hypothekarkredite mit variablem Zinssatz angeboten, so genannte «Adjustable Rate Mortgages» (ARM). In regelrechten Lockaktionen sprach man Tausende von möglichen Kreditnehmern an und suchte sie von den Vorteilen variabler Zinssätze zu überzeugen. Der Köder der Aktion: niedrigere Zinsen als bei den festverzinslichen Hypotheken. Der Haken: Der niedrige Zinssatz gilt nur während der ersten zwei Jahre der Kreditlaufzeit. Danach erhöht sich der Zinssatz der Hypothek zusätzlich um den Zinssatz, zu dem sich Banken untereinander Geld leihen, dem so genannten Liborsatz. Ein riskantes Vorgehen. Aber 2003, als diese Angebote verstärkt auf den Markt geworfen wurden, lagen die Zinsen bei steigenden Hausprei128


Subprimekrise wird zur Systemkrise

sen extrem niedrig. Und niemand mochte daran denken, dass das jemals anders sein könnte. Doch ab 2004 stieg der US-Leitzins wieder und mit ihm der Liborsatz. Und bereits 2006, als die Niedrigzinsgarantie der ersten ARM ablief, sollten viele Kreditnehmer in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Doch vorerst war das Geschäft mit den Hypotheken das Beste der Wall Street seit der «New Economy Blase». Zwar drohte der Markt der Prime-Hypotheken bald zu versiegen, weil es unter den solventen Verbrauchern kaum mehr einen gab, der noch keine Hypothek hatte. Die Investoren verlangten aber Nachschub an interessanten Anlagemöglichkeiten. 2003 unterzeichnete Präsident George W. Bush den «American Downpayment Act», der auch die Hauskäufer aus unteren Einkommensschichten zu unterstützen versprach. In der Folge wurden die Vergaberichtlinien für Hypotheken immer laxer gehandhabt. Menschen, die niemals imstande sein würden, ihre Kredite langfristig zu bedienen, weil sie kein Einkommen, keinen Job und keine Sicherheiten haben, bekamen nun Kredite in Millionenhöhe, teilweise sogar für Schrottimmobilien. Es war die Geburtsstunde der so genannten Ninjas-Darlehen: no income, no job, no assets. Der Subprime-Markt entwickelte sich explosionsartig. Mitte 2006 passierte, was eigentlich zu erwarten war: Die ersten Kreditnehmer können ihre Raten nicht mehr bezahlen und immer mehr Häuser werden zwangsversteigert. Erstmals sinken die Preise des bis dahin boomenden Immobilienmarktes. Das ganze Konstrukt bricht in sich zusammen. Parallel bewirken die Zahlungsausfälle, dass die ersten CTranchen der forderungsbesicherten Wertpapiere keine Rückflüsse mehr erhalten. Schliesslich versiegt der Geldfluss so weit, dass Investoren in ihren Portfolios nur noch wertlose Hülsen vorfinden. Dies ist der Moment, in dem die 129


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

Investmentbanken wie Lehman Brothers ihre Pakete nicht mehr loswerden. Sie schulden den Zweckgesellschaften noch den Kaufpreis der Wertpapiere, der über den Weiterverkauf an die Investoren generiert werden sollte. Jetzt schlägt der Kaufpreis als Schulden zu Buche und führt die grössten Banken der USA in den Ruin. Die neuen Finanzinstrumente, die das Risiko absichern sollten, indem sie es verteilen, zeitigen einen gerade konträren Effekt. Sie werden zu «finanziellen Massenvernichtungswaffen», wie Warren Buffet es vorausgesagt hatte. Die Stückelung der Hypothekarkredite und ihre Mehrfachverbriefung ergeben eine so komplexe Situation, dass Umschuldungen nicht mehr möglich sind. Wo man früher einen Kompromiss zwischen Schuldnern und Gläubigern gefunden hätte, bleibt nur noch der Konkurs, meist mit massiven Verlusten für beide Seiten. Was 2006 als amerikanische Immobilienkrise begann und 2008 weltweit als Banken- und Finanzkrise für Aufsehen und Ängste sorgte, entwickelt sich zunehmend zu einer Weltwirtschaftskrise. Trotz milliardenschwerer Rettungspakete kommt der Geldmarkt nach der Lehman-Pleite nicht mehr richtig in Gang. Und manch ein Unternehmen hat Probleme, Gelder geliehen zu bekommen, vor allem längerfristige Kredite; denn in Anbetracht unsicherer Zeiten horten die Banken lieber das Geld, das sie von ihren Noteninstituten billig erhalten. 50 Billionen Dollar soll die Krise bis zum Jahresbeginn 2009 weltweit gekosten haben. Mit massiven Einbrüchen der Realwirtschaft und mit bis zu fünfzig Millionen Arbeitslosen wird gerechnet. Da liegt ein Vergleich mit der grossen Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahren nahe.

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Internationale Regulierung globaler Märkte?

Internationale Regulierung globaler Märkte? Aber die jüngste Krise nahm einen andern Verlauf als die Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit. Offenbar hat man doch eine Menge gelernt aus den bitteren Erfahrungen der Dreissigerjahre. Jedenfalls haben die Zentralbanken schon früh reagiert und in koordinierten Aktionen den Geldmarkt reichlich mit Liquidität versorgt, was einen totalen Zusammenbruch der weltweiten Zahlungsströme verhinderte. Und die Regierungen waren rasch zur Stelle, als es galt, systemrelevanten Bankhäusern über die Runden zu helfen. Fast schien es, als sei die neoliberale Skepsis gegen jede Staatsintervention in die Wirtschaft wie weggefegt. Nicht nur die Zentralbanken schlüpften angesichts der gigantischen Liquiditätsprobleme in die Rolle des «Lender of last resort», auch die Nationalstaaten sahen sich als letzte Instanz gefordert, um Solvenzprobleme von Grossbanken notfallmässig zu überbrücken und das Vertrauen in die Zahlungs- und Finanzsysteme wiederherzustellen. Da sich die Auswirkungen der Krise nicht überall gleich präsentierten und weil der institutionelle Rahmen, in dem die Probleme diskutiert und gelöst werden sollten, von Land zu Land recht unterschiedlich war, kamen ganz verschiedene Muster der Problemlösung zur Anwendung. Die Regierungen liehen Kredite, leisteten Garantien, übernahmen faule Papiere oder verstaatlichten gar marode Finanzinstitute. Aber das Entscheidende war die Einsicht, dass die Antworten auf eine solche Systemkrise der Finanzwirtschaft nicht nur im nationalen Alleingang gefunden werden durften. Der Herbst 2008 provozierte einen dialektischen Sprung in der Wirtschaftsgeschichte, an dem auch Hegel seine wahre Freude hätte: Obwohl manche Politiker es sichtlich 131


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

genossen, dass die Nationalstaaten durch die Finanzmarktkrise wieder neu an Macht und Verantwortung gewannen, spürten sie gleichzeitig auch die Pflicht und die Chance, die Probleme im internationalen Verbund anzugehen. Was zunächst als Pendelschlag vom Markt zurück zum Staat erschien, könnte sich als wichtiger Schritt in ein neues Zusammenwirken von Politik und Wirtschaft auf Weltniveau entpuppen. Erfahrene Staatsmänner wie etwa Helmut Schmidt, Altkanzler der Bundesrepublik, aber auch bekannte Ökonomen wie Stiglitz und Krugman, beides Nobelpreisträger, machten sich sofort und deutlich für eine internationale Regulierung und Aufsicht der Finanzmärkte, ihrer Akteure und Instrumente stark. Und die Einsicht, dass gerade die Finanzwirtschaft solch einer Regelung dringend bedarf, ist in den letzten Monaten bei Fachleuten und Politikern gewachsen. Die gegenwärtige Krise stellt deshalb eine einmalige Chance dar, die es zu nutzen gilt. Für ein längst globales Geschäft braucht es endlich auch international verbindliche Regulierungen und Kontrollen. Ob es allerdings zu einer globalen Finanzmarktaufsicht durch internationale Gremien kommen wird, ist sehr fraglich. Zwar hat der IWF in den letzten zwei Jahren eine Aufwertung erfahren. Aufgrund seiner Fachkompetenz und institutionellen Expertise möchte ihm etwa Helmut Schmidt für Überwachungsaufgaben klar den Vorzug geben gegenüber den hochpolitisierten Institutionen der UNO. Doch die bisher markant pro-amerikanische Ausrichtung des IWF, symbolisiert etwa im Washington Consensus, sowie das stärkere Gewicht Chinas und der Schwellenländer lassen vermuten, dass eher nach einer anderen Lösung gesucht werden muss. Die Machtverschiebungen auf dem internationalen Parkett kommen auch in einer Verlagerung der Aktivitä132


Internationale Regulierung globaler Märkte?

ten von der G 7, G 8 und G 10 zur G 20 zum Ausdruck. In diesem breiteren Gremium, in dem die Wachstumsmärkte der Zukunft angemessen vertreten sind, finden seit 1999 informelle Zusammenkünfte unter den Finanzministern und Notenbankchefs der zwanzig weltweit mächtigsten Industrieund Schwellenländer statt. Seit dem Schock vom Herbst 2008, ausgelöst durch den Konkurs von Lehman Brothers, treffen sich halbjährlich im gleichen Rahmen auch die Staats- und Regierungschefs zum so genannten Finanzgipfel, um die politische Neugestaltung und die Überwachung der globalen Finanzmärkte voranzutreiben. Sie holen dazu Vorschläge verschiedener Arbeitsgruppen ein, namentlich des agilen Financial Stability Board (FSB, früher Financial Stability Forum FSF), in dem auch unser Land mit Schweizerischer Nationalbank SNB und Eidgenössischem Finanzdepartement EFD Einsitz nimmt. Mit einem spannenden Suchprozess und Ideenwettbewerb, einem halb informell-vernetzenden und halb machtbetont-autoritären Vorgehen, will man wohl die zum Teil recht unterschiedlichen Sichtweisen ins gleiche Boot holen, die zähen Widerstände abbauen und nationale Alleingänge möglichst verhindern. Statt einer internationalen Überwachungsagentur könnte zur Einhaltung globaler Spielregeln auch ein Monitoring mit gegenseitiger Kontrolle im Peer-Prinzip eingeführt werden. Ob dabei schliesslich eine schärfere und wirksame Regulierung der Finanzmärkte resultiert, die für sämtliche Länder verbindlich ist und Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Finanzplätzen verhindern kann, wird sich erst noch weisen. Inhaltlich zeichnen sich Ende 2009 bereits die Konturen einer Finanzmarktordnung der Zukunft ab: Sicher müssen die Standards für die nationale Bankenregulierung überarbeitet werden; ein Basel III darf sich nicht von den Banken 133


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

gängeln lassen und sollte die Eigenmittel massiv erhöhen, gleichzeitig aber eine prozyklische Wirkung möglichst vermeiden (bei Basel I und Basel II mussten die Banken ihre Eigenmittel im Krisenfall erhöhen, was sie in noch grössere Schwierigkeiten treiben konnte). Die wohl entscheidende Neuerung wird aber eine Kombination dieser Vorschriften mit einer Leverage Ratio sein, die den Verschuldungsgrad der Finanzinstitute begrenzt; im Risikofall kommt es nämlich auf die effektiv vorhandenen Sicherheitspuffer an und nicht auf die Wahrscheinlichkeit, mit der das Risiko hätte eintreffen dürfen. Für die Höhe dieser Puffer und die genaue Berechnungsweise (Rechnungslegung) müssen noch international akzeptierbare Lösungen gefunden werden; hier liegt der Teufel oft im Detail. Zudem wird mehr Transparenz auf den Finanzmärkten verlangt; das betrifft die bisher eher undurchschaubaren Produkte, die komplexen Mehrfachverbriefungen sowie den OTC-Handel, also die ausserbörslichen Derivatgeschäfte, die man über eine zentrale Gegenpartei abwickeln müsste. Auch Leerverkäufe, also Spekulationen auf fallende Kurse, sollten nicht nur im Krisenfall, sondern prinzipiell ganz verboten werden, denn im Gegensatz zu normalen Termingeschäften destabilisieren sie die Kurse, und durch die Ausübung von Marktmacht werden monopolartige Gewinne auf Kosten der volkswirtschaftlichen Effizienz und Wohlfahrt in private Kassen gespült. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob die Hedgefonds und andere Anleger wie Private Equity Fonds derselben Aufsicht unterworfen werden sollten wie die Banken oder ob eine Beteiligung an kaum regulierten Fonds für die Kreditbanken eingeschränkt oder verboten werden müsste. Die Kontrolle von Ratingagenturen und von Bilanzprüfern auf ihre Unabhängigkeit und Seriosität ist ebenso 134


Internationale Regulierung globaler Märkte?

Thema wie die Frage, unter welchen Bedingungen der Eigenhandel von Banken noch zugelassen werden darf. Eine spezielle Belastung von Gewinnen oder Finanzmarkttransaktionen im Sinne einer Tobin-Steuer hat international wohl kaum eine Chance. Aber Löhne und Boni sollen die Banker in Zukunft nicht mehr mit falschen, kurzfristig wirkenden Anreizen zu risikoreichen Geschäften animieren. All diese Vorschläge werden sich kaum in nächster Zukunft zu verbindlichen Regelungen umsetzen lassen. Aber die Agenda der G 20 zeigt, dass es bezüglich einer Harmonisierung der Bankenregulierung praktisch keine Tabus mehr gibt. Interessant für die Schweiz sind auch die Ideen, mit denen man dem Problem der systemrelevanten Institute zu Leibe rücken will: Sie sollen in «Testamenten» festhalten, wie man im Falle ihres Konkurses vorgehen könnte, und der FSB fordert, dass weltweit zwanzig grosse, sehr komplexe Unternehmen einer speziellen, grenzüberschreitenden Kontrolle unterstellt werden, darunter vier Unternehmen mit Sitz in der Schweiz: neben den beiden Grossbanken UBS und CS auch der Rückversicherer SwissRe und die Zurich Financial Services. Wie diese Liste zeigt, müsste die Schweiz aufgrund ihrer strukturellen Risiken an einer internationalen Regelung und Aufsicht der Finanzmärkte besonders interessiert sein. Aber sie wird in dieser Hinsicht politisch kaum aktiv, obwohl sie als «finanzwirtschaftliche Grossmacht» bei einer Neuregelung der internationalen Finanzwirtschaft doch angemessen mitreden müsste. Auf technischer Ebene spielt unser Land eine grosse Rolle und ist in allen Fachgremien sehr anerkannt. Doch politisch sitzt unsere Regierung auf der Strafbank. Sie scheint nicht zu einer echten Zusammenarbeit bereit, wie sie mit ihrer sturen Position in Bezug auf Bankge135


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

heimnis und Steuerhinterziehung in den letzten Jahren immer wieder signalisiert hat. Wohl wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft werden die Schweizer Behörden trotz inständiger Bitten nicht als offizielle Teilnehmer an Konferenzen und Verhandlungen zugelassen. Vielleicht argwöhnt man entscheidenden Orts, dass die Schweizer Regierung selbst auf globalen Gipfeln nichts anderes als die handfesten Interessen ihrer (Gross-)Banken vertreten würde. Da wir auch über die europäischen Gremien in der G 20 und andern wichtigen Foren nicht repräsentiert sind, könnte die Situation für die Schweizer Interessen politisch recht ungemütlich werden. Aber was sind denn die Interessen der Schweiz?

Finanzmarktkrise in der Schweiz Nach den Berechnungen von Hans-Werner Sinn (2009, 194–199) aufgrund der Daten von Bloomberg (Stand 27. 02. 09) ist die Schweiz von der Finanzmarktkrise sehr stark betroffen worden: «Die Institute dieses Landes haben mit 76,3 Milliarden Dollar oder 6,8 % der Gesamtverluste die vierthöchsten Abschreibungsverluste aller Länder zu verzeichnen, fast genauso viel wie Deutschland, aber weit mehr als Frankreich oder Japan. Die Schweiz hat (…) bereits 17,9 % des Bruttoinlandprodukts eines Jahres durch die Finanzkrise verloren. Das ist ein einsamer internationaler Spitzenwert, der nur noch von einer reinen Steueroase wie Bermuda übertroffen wird. (…) Die Schweizer Banken (…) haben (…) die Hälfte des Ende 2007 vorhandenen Eigenkapitals verloren und stehen damit an der Spitze aller Länder. Die Hypothese von der Selbstregulierung des Banken136


Finanzmarktkrise in der Schweiz

systems, die gerade auch von Schweizer Ökonomen verbreitet wurde», werde durch diese Zahlen nicht gerade bestätigt, wie Sinn vielleicht etwas süffisant, aber durchaus zu Recht anmerkt. Der Schweizer Finanzplatz ist nicht ohne einschlägige Erfahrungen in die jüngste Finanzmarktkrise gerasselt. So sind die massiven Verluste auf Immobilien Anfang der 90er Jahre oder die 1998 mit der Russland- und LTCM-Hedgefonds-Krise verlorene Milliarde der UBS noch klar in Erinnerung, ebenso die Probleme der Dotcom-Blase Anfang des neuen Jahrhunderts oder die Amerika-Experimente, die dem Chef der Zürich Versicherungen 2002 Kopf und Kragen kosteten. Man hätte wissen können, dass man sich mit den amerikanischen Hypothekardarlehen von minderer Qualität auf ein gefährliches Karussell begab. Aber wieder einmal glaubten viele, diesmal sei alles ganz anders, und die märchenhaften Gewinne bis 2006/2007 schienen den Optimisten Recht zu geben. In diesen hektischen Jahren Mitte des ersten Jahrzehnts schritt die Amerikanisierung der Schweizer Banken nochmals mächtig voran, während die traditionelle Moral öfter auf der Strecke blieb. Unter dem Diktat quantifizierbarer Ergebnisse und verführt von gewinnabhängigen Anreizsystemen, mutierten manche Kundenberater zu Verkäufern angeblich topsicherer Finanzprodukte, die den vertrauensseligen Anlegern regelrecht aufgeschwatzt wurden, ohne im Einzelnen das Prinzip der Vermögensdiversifikation immer zu beachten. Nach der Lehman-Brothers-Pleite 2008 galt aber doch das Kleingedruckte, und vieleBanken lehnten jegliche Verantwortung für Verluste ab, was zu wüsten Szenen führte und sogar lautstarke Kritik des bei den Banken im Solde stehenden Ombudsmann am Verhalten gewisser Finanz137


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

institute hervorrief. Während sich in der Realwirtschaft in den letzten Jahren eher eine «Garantiekultur» etabliert hat, bei der Produzenten und Händler fast für alle Schäden haften, entwickelt sich in der Finanzwirtschaft zunehmend eine «Täuschungskultur» (Strahm), die darauf abzielt, Risiken und Haftung voll auf den Kunden zu überwälzen; oft geht es nur darum, beim Handel mit Ramsch möglichst rasch einen Dümmeren zu finden (einen grossen Unterschied zum verbotenen Schneeballsystem kann ich kaum mehr erkennen). Dass man sich auf traditionelle Gepflogenheiten im Banking nicht mehr verlassen konnte, wurde im Frühjahr 2007 mit der Meldung deutlich, die Zürcher Kantonalbank, Hausbank der Firma Sulzer in Winterthur, habe ohne deren Wissen ein bedeutendes Aktienpaket an einen russischen Financier verhökert. Solche Bankpraktiken gegen Treu und Glauben hätte man sich früher nicht vorstellen können. Hans-Werner Sinn (2009, 194 f.) berechnet die Verluste von Schweizer Banken und Versicherungen nach den Daten von Bloomberg für die Zeit von Juli 2007 bis Ende Februar 2009 auf 60 Milliarden Euro. Knapp 40 Milliarden, also zwei Drittel davon, entfallen auf die UBS, ein Fünftel (12 Milliarden) auf die CS, 5 Milliarden auf die zeitweise wie eine Bank sich gebärdende SwissRe und 2,3 Milliarden auf die Zurich Financial Services; die übrigen Institute seien mit lediglich 0,8 Milliarden Euro zu Schaden gekommen. Einige Privatbanken in Genf und Luzern wurden später noch vom kriminellen Nachbeben der Krise (Fall Madoff) betroffen. Im Folgenden befassen wir uns überwiegend mit der Hauptbetroffenen der Krise und auf dem Schweizer Finanzplatz bisher einzigen Bank, die aufgrund der Finanzmarktkrise Staatshilfe in Anspruch nehmen musste, der UBS. Die UBS war das stolze Flaggschiff des Finanzplatzes 138


Finanzmarktkrise in der Schweiz

Schweiz. Als grösste private Vermögensverwalterin der Welt genoss sie auch in Bankkreisen höchstes Ansehen. Sie galt lange eher als konservativ oder risikoscheu, bezüglich Risikomanagement sogar als Vorbild. Wie konnte es zu solch einem Absturz kommen? Ein Bericht der UBS an die Eidg. Bankenkommission EBK und an die eigenen Aktionäre vom April 2008 listet folgende Ursachen auf (UBS 2008; vgl. auch EBK 2008): verfehlte Wachstumsstrategie, Führungsmängel im Investmentbanking, Versagen des Risikomanagements und Mängel in der Corporate Governance, vor allem bei den Entschädigungs- und Bonussystemen. Auch aus zeitlicher Distanz ist an dieser Analyse der Gründe für den Niedergang der grössten Schweizer Bank kaum etwas auszusetzen. Erstaunlicher ist, dass die Bank von der EBK für die festgestellten Unzulänglichkeiten zwar gerügt, aber in keiner Weise belangt worden ist, auch nicht für eine Berichterstattung, die der Aufsicht während Jahren wichtige Informationen vorenthielt. Der Rücktritt des Verwaltungsratspräsidenten Anfang April 2008 reichte der EBK offenbar als Sühne für den angerichteten Schaden und als Garantie für eine bessere Zukunft. Die verfehlte Wachstumsstrategie betraf vor allem das Investmentbanking. Ospel wollte die Gelegenheit nutzen, auch in diesem Bereich zur Nummer eins der Welt aufzusteigen. Für dieses mehr als nur ehrgeizige, ja, vermessene Ziel wurden die Expansionsmöglichkeiten im amerikanischen Markt auf Teufel komm raus genutzt, ohne Rücksicht auf Bilanzsumme und Verschuldungsgrad. Im Investmentbanking tauchten dann auch ernsthafte Führungsmängel auf, da niemand wahrhaben wollte, dass Expansionen zu höherer Komplexität führen und die Anforderungen an ein verantwortungsbewusstes Management exponentiell steigen 139


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

können, zumal wenn Schwierigkeiten auftreten. Im Nachhinein ist nur schwer verständlich, wie wenig die oberste Führung der UBS von den Problemen des Investmentbanking wusste. Man erhält den Eindruck, dass sie gar nicht recht hinschaute auf Kreditlimiten und Risiken, auch nicht auf das interne Gerangel zwischen verschiedenen Organisationseinheiten – etwa im Zusammenhang mit dem vom umtriebigen Amerikaner Costas geführten Hedgefonds DRCM (Dillon Read Capital Management) und seinen 120 Tradern der (jedenfalls salärmässigen) Spitzenklasse –, solange nur die Kasse zu stimmen schien. Man fragt sich, wofür Verwaltungsrat und Geschäftsleitung so hohe Gehälter bezogen, wenn sie sich doch kaum um die Führungsprobleme kümmerten. Oder spielt man das eigene Wissen im Nachgang herab, um so die Verantwortung auf die unteren Etagen zu schieben? Neben dem übertriebenen Ehrgeiz ihrer Führung hat die Bank ihren Niedergang auch dem vollständigen Versagen des Risikomanagements zu verdanken, das der hohen Komplexität der Finanzmärkte nicht gerecht wurde. Wir wissen, dass eine Orientierung nur an der Vergangenheit ins Auge gehen kann: Wer auf kurvenreicher Strasse fährt und sich nur im Rückspiegel orientiert, muss wohl oder übel mit einem Crash rechnen. Das Risikomanagement der UBS basierte genau auf diesem Prinzip. In den Risiko-Abteilungen der Grossbank sassen Hunderte von Spezialisten, die täglich die Risikopositionen aufgrund der neusten Informationen aus der ganzen Welt überprüften. Um das Topmanagement auf dem Laufenden zu halten, rechneten sie über Nacht alle beobachteten Veränderungen der berücksichtigten Parameter mit Hilfe von hochmathematisierten Risikomodellen auf ihre möglichen Auswirkungen durch. Diese Value-at140


Finanzmarktkrise in der Schweiz

Risk-Modelle waren mit allen bekannten Erfahrungen der letzten fünf Jahre gefüttert worden; man hatte sämtliche bisher festgestellten Abhängigkeiten mit all ihren Wahrscheinlichkeiten berechnet und in das Modell integriert. Deshalb fühlten sich die UBS-Banker in ihrer Strategie so sicher und kauften auch dann noch strukturierte Produkte, als andere – wie die CS – aufgrund des gesunden Menschenverstands längst an der Zukunft des US-Hypothekarmarktes zweifelten und aus dem Handel ausstiegen. Dass aus neuen Kombinationen verschiedener Risiken unter Umständen auch neuartige Gefahren entstehen können, sah man auf dem Radarschirm der UBS nicht. Selbstverständlich gab es Mitarbeitende, die vor solchen Gefahren warnten. Aber sie wurden nicht gehört oder zum Teil aus der Unternehmung geekelt. Die Erfolge der Firma (oder nur glückliche Umstände?) gerieten zur grössten Gefahr für die Zukunft der UBS. Es entwickelte sich – ähnlich wie ein paar Jahre zuvor in Hüppis «Zürich» – allmählich eine narzisstische Führungskultur (vgl. Staubli 2002): Der Chef, von sich voll überzeugt, wurde zum Propheten, Kritiker wurden zu Ketzern und konsequent abgestraft. Die Seilschaften waren stärker als die Corporate Governance, die diese gefährliche Entwicklung nicht hat verhindern können. Und die Entschädigungs- und Bonussysteme implementierten Anreize zur raschen Gewinnsteigerung, was die Führungscrew wiederum nach aussen und innen bestätigte, auf dem richtigen Weg zu sein. Umso brutaler war das Erwachen, als das Ausmass der Schäden langsam sichtbar wurde. Ich konnte Anfang 2008 mit Topmanagern aus Ospels Umkreis Gespräche führen und habe dabei die Spannungen und inneren Kämpfe zwischen gewachsener Loyalität und aufkeimender Skepsis ge141


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

genüber der bisher so erfolgreichen Führung deutlich spüren können. Es gelang der Grossbank noch, zuerst neues Kapital aus dem Ausland zu gewinnen und dann das eigene Aktionariat von der Notwendigkeit einer Rekapitalisierung zu überzeugen. Obwohl inzwischen der oberste Chef doch ausgewechselt worden war, liessen Abschreibungen, Verluste und Kapitalabflüsse erahnen, dass sich die UBS im freien Fall befand. Noch an einer GV von Anfang Oktober wurde zwar behauptet, die UBS habe das Schlimmste überstanden, aber kurz darauf war die Bank am Boden und musste den Staat um Hilfe ersuchen. Die Behörden hatten sich in aller Stille auf eine Intervention gut vorbereitet. Vieles deutet darauf hin, dass man auch international von der Schweiz erwartete, sie würde eine systemrelevante Grossbank nicht einfach fallen lassen. Am 15. Oktober 2008 präsentierten Bundesrat, Nationalbank und Bankenkommission ein Paket von rund 68 Milliarden Schweizer Franken zur Rettung der UBS, das technisch brillant konstruiert, aber politisch nicht über jeden Zweifel erhaben war. Die Behörden zeigten sich also bereit, für eine einzelne Grossbank im Extremfall fast 10 000 Schweizer Franken pro Einwohner hinzublättern. Das UBS-Sanierungspaket bestand im Wesentlichen aus einer von der SNB finanzierten und beaufsichtigten Auffanggesellschaft zur Auslagerung illiquider Risikopapiere der UBS und aus einem Bundesdarlehen von 6 Milliarden Schweizer Franken, damit sich die UBS mit zehn Prozent am Kapital der Auffanggesellschaft beteiligen konnte. Das Bundesdarlehen in Form einer für die Bank sofort als Eigenmittel zählenden Pflichtwandelanleihe ist wie geplant inzwischen durch den Verkauf an Dritte mit einem ansehnlichen Gewinn an die Bundeskasse zurückgeflossen, und die Nationalbank steht 142


Finanzmarktkrise in der Schweiz

per Ende 2009 noch mit gut 20 Milliarden Schweizer Franken im Risiko; sollte das Projekt jetzt noch schieflaufen, wäre das für den Steuerzahler etwa gleichbedeutend wie acht Jahre Verzicht der Kantone und des Bundes auf die Erfolgsbeteiligung bei der Nationalbank. Diese hält aber die Chance für eine vollständige Rückzahlung des Kredits durch die Auffanggesellschaft nach wie vor für intakt. Die Bereitschaft, sehr hohe Risiken einzugehen (immerhin in der Grössenordnung eines Jahresbudgets des Bundes oder 10 % des BIP) und die teilweise Abstützung des UBS-Sanierungspakets auf Notrecht möchte ich nicht kritisieren. Die Behörden zeigten Mut und eine hohe Professionalität im Vorgehen; sie haben Situation und Entwicklung der Finanzmärkte wohl richtig eingeschätzt. Aber sie haben wichtige politische Implikationen ihres gigantischen Engagements vielleicht etwas zu wenig bedacht. Die Nationalbank hat nach Art. 5 ihres Gesetzes zwar den Auftrag, zur Stabilität des Finanzsystems beizutragen. Aber sie dürfte – wie aus den Materialien zum neuen Nationalbankgesetz klar hervorgeht – einem Institut nicht aus Solvenzproblemen helfen; das ist – wenn schon – die Aufgabe der politischen Behörden. Also erstellte die Bankenkommission ein Gutachten, die UBS sei solvent; es handle sich nur um ein Liquiditätsproblem. Diese Beurteilung war heikel, denn im Krisenfall lassen sich Solvenz- und Liquiditätsprobleme oft nicht so klar trennen. Die Behauptung der EBK traf sicher erst unter der Bedingung zu, dass die UBS neue Eigenmittel in Form der Bundesanleihe erhalten und ihre toxischen Papiere an die Zweckgesellschaft/SNB verkaufen könne. Bei solch einer Argumentationspirouette ist es allerdings kaum möglich, überhaupt je insolvent zu werden. Lassen wir die Spitzfindigkeiten! Der Gesetzgeber hat kaum an 143


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

eine Situation gedacht, wie sie im Herbst 2008 eintrat. Die gesetzlichen Grundlagen müssen deshalb so nachgebessert werden, dass die SNB bald alle nötigen Kompetenzen für ihren wichtigen Systemstabilisierungsauftrag erhält. Politisch heikler ist indes die klare Stossrichtung des Pakets, eine Grossbank mit einer gigantischen Summe an Steuergeldern zu retten, ohne sie in die Pflicht zu nehmen, ihr klare Auflagen zu machen und ihr Geschäftsgebaren zu kontrollieren. Verdient eine Unternehmung mit einer Entwicklung wie die UBS so viel blindes Vertrauen? Und züchtet man damit nicht eine gefährliche Anspruchshaltung so genannter systemrelevanter Unternehmen, der Staat habe zu jeder Zeit praktisch gratis die Kastanien aus dem Feuer zu holen, ohne bei der Übungsanlage mitbestimmen zu können? Hans-Werner Sinn hat den Vorschlag gemacht, dass bei Schieflage grosser Banken der Staat so lange einspringen soll, bis die Krise behoben sei, dass er aber für diese Zeit entsprechend seinem Kapitaleinsatz auch die Verantwortung und die Entscheidungsmacht übernehmen müsse. Nichts würden die privaten Banken mehr fürchten als das; diese Lösung sei deshalb der beste Garant, dass sie nie oder nur für kurze Zeit zum Zuge komme. Staatshilfe darf für die Unternehmen jedenfalls nicht allzu attraktiv sein. Wir sind ja auch nicht der Meinung, dass vom Staat unterstützte Individuen wie Ergänzungsleistungs- oder Sozialhilfebezüger in Saus und Braus leben sollen. Doch gerade in diesen heiklen Fragen scheinen nicht nur die Banker, sondern auch manche Schweizer Politiker die Bodenhaftung schon verloren zu haben. In krassem Gegensatz zu vielen andern Ländern macht die Schweiz einer Bank, die nur noch an Staatskrücken gehen kann, auch keine strengeren Auflagen in Bezug auf Dividenden und Ent144


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gelte. Die Steuerzahler müssen so mithelfen, Löhne und Boni zu finanzieren, von denen sie selber nur träumen können. Menschen, die um ihr Sparguthaben, ihre Altersvorsorge und jetzt – wo die Krise auf die Realwirtschaft durchschlägt – auch um ihren Arbeitsplatz fürchten, werden das nicht verstehen. Viele ärgern sich über die Exzesse der Finanzindustrie, über deren fahrlässigen bis mutwilligen Umgang mit Risiken. Und was manche mit Zorn erfüllt, ist die Arroganz vieler Banker, ihre Unlust oder Unfähigkeit, aus Krisen zu lernen. Angst, Ärger und Zorn sind Ausdruck eines gesunden Empfindens. Denn nicht zuletzt Überheblichkeit, Masslosigkeit und Gier vieler Akteure in der Wirtschaftswelt sind mit verantwortlich für die Krise, in der wir uns heute befinden. Angst, Ärger und Zorn verspüren die Menschen auch in andern Ländern Europas und namentlich in den USA. Doch während Obama, Brown, Merkel, Sarkosy und viele weitere Spitzenpolitiker den Ärger ihrer Bevölkerung teilen und alles tun, um die Finanzwirtschaft und masslose Banker in die Schranken zu weisen, wird unsere Regierung es nicht müde, die überrissene, staatlich subventionierte Lohnpolitik der UBS und andere fragwürdige Machenschaften auf dem Schweizer Finanzplatz zu verteidigen. Selbst Spenden an politische Parteien darf auch die staatlich subventionierte UBS weiterhin bezahlen, ohne darüber öffentlich Rechenschaft geben zu müssen; ein Antrag, solches Tun wenigstens vorübergehend zu verbieten, ist in der Parlamentsdebatte vom Dezember 2008 durch Regierung und bürgerliche Fraktionen mächtig abgeschmettert worden. Staatspolitisch doch eher eine Peinlichkeit, die schon fast an Gepflogenheiten einer Bananenrepublik erinnern könnte. Aber wenn man erfährt, dass ein angesehener Zürcher Ständerat bis 2007 für 145


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

zwei Sitzungen pro Jahr 100 000 Schweizer Franken von einer Grossbank bezog, kann einen nichts mehr erstaunen. Vielleicht ist die Schweiz eben doch ein Sonderfall, jedenfalls was die Macht der Banken und vor allem was ihren Einfluss auf die Politik betrifft. Bei derlei Gedanken höre ich schon den Vorwurf des Populismus im Ohr. Er kommt meist von Leuten, die sonst nicht müde werden, unser Staatsverständnis aus einem demokratischen Aufbau von unten nach oben zu erklären. Ich bin entschieden nicht der Meinung, dass es die vordringliche Aufgabe des Staates in einer Marktwirtschaft sei, die Löhne nach oben zu begrenzen; das sollten die Aktionäre oder progressive Steuern tun, und gegen eine gewisse Grosszügigkeit ist auch nichts einzuwenden. Aber die Toleranz der Volksseele gegenüber Ungerechtigkeit weist offenbar – und meines Erachtens zu Recht – nur eine beschränkte Elastizität auf. An einzelne Einkommensmillionäre hat man sich inzwischen gewöhnt, vor allem wenn sie mit ihrem Mammon nicht zu sehr protzen. Wenn jedoch die Durchschnittsgehälter einer ganzen Branche auf Schwindel erregende Werte steigen, die sonst nur absolute Spitzenverdiener erreichen, und das Gros der Leute zugleich wegen steigender Krankenkassenprämien mit sinkenden verfügbaren Löhnen kutschieren muss, sind die Grenzen der Toleranz erreicht. Der Volkszorn über die wachsende Ungerechtigkeit schwelt schon einige Jahre. Er wird nicht gerade zu Aufständen führen, aber sich unter anderem Luft machen in Abstimmungen über Abzockerinitiative und Pauschalbesteuerung. Er lässt sich kaum mehr durch Vergütungsvorschriften beruhigen, wie sie das Rundschreiben der FINMA vom November 2009 für die sieben grössten Banken und die fünf grössten Versicherungen der Schweiz verbindlich macht. 146


Finanzmarktkrise in der Schweiz

Diese Richtlinien geben – an sich vernünftig – dem nachhaltigen Erfolg und den eingegangenen Risiken für die Lohn- und Bonusgestaltung viel mehr Gewicht, verzichten aber vornehm auf absolute oder relative Begrenzungen der Maximalsaläre. Ist es die Arroganz der Banker oder ist es ihre Unfähigkeit, dass der nun angerichtete Reputationsschaden nicht ernst genommen wird? Warum verhindern die Banken das Einschreiten des Staates nicht mit einer Selbstbeschränkung ihrer Salärpolitik? Sind sie dazu gar nicht mehr in der Lage, weil ihre Kultur inzwischen so amerikanisiert und verdorben ist, dass bei Lohnsenkungen ganze Heerscharen von Angestellten ihren Arbeitgeber verlassen und gleich noch die wichtigen Kunden mitnehmen würden? Ich habe im Mai 2009 in den USA den CEO einer kleinen Finanzberatungsfirma kennen gelernt, der eben seinen Job aufgekündigt und innert Stunden verlassen hatte, weil ihm eröffnet worden war, dass er in Zukunft mit einem Jahressalär von nur noch drei Millionen USD statt der bisherigen vier Millionen auskommen müsse … Das Sanierungspaket vom Oktober 2008 fasst die Banken mit Samthandschuhen an. Es suggeriert, beim massiven Eingriff handle es sich um einen bedauerlichen, aber einmaligen «Sündenfall», der zwar zur Rettung des Systems notwendig gewesen sei, aber sonst kaum etwas verändert habe. Möchte man wohl beim tumben Volk den Eindruck erwecken, man könne nach der Intervention des Staates sofort wieder zum Courant normal und zum neoliberalen Laisserfaire zurückkehren? Nicht nur alle Ansätze in Richtung Verstaatlichung werden deshalb vehement abgelehnt, auch jede Auflage an die UBS und andere Banken scheint den Behörden geradezu peinlich zu sein. Einzig die Eigenmittel wollen 147


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

Regierung und Eidg. Bankenkommission (seit 1. 1. 09 neu: Finanzmarktaufsicht FINMA) gezielt anheben und mit einer Grenze für die Verschuldung von vier Prozent kombinieren, was die Geschäfte der Grossbanken verteuern und ihr Bilanzwachstum etwas bremsen wird. Eigenmittel der Banken sind bei Finanzmarktturbulenzen neben Liquiditätshilfen der Notenbanken die wichtigsten Puffer, damit Probleme und Krisen nicht sofort auf die Realwirtschaft durchschlagen. Sie dämpfen wohl auch die Risikofreudigkeit einer Bank, weil die Eigner selber im Ausmass der Eigenmittel von einem Flop betroffen wären. Nach Ansicht gewisser Ökonomen sollten sie deshalb auf zehn oder gar zwanzig Prozent der Bankaktiven erhöht werden, um die Finanzinstitute zur Räson zu bringen und von Spekulationen abzuhalten. Eine vernünftige Höhe für systemrelevante Banken von gefährlicher Grösse lässt sich wohl erst festlegen, wenn bekannt wird, wie die internationalen Mindeststandards aussehen sollen. Dass UBS und CS eine für unser Land gefährliche Grösse erreicht haben, zeigt auch die Verstärkung des Einlegerschutzes, den das Parlament auf Antrag der Regierung beschlossen hat. Doch ist die Erhöhung des Schutzes auf 100 000 Franken nicht eine Augenwischerei, wenn die Systemobergrenze für alle abzudeckenden Verluste gleichzeitig auf 6 Milliarden Franken festgelegt wird? Der Bundesrat beteuert, dass der Finanzplatz Schweiz mit Ausnahme der beiden Grossbanken keine Probleme habe. Der neue Einlegerschutz wäre aber bereits bei Insolvenz nur eines der beiden grossen Institute völlig überfordert, so dass Staat und Steuerzahler wohl wiederum zum teuren Handkuss kämen. Das Paket vom 15. Oktober 2008 schützt uns wenig vor den Auswirkungen möglicher weiterer Krisen der Finanzwirt148


«Beresina» der Schweizer Finanzmarktpolitik

schaft, und – was noch viel bedenklicher ist – es hilft leider auch nicht, um Krisen auf dem Finanzplatz Schweiz in Zukunft zu verhindern.

«Beresina» der Schweizer Finanzmarktpolitik Vor knapp zweihundert Jahren haben vier Schweizer Regimenter an der Beresina, einem Nebenfluss des Dnjepr, mit blutigen Bajonettgefechten gegen übermächtige Gegner den Rückzug der Grossen Armee zu decken versucht, konnten aber die Niederlage Napoleons trotz Prinzipientreue und Heldenmut nicht verhindern. Wir kennen alle die gedrückte Stimmung aus dem Lied, das vom Glarner Oberleutnant Thomas Legler am 28. November 1812 angestimmt wurde und das noch heute in unseren Schulen und von vielen Chören mit Inbrunst gesungen wird. Manchmal kommt einem unsere Regierung in ihrer verlustreichen Interessenwahrung für die Grossbanken so vor wie weiland die Schweizer Truppen an der Beresina. Auch sie gleicht einem Wandrer in der Nacht, der sich hinter fernen Höhen noch ein Glück für unseren ach so gebeutelten Finanzplatz und seine hehren Maximen erträumt. Die fast absolute Loyalität der Schweizer Behörden zum Finanzplatz ist notorisch. Sie drückt sich vor allem in einer Schonhaltung gegenüber den (Gross-)Banken aus. Auf das Trauerspiel bezüglich einer Senkung der Eigenmittel für die Grossbanken wurde schon im 3. Kapitel hingewiesen. 2008 mussten wir erfahren, dass die laxe Anwendung der Basler Bestimmungen wirklich keine geschickte Positionierung im Standortwettbewerb war. Aber auch sonst wird mit dem Finanzplatz sehr pfleglich umgegangen. Man erhält den Ein149


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

druck, die Behörden glaubten fest, was immer im (kurzfristigen) Interesse der (Gross-)Banken liege, nütze auch der Schweiz. Unser Anlegerschutz zum Beispiel entpuppt sich in manchem mehr als ein Schutz für die Banken denn als Schutz für die Anleger; etwa bei den «Kickbacks» (einer modernen Form von Schmiergeldern für Anlageberater) – in der Schweiz fliessen jährlich fünf Milliarden Franken solcher Zahlungen, mehr als alle Boni im Finanzbereich! – garantiert die Schweiz den Bankkunden weit weniger Transparenz als die EU. Und um mehr Hedgefonds in die Schweiz zu locken, will das Finanzdepartement den Managern solcher Fonds quasi durch die Hintertür einer akrobatischen Gesetzesinterpretation – am Parlament vorbei – eine noch attraktivere Steuerregelung anbieten. Auch bei der Bankenaufsicht könnte man den Eindruck kriegen, Finanzdepartement und Bundesrat seien bezüglich Bestellung der dafür kompetenten Behörde (die Eidg. Bankenkommission) und diese sei bezüglich Kontrolle der Grossbanken zeitweise in eine fatale Objektnähe geraten. Ist man den Interessen der Beaufsichtigten mit ihren sophistizierten Risikomodellen nicht eher unkritisch aufgesessen? Etablierte sich hier eine «Kameraderie mit der Bankenwelt nach dem helvetischen Motto: Kontrolle der Kontrolleure durch die Kontrollierten» (Strahm)? Auch die neue Finanzmarktaufsicht FINMA, die auf Anfang 2009 in Aktion getreten ist, kann nichts wesentlich anderes bringen, geht es doch um eine rein organisatorische Umstrukturierung. Die Politik wird dadurch nicht geändert. Unter «Stärkung der Unabhängigkeit», ein schönes Ziel, versteht man in der Schweiz nicht etwa die Unabhängigkeit vom Objekt der Aufsicht, sondern die Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörde von den politischen Behörden! Vielleicht kommt darin eine tiefere 150


«Beresina» der Schweizer Finanzmarktpolitik

politische Weisheit zum Ausdruck. Denn in der Schweiz fühlen sich viele Politiker den Banken noch weit enger verbunden als die Aufsicht, jedenfalls wenn es um die Spezialität unseres Finanzplatzes geht: um das Bankgeheimnis. Das Bankgeheimnis ist Symbol für die Globalisierung nach dem Modell Schweiz: Wir ermöglichen und fördern jede Art privater grenzüberschreitender Geschäfte, aber wir übernehmen keine offizielle Verantwortung für die Folgen dieses Tuns. Das rigorose Bankgeheimnis, das im Amts- und Rechtshilfeverfahren nur bei Steuerbetrug (zum Beispiel: ich fälsche meinen Lohnausweis), nicht aber bei Steuerhinterziehung (zum Beispiel: ich vergesse eine Million zu deklarieren) gelüftet werden darf, war für Parlament, Regierung und Verwaltung immer ein Tabu, über das nie offen diskutiert wurde. Man argumentierte mit dem spezifisch schweizerischen Staatsverständnis, das die Privatsphäre achte und deshalb keine gläsernen Bürger wolle, die bei Kavaliersdelikten gleich eine Kriminalisierung zu befürchten hätten. Und was das Geschäft mit dem Ausland betrifft, versuchte man sogar, das weisse mit dem roten Kreuz zu verbinden. Wenn wir etwa dem Präsidenten der Privatbankiers Glauben schenken dürfen, so handelt es sich beim Verband der Privatbanken um eine zutiefst humanitäre Organisation, die den vom Fiskus brutal Verfolgten dieser Erde Schutz und Labung bieten will. Da werden dann schon mal Deutschland als Unrechtsstaat und Kapitalflucht als reine Notwehr oder die Unterschiede zwischen der Schutzgeld einsammelnden Mafia und dem Steuern einziehenden Staat als für das Individuum geringfügig bezeichnet (Interview mit K. Hummler in Weltwoche, 19. 03. 2008). Von den ca. 2000 Milliarden Schweizer Franken ausländischer Vermögen in der Schweiz ist vermutlich knapp die Hälfte 151


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

Schwarzgeld. Nicht nur Privatbanken haben ein Interesse daran. Die sture Haltung der Behörden – für den Finanzminister war das Bankgeheimnis bis Anfang 2009 absolut «nicht verhandelbar» und er meinte, die Gegner könnten sich daran ihre Zähne ausbeissen – stiess bei den betroffenen Ländern gerade in der Finanzkrise auf Unverständnis. Das löste unter anderem einen verbalen Schlagabtausch mit dem deutschen Finanzminister aus, der seiner Empörung über die Haltung der Schweiz – im Umfeld des Karnevals und im Vorfeld von Wahlen – nicht gerade diplomatisch Ausdruck gab. Aber solange wir (Steuer-)Reservate beanspruchen, sollten wir auch nicht erstaunt sein, wenn man uns mit Indianern vergleicht, die mit der Kavallerie in Angst und Schrecken versetzt werden müssen, um endlich Vernunft anzunehmen. Was uns, von der rassistischen Entgleisung einmal abgesehen, an diesem Bild so verletzt, ist, dass es uns trifft, weil es zutrifft. Was die Eichels und Steinbrücks aber nicht begreifen: Angriffe von aussen auf die Schweiz und ihre Behörden mobilisieren die Wagenburg und machen uns zur geeinten Nation. Die Amerikaner agierten viel cleverer nach dem seit 1972 gegenüber der Schweiz erfolgreich geübten Muster: Setze die wirtschaftlichen Interessen unter Druck, dann werden die Unternehmen selber dafür sorgen, dass sich die Schweizer Politik bewegt. Diese Strategie führte zum Ziel, selbst in Bezug auf das Bankgeheimnis, eine sonst unbezwingbare Burg. Was aussenpolitisch schon lange anstand und wofür die vereinigte Linke in diesem Land während Jahrzehnten vergeblich gestritten hatte, nämlich das Schleifen dieser Festung, das gelang der UBS, mit der Hilfe von FINMA und Bundesrat, praktisch über Nacht. Dass diese Grossbank, die mehr als ein Drittel ihrer Geschäfte in den USA generiert, 152


«Beresina» der Schweizer Finanzmarktpolitik

die amerikanischen Gesetze nicht achtet, ist gerichtsnotorisch. Schon 2004 war sie zu einer Busse von 100 Millionen USD verurteilt worden (EBK 2004, 49 f.). Gegen Ende 2007 wurde ruchbar, dass die UBS im grossen Stil und auf raffinierte Weise Tausenden von US-Bürgern behilflich war, Vermögen am Fiskus vorbei auf Konten in der Schweiz zu schleusen. Ein ehemaliger UBS-Kundenberater hatte als Whistleblower diese Praktiken verraten, die dem Vertrag mit den US-Behörden, den die Bank 2002 unterzeichnet hatte, total widersprachen. Die UBS zeigte öffentlich Reue, versprach, keine US-Kunden mehr vom Standort Schweiz aus zu betreuen, und konnte einer Anklage, die ihrem Amerikageschäft massiv geschadet oder gar zu einem Lizenzentzug geführt hätte, mit einer Zahlung von 780 Millionen USD (!) vorerst entgehen. Die Schweizer Diplomatie hatte sich für die UBS mächtig ins Zeug gelegt, und es gelang ihr, den Amerikanern für das weitere Vorgehen in dieser Affäre den Rechtshilfeweg schmackhaft zu machen. Damit war der Fall UBS auch zu einem Fall Schweiz geworden, und die Schweiz drohte zum Gefangenen der UBS zu werden. Die US-Behörden reichten im Juli 2008 bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung ein ordentliches Rechtshilfebegehren ein, doch das Tempo, das die Schweiz bei der Behandlung dieses Gesuchs anschlug, schien den Amerikanern zu zögerlich. Sie drohten Ende 2008 und Anfang 2009 ultimativ, gegen die UBS nun doch Anklage zu erheben. Jetzt ging plötzlich alles wie geschmiert. Am 18. Februar 2009 erliess die FINMA, nach Rücksprache mit dem Bundesrat, eine Verfügung, die UBS habe rund 300 Dossiers mutmasslicher Steuerbetrüger herauszugeben, die ohne Möglichkeit, dagegen Beschwerde einzulegen, den US-Behörden sofort ausgeliefert wurden. Der Entscheid vom 18. Februar 2009 war der Durchbruch 153


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

in Sachen Bankgeheimnis, aber er war auch ein Bruch mit unserer geltenden Rechtsordnung und mit den bisher beachteten Gepflogenheiten im öffentlichen Dienst unseres Landes. Im Januar 2010 hat das Bundesverwaltungsgericht dieses Vorgehen als rechtswidrig beurteilt. Wenn ein vom Gesetz erlaubtes Vorgehen nicht mehr möglich gewesen sei, so lässt das Gericht durchblicken, dann hätte der Bundesrat aufgrund seiner Notrechtskompetenz selber handeln müssen. Dazu war unsere Regierung zu feige, nachdem sie schon wegen anderer Notrechtsentscheide (UBS-Sanierungspaket und Tinner-Affäre) kritisiert worden war. Sie trägt dennoch politisch die Verantwortung dafür, dass der Eindruck entstehen konnte, unser Staat werde von einem privaten Unternehmen instrumentalisiert. Der Präsident der FINMA liess öffentlich verlauten, er würde in einer solchen Situation – trotz des Gerichtsurteils – wieder genau gleich handeln. Es mangelt ihm offenbar nicht an Selbstbewusstsein. Oder ist es vielmehr die Arroganz, die man in den obersten Führungsrängen einer Grossbank entwickelt? Jeder Normalbürger wäre ja wohl bei einem Behördenentscheid in den Ausstand getreten, bei dem es angeblich um Sein oder Nichtsein einer Firma ging, für die er vorher 32 Jahre lang im Solde stand. Was seit dem Februar 2009 noch geschah und in Zukunft wohl noch geschehen wird, sind weitere verlustreiche Rückzugsgefechte. Der Bundesrat ist bereit, 4500 Dossiers von UBS-Kunden den Amerikanern auszuliefern, falls schwerwiegende Hinterziehung im Spiele war (auch da hat sich das Bundesverwaltungsgericht – vielleicht etwas sehr legalistisch – quergelegt). Und Europa gegenüber kann man auch nicht verweigern, was den USA zugestanden wird. Über Doppelbesteuerungsabkommen, die jetzt neu ausgehandelt wer154


«Beresina» der Schweizer Finanzmarktpolitik

den, will man den Ländern, die der Schweiz ihrerseits etwas bieten können, Rechtshilfe in Zukunft auch bei Steuerhinterziehung leisten. Man hofft so – und eventuell auch über eine griffigere Abgeltungssteuer für Vermögenserträge an das Herkunftsland – den Kern des Bankgeheimnisses doch noch bewahren und einen automatischen Informationsaustausch verhindern zu können, wie er in Europa immer lauter gefordert wird. Ob diese Strategie erfolgreich sein kann angesichts schwerer Fälle von Datenklau im Bankgewerbe, für die viele Finanzminister grosses Interesse bekunden, muss allerdings bezweifelt werden. Und wenn nun eine ob illegal erworbener Daten moralisch entrüstete Schweiz lautstark den Vorwurf der Hehlerei erhebt, wird man sie wohl daran erinnern müssen, dass sie selber während Jahrzehnten von der Hehlerei profitiert hat. Warum brauchte es den Rechtsbruch vom Februar 2009, um die Finanzmarktpolitik der Schweiz zu deblockieren? Andere Länder mit ähnlich strengem Bankgeheimnis haben viel flexibler auf entsprechende Forderungen reagiert und machten daraus keine so bedeutende Haupt- und Staatsaktion. Warum hat sich die Nationalbank zum Bankgeheimnis nie deutlich geäussert? Auch sie übte in diesem Tabuthema immer vornehme Zurückhaltung, obwohl eine systemische Sichtweise solch hochpolitischen Problemen Rechnung tragen sollte. Wie konnte die SNB noch in den Berichten 2008 und 2009 zur Finanzstabilität die Gefahren einfach ausblenden, die den Schweizer Banken durch eine internationale politische Isolierung erwachsen können? Es war eigentlich abzusehen, dass Globalisierung und Finanzkrise die Regierungen unter Druck setzen würden, gegen Steuerumgehung und davon profitierende Steueroasen rigoroser vorzugehen. Wie konnte eine politisch einigermassen alphabetisierte 155


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

Nation wie die Schweiz dermassen in eine totale Isolierung geraten? Was macht denn eigentlich unsere Aussenpolitik? Wozu dient unsere Diplomatie? Dem Vernehmen nach haben die diplomatischen Vertretungen der Schweiz bei EU und OECD und die Botschaften aus vielen Hauptstädten laufend an die Zentrale gemeldet, was sich in Bezug auf Bankgeheimnis und Steuerstreit in der Welt zusammenbraute. Aber an der Spitze des Departements und in der Regierung wollte man diese Gefahr offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen. Warum? Menschenrechte und symbolische Aussenpolitik sind zwar wichtig, um der eigenen Bevölkerung die Interdependenzen unserer modernen Welt aufzuzeigen. Diesbezüglich hat die neuere Aussenpolitik viel bewirkt. Aber es reicht nicht ganz, möglichst medienwirksam und in roten Turnschuhen irgendwelche Demarkationslinien zu überschreiten und gleichzeitig unsere wichtigsten Partner in Europa zu vernachlässigen. Wenn man schon in Konfrontation zu EU und OECD stur am Bankgeheimnis festhalten will, müssten doch zumindest die engsten Nachbarn in unsere Politik eingebunden werden. Vielleicht sieht man sich dann gezwungen, die Definition der eigenen Interessen zu überdenken, aber man weiss wenigstens, wo die Schwachstellen liegen. Beim Bankgeheimnis ist der Eindruck entstanden, die Schweiz habe sich zu sehr auf formale Blockierungsmöglichkeiten (OECD) und auf ähnlich gelagerte Wirtschaftsinteressen einiger weniger Länder verlassen. Man hat sich hierzulande gar nicht vorstellen können, dass Liechtenstein, Österreich und Luxemburg im Zweifelsfall doch den gemeinsamen Interessen Europas den Vorzug gegenüber autochthonen Bankinteressen geben würden. Dass die Welt politischer geworden ist, nehmen Schweizer Politiker nicht gerne zur Kenntnis. 156


Grossbanken: Too big to fail

Grossbanken: Too big to fail Vielleicht hilft uns die zunehmende Politisierung der Weltwirtschaft auch noch ein anderes volkswirtschaftliches Problem anzugehen: die Grösse unserer Grossbanken. Von allen Problemen, auf die uns die Finanzmarktkrise aufmerksam gemacht hat, ist es wahrscheinlich das wichtigste Problem, aber juristisch wohl auch am schwierigsten und politisch am heikelsten lösbar. Das ehrgeizige Streben nach internationaler Grösse verbunden mit der Dominanz unserer Grossbanken im inländischen Geschäft macht die Schweiz verwundbar. Das ist in den letzten Monaten leider immer wieder deutlich geworden. Und wer unsere Souveränität nur gegenüber dem Ausland zu schützen versucht, merkt nicht, dass wir längst Gefahr laufen, sie an unsere grossen Konzerne zu verlieren. Die Beseitigung des «Klumpenrisikos», das die Grossbanken für unsere Volkswirtschaft darstellen, ist eine Schicksalsfrage; auch die OECD ist im neusten Bericht zur Schweiz 2010 zu dieser Ansicht gelangt. Wenn in der Marktwirtschaft die Bedrohung durch einen möglichen Konkurs wegfällt, kann die Risikosteuerung nicht mehr funktionieren und es droht die Gefahr, dass der Staat und die Gesellschaft für Fehler von privaten Managements in Sippenhaft genommen werden. Die aktuelle Krise hat gezeigt, dass die «Too-big-to-fail-Problematik» auch in anderen Ländern grösser ist als bisher vermutet. Oft wäre eine geordnete Liquidation der systemrelevanten Institute aufgrund ihrer engen Marktverknüpfung und ihrer stark grenzüberschreitenden Tätigkeiten praktisch überhaupt nicht mehr möglich («too interconnected to fail»). Was den Marktanteil der Grossbanken gemessen an der Summe aller Bankaktiven betrifft, weisen auch andere 157


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

Länder wie Belgien oder die Niederlande eine sehr hohe Marktkonzentration auf. Aber wenn man zusätzlich den bedeutenden Anteil des Finanzsektors am BIP berücksichtigt, so wurde die Schweiz in den letzten Jahren nur noch von Island (!) in den Schatten gestellt. Die Kosten eines möglichen GAU auf ihrem Finanzplatz könnte die Schweiz mit ihrer relativ kleinen Volkswirtschaft überhaupt nicht mehr stemmen («too big to rescue»). Umso wichtiger ist die Eindämmung des «Klumpenrisikos». Sich auf die Selbstbescheidung der Grossbanken zu verlassen, wäre nach Wittmann gleich unvorsichtig, wie wenn man den Hund das Wurstdepot bewachen liesse. Zu gross wäre die Versuchung, im neuen Aufschwung wieder mit der grossen Kelle anzurichten, wenn man das Risiko auf die Steuerzahler abschieben kann («Moral Hazard»), ganz abgesehen davon, dass eine indirekte Staatsgarantie einen bedeutenden Wettbewerbsvorteil darstellt. Die Verlautbarungen der neuen UBS-Führung stimmen da auch nicht gerade sehr zuversichtlich; man verspricht schon wieder Renditen wie zu Wufflis Zeiten. Dass solche Gewinne mit sehr hohen Risiken verbunden sind, sollten wir nun nachgerade gelernt haben. Kann die Schweiz selber die Kraft aufbringen, sich aus der Umklammerung durch die Grossbanken zu befreien? Ich zweifle daran. Aber wir haben eine Chance, dass uns auch in dieser Problematik das internationale Umfeld zu Hilfe kommt. Und wir haben mit dem neuen Nationalbankpräsidenten eine Person auf dem für diese schwierige Aufgabe wohl wichtigsten Posten, die sich an der Schnittstelle von nationalem und internationalem Parkett hervorragend zu bewegen versteht. Philipp Hildebrand hat sich als ein führendes Mitglied des Financial Stability Forum/Board einen Namen gemacht; und er ist 2008 in die G 30 kooptiert 158


Grossbanken: Too big to fail

worden, ein exklusives Forum der dreissig renommiertesten Notenbanker und Finanzer der Welt. Er muss rund um die Uhr damit rechnen, dass er den amerikanischen Finanzminister oder sonst eine grosse Nummer auf seinem Handy hat. Als ehemaliger Hedgefonds-Manager kennt er den Töff. Wenn er aus Erfahrung betont, der Finanzmarkt sei selber nicht in der Lage, sich vernünftig zu regeln, er brauche in seinem eigenen Interesse eine robustere staatliche Aufsicht, dann muss man ihm das wohl oder übel abkaufen. Dass er an der Universität Oxford in Internationalen Beziehungen doktorierte, von Ausbildung also kein klassischer Ökonom ist, wird ihm in gewissen Kreisen manchmal angekreidet, kann ihm aber nur helfen, die wirklich wichtigen Probleme einer komplexen, interdependenten Welt besser zu erkennen. Die enge Verzahnung von Politik und Wirtschaft nimmt nur richtig wahr, wer sie ideologisch nicht verketzert. Von den beiden Parketten bereitet das inländische Hildebrand wahrscheinlich mehr Kopfzerbrechen. Es ist spannend zu beobachten, wie jetzt die Geschütze in Stellung gebracht werden. Da lesen wir von all den Vorzügen grosser Universalbanken für unsere Volkswirtschaft, und die Marktfundamentalisten wettern schon wieder gegen jede Staatsintervention, als hätte es die jüngste Krise gar nie gegeben. Wie üblich bestellt der Bundesrat zur Klärung des Problems eine Expertenkommission, in der die Grossbanken prominent vertreten sind, und im Freisinn fallen böse Worte über den Nationalbankpräsidenten. Man kann nur beten, dass Hildebrand keine Fehler macht, sonst steht er politisch im Abseits. Immerhin erhält er Unterstützung aus der Zivilgesellschaft. Nicolas Hayek, das unternehmerische Gewissen des Werkplatzes Schweiz, tritt im September 2009 mit einer Dompteurnummer der besonderen Art vor die versammelten Me159


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

dien: mit SP-Chef Levrat zur Linken und SVP-Ikone Blocher zur Rechten versucht er Hildebrand den Rücken zu stärken. Aber die Mitte-Parteien sind nicht vertreten; sie gehen auf Distanz. Erst allmählich melden sich vereinzelt liberale Stimmen, die einen Paradigmenwechsel in der schweizerischen Finanzmarktpolitik für nötig halten, etwa Philipp Müller, dessen mehrteilige Interpellation im Nationalrat vom 21. September 2009 sich als Lesehilfe zum FINMA-Bericht vorzüglich eignet. Auf welche Weise das Problem angegangen werden soll, ist noch nicht entschieden und hängt vom Ergebnis der nationalen und internationalen Diskussionen ab. Eine Lösung ist schwieriger, als man denkt. Mit einer Aufspaltung in Ausland- und Inland-Geschäft oder in Investmentbanking und übrige Sparten unter einem Holding-Dach sind die Haftungsfragen noch nicht gelöst, eine rasche Abwicklung im Konkursfall bedarf einer komplizierten Harmonisierung unterschiedlicher Rechtssysteme, und mit strengeren, nach Grösse abgestuften Eigenmittel- und Liquiditätsvorschriften kann man zwar Wahrscheinlichkeit und Kostenhöhe möglicher Staatshilfen mindern, aber das Risiko für die Steuerzahler ist damit nicht aus der Welt geschafft und der Vorteil der systemrelevanten, mit einer Staatsgarantie versehenen Institute im Wettbewerb müsste über eine spezielle Prämie abgegolten werden. Sicher gilt es zu bedenken, dass die schweizerischen Regelungen aufgrund unserer spezifischen Bedingungen strenger sein müssen als die internationalen Standards und dass die Aufblähung unseres Bankensektors um das Dreifache seit Mitte der 1990er Jahre bis 2006, gemessen an der Summe aller Bankaktiven im Verhältnis zum BIP unseres Landes, fast allein durch das Wachstum des Auslandgeschäfts der Grossbanken verursacht worden ist. Auf160


Grossbanken: Too big to fail

wand und Ertrag der Auslandaktivitäten müssten langfristig und kritisch betrachtet und gerechnet werden; weder für die UBS noch für die CS scheinen sich die grossen US-Investitionen wirklich gelohnt zu haben. Jedenfalls darf es nicht nochmals geschehen, dass unsere Steuerzahler für riskante Casinospiele geradestehen müssen, die amerikanische Investmentbanker im Solde, im Auftrag und auf Risiko der Schweizer Grossbanken inszenieren. Wenn UBS und CS wirklich zu gross und für unsere Volkswirtschaft zu bedeutend sind, als dass man sie in einer Krise fallen lassen könnte, dann handelt es sich bei ihrer (Inland-)Tätigkeit um einen Service public. Geld und Zahlungssystem sind für unser modernes arbeitsteiliges Leben mindestens so wichtig geworden wie etwa Energieversorgung, Verkehrsleistungen, Bildung oder Sicherheit. Wenn Markt und Wettbewerb die Versorgung mit Geld und die Funktion des Zahlungssystems nicht garantieren können, muss der Staat eingreifen. Ähnliche Überlegungen lagen schon dem Bankengesetz von 1934 zugrunde, aber wir haben das in der Zwischenzeit mit Erfolg wieder verdrängt. Der Staat kann den Service public entweder in eigener Regie ausüben (Verstaatlichung) oder ihn mit Hilfe von Regeln und Auflagen sowie von Garantien gewährleisten. Er kann seinen Gewährleistungsauftrag auch erfüllen, indem er dafür sorgt, dass unsere Volkswirtschaft nicht mehr länger auf Gedeih und Verderb vom Schicksal zweier Grossbanken abhängig bleibt. Dazu müsste man versuchen, Parallelstrukturen aufzubauen. Von komplexen Systemen wissen wir, dass ihre Krisenfestigkeit und Stressresistenz (Resilienz) nicht zuletzt davon abhängen, ob im Notfall immer mehrere gangbare Problemlösungswege und Entscheidungsmöglichkeiten offenstehen. Warum erhält die Postfinance noch immer keine 161


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

eigene Banklizenz? Sie verfügt über beinahe ebenso viele Filialen wie alle Schweizer Banken zusammen und könnte damit das Zahlungssystem weitgehend absichern. Auch kleinere oder mittlere Banken im Verbund (wie beispielsweise swisscanto) oder als Zusammenschluss (wie etwa die Valiant Bank) können für bisherige Grossbankkunden attraktive Alternativen bilden, wie die Entwicklung seit der Krise deutlich zeigt. Ebenfalls genossenschaftlich organisierte Institute wie die Raiffeisenbanken sind interessante Modelle, die sich wesentlich besser als Aktiengesellschaften auch anderen Werten verpflichten können als nur dem kurzfristigen monetären Gewinn. Viele Kunden suchen heute, durch die Finanzmarktkrise verunsichert und vom brutalen Gewinnstreben angewidert, alternative Anlagemöglichkeiten, die mehr der Nachhaltigkeit verpflichtet sind, aber unsere Behörden hüten sich davor, solche Gedanken und Modelle zu propagieren. Obwohl sie aus Gründen der systemischen Sicherheit ein Schrumpfen gerade der Grossbanken begrüssen müssten, wünschen sie offenbar keine Alternative zur bisherigen Struktur des Finanzplatzes und stellen sich stramm hinter die Kurzfristinteressen unserer zwei Finanzgiganten.

Wie weiter in der Finanzwirtschaft? Auch wenn wirtschaftliche Indikatoren seit der zweiten Hälfte 2009 eine Besserung versprechen, in der Geschichte gibt es kein Zurück. Es wird nie wieder so werden wie vor der Finanzmarktkrise. Das müssen auch die Interessenvertreter des Status quo bedenken. Die Politik hat sich kraftvoll zurückgemeldet (in der Schweiz weniger stark als andernorts). Der Staat musste praktisch überall die Finanzwirtschaft vor 162


Wie weiter in der Finanzwirtschaft?

dem drohenden Untergang retten. Fast schien es, als wäre er allein als Akteur noch vertrauenswürdig. Aber man darf sich keinen Illusionen hingeben; seine Macht bleibt prekär und man sollte ihn nicht überfordern. Der Konjunkturaufschwung wird wohl nur sehr harzig vonstattengehen, und die weltweit akkumulierten Defizite beengen den staatlichen Handlungsspielraum und erhöhen die Inflationsgefahr. Aber die Politik hat dann eine echte Chance, wenn sie die internationale Zusammenarbeit fördert, dem Standortwettbewerb die mörderische Spitze bricht und zu diesem Zweck auch den Zentralbanken die nötigen Kompetenzen einräumt, um globale Systemprobleme auch wirklich systemisch anzugehen. Vielleicht kann es dann in Zukunft gelingen, die gefährlichen Blasen, die auf Finanzmärkten wohl immer auftreten werden, frühzeitig und wirksam zu bekämpfen. Wenn Joe Ackermann von der Deutschen Bank, Goldman Sachs und andere grosse Bankhäuser 25 Prozent und mehr Rendite schon wieder für realistisch halten, so hat das vermutlich verschiedene Gründe. Die Börsen erfahren eine Korrektur nach oben, weil sie 2008 zu stark nach unten tendierten, und die Investmentsparte kann beim «Aufräumen» nach der Krise ihr Wissen, ihre Arbeitsleistung und ihr Beziehungsnetz noch besser versilbern als vorher schon. Goldene Zeiten ermöglicht aber auch das traditionelle Kreditgeschäft, solange sich die Banken bei den Zentralbanken fast gratis refinanzieren können. Dass die Nationalbank die Zinsen tief halten will, hat konjunktur- und währungspolitisch gute Gründe; ob es aber ihre Aufgabe ist, dem Bankensystem Extraprofite zuzuschanzen, verbleibt als kritische Frage zur Architektur unseres Geld- und Kreditsystems im Raum. Das Banking muss sich in Zukunft stärker auf die Politik ausrichten, denn der Druck auf Wirtschaft und Staat zu ei163


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

ner engeren Zusammenarbeit wächst überall. Auch die Zukunft des Finanzplatzes Schweiz hängt mehr als früher von der Finanzmarktpolitik ab. Das wissen die Banken. Sie setzen nun vermehrt auf die Qualität des Swiss Banking, was zweifellos vernünftig ist, denn die Beihilfe zur Steuerflucht kann kaum mehr lange Grundlage florierender Geschäfte bilden. Diesen Sinneswandel belegen auch die «Strategischen Stossrichtungen für die Finanzmarktpolitik der Schweiz» vom Dezember 2009, die der Bundesrat unter Mitwirkung der Finanzwirtschaft erarbeiten liess; sie wollen den internationalen Finanz- und Steuerfragen durch die Einrichtung eines Staatssekretariats mehr Gewicht beimessen und unterstützen nun endlich eine Weissgeldstrategie. Dass es so lange ging, bis der Paradigmenwechsel eine Chance hatte, dafür tragen das politische System und die politische Kultur unseres Landes die Hauptverantwortung. Und wenn wir aus dieser tragisch-komischen Geschichte wirklich etwas lernen wollen, müssen wir sie kritisch untersuchen. Ich bin klar der Überzeugung, dass eine PUK (Parlamentarische Untersuchungskommission) das angemessene Instrument ist, um die Schnittstellen zwischen den Instanzen und zwischen Staat und Wirtschaft so auszuleuchten, dass die heiklen Dimensionen unserer politischen Identität offen auf den Tisch kommen. Die Finanzkrise 2008 zeigt auch deutliche Verwerfungen im weltpolitischen Gefüge, deren Folgen vorerst nur schwer abschätzbar sind. Wenn im globalen Kreditsystem wesentlich mehr Geld geschaffen wird, als der realen Wertschöpfung und der Wirtschaftsentwicklung angemessen wäre, dann müssen diese überschüssigen Geldwerte durch zyklische Krisen oder/und durch eine langfristige Inflation (vor allem der Leitwährung USD) irgendwann wieder vernichtet wer164


Wie weiter in der Finanzwirtschaft?

den. Das hat gewaltige Umverteilungen zur Folge, die auf die Dauer politisch wohl kaum so hingenommen werden können. Wie lange wollen und können China, Europa und die OPEC-Staaten den amerikanischen Superkonsum auf Pump als recht problematischen Motor der Weltkonjunktur noch mitfinanzieren? Oder sind die Gläubiger letztlich von den Schuldnern abhängig im Sinne des Bonmots «Wenn ich der Bank eine Schuld von 1000 Franken nicht zurückzahlen kann, habe ich ein Problem; wenn ich aber eine Schuld in Milliardenhöhe nicht begleichen kann, hat die Bank ein Problem»? Ob die USA als heute immer noch grösste und produktivste Volkswirtschaft stark an Einfluss verlieren werden, ist fraglich. Wirtschaftliche und politische Konflikte aber sind absehbar; namentlich eine stärkere Blockbildung erscheint für die Zukunft als sehr wahrscheinlich. Man kann nur hoffen, dass die Schweiz und ihre Behörden die neuen Machtverhältnisse, die geopolitische Lage und die sich daraus ergebenden eigenen Chancen und Risiken realistisch einzuschätzen wissen und dass sie die Kraft finden, die aussen-, wirtschafts- und ordnungspolitischen Hausaufgaben, die uns aus diesem Wandel der Welt erwachsen, noch rechtzeitig anzupacken. Diese Überlegungen machen deutlich, dass die Finanzkrise nicht eine Ereigniskrise, sondern eine umfassende Struktur- oder gar Systemkrise darstellt. Eine Systemkrise lässt sich nicht mit Symptomtherapie bewältigen, sondern allein mit Systemwandel überwinden. Notwendig sind echte Änderungen an den Strukturen und in der Kultur des Wirtschafts- und Finanzsystems. Nur punktuelle Interventionen im System, wie sie bisher ergriffen wurden, reichen dazu nicht aus. Es braucht auch substanzielle Änderungen am System, damit die Finanzwirtschaft nicht in wenigen Jahren wieder 165


Finanzmarktkrisen und Krise der Finanzmarktpolitik

in eine ähnliche Krise taumelt. Das ist auch die Einschätzung mancher intimer Kenner der Finanzindustrie wie etwa George Soros (2008). Die Finanzmarktkrise bietet aber auch eine einmalige Chance für den kulturellen Wandel des Systems mit dem anspruchsvollen Ziel einer ökologisch und sozial nachhaltigen Sicherung unserer Zukunft. Die heutige Krise betrifft nicht allein das finanzwirtschaftliche System; sie ist Auslöser für Krisen in andern Subsystemen und Ausdruck für eine Krise der Grundlagen des Systems bis hin zu Wachstumswirtschaft, Staatspolitik und Kultur. Diese Zusammenhänge sollen im Folgenden etwas ausgeleuchtet werden.

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5. Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

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elche Art von Krise durchleben wir heute? Ist die Finanzmarktkrise ein Ereignis, ein reiner Zufall oder hat sie strukturelle, gar systemische Ursachen? In welch grössere, auch theoriegeschichtlich interessante Zusammenhänge kann man sie einordnen? Vor welchem Hintergrund erhält sie ihre historische und politische Bedeutung? Und welche Möglichkeiten tun sich uns auf, um diese Krise als Chance zu nutzen und im rasanten gesellschaftlichen Wandel eine zukunftsfähige Orientierung zu finden? In der Zeitgeschichte sind die beobachteten Prozesse kaum abgeschlossen und die künftigen Entwicklungen sind meist noch wenig absehbar. Um trotzdem historische Tiefenschärfe zu gewinnen, braucht es eine Einbettung der betrachteten Objekte in einen grösseren Bezugsrahmen. Der Sinn von Ereignissen, auch von Krisen, ergibt sich aus ihren relevanten Kontexten. Um die bisher geschilderten Entwicklungen der Finanzwirtschaft besser zu verstehen und um die mögliche Bedeutung der Finanzmarktkrise zu begreifen, ziehen wir drei wichtige gesellschaftspolitische und sozialwissenschaftliche Diskurse zur Interpretation heran: Es handelt sich dabei um Diskurse über das Wirtschaftswachstum, über die Staatsfunktion und über die ethische Einbindung menschlichen Handelns. Diese Diskurse beleuchten viele von uns behandelte Sachverhalte aus einer grösseren, offeneren Perspektive. Sie liefern Massstäbe für die Beurteilung 167


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

des Geschehens und geben zugleich Hinweise, in welche Richtung die Entwicklung weiterläuft oder durch uns weitergetrieben werden müsste. Die aktuelle Krisenerfahrung kann aber umgekehrt auch diese Diskurse mit neuen Impulsen befruchten. Theorie und Praxis stehen immer in einem dialektischen Bezug. Das gilt es gerade in den Sozialwissenschaften sehr ernst zu nehmen. Erst dann kann sich die intellektuelle Auseinandersetzung mit der sozialen Welt über die Behauptung legitimieren, dass es nichts Praktischeres gebe als eine gute Theorie.

Gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Reintegration Seit der systemischen Wende im Gefolge von Niklas Luhmanns Soziologie deuten viele Sozialwissenschaftler die Entwicklung nach westlichem Muster im Kern als die Geschichte einer äusserst erfolgreichen Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Im Laufe dieses dynamischen Modernisierungsprozesses, der Säkularisierung, Individualisierung und Industrialisierung vorangetrieben hat, sind für verschiedene gesellschaftliche Funktionsbereiche (wie Wirtschaft, Wissenschaft, Gesundheit, Recht, Religion etc.) spezialisierte Systeme entstanden. Diese haben sich immer stärker nach ihren jeweils eigenen Interessen und Rationalitäten entwickelt. Sie haben dabei spezifische Denk-, Sprech- und Handlungsroutinen ausgebildet. Und gerade diese Spezialisierung der Teilsysteme macht die modernen Gesellschaften des westlichen Typs sehr leistungsfähig und äusserst erfolgreich, solange das komplexe Gesamtsystem seine wachsenden Widersprüche produktiv nutzen kann und an ihnen nicht zerbricht. 168


Gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Reintegration

Schwierigkeiten in diesem Ausdifferenzierungsprozess entstehen infolge von starken Asymmetrien und Externalisierungen, wenn einzelne Funktionsbereiche andere dominieren oder systematisch Probleme generieren und diese nicht selber lösen können oder lösen wollen. Solche Widersprüche in einem verkraftbaren Rahmen zu halten und damit die nötige soziale Integration im Gesamtsystem zu sichern, ist nach sozialwissenschaftlichem Verständnis traditionell Aufgabe der Politik, oder besser: des politisch-administrativen Systems. Dieses Teilsystem trifft als übergeordnete Steuerungsinstanz für alle Teilsysteme verbindliche, letztlich auch mit Gewalt durchsetzbare Entscheidungen. Doch die rasch fortschreitende Spezialisierung und Ausdifferenzierung der einzelnen Funktionssysteme sowie ihre je auch internationalen Verflechtungen drohen das politisch-administrative System zu überfordern. Seine Ressourcen reichen nicht mehr aus, um die exponentiell wachsende Komplexität zu bewältigen. Dadurch verliert politische Steuerung mit den herkömmlichen bürokratischen Instrumenten des Nationalstaats rapide an gesellschaftlicher Gestaltungsmacht und an Ansehen. Luhmanns Beobachtungen und seine Betonung des Eigensinns der Subsysteme, ihrer Selbstreferenz und der dadurch ausgelösten gesellschaftlichen Dynamik haben die modernen Sozialwissenschaften tief geprägt. Seine Definition, soziale Systeme bestünden aus Kommunikation, hat die Wirkung eines wissenschaftlichen Ohrwurms, ist aber auch deutlich auf Kritik gestossen. So hat Maturana, der grosse Biologe und Erkenntnistheoretiker, von dem Luhmann das Konzept der Autopoiesis, also der Selbsterzeugung und Selbsterhaltung lebender Systeme, übernommen hat, kritisch angemerkt, dass sich Kommunikation nicht ohne die 169


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

Menschen völlig selber erzeuge. Die Soziologie Luhmanns hat denn auf ihren mehreren Tausend Seiten auch etwas eigenartig Blutleeres; sie findet ohne konkrete Menschen statt. Aber Luhmann hat auf zentrale Steuerungsprobleme der modernen Gesellschaften aufmerksam gemacht, die man vorher viel zu wenig zur Kenntnis nahm. In einer eher politisch-juristischen Betrachtungsweise ging man früher meistens davon aus, dass Verfassung, Gesetze und Organigramme eins zu eins die Realität abbilden. Lehrbücher für den Staatskundeunterricht und manche juristische Fibel zeugen noch heute von solch idealistischem Verständnis der politisch-sozialen Welt. Doch die Politikanalyse hat uns in den letzten Jahrzehnten mit ihrer kritischen Evaluation der Implementierung politischer Programme eine ganz andere Wirklichkeit gespiegelt. Denn moderne Gesellschaften haben keine klar hierarchische Makrostruktur, in der eine Top-downFührung erfolgreich wirken könnte. Die einzelnen Subsysteme lassen sich in ihrer Entwicklung nicht so einfach von aussen oder gar von «oben» steuern. Man kann sie von aussen höchstens anstossen oder irritieren, aber wie sie darauf reagieren wollen, entscheiden sie selbst. Luhmanns Lehre lieferte die Begründung für diese neue Erkenntnis und präsentierte damit zugleich eine Legitimation für die Befreiung von Wirtschaft und Gesellschaft aus den immer noch recht autoritären Fängen des politisch-administrativen Systems. Die Entlarvung der Eigeninteressen dieses Subsystems und namentlich seines Personals, der Politiker und Bürokraten, war ein bedeutender Emanzipationsschritt, und die Generation der 68er spielte bei dieser Relativierung der Politik eine grössere Rolle, als manchen heute vielleicht lieb sein kann. Die Demaskierung von politischer Macht, die sich auf Recht, 170


Gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Reintegration

Gleichheit und Demokratie berief und ihre Herrschaft dennoch stark in den Dienst von Teilinteressen stellte, hat den Autoritätsverlust des Staates eingeleitet und damit später auch den raschen Aufstieg von Neoliberalismus und Finanzmarkt-Kapitalismus ermöglicht. Aber das Pendel ist zu stark in Richtung Autonomie der Subsysteme ausgeschlagen. Und Luhmann hat nicht zugeben wollen, dass er mit seiner Dogmatisierung der Selbstreferenz jeder politischen Steuerung der Gesellschaft eine Absage erteilte. Vielleicht wollte er das auch. Ich kann mich an eine Diskussion mit Luhmann in den späten 70er Jahren an der Uni Bern erinnern, wo er uns – etwas salopp ausgedrückt – weiszumachen versuchte, der Staat solle doch auf ökologische Programme verzichten, denn die beiden Systeme Politik und Wirtschaft würden sich ohnehin nie verstehen. Wahrscheinlich hatte er damit nicht einmal so Unrecht. Aber er lenkte die Aufmerksamkeit auch von der wachsenden Dominanz der Wirtschaft weg, die damals schon deutlich spürbar war. Dass Geld nicht nur das Medium der Wirtschaft ist, sondern für alle Subsysteme eine grosse Bedeutung hat, weil sie und ihre Institutionen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft ebenfalls finanziert werden müssen, fand er unerheblich, und unseren Einwand, die Finanzen würden das Gesamtsystem dominieren, liess er nicht gelten. Damit lag Luhmann falsch. Die Wirtschaft hat in der Tat ein Übergewicht erhalten, vor allem seit der Entwicklung der Finanzwirtschaft zum alles dominierenden Subsystem in den westlichen Gesellschaften. Aber diese Dominanz wird mehr und mehr prekär, selbst für die (Real-)Wirtschaft, die heute von der Finanzindustrie genauso abhängig ist wie Staat, Wissenschaft oder Kultur. Die Finanzmarktkrise macht das deutlich. Sie ist jedoch zugleich ein Bifurkationspunkt dieser Ent171


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

wicklung: also ein Höhepunkt und Wendepunkt, der es heute – im Gegensatz zu früher – möglich macht, mit relativ kleinem Aufwand eine neue Dynamik und Stossrichtung zu erwirken. Zwei Widersprüche sind in diese Entwicklungen hin zu einer Bifurkation involviert: zum einen der Kampf der Systeme Politik und Wirtschaft um das Primat, der sich im letzten Vierteljahrhundert erst zugunsten der Wirtschaft zu entscheiden schien, jetzt aber – mit der Finanzmarktkrise – plötzlich wieder als zukunftsoffen gelten kann. Zum andern die Kolonisierung der kulturell tradierten Lebenswelt (Habermas), also jener Basis des alltäglichen Zusammenlebens in Familien und anderen Gemeinschaften, deren Sinn nicht allein mit expliziten Zwecken definiert werden kann, sondern immer wieder neu kommunikativ erarbeitet, durch unser Handeln erprobt und wechselseitig bestätigt werden muss. Auch dieser personalen Lebenswelt zwingen die expansiven Systeme Politik und Finanz/Wirtschaft ihre Rationalitäten auf, und sie können durch ihre «Währungen» Macht und Geld die Kolonisierung bis zu Burnouts und Sinnkrisen treiben. Mit den Finanzmarktturbulenzen erhalten wir jetzt eine Chance, diese beiden expansiven, zweckrationalen Systeme wieder etwas zurückzudrängen, um Raum für die kommunikativ geprägte Lebenswelt und für eine Steuerung über Prozesse der Sinngebung zurückzugewinnen. Fazit: Es gibt also so etwas wie Kommunikation zwischen den Subsystemen. Und diese Kommunikation könnte das zentrale Thema der Zukunft werden: Wie finden sich die Subsysteme auf einer gemeinsamen Linie, die ihren Dynamiken je Raum lässt, ohne die Zukunft des Ganzen zu gefährden? Und wie könnten wir ohne hierarchische Steue172


Gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Reintegration

rung eine positive Entwicklung des Gesamtsystems bewirken? Wie sähe eine gegenüber dem Gesamtsystem verantwortungsvolle Selbststeuerung der Subsysteme aus? Die Wirtschaft müsste sich Ziele setzen, die eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen. Das wird wohl nur gehen, wenn die Politik mitdiskutiert, ja, mitsteuert und einen entsprechenden ordnungspolitischen Rahmen vorgibt, der die bisher externen Kosten in die Prozesse internalisiert und in den Produktepreisen abbildet. Aber der Staat sollte damit nicht die Vorherrschaft anstreben und – wie im alten Etatismus schon einmal gehabt – alles bürokratisch ordnen oder gar selber machen wollen. Deshalb braucht es wohl (in einer Anlehnung an die «Potenzen» in Jakob Burckhardts «Weltgeschichtlichen Betrachtungen») als eine Korrekturinstanz die Kultur, repräsentiert nicht zuletzt durch die Zivilgesellschaft und ihre vielfältigen Bewegungen in Richtung einer modernen Verantwortungsethik (Max Weber), die der (Einzel- und Gruppen-)Verantwortung für die Folgen von Entscheidungen (oder Nichtentscheidungen) wieder wesentlich grösseres Gewicht beimisst als die heute im Schwange stehende Gesinnungsethik. Hier muss sozietales Lernen stattfinden, das neben den Organisationen auch die informellen Netzwerke erfasst und die Gesellschaft als Ganze ändert. Und hier wird letztlich auch über die Zukunft der Moderne entschieden, nämlich darüber, ob der schöne frühbürgerliche Traum der Liberalen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nach 200 Jahren ausgeträumt ist (PostModerne) oder ob wir diesen Traum, auf unsere heutige Welt mit ihren Risiken und Komplexitäten adaptiert, wieder neu erfinden können (Neo-Moderne)?

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Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

Moderne und Modernisierungsdiskurse Was heisst Moderne? Was heisst Modernisierung? Die Modernisierungsdiskussion der Nachkriegsjahrzehnte, die einem ungebrochenen Fortschrittsglauben verpflichtet war und in amerikanisch geprägter Unbekümmertheit gleichsam nur technisch den besten Weg in die ideologisch vorgegebene Zukunft zu eruieren suchte, hat seit dem grossen Strukturbruch der 1970er und dann vor allem in den 1980er Jahren einer merklichen Desillusionierung und einer teilweise gar resignativen Stimmung Platz gemacht. «Das Ende der Zuversicht» betitelt eine historische Analyse den Umbruch (Jarausch 2008). Seither steht die Moderne selbst, stehen ihre optimistischen Zukunftsbilder und ihr Schicksal als Epoche auf dem Prüfstand, und es wird auch schon ihr Ende besungen. Die politischen und spezialisierten wissenschaftlichen Diskurse, welche die Modernisierungsdiskussion der Nachkriegszeit ablösten, haben sich ähnlich wie die gesellschaftlichen Subsysteme weitgehend ausdifferenziert und verselbständigt. Sie sind in den je sich als dafür zuständig fühlenden Subsystemen monopolisiert und in den Fachwelten der Wissenschaft nach den Regeln der Kunst «diszipliniert» worden. Die Finanzmarktkrise ist eine Herausforderung und kann eine Chance sein, diese einzelnen Diskurse in interdisziplinären Anstrengungen wieder zusammenzubringen. Die drei Diskurse, die wir hier auswählen und für die Verortung der Finanzmarktkrise heranziehen, rufen geradezu nach einer solch interdisziplinären Zusammenschau. Wenn wir sie in ihren Überschneidungen darzustellen versuchen, werden wir um gewisse Wiederholungen nicht herumkommen. Diese drei Diskurse behandeln zen174


Moderne und Modernisierungsdiskurse

trale Probleme der Modernisierung und drehen sich um folgende Fragen: a) Die Frage nach dem Wirtschaftswachstum (ökonomischer Diskurs): Die wissenschaftliche und politische Wohlfahrtsdiskussion hat eine Einengung auf das quantitative Wachstum erfahren. Man glaubt heute, nur das, was sich monetär messen lasse, sei von Bedeutung und alles, was einen monetären Ausdruck finde, sei auch wirklich bedeutsam. Damit bleiben Fragen nach der Nachhaltigkeit, d. h. nach sozialer Gerechtigkeit und ökologischem Gleichgewicht, aussen vor. Wachstum ist im Kapitalismus zwar nötig, aber nicht in x-beliebiger Höhe und kaum um jeden Preis. Zu hohes und zu rasches oder sehr einseitig verteiltes Wachstum kann hohe Folgekosten für Gesamtwirtschaft und Gesellschaft bewirken. Umgekehrt werden qualitative, systemische Fragen immer wichtiger, ja, sie sind sogar überlebenswichtig geworden. Heute stehen Bestandsprobleme des kapitalistischen Wirtschaftssystems im Vordergrund, das hat gerade die Finanzmarktkrise deutlich werden lassen. Für die Überlebensfähigkeit komplexer, lebender Systeme sind Innovationsfähigkeit und Stressresistenz (sog. Resilienz), also die eher «weichen» Elemente, mindestens so bedeutsam wie Effizienz alsAusdruck «harter» Zahlen. Deshalb muss das allein auf Quantifizierbares fixierte Wachstumsdenken relativiert und um qualitative Aspekte ergänzt werden. Nicht nur Wohlstand, gemessen am Bruttoinlandprodukt unserer Volkswirtschaften, sondern auch Wohlfahrt, Lebensdienlichkeit und Nachhaltigkeit sind die Werte, die das Wirtschaften erst legitimieren. Sie erfordern den Einbau von Kriterien der Sozial- und Umweltverträg175


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lichkeit sowie von Kriterien der Gerechtigkeit, auch einer globalen und intergenerativen Gerechtigkeit, in die heute einseitig durch finanziellen Gewinn dominierten Anreizsysteme. Dabei könnte sich das Geldsystem als die veritabelste Knacknuss erweisen. Also stellt sich die Frage neu: Welches Wachstum brauchen wir in Zukunft? b) Die Frage nach der Staatsfunktion (politischer Diskurs): Die Debatte um mehr oder weniger Staat hat die letzten Jahrzehnte geprägt. Das ist politisch eine attraktive, aber ökonomisch eine falsche Zuspitzung! Die Überwindung dieser ideologischen Fixierung im Sinne einer dialektischen Synthese von Etatismus und Neoliberalismus wäre heute angesagt: Es geht dabei nicht um die Dichotomie von Markt oder Staat. Wir brauchen beides. Es geht auch kaum um die Frage von mehr oder weniger Staat als Rahmen der Marktwirtschaft; es geht vielmehr um eine bessere, um eine systemisch wirksamere Politik! Der Staat kann nicht alles selber und erst noch besser machen. Die Politik muss deshalb die anderen Akteure mit in die Steuerungsprozesse einbeziehen, gerade wenn sie die qualitativen Ziele ernst nehmen will. Denn Nachhaltigkeit und Lebensdienlichkeit erfordern eine aktive Partizipation von Wirtschaftswelt und Zivilgesellschaft beim Erarbeiten der ordnungspolitschen Konzepte und namentlich bei einer wirksamen, differenzierten Umsetzung politischer Programme. Dabei dürfen sich die Behörden allerdings nicht zu Gefangenen der betroffenen Interessen machen, die sie zu beaufsichtigen haben. Das wird bei differenzierten Problemlösungen nicht immer einfach sein. Für 176


Moderne und Modernisierungsdiskurse

eine vernünftige Zukunftsgestaltung ist eine kompetente, an systemischen Einsichten orientierte, wirksame Regulierung von Märkten wichtiger als der Streit um mehr oder weniger Staat. Also stellt sich die Frage neu: Welche Staatsfunktion brauchen wir in Zukunft? c) Die Frage nach der Moral unseres Handelns (kultureller Diskurs): Wenn der Staat nicht alles regeln soll und kann und quantitatives Wachstum nicht das geeignete Kriterium für nachhaltige Wohlfahrt ist, braucht es neue Ansätze für eine dezentrale Steuerung des sozialen Handelns. Unsere Gesellschaft ist so komplex geworden, dass eine Top-down-Steuerung bis in alle Details (die wir ohnehin nicht wünschen möchten) unmöglich geworden ist. Je komplexer ein System, desto wichtiger wird es, in die Entscheidungsprozesse auch das dezentral verteilte Wissen und Können einzubeziehen. Jedes Individuum sollte selber spüren und überlegen können, wie es handeln soll. Gerade in komplexen Situationen muss man sich aber, bei aller Konzilianz im Einzelfall, an relativ einfache Grundprinzipien halten können. Ein Bild soll diesen Gedanken veranschaulichen: Hohe Verkehrsdichte bewirkt bei einer ampelbestückten Kreuzung notwendigerweise Stau mit all seinen negativen Folgeerscheinungen. Mit einem Kreiselvortritt könnte der Verkehr besser im Fluss bleiben, vorausgesetzt es gelten klare Regeln und die Verkehrsteilnehmer üben ein Mindestmass an Sportlichkeit und Anstand. Früher war es die kulturell vermittelte Moral, die die Individuen in soziale Traditionen einband und ihrem täglichen Handeln Orientierung gab. Aber die Wirt177


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schaftsentwicklung hat diese Traditionen aufgeweicht. Religionen und Moral bewirken höchstens noch ein schlechtes Gewissen; auf ihre Macht, das Handeln zu leiten, ist kaum mehr Verlass. Es braucht vermutlich eine Art kommunikativer Neufassung des Kant'schen kategorischen Imperativs, eine neue, der systemischen Sichtweise verpflichtete Ethik, die diskursiv erarbeitet werden müsste. Denn die aktuellen Turbulenzen auf den Finanzmärkten widerspiegeln nicht nur eine übliche Modernisierungskrise, die gleichsam technisch zu bewältigen wäre; sie geben einer tiefen Krise der Moderne Ausdruck, die auch nach einer kulturellen Neuorientierung, nach einer neuen kommunikativen und verantwortungsethischen Einbindung der Individuen in die Gesellschaft verlangt. Also stellt sich die Frage neu: Welche Ethik brauchen wir in Zukunft? Der hier verwendete Diskursbegriff kann den hohen philosophischen Ansprüchen eines Habermas oder eines Foucault wohl kaum genügen. Aber er lässt sich doch vom gleichen Grundgedanken leiten: Wir konstruieren unsere Welt, und hinter dieser sprachlichen Konstruktion scheinen immer auch die realen Machtverhältnisse durch (Foucault); doch jeglicher Diskurs gibt auch der Hoffnung auf eine argumentative Auseinandersetzung Ausdruck, bei der das bessere Argument eine Chance hat, zur Einsicht aller beizutragen (Habermas). Es handelt sich im Folgenden um wichtige sozialwissenschaftliche Diskurse über die gesellschaftliche Entwicklung, die unsere Gegenwart prägen, aber gleichzeitig auch um politische Debatten, die unsere Gegenwart transzendieren wollen und neue Möglichkeiten für die Zukunft aufzeigen. Ich will nicht behaupten, dass die hier 178


Ökonomischer Diskurs: Nachhaltiges Wachstum

resümierten Gedanken eine kompakte Lösung aller in der Finanzmarktkrise aufgeworfenen Probleme darstellen. Solch ein Anspruch wäre vermessen und würde dem Ziel nicht gerecht, eine echte Auseinandersetzung um unsere Zukunft in Gang zu bringen. Es geht vielmehr um eine Art «existentialer» Interpretation sozialwissenschaftlicher Positionen, dies in Anlehnung an Bultmann und die dialektische Theologie, die ihre Bibelexegese unter das Motto stellte: «Was geht mich eigentlich die Frage an?» Will heissen: Die hier präsentierten Thesen sind Problemlösungsvorschläge, die sicher hinterfragt und relativiert werden müssen. Aber hinter diesen Antworten scheinen Fragen auf, die uns etwas angehen, weil wir sie noch nicht befriedigend gelöst haben. So verstanden als Anstoss zu einer breiten Debatte, könnten die drei Diskurse der Finanzmarktkrise in der Schweiz und über unser Land hinaus einen historischen Stellenwert zuweisen, der mehr als nur das Finanzsystem im engeren Sinne betrifft.

Ökonomischer Diskurs: Nachhaltiges Wachstum Die Wirtschaft gilt spätestens seit dem Merkantilismus als wichtige Treiberin des gesellschaftlichen Wandels. Liberalismus und Industrialisierung des 19. Jahrhunderts haben diese Tendenz noch verstärkt und die moderne Globalisierung vorbereitet. In seinem epochalen Werk «The Great Transformation» (1944) hat Karl Polanyi den Wandel von der Agrargesellschaft zu einer Marktgesellschaft beschrieben, in der sich die Wirtschaft verselbständigt und das Streben nach Gewinn sowie die Maximierung des Eigennutzes dominie179


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ren. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs hat Polanyi den Kapitalismus und die Herausbildung von Märkten für die drei Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Geld als den folgenschwersten Umbruch und als ein Drama für die Geschichte der Menschheit dargestellt. In der Nachkriegszeit hellten sich die Perspektiven für die Kapitalismusinterpretation auf. Nach einem Vierteljahrhundert der Krisen, der nationalen Abschottung und der zerstörerischen Kriege, die die technische Innovation und die Organisationseffizienz noch förderten, setzte 1945–48 auf tiefem Niveau ein rasches Wachstum ein, das im Westen zu drei goldenen Jahrzehnten führte. Historisch einmalig waren nicht nur die hohen Wachstumsraten, sondern auch ihre positiven Auswirkungen auf das tägliche Leben der Menschen. Das Wirtschaftswachstum garantierte genügend Arbeitsplätze, eine intakte Sozialpartnerschaft und soziale Sicherheit für viele. Man könnte von einem Kapitalismus mit Klassenkompromiss, von einem neokorporatistischen Grundkonsens auf Basis des Wachstums oder schlicht von sozialer Marktwirtschaft sprechen. Entscheidend war die breite Teilhabe am Fortschritt in Form von Konsum, Bildung und Öffnung der Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für Mitglieder fast aller Schichten, bevor noch die negativen Folgen des Wachstums in Form von Ressourcenverschleiss, Belastung der Umwelt, Zersiedelung der Landschaft und sozialer Desorientierung sichtbar wurden. Diese drei Jahrzehnte des Westens, von Hobsbawm (1995) als das «Goldene Zeitalter» beschrieben, haben sich dem kollektiven Gedächtnis wie der Traum einer möglichen «immerwährenden Prosperität» (Burkart Lutz, 1984) eingeprägt, die dann aber doch nur von relativ kurzer Dauer war. 180


Ökonomischer Diskurs: Nachhaltiges Wachstum

Schon in den 1960er Jahren machten sich erste Schwierigkeiten wie Überhitzung der Konjunktur und Währungsprobleme bemerkbar. Anfang der 1970er Jahre regten sich erstmals Zweifel, ob das historisch einmalige Wachstum der Nachkriegszeit noch von langer Dauer sein könne oder bald an seine selber produzierten Grenzen stosse (vgl. MeadowsBericht an den Club of Rome, 1972, und Schumachers «Small is Beautiful», 1973). Dann kamen die Ölkrise, der Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods und eine gewaltige Rezession, die das ganze Wirtschaftssystem grundlegend veränderten. Es gab zwar schon bald wieder Wachstum, aber nie mehr mit so hohen Raten wie zuvor, und dieses Wachstum blieb prekär, war mit den Methoden des Keynesianismus kaum steuerbar und vor allem: Es garantierte weder Arbeitsplätze noch soziale Sicherheit. Zudem wurden jetzt sukzessive auch die negativen Folgen des Wachstums sichtbar: die ökologische Überlastung des Raumschiffs Erde mit seinen endlichen Ressourcen einerseits und die Überforderung des Staates durch immer teurere Infrastrukturleistungen und durch Folgeschäden des Marktversagens andererseits. Der konjunkturelle Einbruch von 1973/74 markierte zugleich einen strukturellen Umbruch der westlichen Gesellschaften mit spürbaren sozialen und politischen Folgen. Die industrielle (Massen-)Produktion nach fordistischem Muster verlor gegenüber den Dienstleistungen an Gewicht, Informationen und Wissen gewannen mehr und mehr an Bedeutung: «Die nachindustrielle Gesellschaft» (Daniel Bell 1973) kündigte sich an. Gleichzeitig bewirkten die frei flottierenden Währungen einen Globalisierungsschub, insbesondere für die Finanzwirtschaft. Sie konnte sich aus der engen (national-)staatlichen Kontrolle befreien und profi181


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

tierte von einer zunehmenden Kommerzialisierung und Monetarisierung der Gesellschaft sowie von den Möglichkeiten der neuen Informationstechnologie. Aber bald zeigten Wachstum und Wohlstand auch ihr anderes Gesicht: die «Risikogesellschaft» (Ulrich Beck 1986), die nicht nur massive technologische und ökologische Gefährdungen aufweist, sondern dafür verantwortlich gemacht wird, dass der «Arbeitsgesellschaft» (Claus Offe 1984) die Erwerbsarbeit und dem Sozialstaat das Geld auszugehen drohen. Beck hat mit seinem Buch dem Lebensgefühl eines ganzen Jahrzehnts, wenn nicht einer ganzen Generation Ausdruck verliehen. Das «Waldsterben» war in aller Munde, und kurz vor dem Erscheinen des Bestsellers erschütterte der Reaktorunfall von Tschernobyl den Glauben an die Technologie. Beck griff geschickt auch neue Fragestellungen auf, die den traditionellen Links-rechts-Gegensatz der Industriegesellschaft brüchig erscheinen liessen und die politische Szene neu aufmischten. So viele Widersprüche wurden thematisiert, dass der Aufstieg des Finanzmarkt-Kapitalismus fast unbemerkt vonstattenging. Die Gewichtsverlagerung von der Real- zur Finanzwirtschaft seit dem Ende der fixen Wechselkurse hat nicht nur der Globalisierung Vorschub geleistet. Die Ausbreitung des neuen, amerikanisch dominierten «Shareholder-Kapitalismus» (Rappaport 1994) führte zur Krise des (rheinischen) Stakeholder-Kapitalismus, der die Sozialpartnerschaft und die sozialpolitischen Verpflichtungen der Wirtschaft noch hochzuhalten versuchte. Doch infolge wachsender und frei flottierender Kapitalmassen gerieten Wirtschaft und Management in ihrer Performance nicht zuletzt seitens der institutionellen Anleger zunehmend unter Druck. Kurzfristiges Profitdenken bis hin zum «Heuschreckenkapitalismus» und 182


Ökonomischer Diskurs: Nachhaltiges Wachstum

harter nationaler Standortwettbewerb waren die Folgen. Bald dominierten Geld- und Finanzsysteme die Realwirtschaft; sie kolonisierten im Zeichen eines seichten, von Thatcher und Reagan symbolisierten Neoliberalismus zunehmend auch die Politik und alle andern Funktionssysteme sowie die ganze Lebenswelt. Von Klassenkompromiss und sozialer Sicherheit war kaum mehr die Rede; Profitstreben und drastische Sparprogramme brachten die Arbeitskraft und ihre Reproduktion unter Druck. Die Expansion des «Produktionsregimes Finanzmarkt-Kapitalismus» (Windolf 2005, Deutschmann 2008) seit den 1990er Jahren hat diese Widersprüche globalisiert und verschärft. Erfolg erzeugt neben Gewinnern gleichzeitig auch Verlierer, das bleibt wohl die Quintessenz wirtschaftlicher Entwicklung der letzten Jahre. Regionale und soziale Divergenzen wachsen, Arbeitslose und die «flexiblen Menschen» (Richard Sennett 1998) im Arbeitsprozess nehmen als Personen Schaden; Unternehmen, ganze Branchen und Länder werden finanziell ruiniert. Die Finanzwirtschaft kann an der Börse im Nu entwerten und zerstören, was die Realwirtschaft während Jahren mühsam aufgebaut hat. Politisches Gegensteuer ist sehr schwierig, die Nationalstaaten sind bisher dazu kaum mehr fähig gewesen; eine Korrektur dieser gefährlichen Trends müsste vor allem von internationalen und transnationalen Institutionen kommen, aber die schienen bis vor kurzem noch zu schwach dazu. Diese Überlegungen machen deutlich, warum die Verunsicherung durch die Krise weit über die Finanzwirtschaft hinaus reicht, gleichzeitig aber auch mit Hoffnungen auf substanzielle Änderungen verbunden ist. Das ganze Wirtschaftssystem ist von der Krise betroffen. Viele Menschen lassen sich nach den gemachten Erfahrungen mit der Aussicht 183


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auf irgendwelches neues Wachstum im Bankensektor nicht mehr abspeisen. Ihre Fragen lauten viel radikaler: Welches Wachstum brauchen wir? Müssten wir neben der Quantität nicht vor allem über die Qualität des Wachstums, und das heisst auch: über Nachhaltigkeit und Verteilungsgerechtigkeit, sprechen? Welche Ordnungspolitik könnte die Anreize endlich so setzen, dass Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung nicht zerstörerisch, sondern lebensdienlich funktionieren? Business as usual kann nicht die Lösung sein, denn ohne Struktur- und Systemänderungen stossen wir rasch wieder an Grenzen. Ich sehe zumindest sieben Bereiche, in denen sich solche Grenzen oder Widersprüche bemerkbar machen, über die wir vertieft nachdenken müssen. (1.) Ökologie: Die Umweltfragen wurden in den 1970er Jahren virulent. Spätestens seit dem Brundtland-Bericht 1987 rückte das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung der Wirtschaft in den Fokus. Mit dem Buch «Kurswechsel», verfasst für die Konferenz von Rio 1992, hat Stephan Schmidheiny dieses Ziel auch in Unternehmerkreisen salonfähig gemacht. Man weiss heute klar: Eine Ökologisierung der Wirtschaft ist technisch möglich und dringend nötig. Aber echte Fortschritte sind wohl nur dann zu erwarten, wenn (Lateral-)Schäden nicht mehr externalisiert werden dürfen, sondern sich in den Preisen niederschlagen und Kostenwahrheit herrscht. Man muss die ökologischen Ziele gewissermassen in die wirtschaftliche Rationalität übersetzen. Aber das Postulat der Nachhaltigkeit verkommt immer mehr zu einer Sonntagspredigt der Schönwetterökonomie; zuerst müssten, so sagt man, die Gewinne erarbeitet werden und das sei nur mit hohem Wachstum möglich. Hans-Christoph Binswanger, ein Pionier der ökologischen Ökonomie, ist die184


Ökonomischer Diskurs: Nachhaltiges Wachstum

sen Fragen in seinen jüngsten Publikationen (2006, 2009) nachgegangen und kommt zum Schluss, dass es im Kapitalismus in der Tat einen ökonomischen Zwang zum Wachstum gibt, denn das Betriebskapital verlangt nach einem Gewinn, um den Zins für Risiko und Konsumverzicht abgelten zu können. Fällt das Wachstum der Weltwirtschaft unter eine gewisse Grenze (nach den Schätzungen Binswangers 1,8 %), so wird nicht mehr investiert und eine negative Spirale kommt in Gang. Auf (bescheidenes) Wachstum kann also nicht verzichtet werden, solange wir noch in einer kapitalistischen Wirtschaft leben. Aber dieses Wirtschaftswachstum sollte sich am langfristigen Durchschnitt der ökonomischen Entwicklung und damit am Bevölkerungswachstum und am Produktivitätsfortschritt orientieren, muss die Ressourcen schonen und könnte in Zukunft vermehrt auch im virtuellen Bereich stattfinden. (2.) Gerechtigkeit: Es ist Mode geworden, sich vom Postulat der Gerechtigkeit zu verabschieden (Gentinetta/Horn 2009); in einer reicher werdenden Gesellschaft sei Gerechtigkeit ein unbezahlbarer Luxus, vor allem wenn sie sich an der Gleichheit orientieren sollte. Dieser zunächst absurd wirkende Gedanke mag in der Tendenz sogar stimmen; er bringt die kapitalismuskritische Einsicht auf den Punkt, dass die Vermögen der einen nur so lange mit Zinszahlungen bedient werden, als andere ökonomisch bereit oder sozial gezwungen sind, sich zu verschulden, ihre Schulden zu verzinsen und entsprechend ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Aber aus systemischer Sicht scheint mir diese Logik nicht ganz ungefährlich. Das Gerechtigkeitsempfinden ist eine zentrale Grundlage für die demokratische Legitimation der Verhältnisse und notwendig für loyales Verhalten gegenüber dem 185


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System. Die «Elastizität» dieses Empfindens scheint beschränkt. Durch die Globalisierung haben wir im Nord-SüdGefälle die kritische Grenze längst überschritten, weshalb uns der «Hass auf den Westen» (Jean Ziegler 2009) entgegenschlägt. (Dass die Chinesen das wirtschaftliche Potenzial Afrikas sanfter nutzen als wir, wage ich allerdings zu bezweifeln.) Auch die Prekarisierung inmitten satter Gesellschaften des Westens ist schwer zu ertragen, weil sich die Betroffenen noch stärker ausgegrenzt fühlen als in armen Ökonomien. Vielleicht wird hier aber in Zukunft ein garantiertes Mindesteinkommen möglich, das die oft schwierige Gratwanderung zwischen unwürdigen Kontrollen und falschen Anreizen im Sozialwesen ablösen könnte. (3.) Arbeit: Ein garantiertes Mindesteinkommen wäre auch eine Voraussetzung dafür, dass mittelfristig eine «Tätigkeitsgesellschaft» (Eder 2000) die heutige Arbeitsgesellschaft mit ihrer Prägung durch die bezahlte Erwerbsarbeit und normale Erwerbskarrieren ablösen könnte. Diese Chance ist aber leider geringer als die Gefahr, in einer «Zweidrittelsgesellschaft» (André Gorz 1983) zu landen, in der Arbeit als Privileg gilt, sozial nicht ausgegrenzt zu werden. So oder so ist eine deutliche (Re-)Humanisierung der Arbeitswelt von Nöten. Einerseits im Hinblick auf die schon heute absehbaren Folgen des demografischen Bruchs im Westen, der qualifizierte Arbeitskräfte zur Mangelerscheinung werden lässt, anderseits basiert die künftige Produktionsweise noch stärker auf implizitem und explizitem Wissen und ist auf den Aufbau von Human- und Sozialkapital angewiesen. Die Arbeit der Zukunft verlangt mehr Eigenständigkeit und Kreativität, braucht mehr intrinsische Motivation durch Sinn und Flow. Partizipatives Führungsverständnis, Employability mit 186


Ökonomischer Diskurs: Nachhaltiges Wachstum

Hilfe permanenter Weiterbildung und die Stärkung der sozialen Kompetenzen in Projekten und (multikulturellen) Teams sind angesagt, um den Leistungswillen in einer wissensgeprägten Weltwirtschaft zu erhalten. Die jetzt überall entstehenden Expertenkulturen sind schwierig zu führen; man muss ihr grosses Potenzial zur Selbstführung und zur verantwortungsvollen Zusammenarbeit aktivieren (Wunderer 2001). Das erfordert eine «Balance» von weichen und harten Faktoren (Kobi 2008); zu grosse Lohnspreizungen und als Willkür empfundene Führungsentscheide sind da eindeutig kontraproduktiv. (4.) Märkte: Für den Einzelnen realisiert sich die Marktwirtschaft am Arbeitsplatz und im täglichen Konsum. Sie tritt ihm als Betriebswirtschaft im Unternehmen in Erscheinung, in dem er Arbeit gefunden hat, und in Form des Preisgefüges auf Konsumentenmärkten. Überhöhte Preise, z. B. infolge verhinderter Parallelimporte, bewirken eine Glaubwürdigkeitslücke ähnlich wie überhöhte Kaderlöhne. Wenn man die Leute glauben machen will, das 100-fach höhere Gehalt ihres obersten Chefs sei allein durch den Markt diktiert, muss man sich nicht wundern, dass die Marktwirtschaft einen schlechteren Ruf hat, als sie verdient. Auch das Sinken des verfügbaren Lohnes oder gar Entlassungen trotz positiver Betriebsergebnisse machen die Wirtschaft unglaubwürdig und zerstören das Vertrauen als Grundlage für die Reputation und für die Komplexitätsreduktion auf Märkten. Dieser enge, auch emotionale Nexus von Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft verlangt viel mehr Beachtung; bereits zeichnet sich bei wachsender Kaufkraft und als Folge höherer Transparenz durch breiteres Wissen eine «Moralisierung der Märkte» (Nico Stehr 2007) ab. 187


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(5.) Menschenbild: Diese Bedeutung des Vertrauens in Führungsprozessen und auf Märkten zeigt auch, wie schief das Menschenbild der neoklassischen Ökonomie ist. Der Homo oeconomicus ist eine überholte Denkfigur. Sie wird zwar immer noch zur Legitimation von Spitzengehältern herangezogen. Aber man fragt sich dann besorgt, warum unsere obersten Wirtschaftsbosse, die uns in die Zukunft führen wollen, in der Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit offenbar im zweituntersten Stockwerk auf der Maslowschen Bedürfnis- und Motivationspyramide steckengeblieben sind und der Illusion erliegen, mit Geld liessen sich höhere Werte kaufen. Psychoanalytiker würden wohl Charaktere vermuten, die gewisse Phasen ihrer Kindheitsgeschichte nicht ganz ausleben konnten. Zur Erklärung wirtschaftlichen Verhaltens reichen die rationalen Kalküle jedenfalls nicht aus; die renommierten Ökonomen Akerlof und Shiller zeigen in ihrem jüngsten Buch (2009), wie sehr wir von irrationalen Motiven gesteuert sind – für Beobachter von Finanzmärkten eigentlich nichts Neues. Die Verhaltensökonomie und die Glücksforschung müssen stärker auf Anthropologie und Psychoneurologie zugehen, um zu verstehen, dass wir Menschen im Kern offenbar auf gelingende Beziehungen hin angelegte Wesen sind, die ihre Zufriedenheit und ihr Glück aus positiver sozialer Resonanz beziehen (Bauer 2006). Auch phylogenetisch hat gerade die Schwäche der menschlichen Individuen im Überlebenskampf zur Herausbildung ihrer grössten Stärken geführt: der Sprache als Mittel zur Verständigung, zu einer erfolgreichen Kooperation sowie zur kreativen Konstruktion unserer sozialen Welt. Der Sozialdarwinismus mit seiner Betonung der Konkurrenz («Survival oft the fittest»), die ja auch im Neoliberalismus eine zentrale Rolle spielt, steht im klaren 188


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Widerspruch zur modernen Interpretation darwinscher Erkenntnisse (Sarasin 2009). Ob sich die soziale Welt allerdings als eine demokratische Ordnung realisieren kann und muss, fragt man sich angesichts zunehmender Tendenzen in Wirtschaft und Politik zum Nepotismus und zu einer gewissen Re-Feudalisierung der Gesellschaft, die im Kern einer (selbstverschuldeten?) Unfreiheit Ausdruck gibt. (6.) Geld- und Kreditsystem: Wirtschaftspolitisch noch weit fragwürdiger als die Abstraktion des Menschen von seinen Trieben und Empfindungen ist wohl die Tabuisierung des Geldwesens durch die neoklassische Ökonomie. Deren Basis bildet die Gleichgewichtstheorie des Äquivalententauschs, also eine Fiktion von Gerechtigkeit beim Tausch auf Märkten, die nicht erkennen will, dass die moderne Geldwirtschaft eine ganz spezifische Wachstumsdynamik und damit auch neue Ungerechtigkeiten, also gerade kein Gleichgewicht, in die Wirtschaftsprozesse bringt. Geld als universales Mittel für den Tausch und die Wertaufbewahrung bildet diese Prozesse nämlich nicht nur ab, es bewegt sie auf eine ganz spezielle Weise: Mehr oder weniger Geld hat Auswirkungen auf Konsum, Produktion und Gewinn. Erstaunlicherweise hat die jüngste Finanzmarktkrise, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine grundlegende Kritik am herrschenden Geldund Kreditwesen ausgelöst. Es ist offenbar immer noch selbstverständlich, dass die Geldschöpfung, auf die eine Wachstumswirtschaft angewiesen ist, dem privaten Bankensystem und dessen Kreditgewährung völlig überlassen bleibt. Reales Wachstum und Gewinnsteigerung sind von einer Ausdehnung der Geldmenge abhängig; nur wenn dem System ständig neues Geld – meist in Form von Bankkrediten – zufliesst, kann ein gesamtwirtschaftlich positiver Gewinnsaldo 189


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

entstehen, der die Zinsen für das Fremdkapital zu bezahlen und Reingewinne zu erzielen erlaubt. Umgekehrt fördert eine zu rasch wachsende Geldmenge Inflation und Blasenbildung. Diese heiklen wirtschaftlichen Entscheidungsprozesse steuern die Zentralbanken nur indirekt über die Refinanzierung der Banken. Schon in den 1930er Jahren hat Irving Fisher, angesehener Ökonom aus Chicago, eine staatliche Kontrolle der Geldschöpfung verlangt (Fisher 2007), und heute steht diese Forderung nach einer 100 %- oder Vollgeldreform mit einem Geldschöpfungsmonopol bei den Zentralbanken erneut im Raum (etwa Huber/Robertson 2008). Auch weitere kritische Postulate, die zum Teil aus der Gedankenwelt des Freiwirtschafters Silvio Gesell (1862– 1930) weiterentwickelt worden sind, fordern einen bewussteren, transparenten Umgang mit der bisher vernachlässigten Geld- und Zinsproblematik und empfehlen eine gezielte Verwendung von alternativen oder «komplementären Zahlungsmitteln» (z. B. Bernard Lietaer 2002; vgl. auch die «Zeitschrift für Sozialökonomie»). (7.) Demografie: Die Probleme des Geld- und Kreditsystems werden künftig vor allem in den überalterten und gesättigten Volkswirtschaften drastisch zunehmen. In seinen späten Schriften hat John Maynard Keynes gewarnt, dass das grösste Problem der Zukunft die wachsende Zahl der Rentiers werden könnte, für die eine humane Form der Euthanasie gefunden werden müsse (vgl. Deutschmann 2008, 175 ff.). Je mehr Leute von den Zinsen ihrer angehäuften Vermögen (und von den Renten kapitalisierter Versicherungen) leben wollen, umso mehr braucht es auch ehrgeizige und aufstiegswillige Wirtschaftssubjekte, die den Mehrwert erarbeiten, den die Rentiers abschöpfen können. In Westeuropa 190


Ökonomischer Diskurs: Nachhaltiges Wachstum

wird die Demografie dieser Art von Rollenteilung schon bald ein Ende setzen, vielleicht etwas verzögert durch die Immigration, aber verschärft durch den Sozialstaat. Überalterte und gesättigte Gesellschaften brauchen einen gebändigten Kapitalismus, der Arbeit und Konsum, Zins und Gewinn, Investition und Produktion in ein dynamisches und nachhaltiges Gleichgewicht bringt. Wie kann ein gesundes Verhältnis für Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen gefunden werden? Sollten die Versicherungswerke stärker über Umlage- oder Kapitalisierungsverfahren finanziert werden? Muss der Staat Auflagen machen bezüglich Ökologie? Soll er die Energie- und die Rohstoffpreise verteuern? Kann Wertschöpfung künftig mehr in virtuellen Räumen stattfinden? Sicher ist nur, dass wir uns langfristig auf tiefere Zinssätze einstellen sollten, sonst werden wir noch und noch spekulative Entwicklungen auslösen und die Bildung immer grösserer Blasen fördern, die dann beim plötzlichen Platzen zu gewaltigen Umverteilungen und Ungerechtigkeiten führen. Der Finanzmarkt-Kapitalismus war nur scheinbar eine Lösung für eine Wachstumswirtschaft mit überdimensionierter Vermögensbildung; Finanzmarktkrisen haben die überhöhten Gewinnerwartungen periodisch jeweils wieder korrigiert. Aber auch über die Demografie holt uns das Problem einer tendenziell fallenden Profitrate früher oder später ein. Die skizzierten Problemfelder machen deutlich, dass beim Wirtschaftswachstum nicht nur die quantitative Dimension eine Rolle spielt. Die qualitativen Aspekte, vor allem die Nachhaltigkeit und die Verteilungsgerechtigkeit, müssen mit bedacht werden, und zwar nicht nur als ethisches Zubehör, sondern als entscheidende Bestandsprobleme des 191


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

modernen Kapitalismus. Aus einer systemischen Sicht sind Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit keine Schönwetterpostulate, die man umsetzen kann, wenn genügend Gewinn gemacht wird. Sie sind zukunftsnotwendige Ziele und müssen verbindlich gemacht und mit Hilfe einer integrierten Wirtschaftsethik umgesetzt werden. Damit sind Politik und Moral angesprochen: Eine moderne Ordnungspolitik muss die hier aufgeworfenen Fragen klar beantworten und der Wirtschaft einen entsprechenden Rahmen setzen, und die Zivilgesellschaft trägt über ihre Diskurse die Verantwortung mit, dass die ethischen Maximen in die Köpfe und Herzen der Menschen gelangen und im täglichen Handeln auch wirklich Anwendung finden. Ob ein gebändigter Kapitalismus, wie ihn Roger de Weck in seinem Buch «Nach der Krise» (2009) zu Recht fordert, überhaupt machbar ist, bleibt eine interessante Frage, der man sich interdisziplinär und mit vereinten Kräften widmen muss. Viele Menschen sind nach dem Erlebten offen für das Erproben neuer Wege. Und das ist wichtig. Denn ich kann nicht glauben, dass ein Rückfall in den alten Etatismus uns die Lösung bringen würde. Wir brauchen nicht unbedingt mehr Staat, aber wir brauchen eine bessere Politik, die von uns allen mitgetragen wird. Sicher ist, dass diese neue, andere Art von Kapitalismus ohne Stärkung von Politik und Ethik nicht auskommen wird.

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Politischer Diskurs: Marktordnung und Staatsfunktion

Politischer Diskurs: Marktordnung und Staatsfunktion Mit der Finanzindustrie ist das Flaggschiff der neoliberalen Wirtschaft in arge Seenot geraten. Viele grosse Banken mussten durch Staaten und Zentralbanken gerettet werden. Da stellt sich sofort die Frage: Wäre ein Andocken im Hafen des Etatismus eine vernünftige Alternative zu wenig regulierten Finanzmärkten? Die Dichotomie «Markt oder Staat» halte ich kaum mehr für angemessen, um Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Zukunft zu beschreiben. Wir brauchen beides, Markt und Staat, als die zentralen Funktionen der gesellschaftlichen Subsysteme Wirtschaft und Politik. Wer hier zu stark im Schwarz-Weiss-Schema denkt, verpasst all die interessanten Grautöne, die uns in der Entwicklung weiterbringen könnten. Wichtig ist vor allem die ordnungspolitische Frage, wie Märkte verfasst sein müssen und auf welche Weise die gesellschaftlichen Subsysteme Wirtschaft und Politik miteinander interagieren sollen. Im Streit um diese Frage könnte die gegenwärtige Krise doch eine Wende bedeuten. Die letzten zwei Jahrzehnte waren vom Primat des Marktes geprägt. Der Liberalismus schien seit den 1980er Jahren erneut an Attraktivität zu gewinnen, jedenfalls was die Kritik am traditionellen Etatismus betrifft. In Abwandlung eines älteren Dahrendorf-Zitats (wir seien alle zu Sozialdemokraten geworden) könnte man heute sagen, dass wir in den letzten zwanzig Jahren fast alle ein bisschen neoliberal geworden sind. Es ist kaum mehr möglich, Wirtschaftlichkeitsfragen auszuklammern, auch nicht in der Politik und im öffentlichen Bereich. Und das ist gut so, denn seit den 1970er Jahren sind uns die wirtschaftlichen Grenzen unserer Möglichkeiten und die Endlichkeit des Raumschiffs Erde be193


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

wusst geworden. Zu Recht hat die Ökonomie als Wissenschaft vom Umgang mit Knappheitsphänomenen einen dominierenden Platz erobert, und die Fragen nach Ressourceneffizienz, Zielerreichung und möglichen Folgekosten von Produktionsprozessen lassen sich nicht mehr ausblenden. Da gibt es auch kein Zurück in ein industrielles Malochen, vor dem wir – leider mit wenig Erfolg – die aufsteigenden Volkswirtschaften zu warnen versuchen. Und es gibt auch kein Zurück zum alten Neokorporatismus, der befangen bleibt in den traditionell repräsentierten organisierten Interessen. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaften ist viel weiter gediehen, als dass sie sich noch im traditionellen Klassenschema abbilden liessen. In modernen Gesellschaften übersteigt etwa die Zahl der Teilhaber von Investmentfonds jene der eingeschriebenen Gewerkschaftsmitglieder bei weitem. Die extrem divergierenden Interessen von Industrie und Finanzwirtschaft, von Exportindustrie und Binnenwirtschaft, von Grossbetrieben und KMUs lassen sich kaum mehr auf den gleichen Nenner bringen. Eine relativ autoritäre Form der Interessenaggregierung, wie sie im Neokorporatismus üblich und nützlich war, ist heute nicht mehr möglich, und ein Etatismus mit dem Hang zu bürokratischen Verkrus-tungen wäre zu wenig kreativ, um die vielfältigen Chancen der Zukunft zu nutzen. Dennoch kann eine Rückbesinnung auf historisch wichtige Konstellationen den politischen Diskurs um die Staatsfunktion beleben. Seit Aufklärung und bürgerlicher Revolution ist die «Befreiung des Menschen aus (oft selbstverschuldeter) Abhängigkeit» (Immanuel Kant) das politische Programm des Westens. Dabei sind die Deklaration der Menschenrechte 1776 in Amerika, 1789 in Frankreich und 1948 durch die UNO sicher Höhepunkte der Entwicklung, auch wenn wir gerade 194


Politischer Diskurs: Marktordnung und Staatsfunktion

heute die Schwierigkeiten einer Umsetzung in unterschiedlichen Kulturen zur Kenntnis nehmen müssen. Politisch ging es immer um Freiheit im Sinne einer Herrschaft demokratisch legitimierter Gesetze. In der Nachkriegszeit war Politik in westlichen Gesellschaften eine wahre Erfolgsgeschichte der Demokratisierung, des Wiederaufbaus und der Abwehr totalitärer Herrschaft. Aber seit den 1980er Jahren werden Staat und politische Steuerung zunehmend einer radikalen Kritik unterzogen. Gestaltungsfreiraum der Politik und gesellschaftliche Wirkung des Staates sind – im Westen – merklich zurückgegangen; sie haben dem Einfluss der Wirtschaft und der Herrschaft des Geldes Platz gemacht. Der Kapitalismus als privatwirtschaftlich dominierte Gesellschaftsformation hat in seiner historischen Entwicklung verschiedene Ausprägungen hervorgebracht, die dem Staat je unterschiedliche Funktionen zuwiesen. Als Rheinischer Kapitalismus oder Soziale Marktwirtschaft reüssierte im Europa der Nachkriegszeit ein Modell des modernen Kapitalismus mit einem starken Staat dank neokorporatistischer Züge. Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften kooperierten eng mit dem Staatsapparat und beherrschten damit weitgehend die Politik. Im Ergebnis resultierte oft ein stark bevormundender, bisweilen lähmender Etatismus, dessen nationale Enge kaum zur kräftig expandierenden Wirtschaft, zur neu gewonnenen Mobilität und (1968!) zum kulturellen Aufbruch passen wollte. Der Strukturbruch der 1970er Jahre liess die Grenzen nationalstaatlicher Steuerung nach keynesianischen Rezepten erkennen und trieb die öffentlichen Haushalte in tiefrote Zahlen, womit sich der Fokus der politischen Diskussion immer stärker auf die Kritik am Neokorporatismus und am Staatsversagen zu richten begann. Betrachten wir die Entwicklung des Staatsapparats an der 195


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

interessanten Schnittstelle von Politik und Verwaltung im Folgenden etwas genauer: Das Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit war wichtige Voraussetzung für erfolgreiche neokorporatistische Arrangements zwischen Arbeitgeberund Arbeitnehmerverbänden und dem Staat. Die sorgfältig ausgehandelte Politik förderte eine moderne Form von Bürokratie, die demokratische Rechtsstaatlichkeit mit sozialer Wohlfahrt zu verbinden wusste. Auf dieser stabilen legitimatorischen Grundlage fand das politische System lange einen Grundkonsens für die staatliche Steuerung der gesellschaftlichen Dynamik mit Hilfe konditionaler Regelwerke des öffentlichen Rechts. Als das Wachstum in den 1970er Jahren ins Stocken geriet und die gesellschaftlichen Widersprüche nach immer teureren und komplexeren politischen Programmen riefen, zerbrach der neokorporatistische Grundkonsens. In den 80er Jahren stiess die staatliche Steuerung der Gesellschaft auf politischen Widerstand. Die Übernutzung der Ressource Recht (Gesetzesflut), die wiederum viele Rechtsansprüche und nur schwierig finanzierbare Budgetdefizite auslöste, zeigte letztlich auch die ökonomischen Grenzen typisch inputorientierter bürokratischer Verwaltungsführung auf. Damit wurde aber der Anspruch der Politik auf gesamtgesellschaftliche Steuerung überhaupt in Frage gestellt, und die Kritik am raschen Wachstum des Staates wuchs. Eine vielfach überforderte Politik hatte nur wenig Gestaltungskraft mehr; sie befasste sich immer stärker mit sich selbst und weniger mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Als Gegenbewegung zum Etatismus hat sich seit den 1980er Jahren international (mit Thatcher und Reagan) sowie national (mit der FDP-Parole «Mehr Freiheit, weniger Staat») ein ziemlich seichter Neoliberalismus breitgemacht, der den Staat zum eigentlichen Problem der wirtschaftlichen 196


Politischer Diskurs: Marktordnung und Staatsfunktion

und gesellschaftlichen Entwicklung stilisiert und den freien Markt als Universalrezept beschwört. Ganz vergessen scheinen die grossen Denker des Neo- oder besser Ordoliberalismus, die noch Mitte des 20. Jahrhunderts mit guten Gründen einen politisch zu setzenden starken staatlichen Rahmen als unabdingbar für das Gedeihen einer Marktwirtschaft hielten. Der auf Interessen des Finanzmarktes fokussierte Neoliberalismus der 1980er und 1990er Jahre leugnete die wirtschaftlichen Funktionen des Staates, der auf Kernaufgaben der inneren und äusseren Sicherheit zurückgestutzt werden sollte. Diese Staatskritik erschien angesichts bürokratischer und neokorporatistischer Verkrustungen des öffentlichen Sektors nicht ohne Berechtigung. Jedenfalls hat später New Labour kaum eine Reform der Thatcher-Ära rückgängig gemacht. Das neoliberale Modell setzte sich vor allem im angelsächsischen Raum rasch durch und prägte dank eindrücklicher Erfolge der amerikanischen Wirtschaft auch den europäischen Einigungsprozess, obwohl die nationalstaatliche Politik auf dem alten Kontinent noch lange dem bisher bewährten Konzept der sozialen Marktwirtschaft verhaftet blieb. (Auch was die USA betrifft, fragt man heute zu Recht, ob die neoliberale Rhetorik nur die Tatsache verschleiern sollte, dass die US-Konjunktur der öffentlichen und privaten Verschuldung zu verdanken war und damit quasi einem Keynesianismus durch die Hintertür. Aber die Kritik am Wohlfahrtsstaat, am Defizit Spending sowie die Forderung nach rigorosem Staatsabbau wurden in der Ära Reagan sowie Bush Senior und Junior mit grosser Vehemenz vorgetragen, was Ökonomen und Politiker in Europa tief beeindruckt hat.) Die 1980er und (in der Schweiz mit üblicher Stilverspätung erst) die 1990er Jahre waren auch eine Zeit des Auf197


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

bruchs und des Umbruchs im öffentlichen Sektor. Unter dem Label «New Public Management» (NPM) kam weltweit eine stark ökonomisch orientierte Innovation in Gang, die Erkenntnisse der modernen Betriebswirtschaft und eine zielorientierte, auf Effizienz bedachte Führung auch für den öffentlichen Sektor nutzbar machen wollte. NPM könnte als Kniefall des politischen Systems vor der (Finanz-)Wirtschaft und ihrem Marktradikalismus interpretiert werden. Die geforderte Entgrenzung des Marktes sollte nicht nur (nach aussen) die Globalisierung, sondern (nach innen) auch die Privatisierung des öffentlichen Sektors oder doch wenigstens seine organisatorische Kolonisierung vorantreiben. Man könnte NPM aber auch als geschickten Schachzug zur gesellschaftlichen Legitimation des Staates und zur Erhaltung seiner Steuerungsfähigkeit sehen. Jedenfalls hat NPM vielen Verwaltungen und Betrieben im öffentlichen Bereich zu neuem Selbstbewusstsein und sichtbar höherer Professionalität im operativen Geschäft verholfen. Für die Entwicklung des öffentlichen Sektors war NPM die Gelegenheit, das Handeln nicht nur am Prinzip der Legalität, sondern – was längst überfällig war – auch am Wirtschaftlichkeitsprinzip auszurichten. Dass mit dieser Binnenrationalisierung von Staat und Verwaltung oft Ressortegoismen und ein Wuchern von Stäben verbunden waren, soll hier keineswegs geleugnet werden. Auch Controlling als neue Steuerungsphilosophie hat teilweise einer Re-Bürokratisierung Vorschub geleistet, wenn nur Instrumente eingeführt und die kulturellen Prägungen nicht geändert werden konnten; die Bürokratie hat – in den Verwaltungen wie in Grossbetrieben der Privatwirtschaft – einen grossen Magen. Im NPM trafen auch zwei unterschiedliche Rechtsauffassungen, ja, zwei konträre Weltanschauungen aufeinander. 198


Politischer Diskurs: Marktordnung und Staatsfunktion

Ich möchte das an einer Episode illustrieren, die ich vor einem Jahrzehnt selber erlebt habe. Das öffentliche Recht geht von der Maxime aus, dass der Staat und seine Repräsentanten nur genau das tun dürfen, was gesetzlich vorgeschrieben ist. Das private Recht hat die Maxime: Was nicht verboten ist, ist erlaubt. Das gibt natürlich für die Zielerreichung den viel grösseren Handlungsspielraum beim optimalen Einsatz der vorhandenen Ressourcen. Wir versuchten mit NPM eine Verheiratung dieser beiden Prinzipien, indem im neuen öffentlichen Recht innerhalb eines gesetzlichen Rahmens alles gemacht werden kann, was zielführend ist, solange sich mit den direkt Betroffenen keine Konflikte ergeben; im Streitfall würde aber der öffentlich-rechtliche Weg über Verfügung und Beschwerdemöglichkeit offenstehen. Das Bundespersonalgesetz vom 24. 03. 2000 ist nach dieser neuen Philosophie gestrickt: Eine Anstellung kommt über Vertrag zustande, was einen grösseren Spielraum bietet als der Verfügungsweg; eine Entlassung kann aber auf dem Beschwerdeweg aufgehoben werden, wenn sie unrechtmässig ist. So weit so gut. Doch der Teufel liegt oft im Detail: Für die neue Leistungskomponente wollten wir im Gesetz verankern, dass Konflikte zwar vor die nächsthöheren Vorgesetzten gebracht, aber nicht bis vor eine Gerichtsinstanz gezogen werden könnten, um den Führungsprozess zu verstärken und die Chefs von bürokratischen Absicherungsstrategien abzuhalten. Doch das Bundesamt für Justiz legte sich quer; eine Ausklammerung der Leistungskomponente aus der Justiziabilität widerspreche unserer Rechtsstaatsidee und würde auch die EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) verletzen. Dies war allerdings eine Interpretationsfrage, denn die EMRK verlangt nur bei existenziellen Entscheiden (also z. B. einer Entlassung), nicht aber bei mehr 199


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

organisatorischen Entscheiden die Möglichkeit, vor den Richter zu treten. Eine Leistungskomponente, die im Normalfall 5 % des Lohnes nicht übersteigt, sahen wir nicht als existenziell an, und wir konnten den Bundesrat, das Parlament und letztlich auch das Volk in einer Referendumsabstimmung im Jahre 2000 davon überzeugen, diesem neuen Führungsinstrument nicht durch komplizierte Gerichtsverfahren die Kraft zu rauben. Aber die Taliban des Rechtsstaats im Bundesamt für Justiz gaben sich noch nicht geschlagen. Kaum war das Gesetz in Kraft, schmuggelten sie am Personalamt vorbei im Anhang an eine andere Gesetzesvorlage eine Revision durch den Bundesrat, die eine Justiziabilität der Leistungskomponente nachträglich doch noch erzwingen wollte, was aber vom Parlament verhindert worden ist. Die Implosion des Sowjetreichs und die wirtschaftliche Öffnung Chinas erschienen vielen Protagonisten als «Ende der Geschichte» (Fukuyama 1992) in dem Sinne, dass sich die freie Marktwirtschaft nun weltweit und endgültig durchgesetzt habe. Manche Marktfundamentalisten verstiegen sich sogar zur kecken Behauptung, die Märkte könnten sich selbst regulieren, es brauche weder einen ordnungspolitischen Rahmen noch eine sozialpolitische Abfederung, wenn nur Justiz und Polizei das Eigentum zu sichern verstünden. Ungleichheit sei vielmehr der Motor für Aktivität und Wachstum, das wiederum allen zugutekäme, ohne dass der Staat aktiv einzugreifen oder gar Umverteilungen vorzunehmen habe. Dieses extreme Staats-Bashing hielt aber nicht lange an; schon vor der Finanzmarktkrise wurde deutlich, wie wichtig die staatlich garantierte Sicherheit gerade auch für eine globalisierte Wirtschaft ist. Fukuyama hat in einem neueren Buch (2006) das «State-Building» zu einer grossen internationalen Herausforderung erklärt, und selbst in der 200


Politischer Diskurs: Marktordnung und Staatsfunktion

Europäischen Union wäre man heute froh, alle Mitgliedstaaten hielten sich wenigstens halbwegs an die Gepflogenheiten einer vertrauenswürdigen Staatsverwaltung. Der Streit zwischen Management und Bürokratie ist überholt. Heute geht es darum, nach einer Synthese zu suchen, die einer systemischen Sicht der Nachhaltigkeit verpflichtet ist, im Sinne der oft verdrängten Dialektik, die das Positive der Sozialen Marktwirtschaft und das Positive des Neoliberalismus in sich aufhebt und so zu emergenten neuen Lösungen findet. Die heute brennenden Probleme und Defizite weisen über den Managementansatz hinaus auf eine systemische, ganzheitliche Sicht von Gesellschaft, Staat und Politik, wie sie das Governance-Konzept vertritt (vgl. Schuppert 2005a, Hilb 2005 bzw. 2006). Der Begriff «Governance» wird noch recht unterschiedlich verwendet und erscheint schillernd, aber er dreht sich immer um die Einsicht, dass gute Steuerung in unübersichtlichem Gelände nicht nur regel- oder zielorientiert sein darf, sondern über Bürokratie und Managerialismus hinaus die Entwicklung des Umfelds und des Gesamtsystems im Auge behalten muss. Mit Verantwortungsethik und Ausrichtung auf Nachhaltigkeit und Fairness nimmt Public Governance Abstand vom Machbarkeitswahn der Moderne, dem Neoliberalismus und NPM noch weitgehend verpflichtet sind, und zeigt die Notwendigkeit, aber gleichzeitig auch innovative Möglichkeiten einer politischen Steuerung auf. Was den modernen Staat in dieser systemischen Sicht betrifft, so knüpfen die jüngeren Diskussionen an Überlegungen von Helmut Willke (1992, 1997, 2001) an, der die Politik schon seit längerem zu mehr Bescheidenheit, aber auch zu mehr Innovation aufruft und dem modernen Staat eine Moderationsrolle zwischen den gesellschaftlichen Funkti201


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

onssystemen und ihren divergierenden Interessen zuweist. Im Zusammenhang damit stehen Modelle eines «Gewährleistungsstaats» (vgl. etwa Schuppert 2005b), der im Gegensatz zum selber nach ökonomischen Prinzipien produzierenden Staat, wie er dem NPM als Ideal vorschwebt, mehr auf der Metaebene agiert und Politik als Kommunikation zwischen verschiedensten Partnern versteht, welche die Systemund Sozialintegration als eine gemeinsame Herausforderung begreifen. Damit treten neuartige Elemente wie Zivilgesellschaft, Mehrebenenpolitik, Verhandlungssysteme und Netzwerke neben die traditionellen staatlichen Funktionen. Und Politik findet nun auch jenseits des Staates und der traditionellen Parteien statt, zum Beispiel in sozialen Bewegungen und NGOs (Nichtregierungsorganisationen). Interessant ist dabei, dass immer noch viele Hoffnungen für unsere Zukunft auf Politik gerichtet sind, obwohl die Politik doch überfordert scheint. Aber es ist keine hoheitliche, autoritäre Form von Politik, die da eingefordert wird; der Politikbegriff ist bescheidener und gleichzeitig umfassender geworden: Vom politischen Diskurs verlangt man, dass er fast alle gesellschaftlichen Probleme aufgreift, aber von den politischen Institutionen im engeren Sinne erwartet man – wohl zu Recht – kaum mehr, dass sie zu einer Lösung dieser Probleme im Alleingang noch fähig sind. Bürokratie, Management und Governance sind verschiedene Konzepte politischer Steuerung, die in Zukunft miteinander kombiniert und verknüpft werden sollten. Sie stellen unterschiedliche Ansprüche an die Professionalisierung und bieten unterschiedliche Chancen und Notwendigkeiten des Lernens im politisch-administrativen System. Denn sie fokussieren je unterschiedliche Methoden der Formulierung und Lösung politischer Probleme und lassen sich dabei 202


Politischer Diskurs: Marktordnung und Staatsfunktion

von jenen wissenschaftlichen Disziplinen leiten, deren akademisches Rüstzeug die jeweils bevorzugte Konstruktion politischer Wirklichkeit am besten zu rationalisieren vermag. Während beim bürokratischen Modell das öffentliche Recht unbestritten im Zentrum stand und (individuelles, binäres) Anpassungslernen erforderte, ging die Vorherrschaft in der Management-Ära zum Teil an die Betriebswirtschaft verloren, die stärker auf Trial and Error im (organisationalen) Veränderungslernen setzt. Im Governance-Konzept, das auf sozietales und damit systemisches Lernen zielt, sind zusätzlich noch ganz andere Disziplinen und Qualifikationen gefragt: Denn die Steuerung hochkomplexer, dynamischer Systeme erfordert Erfahrung im Umgang mit nichttrivialen Situationen und Empathie für eigensinnige Partner. Es geht um dialektische (Lern-)Prozesse, um sokratische Mäeutik (wer fragt, führt!) und um gemeinsames Generieren von Sinn als wichtiger Voraussetzung für erfolgreiche Kooperationen. Dazu braucht es eine Menge echt interdisziplinären Wissens. Aber noch viel wichtiger als das Wissen ist das Können: Wer komplexe partizipative Lernprozesse beeinflussen will, muss sich auf der operativen und auf der Metaebene gleichzeitig geschickt bewegen können. Soziale, namentlich kommunikative, auch interkulturelle (Medien-)Kompetenz und didaktisches Flair, persönliche Flexibilität, Stärke im Umgang mit Widersprüchen und die Fähigkeit zur kritischen, systemischen (Selbst-)Reflexion heissen die vielen Fertigkeiten, die im Zeichen von Governance und sozietalem Lernen Bedeutung erlangen. Dieses Konzept zeigt, wie wichtig ein gemeinsames Verständnis der Probleme und vor allem eine gemeinsame Sicht der relevanten Kontexte sind. Es weitet den Blick für gesellschaftliche Entwicklungen und zeigt 203


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

neue Möglichkeiten, aber auch die engen Beschränkungen politischen Handelns auf. Damit heilt uns diese Sichtweise von Allmachtsfantasien der Management-Ära und des Neoliberalismus. Bürokratie – Management – Governance (Phasen-/Schichtenmodell) Phase/Schicht

Kern

Umfeld

(Lern-)Verhalten Moderation

Governance

Kultur

Netzwerke

(seit ca. 2000)

Kommunikation

Verhandlungs-

Mediation

Systemische

Sinn

systeme

(Sozietales)

Sichtweise

Wissen/Einsicht

Citizenship

Metalernen

Vertrauen

Partizipation

Portfoliomanagement

Management

Strategie

Märkte

Mitunternehmer

(1980er und

Ökonomie

Kunden

(Organisationales)

1990er Jahre)

Ziel

Klienten

Finale

Geld/Vertrag

Veränderungslernen

Sichtweise

Projekte, Controlling

Bürokratie

Struktur

Hierarchie

Beamtentum

(bis Mitte der

(öff.) Recht

Untertanen

(Individuelles)

1980er Jahre)

Regel

Rechtsunter-

Anpassungslernen

Konditionale

Macht/Befehl

worfene

Stab/Linien-Organi-

Sichtweise

sation, Kontrolle

Hablützel Consulting Bern

01. 07. 2006 / 14.10. 2008

Die abgebildete Tabelle ist wie ein archäologischer Grabungsplan von unten nach oben zu lesen. Governance als jüngste Schicht ruht auf Bürokratie und Management und greift für verschiedene Policies und Projekte auch auf Elemente der älteren Schichten staatlichen Handelns zurück. Public Governance fordert ähnlich wie die Corporate 204


Kultureller Diskurs: Ethik und persönliche Verantwortung

Governance in der Privatwirtschaft zu Reflexion und Entscheidung auf, wer für welche Aufgabe zuständig und mit welchen Kompetenzen ausgestattet wird. Echt zukunftsweisend an dieser neuen Konzeption von Politik ist die systemische, fast etwas spielerische und doch ethische Sicht auf das gesellschaftliche Ganze, verbunden mit gesundem Augenmass und selbstkritischer Bescheidenheit, die Staat und Politik vor einer naiven Überschätzung ihrer eigenen, beschränkten Steuerungsfähigkeiten bewahren. Das politische System – so lautet wohl die Quintessenz – kann allein nicht reüssieren; nur wenn Politik als Kommunikation verstanden wird und in der Zivilgesellschaft fest verankert ist, kann sie die heutigen Probleme vernünftig angehen.

Kultureller Diskurs: Ethik und persönliche Verantwortung Werfen wir noch einen Blick auf die Einbindung der Menschen in diese moderne Wirtschaftsgesellschaft. Die soziale Einbindung in Gemeinschaften und in die Gesellschaft war schon immer vor allem Kulturarbeit. Sie erfolgte lange durch Tradition, durch sozial über Jahrhunderte vermittelte Denk- und Handlungsweisen, die kaum oder nur langsam erodierten. In den letzten Jahrzehnten hat sich die traditionale Orientierung jedoch rapide gelockert. Das Hergebrachte gilt nicht mehr unbesehen, was der individuellen Emanzipation zugutekommt, aber auch soziale Anomien erzeugen kann. Mit der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung eng verknüpft, hat sich in der Nachkriegszeit auch für viele Indi205


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

viduen und Gruppen eine rasch zunehmende Ausdifferenzierung ergeben. Bildung, berufliche Spezialisierung und (Experten-)Wissen, Mobilität und Urbanisierung haben traditionale Ligaturen wie Religion und Familie, aber auch Klassenstrukturen gelockert oder gar aufgelöst und einen Individualismus erzeugt, der als Befreiung aus engen Traditionen empfunden wurde und nur aufgrund einer hochentwickelten Geldwirtschaft möglich war. Gleichzeitig sind aber auch neue Abhängigkeiten und Unfreiheiten entstanden: der Konsum- und Modezwang in vielen Milieus, die «McDonaldisierung» (George Ritzer 1997), die «Medien(Neil Postman 1985) oder Kommunikationsgesellschaft» (Richard Münch 1991, 1995), aber auch die «Erlebnisgesellschaft» (Gerhard Schulze 1992) oder die «Multioptionsgesellschaft» (Peter Gross 1994) erzeugen gerade mit ihren fast unbeschränkten Wahlmöglichkeiten einen Dauerstress, weil sie die einzelnen Menschen laufend vor Entscheidungen stellen, deren Folgen sie kaum abschätzen können. Daraus resultieren Orientierungs- und Integrationsprobleme, die dem Individuum lebenslang eine schwierige «Identitätsarbeit» (Heiner Keupp 1999) abverlangen. Die Freiheit wird in der «asymmetrischen Gesellschaft» (James Coleman 1986) zugleich massiv beschnitten durch die wachsenden Ansprüche zielgerichteter Organisationen, die (mit zum Teil äusserst widersprüchlichen Rationalitäten) die Individuen in schwierige Verstrickungen und neue Abhängigkeiten bringen. Oft erhält man – gerade auch auf Chefetagen – den Eindruck, nicht wir Menschen führten die Organisationen, sondern die Organisationen führten uns. An dieser Abhängigkeit von allerlei Institutionen haben bisher auch das zunehmende (wissenschaftliche) Wissen und der breitere Zugang dazu nicht viel ändern können. Vielmehr zeichnet sich sogar 206


Kultureller Diskurs: Ethik und persönliche Verantwortung

die brandgefährliche Kombination von technischer Modernisierung und religiösem oder kulturellem Fundamentalismus ab, was selbst dem Terrorismus noch Auftrieb geben und einen «Clash of Civilizations» (Samuel Huntington 1996) auslösen könnte. Ein «Ende der Geschichte» (Francis Fukuyama 1992) scheint trotz Ende des Kalten Krieges jedenfalls nicht in Sicht. Die Individualisierung der Gesellschaft kann nicht rückgängig gemacht werden. Das zeigen auch die Studien über den Wertewandel der letzten Jahrzehnte (vgl. Inglehart 1989, 1998 und Klages 2002). Tradition als solche zählt nicht mehr viel, und es wäre müssig, diese Entwicklung nur zu bedauern. Wir sollten vielmehr mit der uns umgebenden kulturellen Vielfalt in eine aktive Auseinandersetzung treten. Dann könnten wir zu einem reiferen Individualismus gelangen, der bewusst auch Traditionen leben und neue Bindungen eingehen kann, ohne sich diesen völlig auszuliefern. Dazu ist nicht nur analytisches, sondern praktisches und damit ethisches Wissen nötig, das die Kraft zur Synthese und zum konstruktiven Design aufbringt. Die Fähigkeit, sein Leben selbstverantwortlich zu gestalten, ist wichtiger als paternalistischer Schutz durch einen überbordenden Sozialstaat. Wir sollten deshalb vermehrt in die Bildung im weitesten Sinne des Wortes investieren. Zu fördern sind vor allem (Meta-)Kompetenzen: mehr Sicherheit im Umgang mit Unsicherheit und im Umgang mit Experten(-systemen), mehr positive Erfahrungen mit Selbstwirksamkeit, mit gelungener Kommunikation und mit einer kooperativen Konstruktion von Wirklichkeit, die unser Denken und Entscheidungshandeln nicht an der «Gesinnungsethik», sondern an der «Verantwortungsethik» ausrichtet. Max Weber hat in seiner berühmten Rede über «Politik als Beruf» (1919) in ganz207


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

heitlich-«systemischer» Sicht (avant la lettre!) gefordert, dass unser Entscheidungshandeln nicht nach unseren hehren Absichten, sondern nach seinen tatsächlichen Folgen beurteilt werden sollte. Wenn wir diese Aufforderung ernst nähmen, würde sich der Weg in eine «Verantwortungsgesellschaft» (Amitai Etzioni 1997) öffnen und eine neue Zivilgesellschaft könnte entstehen, die trotz kultureller Vielfalt Integration anstrebt, Transparenz gewährt und eine aktive, kompetente Einmischung aller in alle sie betreffenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Belange ermöglicht. Die moderne Wirtschaftsgesellschaft, ob sie nun stärker durch den Markt oder durch die Politik gesteuert wird, lässt sich als ein System beschreiben, dessen Rationalität immer wieder neu diskutiert werden muss. Die Sozialwissenschaftler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (insbesondere Max Weber, 1864–1920) haben damals aus ihrer Sicht und mit gutem Grund die Herausbildung der Zweckrationalität für das wichtigste Charakteristikum des Modernisierungsprozesses gehalten. Menschliches Handeln in diesem System sollte deshalb immer rationaler und noch berechenbarer werden. Auf der gleichen Hypothese basiert übrigens auch die moderne Ökonomie als Wissenschaft. Aber Systemkrisen, wie wir sie gerade heute erleben, relativieren diesen Glauben an die wissenschaftliche Rationalität, wie elitär und mathematisch hochgestochen die neuen Modelle (etwa im Risk Management!) auch daherkommen mögen. Vertrauen ist älter als Kalkül. Das Zweckrationale in unserem Denken und Handeln basiert auf viel tieferen Schichten der individuellen und phylogenetischen Entwicklung. Wirtschaft ist nicht nur eine rationale, sondern eine zutiefst kulturelle Angelegenheit, in der auch immer wieder gewisse anthropologische Konstanten durchzuschimmern vermögen. 208


Kultureller Diskurs: Ethik und persönliche Verantwortung

Georg Simmel (1858–1918), zusammen mit Max Weber einer der Begründer der modernen Soziologie, hat in seinem 1900 erschienenen Werk «Die Philosophie des Geldes» die Geldwirtschaft als zentrales Movens der Moderne beschrieben und gezeigt, wie Geld als universaler Wertmassstab – letztlich auch für die Zeit – die Individualisierung und Rationalisierung der Gesellschaft vorangetrieben hat. Er wertet diese Entwicklung durchaus als Fortschritt und Freiheitsgewinn gegenüber den Bindungen und Zwängen traditionaler Gesellschaften. Er stellt aber auch die Frage, ob das Geld durch seine zentrale Funktion als das idealste Mittel der sachlichen, räumlichen und zeitlichen Wertübertragung nicht einen gefährlichen Eigenwert erhält, der den Rationalitäts- und Freiheitsgewinn der Moderne letztlich wieder aufs Spiel setzen könnte. Wenn das Wertmass zum Eigenwert wird, dürfte sich eine brisante Dynamik entwickeln. Diese kritische Frage zur «Doppelrolle des Geldes» (Simmel) ist heute aktueller denn je. Sie beleuchtet auch das Faszinierende am Kapitalismus, dem seine Kritiker selten ganz gerecht werden konnten und der in all den Krisen, die er in den letzten zweihundert Jahren verursacht hat, doch längst hätte untergehen müssen. Simmel verwendet für Kapital bewusst den Begriff «Vermögen» in seiner Doppelbedeutung: als Besitz und als Können, als Möglichkeit, die Welt zu gestalten. Mit Geld in der Brieftasche trage ich gewissermassen den allseits akzeptierten Anspruch mit mir herum, jederzeit alles kaufen zu können und andere für mich arbeiten zu lassen. Aber die Zukunft gehört mir nur insofern, als ich eine Vorstellung, das nötige Geschick und den Willen habe, etwas (Neues) zu verwirklichen. Diese unternehmerische, gleichsam spirituelle oder künstlerische Seite des Kapitalismus findet man in den Lehrbüchern kaum, und nur wenige Ge209


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

lehrte wie Joseph Schumpeter (1950) oder neuerdings auch Christoph Deutschmann (2008) haben sich produktiv damit auseinandergesetzt. Hier öffnet sich die Wirtschaft auch zur Welt der Vorstellungskraft und der Mythen, seien sie irdischer oder gar überirdischer Natur. Simmels Vermutung geht weiter als die These von Max Weber zum religiösen Gehalt des Kapitalismus. Weber liess seine Kapitalisten den Gewinn ihres Wirtschaftens als Zeichen für Gottes Wohlgefallen lesen; für Simmel öffnet das Vermögen den Blick über den Schöpfergott hinaus auf den vermögenden Menschen als den Schöpfer, der die Welt nach seinem Willen und seinen eigenen Vorstellungen gestalten kann. Diese radikale Erfahrung persönlicher Freiheit verleitet indes zu Allmachtsfantasien und kann bis zur Illusion der eigenen Unsterblichkeit übersteigert werden (vgl. Hampe, 2009, 19). In der Debatte über den Vertrauensverlust durch Managerlöhne und Boni in der Finanzindustrie spielen religiöse Motive keine entscheidende Rolle. Die gewundenen ökonomischen Erklärungen dazu wecken den Verdacht, dass es sich hier wohl eher um Rationalisierungsversuche für profane «vormoderne» Motive wie Machtgewinn, Ansehen, Selbstwertgefühl oder Gier handeln könnte, was ja in gewissem Sinne zur «Re-Feudalisierung» unserer Gesellschaft noch passen würde, die einem manchmal das republikanische Blut in den Adern gerinnen lässt. Vielleicht spiegelt sich in diesen Erscheinungen aber auch eine andere anthropologische Konstante, die in Maslows Bedürfnispyramide vergessen ging: das Spiel, das nach erfolgreicher Existenzsicherung als Sinngebung auftaucht, plötzlich zum heiligen Ernst wird und damit auch Suchtstrukturen bedienen kann. Der Begriff des «Casinokapitalismus» wäre dann gar nicht so falsch, und im Sinne des grossen Kulturhistorikers Jan Huizinga hätten 210


Kultureller Diskurs: Ethik und persönliche Verantwortung

wir einen weiteren Beleg für dessen «Homo ludens» gefunden. In seinem Alterswerk (1938) beschreibt er das Spiel als ein zentrales Element der historischen Entwicklung und der Sinnfindung des Menschen. Allerdings ist es immer auch eine Frage der Moral, ob man sich an die Spielregeln hält, und es wird eine zentrale Aufgabe der modernen Ethik sein, die erlaubten Spielfelder besser zu umreissen. Doch woran soll sich eine moderne Ethik halten, wenn sie Spielfelder und Spielregeln definieren will? Die Ideale der Moderne – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, auch in einer modernenFormulierung als politische Demokratie, als Gerechtigkeit durch Chancengleichheit und als mitmenschliche Solidarität – sind brüchig geworden, weil man sie zu oft durch die Mangel der Relativierung gezogen hat. Selbst bei gewissen Menschenrechten sind wir nicht mehr so sicher, was Geltung haben soll: Demokratie oder Religionsfreiheit, kulturelle Eigenart oder Gleichstellung der Geschlechter? Was uns jetzt im Kontakt mit fremden Kulturen bewusst wird, das haben die französischen Poststrukturalisten von François Lyotard über Jacques Derrida bis zu Pierre Bourdieu und Michel Foucault längst erkannt: Der fortschrittsbeseelte Konsens der Moderne, der Planung und Steuerung noch als «social engineering» einer linearen, evolutionären Entwicklung auffasste, hat einer gesellschaftskritischen Sichtweise Platz gemacht, die keine totalisierenden Makromodelle, keine «grossen Erzählungen» mehr kennt, sondern die Zukunft für völlig offen hält und die Selbststeuerung des Individuums in seinem Habitus sowie die Eigenlogiken der verschiedenen sozialen Felder zu beobachten und zu beschreiben versucht. Solch eine radikale Dekonstruktion der Moderne könnte auch Grundlage für eine Rekonstruktion moderner Orien211


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

tierung bilden. Die Post-Moderne hat einen Hang zur Beliebigkeit. Sie kann einen Rückfall in die Prä-Moderne bedeuten, wenn es nicht gelingt, das Anything-goes-Prinzip zu überwinden. Es gibt zwar keinen Ort, von dem aus die ganze Entwicklung der Welt verstanden und zentral gesteuert werden könnte. Doch diese Relativierung bringt uns nicht weiter; bei aller Pluralität müssen wir in unserer täglichen Lebenspraxis laufend Setzungen vornehmen und Bindungen eingehen. Aber diese dürfen nicht unhinterfragbar sein wie in religiösen oder autoritären Systemen; sie sollten im Gegenteil (im Sinne der Erneuerung des «evolutionären Humanismus», vgl. Schmidt-Salomon 2006) bewusst einer offenen Diskussion und ihren Argumenten ausgesetzt werden. Auch die gesellschaftlichen Akteure könnten ihre Beziehungen zu den sie umgebenden andern Kulturen und Teilrationalitäten im Sinne einer «transversalen Vernunft» (Welsch 2002) nicht hierarchisch und autoritär, sondern argumentativ und kommunikativ neu gestalten. Habermas würde solch ein Vorgehen wohl als Deliberation in kommunikativer Offenheit bezeichnen. Oder um das Bild des Kreiselverkehrs wieder aufzugreifen: Es reicht nicht, wenn die Fahrer sich an die Regeln halten; sie müssen sich auch gegenseitig verständigen, sich Zeichen geben und sich vergewissern, dass die Zeichen richtig verstanden werden. In Ergänzung des kategorischen Imperativs von Kant, dass unser Handeln jederzeit als Vorbild für andere taugen soll, müsste man dann zusätzlich versuchen, seine Einsichten und Absichten zu erklären und sie in einer offenen Diskussion auch mit Leuten zu testen, die anderer Meinung sind, um mit ihnen gemeinsam zu neuen Einsichten zu gelangen und neue Fragestellungen zu generieren.

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Selbstreflexive zweite Moderne

Selbstreflexive zweite Moderne Die Moderne mit ihren Idealen – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – ist «ein unvollendetes Projekt» (Habermas). Wir sind uns heute ihrer Verheissungen nicht mehr so sicher wie weiland die Protagonisten der Aufklärung. Weder besteht die Gewissheit, dass die Ziele wirklich erreicht werden können, noch sind die Rezepte klar, die bei wachsender Komplexität Erfolg verheissen. Die meisten Analysen der Gegenwart zeichnen ein recht pessimistisches Bild der Lage; sie sehen wichtige gesellschaftliche Basisinstitutionen der Moderne wie Erwerbsarbeit, soziale Integration und demokratische Öffentlichkeit in einer Krise. Die soziale Kohäsion ist ernsthaft in Frage gestellt, und sie kann mit traditionellen Rezepten, die «mehr des Gleichen» empfehlen, nicht gesichert werden. Das Problem liegt für viele Beobachter nicht in der mangelnden Steuerungsfähigkeit des Staates, sondern in der schwindenden Steuerbarkeit der modernen Gesellschaft, verursacht durch die Ausdifferenzierung von Subsystemen, Gruppen und Individuen. Das Projekt der Moderne gefährdet sich mit dieser kaum zu bremsenden Dynamik selbst; Risiken und Chancen sind die zwei Seiten der gleichen Medaille. Während die Post-Moderne das Programm der Moderne in Frage stellt und durch individuelle Überzeugungen ersetzt, hält die «Zweite oder reflexive Moderne» (Beck/ Giddens/Lash 1996), auch «Neo-Moderne» (Schmidt-Salomon 1999) genannt, an diesem Programm fest, weiss aber, dass sich die Ziele nicht von selbst verwirklichen, sondern politisch erstritten werden müssen. Als adäquate Steuerungstheorie für ein hochkomplexes Projekt, das sich seiner selbst produzierten Risiken langsam bewusst wird, kann in ei213


Relevante Kontexte: Wachstum, Staat und Moral

ner «Netzwerkgesellschaft» (Castells 2003) eigentlich nur Selbst-reflexivität in Frage kommen. Governance setzt auf die Vernetzungs- und Selbstorganisationsfähigkeit komplexer Systeme und zielt mit kommunikativer Offenheit und professioneller Moderation aller beteiligten Interessen auf die Wirkung von individuellen, organisationalen und sozietalen Lernprozessen in der Vielfalt der ausdifferenzierten Kon-texte. Selbstreflexivität – nicht mehr Natur, Traditionen, Regeln oder Geld – ist der neue Weg und das neue Ziel der gesellschaftlichen Steuerung in der Neo-Moderne. Im Unterschied zur Selbstreferenz in Luhmanns Soziologie blendet Selbstreflexivität die kritische Prüfung und Relativierung der eigenen Position in einem grösseren Ganzen nicht aus, sondern versucht, auch aus der Sicht der andern zu einem Selbstbild zu gelangen. Dazu ist Kommunikation zwischen den (psychischen und sozialen) Systemen nötig. Um die Position der andern zu verstehen, muss ich mich in sie hineinversetzen können und muss beobachten, aus welcher Perspektive sie mich beobachten. Die neuere Hirnforschung zeigt, dass uns die Evolution mit den so genannten Spiegelneuronen für solche Prozesse bestens ausgerüstet hat. Das Wissen um die Risiken des Modernisierungsprozesses ist eine Chance und eine Herausforderung für den gesellschaftlichen Dialog und eröffnet nicht zuletzt der Politik neue Möglichkeiten der Moderation gesellschaftlicher Kräfte. Diese in der Kommunikation liegenden politischen Steuerungschancen können allerdings nur genutzt werden, wenn der Staat seine Allmachtsfantasien überwindet und eine enge Kooperation mit Wirtschaft und Zivilgesellschaft anstrebt. Die Wirtschaft müsste ihrerseits erkennen, dass ihre Einbindung in die Gesellschaft notwendig ist und ein 214


Selbstreflexive zweite Moderne

politisch zu diskutierendes Problem darstellt. Kooperation ist angesagt; sie kann nur über Kommunikation gelingen. Kommunikation ist unser Radar, um in der sozialen Welt zu bestehen. Diese markante Wende ins Kommunikative zeichnet nicht nur die Auseinandersetzungen um (Public oder Good) Governance aus, sie prägt auch die interessanten Diskussionen der letzten Jahre über den Cultural Turn in den Sozial- und Humanwissenschaften, über die zentrale Bedeutung von Sozial- und Humankapital für die Wissensgesellschaft sowie über die Corporate Governance und den neuen Institutionalismus in der Ökonomie. Das will nicht heissen, dass die Strukturen zur Erklärung und Steuerung menschlichen Handelns ausgedient hätten; aber diese Strukturen entstehen durch Kommunikation, werden über Kommunikation am Leben erhalten und lassen sich in kommunikativen Prozessen auch verändern.

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6. Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

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iese Studie ist von der Frage ausgegangen, ob die Finanzmarktkrise die These bestätigt, die Schweiz sei ein Sonderfall. Die Überlegungen führen zu einer differenzierten Antwort: Die Schweiz hat zwar einen Finanzplatz, den man als Sonderfall bezeichnen könnte. Ökonomisches und politisches Gewicht, extremer Konzentrationsgrad und enge Auslandverflechtung ihrer Finanzindustrie führten dazu, dass die Schweiz und namentlich ihre Behörden auf die jüngste Finanzkrise vielleicht etwas sonderbar reagiert haben. Aber als Land, als sozialer Lebensraum ist die Schweiz heute überhaupt kein Sonderfall mehr. Wirtschaft und Gesellschaft entsprechen immer stärker dem normalen europäisch-westlichen Muster. Was Leben und Arbeiten, Konsum und Freizeitverhalten, Bildung, Wissen, Technik und weitere wichtige Ausdrucksformen des sozialen Raumes betrifft, so unterscheiden sich die entwickelten Länder heute kaum mehr voneinander. Kaelble (2007) hat diesen Konvergenzprozess des ganzen Kontinents in seinem Werk zur Sozialgeschichte Europas seit 1945 eindrucksvoll nachgezeichnet. Auch der klare Erfolg des Finanzmarkt-Kapitalismus sowie die jüngste Finanzmarktkrise illustrieren eigentlich beispielhaft, wie stark sich unser Land dem Mainstream westlicher Entwicklung angeglichen hat. Aber die Schweiz ist auf einem eigenen historischen Pfad zu diesem vorläufigen Ergebnis ihrer Geschichte gelangt. Ihr 217


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

Entwicklungspfad ist unverkennbar geprägt von ihren speziellen politischen Institutionen. Dazu gehört auch, dass die Interessen der Wirtschaft hierzulande schon lange vor dem Finanzmarkt-Kapitalismus über jene von Staat und Politik dominiert haben und dass für das ganz grosse Geldverdienen eine grenzüberschreitende Sichtweise schon immer Voraussetzung war. Woraus soll die Schweiz nun ihre Identität gewinnen, aus dem (oft verklärten) Pfad oder aus dem (eher profanen) Ergebnis ihrer Geschichte? Soll sie sich über ihre historische Einzigartigkeit definieren oder über die Probleme der Globalisierung, die sie mit andern teilt? Kann sie sich aus einer gemeinsamen Verantwortung stehlen, nur weil sie auf einem eigenen Weg zu denselben Herausforderungen gelangt ist, vor denen auch die andern Länder stehen? Sollte sie in Zukunft auf ihrem speziellen Pfad beharren und sich weiterhin in der Rolle des Sonderfalls gefallen, so wird man die Schweiz immer mehr als Trittbrettfahrer und Rosinenpicker wahrnehmen und als Sonderling behandeln, der einfach nicht begreifen will, dass er kaum mehr etwas Besonderes darstellt und deshalb auch keine besonderen Rechte geltend machen kann. Die Schweiz hat die Globalisierung vorangetrieben und überdurchschnittlich von ihr profitiert. Sie hat sich dabei in eine Lage manövriert, die gerade in Krisenzeiten den Anpassungsdruck von aussen akzentuiert, aber gleichzeitig einen hohen Widerstand im Innern provoziert. In solch heiklen Situationen sollte die Politik neue Wege aufzeigen, wie unser kleines Land seine Zukunftsfähigkeit sichern kann. Die Reflexion der historisch gewachsenen Realität muss mit einer Vision realisierbarer künftiger Möglichkeiten zu einer neuen Identität entwickelt werden, die handlungs- und ge218


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

staltungsfähig macht. Die Finanzmarktkrise erscheint dabei als eine grosse Herausforderung, stellt aber auch eine einmalige Chance dar. Wir erinnern uns: Wir haben das Konzept des Finanzmarkt-Kapitalismus als ein idealtypisches Modell im Weberschen Sinne verwendet. Was die Finanzwirtschaft und die Finanzmarktkrise betrifft, so ist die Schweiz gewiss kein Sonderfall. Im Gegenteil: Sie ist ein Paradebeispiel für den modernen Finanzmarkt-Kapitalismus. Am Zürcher Paradeplatz (wo sich früher der Schweinemarkt befand und später die Soldaten paradierten) wird heute vorgeführt, was Herrschaft der Finanzmärkte heisst. Die Schweiz stellt keinen Sonderfall, aber einen Spezialfall dar, insofern dass sie dieses neue Produktionsregime geradezu auf paradigmatische Weise verwirklicht hat. Hier finden sich die zentralen Elemente des Idealtypus gleichsam auf die Spitze getrieben. Im Vergleich zu ihrer Grösse hat kein anderes Land eine so bedeutende, so hochkonzentrierte und so stark mit dem Ausland verflochtene Finanzindustrie wie die Schweiz; kaum ein Land ist global so hoch investiert wie die Schweiz, und kaum irgendwo sonst in der Welt ist es gelungen, die Herrschaft der Finanzmärkte mit so wenig Staat und so wenig Keynesianismus durch die Hintertür (will heissen: mit so geringer Verschuldung der öffentlichen Hand) zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Die neue Form «kapitalistische(r) Dynamik» (Deutschmann 2008) hat in der Schweiz geradezu ideale Bedingungen für die Etablierung des «Shareholderoder Casino-Kapitalismus» vorgefunden. Sowohl wirtschaftlich wie auch gesellschaftlich ist unser Land ein Musterknabe dieser finanzmarktgetriebenen Entwicklung, und es ist von der Krise der Finanzmärkte auch speziell hart getroffen worden. 219


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

Der Finanzmarkt-Kapitalismus hat uns gänzlich in den Mainstream der westlichen Entwicklung eingebunden. Mit einer Ausnahme: der Politik. Denn die Krise hat auch einige Besonderheiten der Schweiz deutlich hervortreten lassen. Was das politische System und das politische Bewusstsein anbelangt, ist die Schweiz wirklich etwas Besonderes. Und die Politik ist etwas Besonderes für die Schweiz. Darin spiegeln sich ihre Wurzeln und ihr historisches Erbe.

Besonderheiten der Schweizer Politik: eine Dekonstruktion In der Finanzmarktkrise zeigte die Schweiz typische Merkmale und Muster ihrer Politik. Sie ist eine hochpolitisierte Gesellschaft mit einem politischen System, das eine breite Politisierung weckt und zulässt, aber sie so geschickt kanalisiert, dass sie zur Selbststabilisierung des Systems beiträgt. Die Politik ist in der Schweiz stark auf ihre Legitimationsfunktion getrimmt; in ihrer Gestaltungsfunktion ist Schweizer Politik aber mehrfach ausgebremst oder gar blockiert. Die Politik wird in der Schweiz heute dreifach kanalisiert, ausgebremst und blockiert: durch den Föderalismus, durch die Neutralität und durch die direkte Demokratie. Alle drei Elemente sind bedeutende Errungenschaften unserer Geschichte. Sie stellen die markanten Stützpfeiler unseres Staates dar und machen aus dem politischen System der Schweiz so etwas wie ein Gesamtkunstwerk. Kaspar Villiger, als Unternehmer und langjähriger Bundesrat mit Wirtschaft und Politik bestens vertraut, hat diesem Gesamtkunstwerk mit seinem Werk «Eine Willensnation muss wollen» (2009) neulich ein schönes Denkmal gesetzt. Das ist durchaus legitim, 220


Besonderheiten der Schweizer Politik: eine Dekonstruktion

falls man von der Politik nicht mehr erwartet, als sie heute zu bieten hat. Wer aber nach politischen Lösungen für die Herausforderungen sucht, vor die sich die Schweiz in Zukunft gestellt sehen wird, muss dieses schöne Denkmal erst mal vom Sockel reissen. Wir brauchen eine Dekonstruktion unserer politischen Mythen. Wir brauchen eine alternative, kritische Sicht auf unsere Tradition. Erst danach kann man an die Geschichten über die Entstehung und Bedeutung unserer Institutionen wieder anknüpfen und jene Elemente, die den Blick auf die künftig nötigen und neu möglich werdenden Entscheidungen nicht verstellen, in ein zukunftsoffenes Narrativ einbringen. Ich versuche, die Ansatzpunkte einer solchen Dekonstruktion unserer Geschichte thesenartig aufzuzeigen. Die Finanzmarktkrise hat deutlich gemacht: Die Schweizer Politik lässt sich stark von Wirtschaftsinteressen steuern. Sie ist wenig innovativ, kaum strategisch. Politik hat eher subsidiäre Funktion. Sie dient vor allem der Unterstützung und Legitimation von etablierten (Wirtschafts-)Interessen. Man könnte fast – in Anlehnung an Clausewitz – behaupten, Politik in der Schweiz sei die Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mitteln. Die Politik hat gegenüber der Wirtschaft wenig Gewicht, vor allem hat sie kaum Eigengewicht. Sie dient in erster Linie den mächtigen Wirtschaftsinteressen. Politik in diesem Lande scheint unfähig zu sein, eine moderne ordnungspolitische Linie aufzuzeigen, umzusetzen und konsequent einzuhalten. In der Theorie gibt man sich zwar liberal, aber die Praxis zeigt, dass im Konfliktfall die handfesten Interessen reüssieren: Der Kartellschutz war lange ein Schutz der Kartelle, nicht ein Schutz des Wettbewerbs und der Konsumenten vor Kartellen; bei Parallelimporten und Cassis-de-Dijon-Prinzip, aber auch bei Produkten von 221


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

Landwirtschaft und Gewerbe wirkt die Landesgrenze immer noch als Schutz für heimisches Schaffen; die Schweiz ist eine Hochpreisinsel mit vielen Extraprofiten geblieben, namentlich auch im mächtigen Pharmabereich. Avenir Suisse als liberaler Thinktank musste sich irgendwann mal zu einer Stellungnahme in der Frage der Parallelimporte durchringen, und die konnte ja nur positiv sein. Novartis hat darauf diesen seriös geführten Club der marktnahen wirtschaftspolitischen Meinungsmacher verlassen; kleinkarierte Grossverdiener zahlen doch nichts an eine Organisation, die Prinzipien über Privilegien stellt. Silvio Borner, Vorzeigeliberaler und Marktfundi der ersten Stunde, der als Basler Professor viele kritische Anstösse gegeben und manche Schüler streng marktwirtschaftlich erzogen hat, wird wohl wissen, warum er sich bei der Diskussion um Parallelimporte auffallend zurückhält. Die Beispiele zeigen, wie in der Schweiz eine vorausschauende, strategische Politik oft verunmöglicht wird. Etwas Neues zu verhindern, ist vergleichsweise einfach im politischen System unseres Landes. Hier macht man Politik vor allem dann, wenn die Wirtschaft allein nicht mehr weiterkommt: Die Affäre der anonymen Bankkonten, die Geschichte des Bergierberichts und das Trauerspiel um den Solidaritätsfonds sind dafür Belege. Sobald sich die Wirtschaft ohne Staat wieder zurechtfindet, werden die politischen Programme fallen gelassen. Der Bundesrat hat die Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg zur Eile angetrieben, solange man glaubte, nach aussen zeigen zu müssen, dass sich die Schweiz auch den dunklen Seiten ihrer Geschichte stellt. Kaum war der Milliarden-Deal als Befreiungsschlag der Grossbanken über die Bühne, hielt man die Marktchancen der Schweiz wieder für intakt und die hohe 222


Besonderheiten der Schweizer Politik: eine Dekonstruktion

Politik zeigte kaum mehr Interesse an einer kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit; der Solidaritätsfonds, der unserem Land ein weltoffenes, soziales Image hätte verpassen sollen, erhielt ein Begräbnis erster Klasse. Nur wenn es gelingt, die machtvollen Eliten auf einen gemeinsamen weltanschaulich-politischen Nenner zu bringen, ist das politische System der Schweiz zu wirklichen Problemlösungen fähig. Das war bis in die 1980er Jahre noch möglich. Durch die Globalisierung ist aber die gemeinsame Problemsicht aufgebrochen und seit 1992 blockiert eine weltanschauliche Polarisierung das politische System. Weil sich die politischen Partner gegenseitig wenig trauen, wird der Staat, den man ja gemeinsam betreibt, möglichst klein und fragmentiert gehalten. Man betrachtet ihn als ein notwendiges Übel. Er ist subsidiär, wächst gewissermassen aus dem privaten Alltagsleben heraus, kann sich aber kaum als etwas Eigenständiges und schon gar nicht als etwas Machtvolles ausbilden. Es sind Bremsen eingebaut, damit das politische System nicht zu mächtig wird. Vor allem der Zentralstaat wird immer wieder zurückgebunden durch einen starken Föderalismus, durch eine starke Gemeindeautonomie und starke ländlich geprägte Eliten. Die Politik ist wenig urban. Städte und Agglomerationen hatten lange praktisch keine Stimme in den Gremien des Bundesstaats und einflussreiche Kreise wollten diesen Zustand möglichst lange bewahren. Als wir für 1995 ein Kolloquium für Führungskräfte des Bundes mit dem Titel «Alarm um die Städte» organisierten, reklamierte der Zuger Regierungsrat, das sei kein Thema, dem man sich auf Bundesebene annehmen dürfe. Noch heute haben die Städte wenig Gewicht, obwohl die grosse Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr auf dem Lande lebt. Man kann von einem Übergewicht der ländlichen 223


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

Interessen sprechen; es gibt zwar praktisch keine Grossgrundbesitzer, aber viele Klein-Agrarier, Bergbauern, Winzer, Milch- und Fleischverarbeiter, die ihren Einfluss überproportional geltend machen können. Ausser der Verfolgung ihrer Eigeninteressen sind sie an politischer Gestaltung aber wenig interessiert und versuchen, Neuerungen zu verhindern. Die Schwäche des Städtischen und vor allem des Republikanischen (im Sinne eines nicht ökonomisch dominierten Liberalismus) ist das Ergebnis des historischen Prozesses, spiegelt aber auch die Kleinräumigkeit unserer Topografie. Kleinheit und Lage des Landes betonen die kleinen Strukturen stärker als anderswo, fördern seine geografische, sprachliche und kulturelle Vielfalt. Wie hält man solch ein Land zusammen? Am besten über «Nichtpolitik», jedenfalls was die Beziehungen zum Umfeld betrifft. Die beste Politik sei keine Politik, dieses Zitat des Appenzeller Ständerats Broger bezog sich vor allem auf die Aussenpolitik. Die schweizerische Neutralität hat seit Jahrhunderten die Funktion, ja keine innenpolitischen (konfessionellen) Konflikte zu schüren. Das ist aber nur die eine, positive Seite der Medaille. Gleichzeitig war die Neutralität immer auch ein Flankenschutz für unsere Wirtschaftsinteressen: aktive Aussenwirtschaftspolitik, aber völlig passive Aussenpolitik, um im Geschäft ja nicht anzuecken! Die Neutralität wurde gar auf die Spitze getrieben: nicht aus gelebter Verantwortung für die Welt, sondern als Gesinnungsneutralität, um eigene Interessen beim Export von Gütern und Diensten geschickt verfolgen zu können, natürlich unter Einschluss von Südafrikageschäft, Osthandel, Waffenexport, auch von Mithilfe zur Steuerhinterziehung und Beihilfe zur Kapitalflucht selbst zweifelhafter Potentaten. Hier geht es um Interessen, nicht um Moral, die dem Geschäft nur scha224


Besonderheiten der Schweizer Politik: eine Dekonstruktion

den könnte. Und diese Art von Neutralität schützen wir mit einer überdimensionierten Armee noch lange über das Ende des Kalten Kriegs hinaus – mit der «besten Armee der Welt» (Ueli Maurer) und mit mehr Panzern als die zehnmal grössere Bundesrepublik. In der militärischen Eigenständigkeit zeigt sich auch ein Hang zur Selbstüberschätzung. Es braucht dazu immer einen äusseren Feind: nach den Nazis die Sowjets, heute im «Wirtschaftskrieg» gegen unsere Banken Europa und Peer Steinbrück. Populistische Reflexe gegen das Ausland kommen politisch immer gut an. Und die Armee gibt den Zusammenhalt im Männerbund. Das Milizsystem wird auf die Politik übertragen, weil die Kleinheit des Landes keine Ausdifferenzierung der Rollen erlaubt. Anstatt eines Trends zur Professionalisierung (zu der auch eine Verantwortungsethik gehören würde) wirkt bei uns der Filz; die kaum gebremste Interessenpolitik dominiert jede Form von Ordnungspolitik. Die direkte Demokratie legitimiert dieses System und hält es – mit Ausnahme der Armee – schlank, vor allem was Staatsfinanzen und Steuersätze betrifft. Aber diese Demokratie ist zu wenig republikanisch. Demokratische Rechte kommen daher wie ein Privileg, nicht wie ein Menschenrecht: Das zeigte sich beim Frauenstimmrecht oder in der Einbürgerungsfrage nur allzu schmerzlich. Aber auch das Minarettverbot macht deutlich, welche Probleme sich ergeben, wenn das demokratische Privileg in Gegensatz zu Menschenrechten gerät. Interessant sind die Vorauswirkungen des Referendums. Seit Neidharts berühmter Studie (1970) über das Referendum wissen wir, dass die direkte Demokratie breite Koalitionen braucht und auf konkordantes Handeln angewiesen ist, um positive Ergebnisse zu erzeugen. Ich habe Willi Ritschards mahnende Worte immer noch im Ohr: «Bei 225


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

uns ist das Volk die Opposition! Regierung und Parlament müssen einen möglichst breiten Konsens anstreben, wenn sie mit ihren Vorlagen in der Volksabstimmung Erfolg haben wollen.» Das war Anfang der 80er Jahre. Seither wissen wir aus Erfahrung: Politische Polarisierung führt zur Blockierung des Systems. Diese Besonderheiten der Schweiz fördern eine an der Oberfläche aktivistische, volksnahe Politik mit vielen Partizipationsmöglichkeiten bis an die Basis, meist im Milizsystem. Sie bewirken aber auch einen schwachen Staat mit vielen Bremsen, wenig Professionalisierung, wenig Ausdifferenzierung und wenig Autonomie. Politik im Konkordanzsystem plant nicht, hat keine eigenen Visionen, führt aus, was die (Wirtschafts-)Eliten wünschen. Die Politik hat zu wenig Macht und auch kaum eigenes Personal. Trotz anderslautender Vorwürfe gibt es in der Schweiz eigentlich keine Classe politique, und wenn es je eine gegeben hat, so war sie deckungsgleich mit der Wirtschafts-, Militär- und Bildungselite. Das Land ist zu klein und die Ressourcen der Politik sind zu beschränkt, um alle nötigen Funktionen voll auszudifferenzieren. Aber Politik in der Schweiz muss gar nicht steuern. Es reicht, wenn sie die jeweilige Interessenkoalition an der Macht legitimiert und den je aktuellen Interessenausgleich unter den für referendumsfähig gehaltenen Gruppen verwaltet. Der Staat ist also politisch wenig geführt, zur aktiven Gestaltung, Strategiebildung und Umsetzung grosser Würfe ist er kaum fähig. Er ist jedoch stark im operativen Geschäft. Die Schweiz besitzt eine relativ kleine, aber unübertroffene Verwaltung. Und der Bundesrat kapriziert sich vor allem auf die Repräsentation und Führung dieser Verwaltung. Er steuert gemächlich das Tagesgeschäft und die inkrementalen Ver226


Geschichte als Erfolgsstory: eine Rekonstruktion

änderungen; in Krisen wirkt er nicht immer sehr brillant. Oft behindern sich die staatlichen Institutionen; die Exekutive leidet unter der gegenseitigen Blockierung ihrer Departemente, deren überdimensionierte Stäbe nicht Öl, sondern Sand ins Getriebe bringen. Das politische System der Schweiz ist reaktiv. Es macht Interessenpolitik, nicht Ordnungspolitik. Für eine Ordnungspolitik müsste man ja über den Interessen stehen. Und was wäre dann das Landesinteresse? Oder gäbe es sonst eine übergeordnete, eventuell systemische Sicht, aus der man agieren könnte?

Geschichte als Erfolgsstory: eine Rekonstruktion Trotz aller Versuche einer Dekonstruktion soll dennoch eingestanden werden: Die politische Geschichte der Schweiz war während 150 Jahren eine Erfolgsstory. Kaum ein Staat oder sonst eine gesellschaftliche Institution hat die organisatorische Kontinuität dermassen wahren können. Die Verfassung von 1848, teilweise den Amerikanern abgeschaut, aber auf die spezifischen Verhältnisse der Schweiz ideal zugeschnitten, war ein Geniestreich. Sie wurde zwar immer wieder angepasst und 1999 kosmetisch überholt, aber mit Ausnahme des Einbaus direktdemokratischer Elemente 1874, 1891 und 1977 hat sich an der Architektur des Staates wenig geändert. Ähnliches trifft auch für die Kantone und Gemeinden zu: Auf Stufe der Gemeinden gab und gibt es zwar einige Fusionsprozesse, auf Stufe der Kantone ist die dramatische, aber schliesslich doch erfolgreiche Neubildung des Kantons Jura zu erwähnen. Wenn man bedenkt, welcher gesellschaftliche Wandel sich in diesen 160 Jahren vollzogen 227


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

hat, so grenzt das Beharrungsvermögen unserer politischen Institutionen an ein Wunder. Es fällt auf, dass in der politischen Diskussion die Gründung des Bundesstaats 1848 und die seither vergangenen, doch recht erfolgreichen 160 Jahre keine sehr grosse Rolle spielen. Gewiss wollte man die katholische Schweiz, die im Sonderbundkrieg 1847 unterlegen und 1848 überstimmt worden war, nicht dauernd an diese Niederlage erinnern, und die liberale Schweiz war auch froh, revolutionäre Elemente ihres Ursprungs verdrängen zu können. Deshalb fand ein sonderbarer Regress auf die frühere Geschichte statt: Wir gehen gleich ins Mittelalter (oder in unser Bild davon!) zurück und vergleichen Brüssel mit den fremden Vögten unserer Gründungssaga. Marchal (2009) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass kein anderes europäisches Land ausser vielleicht Serbien (falsche) Bilder des Mittelalters dermassen bemühen muss, um seine politische Identität zu legitimieren. Das betrifft nicht nur die SVP und die Weltwoche, die keck behauptet, das Prinzip Rütlischwur präge die faszinierende Frühgeschichte unseres Landes; an der Wurzel der Schweiz stehe die Idee der Selbstbestimmung und der Unabhängigkeit. Die seriöse Forschung muss solche Behauptungen ins Reich der Fantasien verweisen, denn Formen der Staatlichkeit im heute gebrauchten Wortsinn tauchten erstmals im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit auf (Sablonier 2008). Wenn wir nach einem Ereignis suchen, das der Entwicklung in der späteren Schweiz einen andern Verlauf gab als in den umliegenden Ländern, so könnten wir wohl frühestens den Schwabenkrieg 1499 oder vielleicht den Westfälischen Frieden von 1648 erwähnen, als sich die Schweiz vom Deut228


Geschichte als Erfolgsstory: eine Rekonstruktion

schen Reich trennte. Andreas Suter, Schweizer Historiker in Bielefeld, hält mit guten Gründen den Bauernkrieg von 1653 für die entscheidende Weichenstellung, als Elemente einer Bottom-up-Entscheidung in die Staatsauffassung Eingang gefunden haben. Die Städte Bern, Luzern, Basel und Zürich sahen sich im Dreissigjährigen Krieg veranlasst, ihre Stadtbefestigungen dem europäischen Standard anzupassen. Die neuen Befestigungsringe, an die etwa der Zürcher Schanzengraben oder die Grosse Schanze in Bern noch heute erinnern, kosteten sehr viel Geld, und die Stadtstaaten mussten die Steuerschraube massiv anziehen. Doch das Hinterland verweigerte die Gefolgschaft und inszenierte den Aufstand. Die Sache war für die Städte brandgefährlich. Der Luzerner Schultheiss wurde im Entlebuch ermordet, was die Untertanen als Tyrannenmord besangen, und die Bauern schlossen sich über die Staatsgrenzen hinweg zu grösseren Heeren zusammen. Nur mit Lügen und anderen miesen Tricks konnten die Städte die Bauern schliesslich besiegen. Die Anführer des Aufstands wurden zwar um einen Kopf kürzer gemacht, aber die Städte wollten die Landschaft nicht noch mehr reizen und bewilligten einige Forderungen, für die die Bauern gekämpft hatten. So mussten sie jetzt für Beamte, die aufs Land geschickt wurden, die Zustimmung der Landschaft einholen, nur bei den ländlichen Oberschichten, noch nicht in einer demokratischen Wahl. Aber immerhin zeigt sich hier die Urform unseres späteren Wahlbeamtentums im Gegensatz zum lebenslänglichen, auf die Staatsspitze orientierten Beamtentum in den umliegenden Monarchien, die immer absolutistischer wurden (Suter 1997, 2001). Wie dem auch sei, die Bilder von den tapferen, freiheitsliebenden Eidgenossen der Gründerzeit sitzen tief. Selbst 229


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

der Chinakorrespondent der NZZ greift zum verbalen mittelalterlichen Zweihänder, wenn er der Leserschaft den Tibetkonflikt erklären will: «… ‹Wir wollen unsere eigenen Richter haben›, so lautete der Schlachtruf der alten Eidgenossen gegen die habsburgische Fremdherrschaft. Genau dasselbe wollen auch die Tibeter (…) Im Unterschied zu der Eidgenossenschaft haben sie jedoch kein Reduit, in das sie sich zurückziehen können …» (vgl. Marchal 2006, 2009). Für uns alles klar, so können wir das Tibetproblem sofort verstehen. Auch hier typisch ist die Verbindung vom Hochmittelalter zur Situation der Schweiz im Zweiten Weltkrieg; sonst wird das Meiste ausgeblendet. Tunlichst wird auch verschwiegen, dass wesentliche Anstösse zur Entwicklung der Schweiz von aussen kamen wie etwa die Beseitigung des Ancien Régime durch die Franzosen 1798. In unserem historisch-politischen Bewusstsein bleiben eigentlich nur die Daten 1291 und 1939–45. Vor allem der Zweite Weltkrieg hat für die schweizerische Identität eine ganz besondere Bedeutung. Die in ganz Europa identitätsbildenden guten Jahrzehnte des Wirtschaftswachstums und des neokorporatistischen Klassenfriedens können für die Schweiz noch um ein Jahrzehnt rückverlängert werden: 1935 sagte ein SP-Parteitag Ja zum Militär, 1936 brachte die Frankenabwertung wieder einen Konjunkturaufschwung, 1937 entstand das Friedensabkommen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Metall- und Maschinenindustrie, 1939 herrschte Landigeist und 1943 wurde Ernst Nobs als erster Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt – diese hehren Bilder wirkten bis weit in die 1980er Jahre hinein. Eine politische Integration war damals noch möglich, weil sich die verschiedenen Eliten auf diese gemeinsamen Bilder berufen konnten. 230


Geschichte als Erfolgsstory: eine Rekonstruktion

Hanspeter Kriesi hat in seiner grossen Analyse des politischen Systems der Schweiz (1980) noch für die 1970er Jahre eine relativ homogene, stark verbandelte Elite nachweisen können. In seiner Machtanalyse für die Legislaturperiode 1971–75 fand er eine hochintegrierte Blockstruktur auf höchster politischer Entscheidungsebene vor. Diesen Befund kann ich aus eigener Anschauung auch noch für die frühen 80er Jahre bestätigen. Und ich habe damals die entsprechende Kultur an der Schnittstelle von Politik und Verwaltung noch deutlich mitgekriegt. Als ich Anfang 1980 als Persönlicher Mitarbeiter und Berater des Finanzministers in die Bundesverwaltung eintrat, schien die Welt der Schweizer Politik zumindest an der Oberfläche noch weitgehend in Ordnung. Die beginnende Polarisierung des politisch-administrativen Systems hatte noch keine tieferen Gräben aufgerissen. Von links bis rechts war kaum umstritten, dass der Politik und ihrem Apparat, dem Staat, bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung das Primat zukam. Die Stimmung in der Öffentlichkeit war – bei allem Streit um Inhalte einzelner Policies – von einem breiten Grundkonsens bezüglich der Politics, also der Mechanismen politischer Entscheidfindung, getragen. Dieser Konsens war Ausdruck eines intakten Systemvertrauens, das auch die Medien damals noch nicht in Frage stellten. Die Repräsentanten dieses politischen Systems bildeten eine ziemlich homogene, oft durch gemeinsame Erfahrungen in der Milizarmee verbandelte Männerelite, welche die Fäden in allen wichtigen Funktionsbereichen der Gesellschaft, auch in der Wirtschaft, fest in Händen hielt. Die bisweilen recht autoritäre Kultur dieses Systems war Voraussetzung für die funktionierende Konkordanz zwischen politischen Gegnern und hatte den Vorteil, dass Kompromisse 231


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

auf höchster Ebene – nicht zuletzt in der Bundes-Exekutive – ausgehandelt und im ganzen Entscheidprozess durchgeboxt werden konnten. Ich kann mich gut erinnern,dass wichtige und auch schwierige Geschäfte oft nicht in langwierigen Mitberichtsverfahren, sondern in einer gemeinsamen Kaffeepause der Bundesräte Honegger (FDP), Hürlimann (CVP) und Ritschard (SP) am Nachmittag vor der Bundesratssitzung besprochen und vorweg entschieden wurden (manchmal auch, um den intellektuell brillanteren Kollegen Furgler (CVP) auszutricksen); den dort ausgehandelten Kompromiss setzten die Magistraten anschliessend erfolgreich auch in ihren Fraktionen durch. Und – aus heutiger Sicht kaum vorstellbar – die Medien störten diesen effizienten Entscheidprozess wenig. Nach mancher Bundesratssitzung versorgte Vizekanzler Buser das Journalistenzimmer mit der Nachricht: «Heute keine Informationen aus dem Bundesrat», und die Medien liessen sich das damals noch ohne Protest gefallen. Es gab allerdings einige politische Tabus, die nicht diskussionsfähig schienen. Dazu gehörten lange Zeit die aussenpolitische Neutralität, das Militär und die (politisch krass überrepräsentierte) Landwirtschaft, von der mein sozialdemokratischer Vorgesetzter, der es im Aktivdienst immerhin bis zum «berittenen» Artillerie-Wachtmeister gebracht hatte, zu sagen pflegte, man dürfe nicht fragen, wie teuer sie den Steuerzahler und Konsumenten zu stehen komme, denn die Bauern seien schliesslich «unser fünftes Armeekorps» (die Schweizer Armee bestand damals aus vier Korps). Die Verwaltung hatte mächtig Anteil an diesem auf Konsens getrimmten System. Ihre Spitzenbeamten gehörten mit zur politischen Elite und nahmen informell grössten Einfluss auf die Entscheidprozesse, ohne dass sie das nach aussen 232


Ende des Wachstumskonsenses

sichtbar machten. Der typische Amtsdirektor, Bernischer Fürsprech, freisinnig, Oberst im Generalstab, mit steiler Karriere in wichtigen Verwaltungszweigen wie etwa Aussenwirtschaft, Finanzen oder Justiz, verfügte über beste Kontakte ins Parlament, zu Parteien und Verbänden und erwarb sich Autorität nach innen und nach aussen als Spezialist bezüglich Gesetzgebung und Gesetzesauslegung in seinem engeren Fachgebiet. Professionalität hatte eben damals im politisch-administrativen System fast ausschliesslich eine juristische Dimension und war kombiniert mit einem Führungsverständnis, das man in der Armee als Milizoffizier erwerben konnte. Auf der Überzeugung, dass staatliches Handeln ausschliesslich als Vollzug ins Recht gefasster Regeln zu verstehen und zu praktizieren sei, basierten Selbstverständnis und vertrauensvolle Zusammenarbeit von Politik und Verwaltung. Nur in wenigen Ausnahmefällen wurde dieses Vertrauen gestört, etwa wenn grosse und komplexe Beschaffungsprojekte finanziell aus dem Ruder liefen (Mirage-Affäre 1964). Die bürokratische Steuerung mit ihren stark strukturierten Abläufen war für die Klientel berechenbar und bei hoher Stabilität des Umfelds durchaus auch wirtschaftlich. Sie liess der Verwaltung wenig Gestaltungschancen und schränkte ihre offiziellen Lernmöglichkeiten praktisch auf die Fehlervermeidung durch Anpassungslernen (single loop learning) innerhalb fest gefügter Routinen ein.

Ende des Wachstumskonsenses Unter dieser bürokratischen Fassade einer scheinbar heilen Welt wiesen aber die Fundamente der politischen Konsensund Konkordanzkultur bereits vor 1980 erste Risse auf. Gut 233


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

vierzig Jahre lang hatten das Wirtschaftswachstum und ein darauf sich stützender nationaler Grundkonsens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein stabiles neokorporatistisches System getragen, das auf gegenseitigen Zugeständnissen der ungleichen Partner beruhte und über das Kartell der Spitzenverbände auch die Politik dominierte. Die Bundesratswahl von 1959, die eine breite Koalition aller grossen Parteien begründete, kann in diesem Sinne nicht nur als Stärke, sondern ebenso gut als Zeichen der Abhängigkeit des politischen Systems vom Verbändesystem gedeutet werden. Entsprechend ist damals auch leise Kritik an der Rolle und am Profil der schweizerischen Politik geäussert worden; so zeigen etwa «Unbehagen im Kleinstaat» (Karl Schmid,1963) und «Helvetisches Malaise» (Max Imboden, 1964), wie die Elite selbst ihrer politischen Befindlichkeit schon früh als einer «Mittellage zwischen ungebrochener Zuversicht und nagendem Zweifel» Ausdruck gab. In den späten 60er Jahren war das neokorporatistische Machtkartell in erste ernsthafte Schwierigkeiten geraten, und zwar von den politischen Rändern her: Auf der einen Seite scherten verunsicherte und zu kurz gekommene Kleinbürger, die ihre gewohnte Heimat vom raschen Wandel bedroht sahen, aus dem breiten Politikkonsens aus und verschanzten sich in einem konservativen Nationalismus, welcher der weltmarktverflochtenen und auf ausländische Arbeitskräfte dringend angewiesenen Wirtschaft gefährlich zu werden drohte (Schwarzenbachs Republikaner und Oehens Nationale Aktion). Auf der andern Seite rebellierte progressives Jungvolk, das sich mit den Versprechen der Konsumgesellschaft nicht zufrieden gab und damit den beginnenden Wertewandel signalisierte (u. a. POCH). Den neokorporatistischen Machteliten gelang es Ende der 1960er Jahre indes 234


Ende des Wachstumskonsenses

für einmal noch, solche Schwierigkeiten aufzufangen, indem sie dem politischen System eine reformerische Dynamik zugestanden: Mit Elan wagte man sich endlich an die Lösung vieler Grundsatzprobleme (z. B. auch das Frauenstimmrecht), unternahm Schritte in Richtung europäischer Wirtschaftsintegration, forcierte den Ausbau der Autobahnen, der Bildungsinstitutionen und des Sozialstaats nach dem Dreisäulenprinzip im so genannten Tschudi-Tempo und verschrieb sich mehr und mehr modernen Planungsmethoden (von den Regierungsrichtlinien bis zu den Energie-, Verkehrs- und Medien-Gesamtkonzeptionen), um das Angebot an staatlichen Leistungen auf die wachsende Nachfrage ausrichten zu können. Die markante Gewichtsverlagerung hin zum politischen System hatte eine Aufwertung der Parteien zur Folge, auch des Landesrings und namentlich der CVP, die mit Exponenten wie Leo Schürmann und Kurt Furgler und mit ihrer «Dynamik der Mitte» in den staatlichen Reformprogrammen die Themenführerschaft übernahm (vgl. Hablützel 1986). Obwohl schon damals Modelle eines Konkurrenzsystems, eines für die Regierungsparteien verbindlichen Legislaturvertrags und gar einer Volkswahl der Exekutive diskutiert wurden, war keine Seite bereit, die Konkordanzregierung selber zu verlassen. Man konzentrierte sich vielmehr auf die Frage, wie die Politik die gesellschaftliche Dynamik unter Kontrolle halten könnte und wie die kleine Kollegialregierung ihren politischen Steuerungsauftrag auch gegenüber einer rasch wachsenden und departemental sich ausdifferenzierenden Verwaltung wahrnehmen sollte (Hongler-Bericht 1967, Huber-Bericht 1971, die nach militärischem Vorbild eine Stärkung der Führung mittels Stäben vorschlugen und den Ausbau der Bundeskanzlei zur Stabsstelle des Bundesrats einläuteten). 235


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

Kehrseite der Politisierung gesellschaftlicher Probleme bildeten die wachsenden Defizite der öffentlichen Haushalte, und als die Wirtschaft Mitte der Siebzigerjahre in die Rezes-sion tauchte, wurde dieser Strategie der Boden entzogen. Während es den Spitzenverbänden nicht mehr gelang, die divergierenden Interessen ihrer Klientel unter einen Hut zu bringen, drängten vermehrt neuartige Fragen wie Umweltschutz, Lebensqualität und Gleichberechtigung der Geschlechter auf die volle politische Traktandenliste. Diese neuen Themen brachten die Folgeprobleme des Wachstums und der Mobilität zum Ausdruck und liessen sich nur schwer mit den bisher unter Sozialpartnern bewährten Verhandlungsstrategien angehen. Sie mischten zeitweise die ganze Parteienlandschaft auf, da sich die Gegensätze nicht mehr so einfach in der alten Links-rechts-Dimension verorten liessen. Weil der nationale Grundkonsens gelockert und das Kartell der Verbände gesprengt worden waren, schwappten die sozialen Widersprüche ungebremst auf die Bühne des politischen Systems. Hier versuchte man eifrig, mit innovativen Ideen etwa zur Totalrevision der Verfassung oder zur Erneuerung der föderalistischen Struktur die divergierenden Interessen zusammenzuhalten, aber das Parteiensystem fand bereits in den späten 70er Jahren nicht mehr die Kraft, gemeinsam tragfähige politische Perspektiven zu entwickeln. Die 80er Jahre wurden zum Jahrzehnt der parteipolitischen Polarisierung um Grundsatzfragen der Staatsfunktion. Bereits im Winter 79/80 hatte sich eine neuartige Interessenkonstellation angekündigt. Während der Freisinn, Gründer des Bundesstaats 1848 und über mehr als 100 Jahre die staatstragende Partei der Schweiz, mit der Parole «Weniger Staat, mehr Freiheit» in den Nationalratswahlkampf 1979 zog, schrieben die extremen Linken anlässlich der 236


Ende des Wachstumskonsenses

80er-Jugendunruhen «Macht aus dem Staat Gurkensalat» auf ihre Transparente. Damit sahen sich plötzlich Sozialdemokraten und Gewerkschafter in der ungewohnten Rolle, den bisher oft als «bürgerlich» kritisierten Staat zu verteidigen, dem die Rechtsparteien nun die nötigen Ressourcen zu entziehen drohten. Aber auch die Verwaltung kam unter Druck, weil die Polarisierung den politischen Konsens und damit die Legitimationsbasis der bürokratischen Steuerung in Frage stellte. Dabei wurden rasch auch gewisse Pathologien dieses lange so erfolgreichen politischen Steuerungsmodells spürbar. Bürokratie reagiert auf Stress mit Regeln, also mit mehr Bürokratie, weil jedes neu auftauchende Problem als Beweis dafür genommen wird, dass noch nicht alles perfekt geregelt worden ist. Mit dem starken Ausbau der Bürokratie in den späten 70er und den 80er Jahren zeigte sich bald auch ihre Schwachstelle und damit die Grenze ihrer politischen Wirksamkeit: die Übernutzung des Rechts als wichtiger Steuerungsressource. Bis in die 70er Jahre hatte man noch vom «Marktversagen» gesprochen, wenn die Wirtschaft in kleine Rezessionen oder wie 1974 in eine grosse Krise tauchte und die Politik den Staat zum Handeln zwang. Als aber die keynesianischen Rezepte dann auch nicht immer zu einer Lösung aller Probleme führten, war schon bald die Rede vom «Staatsversagen». Der Ausbau des Sozial- und Dienstleistungsstaats hatte notwendigerweise die Gesetzesmaschinerie in Gang gebracht. Und weil man staatliches Handeln im Sinn grösstmöglicher Gerechtigkeit mit detaillierten Regelungen für alle denkbaren Fälle einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft steuern wollte, erhoben sich bald auch Klagen gegen die «Gesetzesflut», die für den Bürger kaum mehr überschaubar sei, die Eigeninitiative schwäche und die Klientel vom Staat und von der Büro237


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

kratie nur abhängig mache. Trotz solcher Klagen gegen Paragrafendschungel und übertriebene Verrechtlichung ist das Legalitätsprinzip in diesen Jahren geradezu auf die Spitze getrieben worden, nicht zuletzt weil ein Bundesgerichtsentscheid 1977 dieses Prinzip, das vorher nur für hoheitliche Eingriffe galt, auch auf staatliche Dienstleistungen übertrug. Die gesetzliche Fixierung öffnete einer Anspruchshaltung gegenüber dem Sozial- und Leistungsstaat Tür und Tor, was wiederum der Verrechtlichung jeglichen Verwaltungshandelns mächtig Vorschub leistete. Die Rechtsstaatlichkeit hätte eigentlich den Bürger vor der Willkür eines übermächtigen Leviathan schützen sollen. Der hohe Stellenwert des Legalitätsprinzips in einer immer dynamischer sich entwickelnden Gesellschaft hatte indes zur Folge, dass der Staat während Jahren vorwiegend mit sich selbst beschäftigt war. Ihren Anteil am Ausbau der Bürokratie mochten auch jene 68er-Juristen haben, die auf ihrem langen Marsch durch die Institutionen mit Verfassung und Gesetzen die Gesellschaft zu verändern und die angestrebten sozialen Entwicklungen rechtlich zu erzwingen suchten. Aber die konditionale Struktur des öffentlichen Rechts mit seinen «Wenn – dann»-Sätzen eignet sich nur bedingt für dynamische Zukunftssteuerung; das Recht kann erfolgreich wohl nur absichern, lenken und vielleicht bremsen oder beschleunigen, was sich in der Gesellschaft ohnehin tut. Und je stärker man dabei ins Detail gehen will, umso mehr werden die rechtlichen Regelungen der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und Spezialisierung nur nachhinken können. Schlimmer noch: Mit Gesetzen und politischen Konditionalprogrammen löste man immer wieder auch unbeabsichtigte Entwicklungen und Folgeprobleme aus, was die Policy-Forschung in den 80er Jahren empirisch bereits nach238


Ende des Wachstumskonsenses

weisen konnte, aber noch nicht mit der nötigen Wirkung. Man diskutierte zwar über die Gesetzesevaluation, über Gesetzesfolgenabschätzung, Sunset-Legislation und gar über finale Gesetzgebung; der Glaube an den Staat als Steuerungsinstanz, die über den gesellschaftlichen Subsystemen steht, war indes noch nicht so stark erschüttert, dass der Ausbau der Bürokratie drastisch gebremst worden wäre. Nach meiner Erinnerung waren die 80er Jahre das Jahrzehnt, in dem Staat und Staatsverwaltung ihr gutes Image einbüssten und die Beamten ihr bisher intaktes Selbstbewusstsein sukzessive verloren. Das war aber weniger das Ergebnis einer substanziellen Bürokratiekritik als vielmehr die Folge finanzieller Schwierigkeiten, in die der bürokratische Ausbau den Sozial- und Dienstleistungsstaat geführt hatte. Im internationalen Vergleich bislang auf tiefem Niveau, stiegen Staats-, Sozial- und Steuerquote in der Schweiz nun rapide an, und es entstanden auf allen Ebenen des Staates Schuldenberge, deren Bedienung den finanzpolitischen Handlungsspielraum des Bundes, vieler Kantone und Gemeinden drastisch einzuschränken drohte. Kein Wunder, dass die parteipolitische Auseinandersetzung vor allem auf dem Feld der Einnahmen- und Ausgabenpolitik des Staates tobte und die Finanzierungsfrage zum wichtigsten Kriterium für die Entwicklung der Staatsfunktion aufstieg. Interessant ist dabei, dass der Ausbau der Dienstleistungen den Staat auf einigen Gebieten wie Medien, Verkehr, Versicherungen etc. in (potenzielle) Konkurrenz zur Privatwirtschaft brachte, dass aber gerade die Finanzierungsfragen auch eine gewisse Annäherung im Denken und Handeln bewirkten. Diese Orientierung an der Privatwirtschaft verlieh der Ökonomie als Wissenschaft vom Umgang mit Knappheitsphänomenen auch im öffentlichen Sektor mächtig Auftrieb. 239


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

Um die Kosten in den Griff zu kriegen, waren Sparübungen angesagt, zum Teil recht drastische und meist in Serie. Regierungen, Parlamente und staatliche Betriebe, die etwas auf sich hielten und dem Zeitgeist entsprechen wollten, unterzogen sich in den 80er Jahren einer von privaten Büros geleiteten Gemeinkosten-Wert-Analyse (GWA) oder einer andern Optimierungsübung. In der Bundesverwaltung zum Beispiel zogen sich die so genannten EFFI-Querschnittmassnahmen über viele Jahre hin, allerdings ohne wesentliche Änderungen in der Aufbauorganisation oder in den Abläufen zu bewirken. Einzig die Zusammensetzung der Kader wurde etwas aufgemischt; nicht selten konnten jetzt junge Betriebswirte, deren Know-how nun auch im öffentlichen Bereich gefragt war, neben den Juristen – und oft an diesen vorbei – glänzende Karrieren starten. Trotz dieser markanten Blutauffrischung im Kader blieb der Staat auch in Zukunft von Beratungsleistungen externer Büros abhängig; aber selbst in dieser Hinsicht unterschied er sich nur noch wenig vom Mainstream in der Privatwirtschaft.

Polarisierung und Blockierung der Politik In den 1980er Jahren war den meisten klar geworden: Die goldenen Jahrzehnte des raschen Wirtschaftswachstums der Nachkriegszeit gehörten unwiederbringlich der Vergangenheit an. Aber für eine Neuorientierung der Politik war die Zeit noch nicht ganz reif, nicht in der Schweiz mit ihren identitätsbildenden und das politische Leben prägenden Erfahrungen von Konsens und Konkordanz. Nicht Konkurrenz und Streit, sondern Verhandeln und Ausgleich waren die eingeübten Rezepte des Erfolgs. Seit Mitte der 70er Jahre spürte 240


Polarisierung und Blockierung der Politik

man zwar die Risse im Gebälk, weil der linke «Junior»-Partner der breiten Koalition in Sachfragen (Wirtschafts-, Sozial-, Finanz-, Energie- und Umweltpolitik sowie Landesverteidigung) nun öfters in die Opposition versetzt wurde. Aber eine deutliche Polarisierung prägt die Schweizer Politik erst seit den 90er Jahren, als auch der rechte Flügel in existenziellen Entscheidungen den Kurs der Mitte attackierte und damit die Grundfesten des politischen Systems in Frage stellte. Als Achillesferse unseres bisher so bewährten Systems erwies sich die tabuisierte Aussenpolitik, die man dank Neutralität und waffenstarrender Landesverteidigung vernachlässigen zu können glaubte. Schon 1969 hatte Peter Bichsel gewarnt, dass die Armee nur die Unabhängigkeit der Schweiz, nicht aber die Freiheit der Schweizer verteidigen könne. Doch der Sicherheitsbegriff war in der schweizerischen Politik fast ausschliesslich militärisch besetzt, was angesichts der wachsenden Unsicherheiten infolge weltpolitischer Veränderungen fatale Auswirkungen haben sollte. Sämtliche Kräfte wurden mobilisiert (auch die AktivdienstVeteranen des Zweiten Weltkriegs in den Diamant-Feiern 1989), um die Volksinitiativen zur Abschaffung der Armee oder gegen die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge zu bodigen. Bestrebungen Anfang der 90er Jahre, das Militärdepartement zu einem breiter gefächerten, modernen Sicherheitsdepartement umzubauen, wurden als für die Armee nicht zumutbar zurückgewiesen. 1986 war der von Bundesrat und Parlament geforderte Beitritt der Schweiz zur UNO hochkant verworfen worden. Die Schweiz schien sich im Mythos ihrer Unabhängigkeit dank bewaffneter Neutralität umso mehr einzuigeln, als das weltpolitische Gefüge in Bewegung geriet. Die Armeereform 95 wie auch die Armee XXI bildeten keine adäquate Antwort auf den grossen globalen 241


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

Umbruch der 90er Jahre. Erst die mächtig voranschreitende Globalisierung der Wirtschaft hat den Souverän dazu gebracht, vom veränderten Umfeld Kenntnis zu nehmen. Dass 2002 – mit einem hauchdünnen Ständemehr – endlich der Beitritt zur UNO zustande kam, ist nicht zuletzt der Wirtschaft zu verdanken, die die Abstimmungskampagne zu einem grossen Teil finanziert hat. Anlass zum schwersten Konflikt im politischen System bot aber die europäische Einigung. 1989 wurde unter Führung des grossen Strategen Delors beschlossen, bis 1992 einen gemeinsamen Markt einzurichten, der die Rechtssysteme und Politiken der europäischen Staaten weitgehend harmonisieren sollte. Die Schweiz erhielt wie die anderen EFTA-Mitglieder das Angebot, sich über den EWR (Europäischer Wirtschaftsraum) der neuen Union wirtschaftlich anzuschliessen, ohne der EU politisch beitreten zu müssen. Allerdings wäre der Zwang zur Anpassung auch an die künftige Entwicklung der EU relativ gross gewesen, weshalb die SVP zu diesem von der Wirtschaft und fast allen Parteien (nicht aber den Grünen) unterstützten Projekt vehemente Opposition anmeldete. Jetzt konnten Christoph Blocher und seine Gefährten ernten, was die Politik in diesem Lande während Jahrzehnten gesät hatte: Ihre Kampagne bediente in der Verunsicherung geschickt das rückwärtsgewandte, isolationistische Weltbild breiter Kreise und liess die Befürworter einer Öffnung als vaterlandslose Gesellen erscheinen, die die Unabhängigkeit der Schweiz willkürlich und ohne Not aufs Spiel setzen würden. Der EWR hatte in der Volksabstimmung vom 6. Dezember 1992, die mit 79 % eine so hohe Stimmbeteiligung aufwies wie seit 1947 nie mehr, keine Chance, vor allem auch wegen des Ständemehrs. Die Fronten verliefen hart zwischen deutschem und französischem Landesteil 242


Polarisierung und Blockierung der Politik

und zwischen Landschaft und grösseren Städten, so dass die Gefahr einer politischen Spaltung der Schweiz zu drohen schien. Wie die VOX-Analyse nach dem Urnengang bestätigte, gaben die Vorstellungen vom Wesen und von der Identität der Schweiz als eines politisch unabhängigen Landes für viele den Ausschlag zu einem Nein. Die SVP nutzte ihr erfolgreiches Rezept, sog mit Heimatparolen und Ressentiments gegen Ausländer, Gutmenschen und Linke die Splittergruppen am rechten Rand des politischen Spektrums förmlich in sich auf und brach mit politisch konservativen Inhalten, aber mit modernsten Mitteln des Marketings und Ablegern in die Zivilgesellschaft (AUNS) auch ins politische Zentrum ein, so dass sie schliesslich 1999 mit 22,5 % zur wählerstärksten Partei der Schweiz avancierte. Diese Umwälzung der politischen Landschaft wirkte vor allem auf die Parteien der Mitte wie ein Schock. Sie trieb Polarisierung und Personalisierung der Politik voran, was die Medien, etwa die Fernsehsendung Arena, tatkräftig unterstützten. Während sich diese Profilierung in Wahlen auszahlt, verhindert sie zunehmend einen breiten Konsens in Sachfragen, insbesondere wenn die aussenpolitische Neuorientierung der Schweiz zur Debatte steht, die sich am ideologisch aufgeladenen Neutralitätsbegriff rasch entzündet und die Nation entzweit. Sei es der Beitritt zur Europäischen Union, die Vergangenheitsbewältigung, Bankgeheimnis oder Steuerhinterziehung, immer mehr werden pragmatisch zu beurteilende Fragen zu tragenden Pfeilern der nationalen Identität überhöht. Diese Themen polarisieren die Politik, und eine Polarisierung gefährdet die Konkordanz: Die Flügel profilieren sich im Wettbewerb um mediale Aufmerksamkeit auf Kosten der Mitte, blockieren aber die Abstimmungsdemokratie, die gerade bei Grundsatzfragen auf 243


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

breite Koalitionen angewiesen wäre. Die Angriffe der SVP zielten zudem immer deutlicher auf die Architektur (z. B. Volkswahl des Bundesrates) und die Glaubwürdigkeit unserer Institutionen («Classe politique», «Richterstaat» etc.). Welche Verunsicherung sie im politischen System bewirkten, lässt sich an der Wahl Blochers in den Bundesrat 2003 und an seiner Nichtwiederwahl 2007 ablesen; echte Konkordanz lebt nicht von der Mathematik allein. Sie zielt auf Konsens in existenziellen Fragen und lebt davon, dass sich die Partner auch dann wechselseitig akzeptieren, wenn sie in Sachfragen unterschiedlicher Meinung sind. Es gab aber auch eine Interessenkonstellation, die das Kokettieren der bürgerlichen Mitte mit der SVP begreiflich macht. Der Globalisierungsschub in der Wirtschaft war mit der Hoffnung verbunden, die Kosten des sozialen Ausgleichs und der politischen Konkordanz zu senken. In den wachstumsschwachen 1990er Jahren malten die Marktfundamentalisten den raschen Niedergang der Schweizer Wirtschaft an die Wand (die ihre Investitionen infolge des hohen Frankenkurses ausserhalb der Landesgrenzen tätigte). Sie orteten zähen Widerstand gegen die erwünschte liberale Öffnung auch in den föderalistischen und direktdemokratischen Strukturen unseres politischen Systems. Der Blochersche Angriff auf dieses System und auf die Linken und Netten diente da als willkommener Schild, unter dem die neoliberalen Postulate umgesetzt werden sollten. Die Wirtschaft diktierte unter Führung der Hochfinanz den Politikern in Weissbüchern den neoliberalen Tarif, und das politische System versuchte, mit Wettbewerbs- und Wachstumspolitik sowie mit (Teil-)Privatisierung öffentlicher Betriebe diesen Forderungen gerecht zu werden. Doch die Kartelle hatten an der Umsetzung dieser Politik oft gar keine Freude. 244


Polarisierung und Blockierung der Politik

Die Ordnungsrufe zu einer konsequenten Ordnungspolitik fruchteten wenig. Selbst Milton Friedman, der Guru neoliberaler Weltsicht, urteilte 1994 kritisch: «Die Schweiz wird allgemein als Land der freien Marktwirtschaft und des freien Unternehmertums angesehen, aber in Wirklichkeit war dem nie so. Es ist ein hochkartellisiertes Land mit einer freien Marktwirtschaft-Rhetorik.» Immerhin, im Zeichen des Neoliberalismus erfuhren die Schweizer Märkte eine gewisse Öffnung, nicht zuletzt weil man sich in bilateralen Abkommen den Gepflogenheiten der EU zu beugen hatte. Manche Bereiche, auch der Staat mit seinen Betrieben, mussten sich im Hinblick auf ihre Wirtschaftlichkeit und auf ihre Managementfähigkeit zum Teil völlig neu orientieren. Als treibende Kraft für das New Public Management wirkte dabei immer wieder die Knappheit der verfügbaren Finanzen. Dass dieses Feld in Bewegung geriet, ist neben der Konstellation politischer Interessen auch dem Einfluss der neuen Management-Konzepte zuzuschreiben. Sie bewirkten mit ihrem finalen Denken einen Paradigmenwechsel in der Staatstheorie und vor allem in der Praxis der politischen Steuerung. Die Universität St. Gallen (damals noch HSG) entwickelte gar eine allgemeine Führungs- und Steuerungslehre mit ersten Ansätzen zu einer systemischen Sichtweise, die in Forschung, Lehre und Praxis immer breiteren Einfluss gewann. Die ökonomische Sichtweise half mit, den juristisch imprägnierten und längst überholten Etatismus abzulösen. Sowohl die Bestrebungen in Richtung einer neoliberalen Politik wie auch die Polarisierung des Parteiensystems seit den 1990er Jahren haben letztlich die Machtverhältnisse in diesem Land verschoben. Das politische System ist zunehmend blockiert und merklich geschwächt worden, und die öffentliche Meinung hat sich vom Erfolg der Grossbanken 245


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

einlullen lassen. So konnte sich der Finanzmarkt-Kapitalismus seit Mitte der 90er Jahre problemlos durchsetzen, obwohl die Interessen der Industrie und der Banken nicht immer deckungsgleich waren. Aber was die Realwirtschaft im Shareholder-Kapitalismus an Nachteilen in Kauf nehmen musste (höheres Lohnniveau, teure Kredite, Druck auf kurzfristige Performance), konnte sie über ihre Beteiligung als Anleger in der Finanzwirtschaft wieder kompensieren. Deshalb sind die hie und da auftretenden Konflikte auf Seite der Unternehmer, etwa zwischen Swissmem, dem Verband der stark am Export orientierten Metall- und Maschinenbranche, und Economie suisse, dem eher banken- und pharmanahen Dachverband der Wirtschaft, jeweils wieder beigelegt worden. Auch Arbeitnehmer und wachsende Rentnerschar zeigten sich interessiert an einer steigenden Performance der Finanzindustrie. Die Aussicht auf eine gesicherte Rente versöhnte viele mit der Unsicherheit ihrer Arbeitsplätze. Die Behörden setzten in der Wirtschaftspolitik ganz auf quantitatives Wachstum der vermeintlich wertschöpfenden Branchen, unterstützt von einer Bürgerschaft, die sich an steigenden Steuererträgen erfreuen konnte. So bot die Entwicklung seit den 90er Jahren, mit Ausnahme eines leicht ansteigenden Prekariats, eigentlich fast jedem etwas, obwohl die Stimmung insgesamt nicht sehr optimistisch war. Vor allem nach dem Platzen der Dotcom-Blase zu Beginn des neuen Jahrtausends und dem Swissair-Grounding im Herbst 2001 beschlich ein Gefühl von Unsicherheit die Befindlichkeit namentlich des breiten Mittelstands: Man wollte zwar von der erneut gestarteten Rally im Börsen-Casino möglichst mit profitieren, bewunderte etwas misstrauisch und nicht ohne Neid die unglaublichen Erfolge der Banken, war aber zu einem konsequenten Neoliberalismus doch nicht bereit aus Angst, die 246


Polarisierung und Blockierung der Politik

Sicherheiten eines ausgebauten Sozialstaats zu verlieren. Dieser politische Attentismus, der sich im Nachhinein als nicht unbegründet erweist, hat die institutionell angelegten Bremsen unseres politischen Systems verstärkt und hat den Eindruck entstehen lassen, die Politik sei zur Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung nicht mehr fähig. Mit der Finanzmarktkrise, in der die ganze Wirtschaft, die meisten Anleger und Pensionskassen Verluste erleiden mussten, könnte sich die lange festgefahrene Interessenkonstellation ändern. Die Einsicht, wie brandgefährlich die konzentrierte Bankenmacht gerade für eine kleine Volkswirtschaft werden kann, müsste eigentlich breite Koalitionsmöglichkeiten eröffnen. Der Finanzmarkt-Kapitalismus ist auf die Dauer kein adäquates Rezept für eine gesättigte und rasch alternde Gesellschaft. Es braucht Arbeitsplätze, sonst können auch die Renten nicht gesichert werden. Wenn die Realwirtschaft und der Werkplatz Schweiz nicht ausbluten sollen, müssen sich Exportindustrie, KMUs, Baugewerbe, Humandienstleister und Arbeitnehmer zu einem Bündnis finden, das auf Bildungsinvestitionen und ökologische Erneuerung setzt und soziale Sicherung gewährt. Die Politik erhielte dann eine neue Chance, falls sie sich auf die Moderation der unterschiedlichen Interessen im Inland versteht und zur Kooperation mit dem Ausland auch über den Bilateralismus hinaus bereit ist. Das Machtspiel wird neu arrangiert; der Staat kommt zurück, aber in einer anderen Rolle: Public Governance und Offenheit gegenüber der Welt sind angesagt. Das würde auch Perspektiven auf eine neue Dimension unserer nationalen Identität eröffnen. «La Suisse n’existe pas», so lautete die Provokation an der Weltausstellung in Sevilla 1992. In den letzten Jahren haben viele die Frage, was denn die Schweiz ausmache, fast als be247


Vom historischen Sonderfall zum politischen Sonderling?

drohend empfunden. Zunehmend entstand der Eindruck: Die Schweiz weiss nicht mehr, wofür sie steht. Sie hat ihre traditionell kleinbürgerlich-liberale und demokratische Mission und sie hat ihre Bedeutung für die Friedenspolitik (Neutralität plus Dunant) weitgehend verloren. Früher war ihr das Anderssein Programm genug. Das war verständlich im Umkreis nicht eben sympathischer autoritärer Regimes. Aber heute haben die Länder Europas ebenfalls einen hohen Stand an politischer Kultur erreicht, wenn auch nicht auf dem mühsamen Weg direktdemokratischer Entscheide. Friede und Zusammenarbeit in Europa sind eine reife Leistung, von der auch wir profitieren. Das sollten wir neidlos anerkennen. Wir werden ökonomisch und kulturell immer mehr in dieses Europa integriert, passen uns an, halb freiwillig, halb gezwungen. Für was steht eigentlich unsere Unabhängigkeit noch? Für was stehen wir? Sind wir immer noch ein Sonderfall? Wir müssen unsere Mission, unsere Identität neu suchen. Dazu reicht eine Interessenpolitik von der Hand in den Mund nicht aus. Die stempelt uns zum Rosinenpicker und egoistischen Sonderling. Wir brauchen die Orientierung an einer Zukunft, für die es zu kämpfen lohnt: eine neue der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit verpflichtete Ordnungspolitik, die wir nicht dekretieren können, sondern auf direktdemokratischem und föderalistischem Weg zustande bringen müssen. Die Krise von Finanzmarkt und Bankenplatz erweist sich als Identitätskrise für unser Land und damit als Chance, die Schweiz neu zu erfinden, um sie in einem neuen, geänderten Umfeld zukunftsfähig zu machen. Die Schweiz muss wieder besser erkennen, wofür sie eigentlich steht, wofür sie kämpfen will, welche Ordnung im Inland und für die Welt der Zukunft sie anstrebt. 248


7. Historische Ortsbestimmung und politisches Fazit

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ie Finanzmarktkrise bringt unsere Sicht auf die Welt zum Tanzen. Sie wirft Fragen auf zur Struktur und zur Entwicklung der Banken, zum Wirtschaftssystem, aber auch zur Globalisierung, zu Politik und Moral, Fragen, die ins Grundsätzliche zielen: Darf man auf den Finanzmärkten global mitmischen und lokal abkassieren, ohne national die Verantwortung zu tragen für die Folgen dieses Tuns? Sind die Marktkräfte selber in der Lage, Systemkrisen zu verhindern oder zu bewältigen? Kann und soll sich die Politik heraushalten, wenn Finanzmarktkrisen die ganze Wirtschaft bedrohen? Oder darf sich die Politik von der Finanzindustrie instrumentalisieren lassen, ohne dadurch ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren? Spätestens seit Herbst 2008 wissen wir, dass das alles auf Dauer nicht möglich ist. Auch nicht für den «Sonderfall» Schweiz. Erneut und diesmal besonders dramatisch hat eine Krise der Finanzmärkte deutlich werden lassen, – wie abhängig die Schweiz vom internationalen Umfeld ist. Als kleine, auf den Export angewiesene und mit dem Ausland eng verflochtene Volkswirtschaft ist unser Land besonders verletzlich. Der «Sonderfall» Schweiz scheint vor allem darin zu bestehen, dass wir grösste Mühe haben, uns diese Abhängigkeiten auch wirklich einzugestehen; – wie gefährlich ein überdimensionierter und hochkonzen249


Historische Ortsbestimmung und politisches Fazit

trierter Finanzsektor für die schweizerische Volkswirtschaft ist. Je stärker sich die Finanzindustrie im Zeichen der Globalisierung von den Bedürfnissen der Realwirtschaft löst und sich von ihrer nationalen Basis abzukoppeln versucht, umso mehr wird sie im Krisenfall zu einem Klumpenrisiko, das für die Schweiz kaum mehr tragbar ist; – dass Selbstregulierung der Finanzwirtschaft und staatliche Aufsicht in ihrer heutigen Ausgestaltung und Kombination kein geeignetes Rezept gegen systemgefährdende Krisen sind. Man kann sich trefflich streiten über den Anteil von Markt- und Staatsversagen als Krisenursache. Die Ordnungspolitik muss dem Finanzmarktgeschehen auf jeden Fall einen andern, möglichst international abgesprochenen Rahmen setzen, damit sich der Staat nicht früher oder später erneut zu massiven und direkten Kriseninterventionen gezwungen sieht; – wie sehr jedes Wirtschaften letztlich auch eine kommunikative, eine kulturelle Veranstaltung ist. Gerade die Finanzgeschäfte sind auf die Erwartungen von Akteuren ausgerichtet und damit vom Vertrauen des Publikums abhängig. Deshalb sollte das Handlungssystem den Beteiligten wenigstens halbwegs als legitim erscheinen. Selbst das am Profit orientierte, zweckrationale und auf Effizienz bedachte Wirtschaften in kapitalistischen Systemen baut auf einer traditionalen Wertebasis auf, die durch rücksichtslose Gewinnmaximierung und als schnöde empfundene Abzockerei leicht ins Rutschen geraten kann. Auslandabhängigkeit, Grossrisiken durch global agierende Grossbanken, Versagen des Marktes infolge mangelhafter staatlicher Regulierung, Vertrauensverlust und Zweifel am kapitalistischen Wirtschaftssystem: Entpuppt sich die Fi250


Finanzmarktkrise als historischer Wendepunkt?

nanzmarktkrise auch als eine Krise unserer Wirtschaftsordnung? Ist sie gar eine politisch ernste gesellschaftliche Krise für die Schweiz? Ist die Krise (nur) importiert oder (auch) hausgemacht? Inwiefern stellt sie unsere Denkmuster und Verhaltensroutinen in Frage? Und wie radikal müssen wir über die Bücher gehen, um zukunftsfähig zu werden? Ich kenne kaum ein anderes Ereignis der Nachkriegszeit, das so viele Grundsatzfragen aufgeworfen hätte. Sicher werden diese Fragen nicht von allen gleich beantwortet. Aber kaum jemand wird im Ernst bestreiten, dass wir sie heute stellen und darüber diskutieren müssen, und das könnte doch bereits der erste Schritt auf einem demokratischen Weg in die Zukunft sein.

Finanzmarktkrise als historischer Wendepunkt? Wird die Finanzmarktkrise als ein Wendepunkt in die Geschichte eingehen? Als ein Wendepunkt in der Zeitgeschichte der Schweiz? Der Welt? Oder doch wenigstens als Wendepunkt im Globalisierungs- und Modernisierungsprozess? Oder ist sie bloss eine Panne der Finanzindustrie, die bald behoben werden kann? Wir wissen es nicht. Aber wir spüren, dass wir uns einem «Bifurkationspunkt» nähern: Das System könnte eine neue Dynamik erfahren, die kaum mehr durch bisher bekannte Muster geprägt sein muss. Gesellschaftliche und politische Entwicklungen scheinen heute infolge der Krise viel weniger durch die noch herrschenden Umstände vorbestimmt als auch schon. Es braucht deshalb nur wenig Energie, um sie in neue Bahnen zu lenken. Oder um im Bild zu bleiben: Die Kugel rollt nicht mehr so stabil in der Tiefe des Tals, sie befindet sich in einem indifferenten 251


Historische Ortsbestimmung und politisches Fazit

Gleichgewicht, oder sie hat gar schon einen Scheitelpunkt erreicht und muss jetzt nur leicht angestossen werden, dann rollt sie vielleicht in eine andere Richtung. Ist die Finanzmarktkrise ein solcher Scheitelpunkt? Hat sie das System in eine labile Situation gebracht? Hat die Krise neue Konstellationen im Verhältnis von Politik und Wirtschaft ermöglicht? Vieles spricht dafür, dass in der Finanzmarktpolitik jetzt eine echte Wende möglich ist und international koordiniert vollzogen werden könnte. Aber ob solch eine Wende auch tatsächlich stattfindet, können wir nicht mit Bestimmtheit sagen. Alle Erfahrung lehrt, dass die Zeitfenster für Weichenstellungen nicht ewig dauern. Die Chancen, unsere Sicht- und Verhaltensweisen zu ändern, müssen dann ergriffen und politisch gestaltet werden, wenn sich die bisher gültigen Routinen als überholt oder gar als gefährlich erweisen und sich kommunikativ verflüssigen. Dann soll die historische Analyse aufzeigen, wie diese Routinen entstanden sind, wie sie die heutigen Verhältnisse prägen, welche Alternativen bisher verschüttet waren oder unerkannt blieben und ob wir heute eine Chance haben, die Weichen neu zu stellen. Dabei gilt: Was von Menschen geschaffen wurde, bleibt prinzipiell veränderbar, aber für erfolgreiche Veränderungen bedarf es zur rechten Zeit der richtigen Tat. In dieser politischen Einsicht liegt der emanzipatorische Gehalt einer kritischen Zeitgeschichte. Eine Spezialität historischer Interpretation und eines ihrer schwierigsten Geschäfte bildet die Periodisierung. Hier geht es nicht nur um die Kunst, Entwicklungen als strukturierte Abläufe erzählbar und damit verständlich zu machen. Die zeitliche Gliederung des Stoffs zwingt uns auch, eigene Urteile und Kriterien offenzulegen. Das erlaubt Rückschlüs252


Finanzmarktkrise als historischer Wendepunkt?

se auf die (impliziten) Theorien, die in unsere Rekonstruktion der Wirklichkeit eingeflossen sind. Der Historiker muss Farbe bekennen, welche Brüche und Kontinuitäten er im Einklang mit seinem Weltbild für wichtig hält. Und insbesondere der Zeithistoriker sollte meines Erachtens für seine wissenschaftlich gewonnenen Einsichten auch politisch einstehen. Ein Streit über Periodisierungsfragen ist immer auch ein Streit um die Interpretation der Vergangenheit. Was die früheren Zeitalter betrifft, so hat sich unter Fachleuten ein gewisser Kanon der Periodisierung herausgebildet, an den man sich halten kann oder den man vielleicht bewusst in Frage stellt, um neuen Erkenntnissen Gewicht zu verleihen. Die Zeitgeschichte kennt solch einen Kanon nicht. Hier streitet man seit jeher darüber, was eigentlich Zeitgeschichte heisst und wann man sie beginnen lässt: 1789, 1848, 1917, 1945 oder gar erst in den 1970er Jahren? Sollten wir im Sinne einer möglichen Zeitzeugenschaft das Ende des Zweiten Weltkriegs als Beginn der Zeitgeschichte wählen wollen, so stellt sich gerade für die Schweiz die Frage, ob nicht die späten 1930er Jahre eine noch wichtigere Wende bedeuten: Denn damals bahnten sich Verhältnisse an, die mit der gesellschaftlichen Integration im Innern und der politischen Abwehr nach aussen unser Land bis in die 70er, 80er Jahre hinein prägten. Und welche Bedeutung kommt weiteren wichtigen Wendepunkten zu, etwa dem Wachstumseinbruch der mittleren 1970er Jahre oder den 1990er Jahren mit ihrer ungestümen Globalisierung? Wir stellen fest: Es gibt keine richtigen oder falschen Periodisierungen. Jede findet ihre Begründung und jede kann unser methodisches Bewusstsein schärfen. Ob eine Zäsur vernünftig gewählt ist, hängt immer von der Bedeutung ab, die wir den jeweils erkennba253


Historische Ortsbestimmung und politisches Fazit

ren Brüchen und Kontinuitäten für die Entwicklung unseres Landes oder eines andern Studienobjekts zumessen. Je näher wir zur eigenen Gegenwart kommen, umso politischer sind die Fragen, die eine Periodisierung des Geschehens aufwirft. Die Bedeutung der Trendwende in den mittleren 1970er Jahren wird heute kaum noch jemand in Abrede stellen wollen. Der Konjunktureinbruch hat sich später auch als markanter Strukturbruch herausgestellt. Die damals gefällten Entscheide sind im historischen Bewusstsein «vernarbt» und politisch akzeptiert; ihre Folgen sind auf so vielfältige Art und Weise in die Strukturen eingraviert und prägen unser heutiges Leben, dass man sie kaum mehr rückgängig machen könnte. Ob aber die 1990er Jahre auch als eine bedeutende Wende der Schweizer Zeitgeschichte zu bezeichnen sind, dürfte eher kontroverse Diskussionen auslösen. Globalisierungsschub, Bilateralismus, Privatisierung öffentlicher Aufgaben, Polarisierung der Parteienlandschaft und Kritik am Konkordanzsystem sind nur ein paar «Errungenschaften» dieses Jahrzehnts, die uns bis heute politisch entzweien. Die entsprechenden Entscheide sind noch keineswegs vernarbt und zentrale Fragen dieser Zeit drängen bei jeder Gelegenheit erneut auf die politische Traktandenliste. Die 1990er Jahre sind immer noch eine «Knetmasse» der Tagespolitik. Wer sie zu interpretieren versucht, mischt sich ganz offensichtlich auch in den Streit um die Gestaltung unserer Zukunft. Und wie steht es mit der Finanzmarktkrise? Um ihren historischen Stellenwert abzuschätzen, muss man die Herausforderungen und Chancen diskutieren, die sich daraus in unserer Gegenwart für das (politische) Handeln ergeben. In Kapitel 5 wurde versucht, anhand einiger wichtiger sozialwissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Diskurse auf254


Kontingenz und Krisenverständnis

zuzeigen, welche Zwänge durch die Krise verschärft und welche gelockert worden sind und wo sich nach der Krise neue Handlungsmöglichkeiten auftun. Vor diesem Kontext lassen sich der Weg der Schweiz und ihre besondere Entwicklung verorten, wie das im Kapitel 6 skizziert worden ist. Ich neige dazu, die Krise als eine grosse Chance zu deuten, die unserem Bewusstsein endlich auf die Sprünge hilft: Wir werden zu einem Bewusstseinswandel herausgefordert, der schon einige Jahre ansteht. Die Schweiz hat den Strukturbruch der 70er Jahre gut überstanden. Aber wir haben kaum zur Kenntnis genommen, dass wir seit den 90er Jahren in einem völlig veränderten Umfeld agieren. Wirtschaftlich im Sinne eines weltweiten Trends zum Finanzmarkt-Kapitalismus vielleicht sogar etwas überangepasst und deshalb zunächst auch recht erfolgreich, verharrte die Schweiz nach 1989 politisch jedoch in Nabelschau und Nostalgie. Nun hat uns die Finanzkrise aufgeschreckt; sie soll uns gegenüber den Folgen einer profitwütigen Finanzindustrie nicht nur kritischer werden lassen, sondern auch deutlich aufzeigen, dass Handeln in einer global vernetzten Welt mentale Offenheit und politische Sensibilität für die systemischen Probleme dieser interdependenten Welt verlangt. Wir müssen neu ein Bewusstsein entwickeln, das dem weltweiten Umbruch seit den 90er Jahren endlich gerecht wird.

Kontingenz und Krisenverständnis Sind wir dazu auch fähig? Können wir diese mentale Umsteuerung vornehmen? Oder ist es unsere Pflicht und Schuldigkeit, dem historischen Sonderfall politisch auch in der Zukunft treu zu bleiben? Eine nationale Identität, die uns 255


Historische Ortsbestimmung und politisches Fazit

politisch handlungsfähig hält, muss eine Brücke bilden von unserer Herkunft zu unserer Zukunft. Wir sind nicht die Sklaven unserer Geschichte. Wir sollten sie zwar gut kennen und ihr den nötigen Respekt erweisen, damit sie uns nicht über das Unbewusste wieder einholt. Aber wir haben auch die Freiheit, ja, wir tragen die Verantwortung, unsere Geschicke und unsere Geschichte aktiv zu gestalten. Diese Überlegungen verweisen uns auf die so genannte Kontingenz, also darauf, dass die Gegenwart historisch geworden und damit erklärbar, aber prinzipiell auch veränderbar ist. Unsere soziale Welt hat sich zwar nicht beliebig, aber auch nicht naturnotwendig so entwickelt, wie sie uns heute erscheint, sondern aufgrund konkreten menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns. Deshalb steht auch die Entwicklung in die Zukunft grundsätzlich immer offen. Es ist nicht vorbestimmt, sondern hängt von unseren Entscheidungen ab, welche Risiken wir eingehen und welche Chancen wir nutzen. Ob wir recht haben mit den von uns getroffenen Entscheidungen, wird erst die Zukunft zeigen. Aber handeln müssen wir jetzt (und Nichthandeln wäre auch eine Art von Handeln). Wie aber gelangen wir aus der Welt von gestern in die Welt von morgen? Wir kennen ja nur die Welt von heute, die aus dem Gestern entstanden ist. Unser Denken und unser Wissen sind durch die Vergangenheit geprägt. Über die Zukunft wissen wir im Grunde genommen nichts. Wir gehen davon aus, dass vieles gleich bleibt wie heute und dass Entwicklungen in der Zukunft ähnlich verlaufen wie in der Vergangenheit. Die Geschichte ist unser Anschauungsmaterial. Sie ist der Steinbruch menschlicher Erfahrungen. Wenn wir über unsere Zukunft reden, extrapolieren wir die Erfahrungen von gestern auf die Welt von morgen. Aber auf welches Ziel 256


Kontingenz und Krisenverständnis

hin sollen wir die Krise zu überwinden versuchen? Dass wir nicht zum business as usual zurückkehren sollten, ist vorläufig noch ein relativ breiter Konsens, der jedoch abbröckeln wird, wenn wir ihn nicht nutzen. Aber es ist keineswegs klar, welches System, welche Kultur, welche Welt wir mittel- und langfristig anzustreben haben. Der Weg in die richtige Zukunft führt nicht zuletzt über kritische Fragen an unsere Herkunft. Die mehr als zweitausendjährige Sokratische Mäeutik verhilft auch diesbezüglich den richtigen Gedanken auf die Welt: Eine differenzierte Sicht der Krise bringt uns weiter. Für die Schweiz erweist sich die Finanzmarktkrise dann als grosse Chance, wenn wir einsehen, dass es nicht nur um eine Ereigniskrise, sondern um eine Strukturkrise geht, und wenn wir erkennen, dass wir die Chance haben, das System als solches zu verändern. Denn das entscheidend Neue an unserer Krisenerfahrung ist die systemische Sicht, die uns diese Krise gleichsam aufdrängt. Die Komplexität ist heute so hoch, dass konditionales und finales Denken nicht mehr ausreichen, um der Wirklichkeit gerecht zu werden. Man muss die Situation vom Ganzen her zu denken und vom gewünschten Ende her zu steuern versuchen. – Wir haben die Ereigniskrise überstanden! Das Finanzsystem ist vorerst wiederhergestellt, das Überleben gesichert: Mit dem UBS-Rettungspaket, den SNB-Aktionen und den bereits erlassenen FINMA-Regelungen sowie mit der Übernahme der OECD-Richtlinien für Bankgeheimnis und Steuern sollten wir zunächst knapp über die Runden kommen. Aber wenn wir nichts Zusätzliches tun und am System nichts ändern, laufen wir Gefahr, dass uns bald schon ein noch grösserer Einbruch droht. 257


Historische Ortsbestimmung und politisches Fazit

– Deshalb müssen wir die Strukturkrise als Herausforderung anpacken: Wir sollten möglichst rasch Änderungen am System vornehmen, damit wir nicht unvorbereitet in eine nächste Krise rasseln. Die grösste Herausforderung ist nun wohl das «too big to fail» unserer Grossbanken, die speziell überwacht, verkleinert oder aufgeteilt, mit hohen, eventuell abgestuften Eigenmitteln und einer strengen Leverage Ratio am Aufblähen ihrer Bilanzen gehindert und im Krisenfall transparent abgewickelt werden sollen. Unsere Aufsicht muss sich an den internationalen Standards ausrichten, vielleicht auch eine Anlehnung an die Überwachung in Europa vornehmen, wobei sie der besonderen Verletzlichkeit unserer kleinen Volkswirtschaft speziell Rechnung tragen sollte. Und der Finanzplatz braucht in Zukunft Geschäftsmodelle, die ohne Beihilfe zur Steuerhinterziehung profitabel sind. – Dann gilt es, die Systemkrise (die wir auch als eine Sinn- und Kulturkrise erleben) als Chance zu nutzen: Wir spüren die Grenzen dieses Systems und sollten Diskurse in Gang bringen, die das ganze System als solches verändern, es neu denken, neu erfinden, eine andere Dynamik und eine andere Logik in das Ganze hineinbringen. Dazu braucht es eine neue Sicht auf unsere Welt, die Interdependenzen anerkennt und das Programm der Moderne nicht als eine historische Gewissheit, sondern als Aufforderung zum verantwortungsvollen Handeln begreift und deshalb die Globalisierung mit Gerechtigkeit und Ökologie zu verbinden sucht. Eigentlich haben wir die Formel für ein systemisches Verhalten längst entdeckt: Sie heisst Nachhaltigkeit! Aber wir haben noch nicht begriffen, dass wir dazu unsere Nabelschau in Raum und Zeit endlich überwinden müssen. 258


These 1: Krisenperzeption

Solch eine Sicht der Dinge macht natürlich auch unsicher. Im Gegensatz etwa zum Bundesrat, der immer alles, aber jede Woche etwas anderes voll im Griff hat, sollten wir die Verunsicherungen besser offen zugeben. Ja, wir sollten lernen, mehr Sicherheit im Umgang mit Unsicherheit zu gewinnen. Erst wenn wir uns eingestehen, dass wir auf wichtige Fragen noch keine sicheren Antworten haben, dass wir neue Antworten suchen oder gar neue Fragen stellen müssen, sind wir auf dem richtigen Weg, die Krise zu überwinden. Krisen sind zwar immer auch Chancen. Aber das stimmt nur dann, wenn es uns auch gelingt, die Krisenerfahrung auszuhalten und sie so in unser Weltbild zu integrieren, dass wir wieder handlungsfähig werden. Damit kommen wir zu den politischen Schlussfolgerungen, die sich aus der Krise des Finanzplatzes Schweiz ergeben, wenn wir sie aus einer historischen Perspektive sehen. Diese Thesen setzen bewusst Akzente und sollen zu einer offenen Diskussion über unseren Weg in die Zukunft herausfordern.

These 1: Krisenperzeption Wir müssen die Finanzmarktkrise ernst nehmen und dürfen sie nicht kleinreden. Das gilt auch für ihre kritische Aufarbeitung im eidgenössischen Parlament: Eine PUK (Parlamentarische Untersuchungskommission) ist zwar das schärfste Instrument parlamentarischer Kontrolle, aber es scheint mir zur Klärung der Frage angemessen, ob und wie unser politisches System von der Finanzwirtschaft instrumentalisiert worden ist und welche Rolle dabei die verschiedenen Instanzen (auch das Parlament selbst!) gespielt ha259


Historische Ortsbestimmung und politisches Fazit

ben. Eine PUK gibt den Vorkommnissen nicht nur symbolisch Bedeutung, sie ermächtigt auch, die privaten Akteure zum Hearing vorzuladen. Das Parlament kann mit der Einsetzung einer PUK demonstrieren, dass das politische System die Anerkennung seines Primats, das ihm bei letzten Entscheidungen in einer demokratischen Gesellschaft gegenüber den andern Subsystemen zukommt, auch an dieser heiklen Schnittstelle zur Finanzwirtschaft einfordern will. Wir haben bisher auf die Krise so reagiert, als wäre sie nur eine Ereigniskrise, also eher ein zufälliges Problem, das mit der Rettung der UBS und den wieder positiveren Wirtschaftstrends aus der Welt geschafft wäre. Doch die Ursachen der Krise liegen tiefer; sie haben mit den Strukturen des Finanzsystems und seinem Verhältnis zur Politik zu tun. Wenn wir dieses System nicht umbauen, gegen Risiken besser absichern und politisch strenger kontrollieren, könnten wir schon bald wieder im Schlamassel stecken. Um den Grossrisiken künftig gewachsen zu sein, müssen die entsprechenden Nägel mit Köpfen erst noch geschmiedet und am richtigen Ort eingeschlagen werden. Wir sollten die Krise zusätzlich auch als Chance nutzen, um das System im Hinblick auf mutmassliche neue Herausforderungen der Zukunft umzugestalten, es quasi neu zu erfinden. Kreativität kann dann entstehen, wenn es gelingt, die Verunsicherungen produktiv zu machen. Krisen bieten den Vorteil, dass wir manche Zusammenhänge klarer sehen, unsere eigene kulturelle Einbindung besser erkennen und damit vieles auch leichter verändern können.

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These 2: Finanzmarktregulierung

These 2: Finanzmarktregulierung Die Krise hat uns in Erinnerung gerufen, dass die Finanzwirtschaft eine letztlich durch den Staat garantierte Veranstaltung ist. Sie darf sich von der Realwirtschaft nicht abkoppeln und kann sich auch nicht selber regulieren, sondern braucht einen starken, politisch gesetzten Rahmen. Das Wichtigste sind dabei markant höhere Eigenmittel als bisher, mehr Transparenz und eine Aufsicht, die diesen Namen wirklich verdient. Die Leverage Ratio, der Verschuldungsgrad, ist gerade für hohe Systemrisiken und für Klumpenrisiken, wie sie die Grossbanken für unsere kleine Volkswirtschaft darstellen, von zentraler Bedeutung. Mehr Eigenkapital bremst die Risikofreude, und im konkreten Krisenfall, wenn das Risiko tatsächlich eintreten sollte, zählt die reale Verschuldung und nicht die Wahrscheinlichkeit, mit der das Risiko hätte eintreffen dürfen. Grösstes Problem für die Schweiz ist die Grösse ihrer Grossbanken. Wenn sie nicht in Teile aufgespaltet, massiv verkleinert und im Falle eines Konkurses auch sauber abgewickelt werden können, muss die faktische Staatsgarantie schon aus Gründen des fairen Wettbewerbs finanziell abgegolten werden. Systemrelevante Institute sind Teil des Service public; sie können zwar weiterhin privatwirtschaftlich organisiert und gewinnorientiert geführt werden, aber der Staat hat eine spezielle Verpflichtung zur strengen Aufsicht und muss bei politisch heiklen Fragen und wichtigen Entscheiden auch mitreden können, denn letztlich sind seine Steuerzahler massiv involviert. Neben der mikroprudenziellen Aufsicht über die einzelnen Institute durch die FINMA werden die systemischen Zusammenhänge und damit die makroprudenzielle Sicht im261


Historische Ortsbestimmung und politisches Fazit

mer wichtiger. Die Nationalbank hat in diesen systemischen Fragen den besten Durchblick und sollte noch griffigere Kompetenzen erhalten, um die Stabilität des Finanzsystems zu gewährleisten. Dazu gehören auch Interventionsmöglichkeiten, wenn neue Blasenbildungen erkennbar sind oder wenn die Geldschöpfung und die Kreditgewährung über das private Bankensystem zu volkswirtschaftlichen Problemen führen. Ein immer globaler werdendes Geschäft braucht eine internationale oder zumindest eine international koordinierte Regulierung und Aufsicht. Die Schweiz als ein gewichtiger Finanzplatz sollte neue Lösungen nicht nur technisch mitgestalten, sondern politisch aktiv mittragen und mitverantworten, eventuell auch in einem europäischen Verbund. Zu diesem Zweck muss sie ihre egoistischen Besonderheiten überdenken, um finanzmarktpolitisch wieder anschlussfähig und aussenpolitisch kooperationsfähig zu werden. Das rigorose Bankgeheimnis und insbesondere die Unterscheidung zwischen Steuerhinterziehung und Steuerbetrug sind überholt und gehören längst abgeschafft. Geschäftsmodelle, die darauf basieren, haben ohnehin keine Zukunft mehr.

These 3: Internationale Öffnung Weder politische Neutralität noch hehre Vergangenheit dürfen als Denkblockaden wirken: Wir sind Teil einer global vernetzten Welt. Die Schweiz hat mit ihrem Export und ihren Banken die wirtschaftliche Globalisierung mächtig vorangetrieben. Jetzt muss sie die Konsequenzen auf Seiten der politischen Globalisierung mittragen; das liegt im ureigenen Interesse eines Landes mit auslandabhängiger Volkswirt262


These 4: Nachhaltige Entwicklung

schaft. Es ist unabdingbar, den gewaltigen Wandel des internationalen Umfeldes (vor allem seit 1989) endlich zur Kenntnis zu nehmen. Die Welt ist viel vernetzter und viel politischer geworden. Wer global wirtschaftet, muss auch für globale Standards einstehen; das gilt nicht nur für die Finanzindustrie. Es gibt keine Extrawurst auf Kosten unserer Nachbarn! Der Kalte Krieg, der das Trittbrettfahren und Rosinenpicken erlaubte, ist vorbei. Wir brauchen Freunde in einer Welt, die zu neuen Blockbildungen neigt. Wer da auf mehreren Hochzeiten tanzt, sitzt am Schluss zwischen Stühlen und Bänken. Für selbständige Strategien sind wir meist zu klein, für Nischenstrategien zu gross, als dass man uns Vorteile unstrittig überliesse. Die Schweiz muss ihr Verhältnis zum Umfeld klären, muss ihre Aussenpolitik neu definieren. Europa ist der wichtigste Wirtschaftspartner; es steht uns kulturell besonders nahe. Die Zukunft Europas ist auch unsere Zukunft. Und was ist unser Beitrag an die Zukunft Europas? Sind wir fähig, unsere politische Identität auch aus dem zu schöpfen, was uns mit andern verbindet, um uns nicht nur durch Abgrenzung nach aussen definieren zu müssen?

These 4: Nachhaltige Entwicklung Die Finanzmarktkrise hat uns für systemische Zusammenhänge sensibler gemacht. Die Formel für systemisch vernünftiges Verhalten ist längst erkannt und seit Rio 1992 eigentlich auch breit akzeptiert. Wenn wir Nachhaltigkeit ernst nehmen, dürfen wir Wirtschaft nicht nur als quantitatives Wachstum begreifen, sondern müssen ihre qualitative Seite, ihre langfristig wirkende Substanz, ihr Zukunftspoten263


Historische Ortsbestimmung und politisches Fazit

zial fördern. Wissensbasierte Wertschöpfung basiert auf Bildung und sozialer Kompetenz; sie darf ihre kulturelle Einbettung nicht unterschätzen. Die Fixierung auf den kurzfristigen finanziellen Erfolg wirkt sich verheerend aus. Wir brauchen eine Entschleunigung wichtiger Entscheidprozesse. Der Dienstleistungsgedanke der Ökonomie, ihre Lebensdienlichkeit und ihre soziale und ökologische Verantwortung sollten im Vordergrund stehen. Dazu gehört endlich eine moderne Ordnungspolitik, die über den direkten Einzelinteressen der Akteure steht, Nachhaltigkeit global einfordert und die ökologischen und sozialen Kosten minimiert. Es gehört aber ebenso dazu, dass wir den nachfolgenden Generationen keine Schuldenberge hinterlassen. Vor allem nicht angesichts einer Demografie, die uns das grosse Problem zur Lösung aufträgt, wie eine alternde, satte Gesellschaft ohne gierige junge Aufsteiger ihren Reichtum erhalten kann.

These 5: Public Governance Die Finanzmarktkrise hat die Staatsabbauer vorübergehend verstummen lassen. Man erkennt wieder klarer, wie viele Aufgaben innen- und aussenpolitisch anstehen. Fragen der Sicherheit, nicht nur militärisch-politische, auch rechtliche, wirtschaftliche, soziale und ökologische prägen die Zukunft der Risikogesellschaft. Aber ein Rückfall in den alten bürokratischen Etatismus wäre genauso falsch wie ein neoliberales Laisser-faire, das den Staat für private Gewinne zu instrumentalisieren sucht. Die Dichotomie «mehr Staat – weniger Markt» stimmt so nicht mehr. Wir brauchen eine bessere Politik – mehr Professionalität auf allen Stufen, mehr Verant264


These 5: Public Governance

wortlichkeit und Eigenständigkeit der Institutionen, mehr eigenes Gewicht der Politik, damit sie mit der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft in einen Dialog auf Augenhöhe treten und echte Kooperationen eingehen kann. Mit Public Governance unterstützt die Politik eine reflexive, systemische Steuerung der gesellschaftlichen Entwicklung. Public Governance ist die Corporate Governance des öffentlichen Bereichs. Hier muss man darüber diskutieren und entscheiden können, wer in unserer Gesellschaft eigentlich wofür zuständig ist. Was sind öffentliche Aufgaben? Was gehört zur Staatsfunktion? Und welche Institutionen können und sollen welche Probleme lösen? Das geht bis zu Fragen der direkten Demokratie und des Föderalismus, die den institutionellen Stolz unseres Landes bilden. Auch diese Instrumente sind diskutierbar und nicht sakrosankt; sie blockieren viele wichtige Innovationen. Die Herausforderung besteht darin, dass man sie nicht einfach abschaffen kann, wie das gewisse Wirtschaftsmodernisten wünschen. Volk und Stände werden ihre Rechte kaum hergeben, solange sie wenig Vertrauen haben in die institutionelle Politik und die Politiker. Eine Deblockierung der Politik in der Schweiz ist auf inhaltlichem Wege anzustreben, damit zahlen wir den Preis für unsere weitgehenden Möglichkeiten der politischen Partizipation. In den einzelnen Policies müssen die parteiübergreifenden Kompromisse gesucht und gefunden werden. Das ist zwar mühsam, aber immer noch erfolgversprechend, wenn man ernsthaft nach Gemeinsamkeiten sucht und erkennt, dass Profilierung durch Polarisierung auch nicht zielführend ist: Man gewinnt zwar ein paar Wählerprozente, kann sich aber sachpolitisch doch nicht durchsetzen. Unser System zwingt zur Konkordanz und zu einem möglichst breiten Konsens. 265


Historische Ortsbestimmung und politisches Fazit

These 6: Politik als Kommunikation Inhalte und Ziele der Politik stehen nicht einfach fest; sie müssen immer wieder diskutiert werden. In einer Abstimmungsdemokratie ist die Auseinandersetzung mit den Betroffenen Voraussetzung für den Erfolg; ihre Anliegen und ihr Wissen muss die Politik ernst nehmen, ohne sich abhängig zu machen. Opportunismus ist nicht Führung, aber Führung ohne Gespräch ist in einer Demokratie nicht denkbar. Politik ist Kommunikation. Echte Kommunikation, nicht unverbindliche Plauderei (leider muss man das sehr deutlich sagen, wenn man gewisse Exponenten der schweizerischen Finanzmarktpolitik der letzten Jahre vor Augen hat). Politik besteht nicht nur aus Macht und Entscheidungen; ihre Akte mögen noch so legal sein, ohne entsprechende Kommunikation greifen sie selten, weil sie nicht legitimiert oder schlicht nicht bekannt sind. Die Ausdifferenzierung, Individualisierung und Dynamik des modernen Lebens schwächt die Orientierungskraft kultureller Traditionen. Je mehr uns die verbindenden (und verbindlichen) Geschichten abhandenkommen, umso mehr müssen wir unser Zusammenleben selber und immer wieder neu erfinden. Kommunikation ist unser sozialer Radar. Wie brauchen Geschichten, um uns zu orientieren. Politik und Medien tragen mit ihren Interpretationen der Gesellschaft grosse Verantwortung, ob eine erfolgreiche Orientierung gelingen kann. Ohne Vertrauen läuft dabei nichts. Es ist rasch zerstört und kann nur mühsam wieder aufgebaut werden. Über den Inhalt einer Botschaft entscheiden letztlich ihre Empfänger. Wichtigstes Instrument der Kommunikation sind deshalb Fragen, die Auseinandersetzungen in Gang bringen. Es geht darum, die Partner auch als Chance ernst 266


These 7: Stärkung der Zivilgesellschaft

zu nehmen, die eigenen Positionen im sozialen und politischen Feld zu orten und zu reflektieren. Der kategorische Imperativ von Kant könnte deshalb kommunikativ umformuliert werden: Unser Handeln soll nicht nur jederzeit Vorbild für die andern sein. Wir müssen ihnen die eigenen Ansichten und Absichten auch kundtun und bereit sein zu einer offenen Diskussion, in der das bessere Argument eine echte Chance hat, zur Einsicht aller beizutragen.

These 7: Stärkung der Zivilgesellschaft Politik und politische Kommunikation sind zu wichtig, als dass man sie allein den Politikern überlassen kann. Politik ist nur eine Form, in der sich die Gesellschaft ausdrückt. Die politischen Diskurse sollten in der Zivilgesellschaft breit abgestützt sein und ernst genommen werden. Dafür haben wir in der Schweiz gute Voraussetzungen. In unserem politischen System ist die Partizipation stark ausgebaut, was eine hohe Politisierung der Gesellschaft bewirkt. Als Gegengewicht zur erwünschten Professionalisierung der Politik könnten die NGOs und andere gesellschaftliche Initiativen dienen. Für die politische Kultur in einer direkten Demokratie tragen alle die Verantwortung. Es wird interessant zu beobachten sein, wie die Prozesse des sozietalen Lernens in einer netzwerkartigen Gesellschaft ohne ein klares hierarchisches Zentrum ablaufen, ob sie zu emergenten neuen Lösungen für unsere Probleme führen. Es braucht gesellschaftliche Diskurse, namentlich auch über unser Geld- und Finanzsystem. Die Finanzmarktkrise ist eine einmalige Chance zur Alphabetisierung der breiten Bevölkerung in Wirtschafts- und Finanzfragen, die man jetzt unbedingt nutzen muss. 267


Historische Ortsbestimmung und politisches Fazit

Neo-Moderne, Geld und Ethik Money makes the world go round. Geld spielt für die meisten Menschen und für alle (entwickelten) Gesellschaften eine ganz zentrale Rolle. Es ist nicht nur in der Wirtschaft wichtig als Messgrösse, als Zahlungs- und Aufbewahrungsmittel, als Preis für Leihe und Einsatz ökonomischer Werte und damit als wirkungsvollster Treiber für Wertschöpfung, für Arbeitsteilung, (Welt-)Handel und Verschuldung. Geld versieht in einer modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft auch in allen andern Funktionssystemen wie Politik, Gesundheit, Wissenschaft bis hin zu Kunst und Kultur eine notwendige Rolle: Als Mittel für jeglichen Austausch und Betrieb kettet das Geld alle diese Subsysteme zunehmend an die Logik des Wirtschafts- und Finanzsystems. Geld und das Streben nach Gewinn vernetzen diese sonst divergierenden Sphären miteinander, entgrenzen sie räumlich und treiben damit tendenziell auch die Globalisierung voran. Diese zentrale Querschnittsfunktion des Geldes lässt sofort auch Verteilungs-, Abhängigkeits-, Herrschafts- und Machtfragen und damit Gerechtigkeitsprobleme aufleuchten, die für die Kohärenz einer jeden Gesellschaft von grosser Bedeutung sind. Zudem stellt sich das schwierige Problem, ob und inwieweit der Geldwert einer Sache oder einer Leistung ihrem wahren gesellschaftlichen Wert entspricht, ob jedes Gut letztlich auf seinen je aktuellen (Markt-)Preis reduziert werden kann und darf, wenn beispielsweise das natürliche Gleichgewicht und die kulturelle Vielfalt auch künftigen Generationen erhalten bleiben sollen. Lässt sich mit Geld wirklich alles messen oder gibt es Werte jenseits eines ökonomischen Preises? Diese eminent wichtige und nicht unproblematische Be268


Neo-Moderne, Geld und Ethik

deutung macht das Geld und seine Funktionen zum Angelpunkt für gesellschaftspolitische Diskussionen und – seit Georg Simmels meisterhafter Diagnose vor hundert Jahren – auch für sozialwissenschaftliche Reflexionen. Ohne eine Analyse der zentralen Rolle des Geldes dürften sowohl ein adäquates Verständnis von Gesellschaften als auch verständnisvolles Handeln in und für Gesellschaften kaum möglich sein. Es kann deshalb wenig erstaunen, dass gerade bei diesem Thema die gesellschaftlichen Konflikte und Bruchlinien deutlich werden: In Fragen des Geldes prallen bei Gesellschaftsanalysen und Gegenwartsdiagnosen politische Haltungen und Absichten aufeinander; hier zeigen sich auch die unvermeidlichen Widersprüche zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, ethischen Grundsätzen und den Gepflogenheiten der Praxis; Erfahrungen der Vergangenheit stossen auf neue Herausforderungen der Zukunft. Im Geld und im Verständnis seiner vielfältigen Funktionen kann sich jede Gesellschaft im Spiegel sehen. Der Stellenwert von Geld und Geldsystemen für die moderne Gesellschaft, ihre Bestandsprobleme und Zukunftschancen liessen eigentlich erwarten, dass gerade zu dieser Thematik eine breite, offene Diskussion geführt wird. Aber bis anhin war eher das Gegenteil der Fall. Obwohl die soziale Funktion des Geldes uns alle zentral betrifft, fand bisher kein öffentlicher Diskurs darüber statt. Fast schien es, als wären diese Zusammenhänge tabuisiert. Wir sind in diesen Fragen noch nicht einmal beim postmodernen Pluralismus, geschweige denn bei einer neomodernen Perspektive angelangt. Nur im Kreise von Spezialisten unterhält man sich über Alternativen und über die Zukunft von Geldsystemen. Die meisten Laien halten den heutigen Zustand wohl für gottgewollt oder naturgegeben; dass er kontingent und da269


Historische Ortsbestimmung und politisches Fazit

mit auch veränderbar ist, drang bislang nicht in ihr Bewusstsein vor. Umso erstaunter reagieren dann viele auf Veränderungen, von denen sie nicht selten existenziell betroffen sind. Sozietales Lernen in interdisziplinären, interaktiven Lernarenen ist deshalb angesagt, mit dem Ziel, einen Gedankenaustausch auch über Systemgrenzen hinweg zu organisieren und einen Perspektivenwechsel zu ermöglichen, der die gesellschaftliche Selbstreflexivität endlich auch in Fragen des Geldes spürbar erhöht. Die Finanzmarktkrise hat deutlich gemacht, dass die Risikogesellschaft nicht nur im militärischen, technologischen, ökologischen und sozialen Bereich eine Realität ist, sondern auch im Geld- und Finanzsystem. Auch in diesem Bereich machen wir Menschen die Katastrophen selber und wir können weder dem Zufall noch der Vorsehung die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Wir tragen die Verantwortung und wir müssen unsere Zukunft aktiv gestalten. Die Finanzmarktkrise hat uns die Unschuld bezüglich der Finanzwirtschaft endgültig genommen. Wir haben die Mechanismen des Finanzmarkt-Kapitalismus kennen gelernt. Niemand kann bei der nächsten Krise behaupten, er sei nicht vorgewarnt worden. Wir wissen nun deutlich, wie sich eine Krise aufbaut, was sie auslöst und wie sie ablaufen kann. Und wir wissen auch, dass wir die Spekulation verhindern, die Zinserwartungen drosseln und überrissene Ansprüche auf arbeitsloses Kapitaleinkommen schon aus systemischen Gründen radikal in Frage stellen müssen. Die grösste Chance der Finanzmarktkrise ist wohl, dass sie die Alphabetisierung der Gesellschaft in Fragen des Geldes voranbringt. Wer Einsicht nimmt in die traurige Geschichte der Verbriefungen amerikanischer Immobilienkredite, der kommt auch dem modernen Kapitalismus auf die Schliche 270


Neo-Moderne, Geld und Ethik

und bringt die Problematik unseres Geldsystems auf den Punkt: Die Schulden der einen sind die Vermögen der andern; und wo die Schulden nicht mehr bedient werden können, da lösen sich auch die Vermögen in Luft auf! Beide Seiten sollten diesen systemischen Zusammenhang erkennen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Auch in dieser Hinsicht ist die Finanzmarktkrise eine echte Chance. Gerade und vor allem für die wohlhabende Schweiz. Nutzen wir sie!

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Was würde Georg Simmel zur heutigen Krise sagen? Paschen von Flotow

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er Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858– 1918), neben Max Weber und Emile Durkheim Mitbegründer der Soziologie und wichtiger Inspirator der «Kulturphilosophie», veröffentlicht im Jahr 1900 nach zwölf Jahren Vorarbeit die «Philosophie des Geldes». In diesem Werk betrachtet er wie kein anderer vor ihm oder nach ihm die Geschichte des Geldes und die Geschichte der Geldwirtschaft in Wechselwirkung mit ihren geistigen, kulturellen, politischen und weiteren Voraussetzungen und Wirkungen. Simmel erlebt spätestens seit dem Beginn der Herausgabe seines Gesamtwerkes im Jahre 1989 durch Otthein Rammstedt (im Suhrkamp Verlag) eine Renaissance. Die «Philosophie des Geldes» wurde als erstes Werk der Gesamtausgabe veröffentlicht. Was würde Georg Simmel zur gegenwärtigen Krise sagen? Und: Lohnt es sich, seine Sicht vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise in Erinnerung zu rufen? Zunächst einmal würde Simmel darauf hinweisen, dass sich derlei Krisen in der Geschichte wiederholt ereignet haben. Auch würde ihn nicht verwundern, dass das menschliche Begehren von Geld (durchaus auch im Sinne eines «Endzweckes des Lebens») eine der Ursachen der Krise ist. Die Existenz solchen Begehrens ist Teil seiner Überlegungen. Des Weiteren würde es ihn auch nicht wirklich erstaunen, dass der Staat bzw. die Staaten zur Stützung des privat273


Was würde Georg Simmel zur heutigen Krise sagen?

wirtschaftlichen Geld- und Kreditmarktes «ins Risiko gegangen» sind. Simmel hat klar erkannt, dass die Geldwirtschaft eine im Wesentlichen staatlich garantierte Organisationsform der Wirtschaft ist. Die moderne Geldwirtschaft basiert aus seiner Sicht auf dem Vertrauen in die (staatlichen) «Zentralinstanzen». (Simmel gilt unter Soziologen als «Entdecker» des Vertrauens als wichtiger soziologischer Untersuchungsgegenstand.) Wirklich erstaunen würde ihn wohl eher die Tatsache, dass sich die ökonomische Theorie in ihrem mikroökonomischen Kern nicht wirklich weiterentwickelt hat, dass immer noch das (neoklassische) statische Tauschmodell das alleinige Grundmodell der bis heute dominanten ökonomischen Theorie ist. Simmels Anspruch war zwar nicht, eine ökonomische Theorie zu entwerfen. Aber seine Überlegungen zu den geistigen und kulturellen Voraussetzungen und Wirkungen der Entwicklung der Geldwirtschaft führten ihn zu Entdeckungen, die auch für die ökonomische Theorie relevant sind. Simmel plädiert dafür, die Wechselwirkung zwischen den «inneren ökonomischen Kräften» und den «äusseren ökonomischen Formen» ernst zu nehmen. Diese Wechselwirkung sieht er als wesentlich für die historische Entwicklung an. Anders als im Rahmen des historischen Materialismus nimmt er an, dass die Entwicklung auch auf (sich entwickelnden) geistigen Voraussetzungen beruht. Insofern es Simmel immer um eine genauere Betrachtung von Veränderungen geht, spielt die Zeit also eine wesentliche Rolle: Dies gilt für den historischen Prozess wie für den kurzfristigeren Horizont des ökonomischen Prozesses. Unter beiden Gesichtspunkten scheint ihm das Geld ein wesentlicher Ausgangs- und Durchgangspunkt für die Reflexion der gesell274


Zu den ökonomischen und philosophischen Grundlagen

schaftlichen Entwicklung. Er würde daher daran erinnern, dass er doch schon im Jahr 1900 auf die entscheidende (Doppel-)Rolle des Geldes und damit die Dynamik der Geldwirtschaft aufmerksam gemacht hat. Diese seine Perspektive mache doch deutlich, dass die Geldwirtschaft etwas prinzipiell anderes sei als eine (komplexe) Tauschwirtschaft. Gerade die Wahrnehmung des dynamischen Charakters der modernen Geldwirtschaft sei die Voraussetzung für das Verständnis der Krisenanfälligkeit dieser Geldwirtschaft. In aller Kürze werden daher im Folgenden für unsere gegenwärtige Debatte zentrale Gedankengänge der «Philosophie des Geldes» reflektiert, die die Dynamik der (Geld-) Wirtschaft in den Blick nehmen.

Zu den ökonomischen und philosophischen Grundlagen Eine der Kernfragen des Nachdenkens über Wirtschaft und also auch der Wirtschaftswissenschaft ist die Frage danach, wie sich der Wert eines wirtschaftlichen Gutes bildet bzw. wie er sich erklären lässt. Die ökonomische Theorie hat zu dieser Frage in ihrer Geschichte unterschiedliche Antworten gefunden. Seit Ende des 19. Jahrhunderts dominiert die Vorstellung, dass sich der wirtschaftliche Wert am besten als ein Tauschwert begründen lässt. Diese Fokussierung auf den Tauschwert und damit auf den relativen Preis vollzog sich im Zuge der Auseinandersetzung zwischen objektiver (Klassik) und subjektiver Werttheorie (Neoklassik) am Ende des 19. Jahrhunderts. Die subjektive und neoklassische Wert- bzw. Wirtschaftstheorie basiert auf der Annahme, dass sich der Wert der Waren als Ergebnis der subjektiven Wertungen der 275


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Waren – und damit von der Nachfrage her – bestimmen lässt. Auf Basis dieser Grundüberlegung lässt sich der Wert eines Gutes als relativer Wert (im Verhältnis zu einem Warenkorb) definieren. Diese Grundposition der subjektiven Werttheorie und Neoklassik basiert auf einem Modell der Wirtschaft als Tauschwirtschaft. Und sie beansprucht für dieses Modell Allgemeingültigkeit; das heisst, die Gültigkeit des Modells wird im Sinne eines allgemeingültigen Gesetzes nicht historisch eingeschränkt. Dieser Position schliesst sich auch Simmel zunächst in seiner «Philosophie des Geldes» an. Georg Simmel fundiert diese ökonomische Perspektive zusätzlich philosophisch – und zwar ontologisch. Er begründet den auf subjektivem Begehren bzw. subjektiver Wertung basierenden (ökonomischen) Tauschwert, den relativen Wert, indem er ihn auf eine «Formel des Seins», eben der Relativität, gründet. Der Tauschwert oder relative Wert der Güter ist der ökonomische Ausdruck der «Weltformel der Relativität» und das Geld sein Zeichen. Simmel stellt allerdings einer (solchen) von «Relativität» geprägten Weltsicht eine andere «Weltansicht» gegenüber: nämlich eine Sicht, in der «absolute Werte» Anspruch auf Anerkennung und Gültigkeit haben. (Man kann hier z. B. an die «Ideen» im Weltbild Platons oder das «Wesen» der Dinge in der mittelalterlichen Philosophie denken.) Und Simmel stellt diese grundsätzlich gegensätzlichen «Weltansichten» nicht nur einander gegenüber, er bringt sie auch in eine kulturphilosophische und damit kulturhistorische Perspektive: Die auf absolute Wahrheiten oder Werte zielende und gründende Welt(-sicht) verliert mit der Entwicklung der Geldwirtschaft, so Simmel, an Gültigkeit. Allerdings bleibt für Simmel letztlich offen, ob nicht doch auch im Zustand 276


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der entwickelten Geldwirtschaft absolute Werte Anspruch auf Anerkennung haben (können). Damit relativiert Simmel im Kontext seiner kulturphilosophischen und historischen Perspektive seine Ausgangsposition im Sinne einer uneingeschränkt allgemeingültigen philosophischen Interpretation des ökonomischen Wertes als relativer Wert. In der historischen Perspektive spielt jetzt das Geld bzw. die Entwicklung der Geldwirtschaft und des Geldes eine entscheidende Rolle. Es zeigt sich, dass das Geld nicht «nur» Symbol der Relativität in einem allgemeinen ahistorischen Sinne ist. Vielmehr ist das Geld Symbol und auch Träger der entscheidenden kulturellen Entwicklung schlechthin: Es ist Symbol und Träger des historischen Prozesses der allmählichen Auflösung einer Welt absoluter Werte und damit zugleich der Entfaltung der Freiheit: der Freiheit subjektiver Wertung. Mittels der Wirksamkeit des Geldes und der Geldwirtschaft prägt die «Weltformel der Relativität» die Wirklichkeit des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens wie des Denkens erst allmählich mehr und mehr. Dieser Prozess der Umwandlung der Weltansicht wie auch der realen Welt befördert und ermöglicht den «funktionellen und substanziellen Fortschritt». Und diese Entwicklung steht in Wechselwirkung, das heisst, wird ermöglicht und befördert durch die Entwicklung bestimmter Formen des Denkens und der Vorstellungen sowie der Entwicklung bestimmter Formen des Wirtschaftens, eben solcher der Geldwirtschaft. So sehr sich Simmel also mit der Betonung des relativen Wertes der Güter auf die neoklassische Theorie des Marktpreises stützt bzw. sie philosophisch untermauert, so geht er doch auch über diese hinaus. Er relativiert sie aus einem kulturphilosophischen und damit auch historischen 277


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Blickwinkel. Und: dem Geld kommt eine zentrale Funktion im Rahmen der historischen Entwicklung zu. Geld spielt eine Rolle, und was für eine: Geld ist Symbol und Träger der entscheidenden kulturellen Entwicklung der letzten zweibis dreitausend Jahre, des «funktionellen und substantiellen Fortschritts» und das heisst auch der Entwicklung zur Freiheit. Aber wie, so kann man sich mit Simmel fragen, kann man sich einen solchen Prozess der Wandlung mit dem Geld als Symbol und Träger vorstellen?

Zur Begründung der ökonomischen Relevanz des Geldes in der Zeit Simmel verdeutlicht, wie er sich diesen Prozess der historischen Entwicklung der Umwandlung von Weltansichten ganz konkret vorstellt. Er fundiert und illustriert seine kulturphilosophische Sicht und seine These von der (historischen) Wirksamkeit des Geldes durch umfangreiche wirtschaftstheoretische und -historische, soziale und weitere Überlegungen. Dazu begibt er sich auf die Ebene mikroökonomischer Theorie, also der Theorie der Märkte und der Preisbildung. Er relativiert das neoklassische Tauschmodell des Marktes, in dem das Geld «nur» Symbol der Relativität ist, nochmals – diesmal auf dieser mikroökonomischen Ebene. Er tut dies, indem er wiederum die Zeitdimension in die Überlegungen einbezieht und zwei Perspektiven unterscheidet: Er argumentiert innerhalb der Zeit und unter Abstraktion von der Zeit. Hier geht es also nicht um die historische Zeit bzw. Entwicklung, sondern um die viel kürzeren ökonomischen Zeithorizonte. 278


Zur Begründung der ökonomischen Relevanz des Geldes

Das neoklassische Tauschmodell abstrahiert in doppelter Hinsicht von der Zeit. Das neoklassische Modell zur Erklärung der Höhe des Wertes will erstens – wie erwähnt – ein allgemeingültiges, ahistorisches Modell der Wirtschaft begründen; das heisst, das Modell beansprucht allgemeine Gültigkeit unabhängig von den historischen Umständen. Zweitens: Das Modell ist auch in sich zeitlos: Warenangebot und Warennachfrage fallen im Grundmodell des Tausches in einem Zeitpunkt zusammen, erfolgen gleichzeitig; getauscht werden Waren. Das heisst, die Wirtschaft erscheint in diesem Modell als ein Marktmodell mit Gütern, die bereits produziert sind (!) und nun auf dem Markt getauscht werden und so ihren Preis finden – ohne Zeitverzug und d. h. auch ohne ein Dazwischentreten des Geldes. Geld und seine mögliche Wirksamkeit geraten durch die Abstraktion von der Zeit aus dem Blick (!), Geld ist eigentlich nicht relevant. Seine Funktion im kurzfristigen Marktprozess von Kauf und Verkauf, zur Wertaufbewahrung, zur Finanzierung der Produktionsphase oder auch im langfristigen historischen Prozess werden vollständig ausgeblendet. Damit weist Simmel indirekt auch darauf hin, dass die Neoklassik den Nutzen des Geldes in der Wirtschaft nicht erklären kann. Im neoklassischen Tauschmodell zur Erklärung des relativen Wertes der Waren gibt es ja kein Geld; und das heisst dann auch, dass Existenz und Nutzen des Geldes und des Kapitals eben nicht begründet werden können. Diese Reduktion oder Abstraktion hält Simmel nun offensichtlich für eine unzulängliche Vereinfachung. Simmel sieht konsequenterweise, dass es darum geht, die Preisbildung nicht nur unter Abstraktion von der Zeit, sondern in ihrer zeitlichen Struktur zu analysieren. Dieser doppelte Blick auf die Wirtschaft führt ihn zum Begriff der «Doppel279


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rolle des Geldes»: Es geht darum, dass das Geld je nach Perspektive einerseits «Relation ist» und andererseits «Relation hat». Innerhalb der Zeit zeigt sich, dass das Geld «Relation hat». Die Ökonomen sprechen dann von den «absoluten Preisen» der Waren. Das sind die Preise, in denen im wirtschaftlichen Verkehr berechnet und bezahlt wird. Abstrahiert man aber von der Zeit, dann sieht man das Geld insofern es nur noch «Relation ist», Relationen darstellt. Die Ökonomen sprechen dann von «relativen Preisen». Die relativen Preise verweisen nur auf die eine Rolle des Geldes; diese Rolle des Geldes sieht man nur aus dem Blickwinkel der Abstraktion von der Zeit – im bereits erwähnten Tauschmodell. Abstrahiert man von der Zeit, dann kann man – und nur dann – die Wirtschaft in der Tat als Tauschwirtschaft ohne Geld darstellen; dann interessiert für den Moment nur der relative Tauschwert. Wenn also wie im Modell der Wirtschaft als Tauschwirtschaft von relativen Preisen gesprochen wird, dann ist eigentlich vollständig vom Geld bzw. vom Preisniveau abstrahiert. Abstraktion von der Zeit führt also automatisch auch zur Abstraktion von der Wirksamkeit des Geldes in der Zeit. Simmel weist also darauf hin, dass sich die Wirtschaft im Zeitverlauf ereignet und nicht im zeitlosen Tausch der Waren, in dem zugleich gegeben und genommen wird. Und er zeigt, dass dieser Unterschied zwischen dem wirtschaftlichen Verkehr in der Zeit und dem Modell der Tauschwirtschaft von entscheidender Bedeutung ist: Waren werden – in der modernen Wirtschaft – nicht gegen Waren getauscht, vielmehr steht dem Warenangebot eine Nachfrage im Sinne eines Angebotes von Geld gegen Ware gegenüber. Erst in einem nächsten Schritt, in einer nächsten Phase kann dieses eingenommene Geld wiederum gegen Waren (oder Arbeits280


Zur Begründung der ökonomischen Relevanz des Geldes

zeit) angeboten werden. Im Zeitablauf werden eben nicht alle Waren in Relation miteinander gebracht (relativer Tauschwert der Ware), um den realen Preis zu ermitteln, sondern es findet ein Zahlungsverkehr statt: Geld – Ware – Geld usw. In diesem Zeitablauf ist es jeweils der absolute (Geld-)Preis, der gezahlt wird, der zählt. Und genau darin, in diesem Dazwischentreten, liegt ein entscheidender Nutzen des Geldes. Diese Rolle des Geldes, in der das Geld in der Zeit «Relation hat» und die «absoluten Preise» darstellt, realisiert die Wirkungen des Geldes in der Zeit, hier wird seine Rolle als Träger des Veränderungsprozesses deutlich. Aus dieser Perspektive entdeckt Simmel die realen Wirkungen einer Erhöhung der Geldmenge in der Zeit. Die Erhöhung der Geldmenge ermöglicht eine Erhöhung des Geldangebotes und damit der Güternachfrage auf dem Markt. Dies führt im Zeitverlauf zu einer realen Wirkung im Sinne einer Steigerung der Menge produzierter Ware (also eine Erhöhung des Angebots der Waren). Das Angebot von «mehr Geld» führt also nicht nur zu einer Steigerung der absoluten Preise (Inflation), sondern auch zu realem Wachstum. Nur wenn man die Rolle des Geldes in der Zeit sieht, kann man diese dynamisierende Wirkung des Geldes erkennen. Diese Möglichkeit der dynamischen Wirkung des Geldes und die Realisierung dieser Möglichkeit zu zeigen, ist ja das zentrale Anliegen von Simmels «Philosophie des Geldes». Simmel will und muss daher auch zeigen, dass die Abstraktion von der Zeit im Rahmen des Tauschmodells der Wirtschaft und damit die Abstraktion von der Rolle des Geldes innerhalb der Zeitreihe etwas für die moderne Wirtschaft Wesentliches verdeckt: die Dynamik, die Beschleunigung, das Wachstum. Erst die Besinnung auf die Tatsache, dass der 281


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ökonomische Prozess sich im Zeitverlauf ereignet, ermöglicht es, die weit über den ökonomischen Prozess hinausweisende Bedeutung des Geldes für die kulturelle Entwicklung zu erfassen. In der Zeit zeigt sich seine ökonomische und historische Wirksamkeit. Mit dieser Unterscheidung eröffnet Simmel der ökonomischen Theorie zwei Perspektiven auf die Wirtschaft, die sich bezüglich der Berücksichtigung von Zeit bzw. Geld unterscheiden. Diese doppelte ökonomische Perspektive im Sinne ökonomischer Modelle auszuarbeiten, sieht Simmel allerdings nicht als seine Aufgabe an. Es geht ihm vielmehr «nur» darum, seiner kulturphilosophischen Idee von der Wirksamkeit des Geldes ein wirtschaftstheoretisch fundiertes ökonomisches Fundament zu geben. (Abgesehen von dieser (fundamentalen) Kritik oder Erweiterung entspricht die Position Simmels aber der Position der Neoklassik und damit der subjektiven Werttheorie. Auch Simmel – dies nur nebenbei bemerkt – kritisiert die objektive Werttheorie der Klassik; sie kann seiner Ansicht nach die Höhe des Wertes nicht erklären. Nur die subjektive Theorie des Wertes, die vom subjektiven Nutzen ausgeht, vermag, so Simmel, die Höhe des Wertes einer Ware zu erklären.) Auf Basis dieser Entdeckung der «Doppelrolle des Geldes» und ihrer dynamischen Effekte verdeutlicht Simmel die verschiedenen Wechselwirkungen, innerhalb derer sich die Entwicklung der Geldwirtschaft vollzieht.

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Die dynamische Entwicklung der Geldwirtschaft

Die dynamische Entwicklung der Geldwirtschaft in Wechselwirkungen 1. Vergesellschaftung Auf der Grundlage und in Wechselwirkung mit der so in den Blick genommenen wirtschaftlichen Entwicklung sieht Simmel den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess als fortschreitenden Prozess der «Vergesellschaftung»; das heisst der Entwicklung neuer Formen der Assoziation und Interaktion. Dieser Prozess hat eine Richtung: Simmel benennt sie als «funktionellen» Fortschritt. Zu den entscheidenden sozialen Voraussetzungen und Wirkungen des so charakterisierten Prozesses der Entwicklung der dynamischen Geldwirtschaft gehört nach Ansicht von Simmel die Entwicklung hin zur persönlichen Freiheit. Geld ermöglicht – in gesellschaftlicher bzw. soziologischer Hinsicht – die Entbindung von fest gefügten persönlichen Abhängigkeiten des feudalen Zeitalters und die Bildung neuer Formen der Wechselwirkung und Assoziation. Zugleich sind die Menschen unter den Bedingungen der Geldwirtschaft allerdings von «immer mehr» anderen Menschen abhängig. 2. Natur Simmel weist zudem darauf hin, dass dieser Prozess der fortschreitenden «Vergesellschaftung» seinerseits «substanzielle» Voraussetzungen und Relevanz hat: Die geldwirtschaftliche Dynamik ermöglicht ganz materiell eine fortschreitende «Ersparnis der Kräfte» – und die Nutzung von «immer mehr Kräften der Natur». Darin sieht Simmel in Wechselwirkung mit dem «funktionellen Fortschritt» den «substanziellen 283


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Fortschritt». Die Entwicklung der Geldwirtschaft führt so zu einer «Entgrenzung» und «Beschleunigung» der Wirtschaft. Georg Simmel sieht diese materielle oder substanzielle Entwicklung im Wesentlichen positiv – eben als Fortschritt; er sieht darin u. a. eine Entlastung vom «Prinzip der Konkurrenz» um begrenzte Mittel. Es geht also aus Sicht von Simmel im historischen Prozess um einen Zugewinn von Freiheit durchaus auch in einem ganz materiellen Sinne. Voraussetzung dafür ist die Verfügbarkeit der entsprechenden «Kräfte der Natur». Und diese Voraussetzung scheint aus Sicht von Simmel gegeben. Die Möglichkeit, dass diese natürlichen Voraussetzungen eines unbegrenzten Wachstumsprozesses nicht gegeben sind, hat Simmel nicht gesehen. 3. Staat Simmel benennt eine weitere Ebene der Voraussetzungen und Wirkungen der dynamisch wachsenden Geldwirtschaft (an der Grenze zwischen der natürlichen und der ökonomisch-sozialen Dimension): Der Staat ist Promotor der Geldwirtschaft. Er braucht das Geld zu seiner Entfaltung. Und umgekehrt ist die Entwicklung der Geldwirtschaft auf «Zentralinstanzen» angewiesen, die den Wert des Geldes garantieren. Der funktionelle bzw. institutionelle Fortschritt ermöglicht nämlich – ganz im Sinne des (ökonomischen) Prinzips der «Ersparnis der Kräfte» – das Wachstum der Geldmenge mittels einer allmählichen «Entsubstanzialisierung» des Geldes. Georg Simmel hält allerdings trotz der Betonung des Zeichen- und Kreditcharakters des Geldes, trotz des Betonens der Funktion des Geldes als Symbol, als reiner «Funktionswert», eine vollständige Ablösung der Geldschöpfung von einer werthaltigen Substanz (Edelmetall) 284


Die dynamische Entwicklung der Geldwirtschaft

nicht für möglich. Mit Erstaunen hätte Simmel daher auf die Tatsache reagiert, dass die Geld- bzw. Kreditschöpfung im Laufe des 20. Jahrhunderts in globalem Massstab vollständig von einer werthaltigen Substanz entkoppelt wurde. 4. Geist und Kapital Simmel präzisiert seine Überlegungen zu den Voraussetzungen und Wirkungen des dynamischen Wachstums der Wirtschaft (als Geldwirtschaft) auch, indem er die Wechselwirkungen zwischen der Entwicklung der «Intellektualität», des Denkens selbst, des Vorstellungsvermögens, und der Entwicklung der Geldwirtschaft näher analysiert und interpretiert. Simmel wendet damit seinen Blickwinkel von der Analyse und Deutung der Dynamik wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Vorgänge – insbesondere der Bewegungen und des Verhaltens von ökonomischen Grössen (Warenmengen und Geldmengen), also der «äusseren Formen» des Wirtschaftens zu einer philosophischen Reflexion des Denkens und damit zu den «inneren ökonomischen Kräften». Es gelingt ihm dabei eine weitere Konkretisierung seines Perspektivenwechsels, der die Bedeutung des Geldes für die dynamische Entwicklung der Wirtschaft in den Blick nimmt. Zum einen weist Simmel auf die erforderlichen intellektuellen Fähigkeiten im Sinne der Quantifizierung und der «Rechenhaftigkeit». Darüber hinaus ermöglicht und erfordert der Umgang mit Kapital eine gänzlich andere Intellektualität, ein besonderes Vorstellungs- oder Erkenntnisvermögen – nämlich ein Vorstellungsvermögen bezüglich (zunächst) nicht vorhandener, das heisst zukünftiger Waren und Güter. Dieses Vorstellungsvermögen ist Voraussetzung und Wirkung entwickelter Geldwirtschaft. Es ermöglicht die pro285


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duktive Verwendung von Geld im Sinne von Kapital. «Vermögen» ist in diesem Sinne zunächst Vorstellungsvermögen, das dazu geeignet ist, neue «Zweckreihen» zu erschaffen. Simmel nutzt hier die doppelte Bedeutung des Begriffes «Vermögen», um zu zeigen, dass Geld im Sinne von Kapital weit über die (dynamische) Rolle des Geldes in den wirtschaftlichen «Zweckreihen» hinausweist. Zur pointierten Charakterisierung dieser Wechselwirkungen von Geld im Sinne von Vermögen und den entsprechenden Vorstellungen und schöpferischen Möglichkeiten greift Simmel eine philosophische Denkfigur auf, die (idealtypisch) der Gelehrte, Kirchenpolitiker und Kardinal Nikolaus von Kues (1401–1464) formuliert hat: Es geht um die Gottesvorstellung des Cusaners: «Vermögen» im Sinne Simmels ist der Form nach ähnlich der (philosophischen) Vorstellung von Gott, wie sie Nikolaus von Kues entwickelt hat. Grosses Vermögen ist nicht nur formähnlich der Vorstellung von Gott im Sinne der «coincidentia oppositorum», der Vereinigung aller Gegensätze, sondern auch im Sinne des «Könnens schlechthin», des «Können-Seins». Verkürzt gesprochen: Die Erzeugung von produktiver Dynamik ist das Vermögen des Kapitals. Weiter als mit einer solchen Analogie kann man das Geld nicht über den durch das neoklassische Tauschmodell vorgegebenen Horizont hinausheben. Diese Möglichkeit der Erzeugung von Dynamik durch produktive Kapitalverwendung geht auch weit über die schlichtere dynamisierende Wirkung einer Erhöhung der Geldmenge hinaus. Simmel weist allerdings auch sehr deutlich auf die privatund gesamtwirtschaftlichen Risiken der Entwicklung einer von solchem «Vermögen» bewegten Wirtschaft hin. Unter anderem verweist er darauf, dass sich die «inneren ökono286


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mischen Kräfte» nicht immer im Gleichklang mit den «äusseren Formen» entwickelt haben, dass daher manche Entwicklungen der Geldwirtschaft zunächst einmal «tragisch enden» können und müssen. Zum Beispiel könne ein «Überwiegen des rein spekulativen Elementes» zur Erzielung von «hohen Börsengewinnen» zu einer Vernachlässigung der «Produktivkraft» des Geldes im Dienste der realen Wirtschaft führen. An Simmels prinzipiell positiver Einschätzung der historischen Entwicklung im Sinne eines Fortschritts ändern diese Krisen allerdings zunächst nichts, auch wenn ihn bereits während des Schreibens der «Philosophie des Geldes» das Übergewicht der «objektiven Kultur» über die «subjektive Kultur» sehr besorgte. Diese Sorge um die Kultur verstärkt sich allerdings: Gegen Ende seines Lebens sieht Simmel die Kultur durch den zunehmenden «Mammonismus» gefährdet. Georg Simmel ahnte nicht, dass das wirtschaftliche Wachstum noch von einer ganz anderen Seite her in Frage gestellt werden könnte, dass es in Konflikt geraten könnte mit der Begrenztheit der «Kräfte der Natur». Implizite Voraussetzung seiner Perspektive ist die unbegrenzte Verfügbarkeit dieser natürlichen Ressourcen. Simmel wäre daher sicherlich auch darüber erstaunt, dass die Erkenntnis, dass möglicherweise die Natur der wirtschaftlichen Dynamik Grenzen setzen könnte, nicht zu einer zentralen Frage an die Theorie der Wirtschaft und an die Wirtschaftsordnung erhoben wird.

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Rückblick auf Aristoteles Mit der Unterscheidung der zwei «Rollen des Geldes» und der Hervorhebung des Kapitals als Vermögen in einem schöpferischen Sinne greift Simmel in gewisser Weise die aristotelische Unterscheidung von zwei Arten der Wirtschaft auf – ohne allerdings Aristoteles zu nennen. Aristoteles hatte zwei Arten der Geldwirtschaft unterschieden: die eine, die das Geld nur als Tauschmittel nutzt, und die andere, in der das Geld als Kapital Träger der Wachstumsdynamik ist. Eine Wirtschaft, in der das Geld als Mittel des Austausches dient, wird begrüsst. Die dynamische geldwirtschaftliche Wirtschaftsform, in der der Einsatz von Geldkapital zum Treiber wird, die auf unbegrenztes Wachstum zielt, lehnt Aristoteles ab. Diese Bedenken hat Simmel nicht. Entscheidend dafür ist wohl, dass Simmel im Unterschied zu Platon und Aristoteles und der ihnen folgenden Metaphysik-Tradition (im Sinne der Metaphysik des Wesens) ein evolutionäres Weltbild hat. Simmel zeigt, dass sich diese auf das Absolute ausgerichtete metaphysische Weltansicht mit der Entwicklung der Geldwirtschaft zugunsten einer von subjektiven und damit von relativen Wertungen geprägten (Welt-)Sicht aufhebt. Das heisst nichts anderes, als dass das Geld Träger der Befreiung und Freiheit der Person ist – dies mit der Einschränkung, dass für Simmel letztlich doch offen bleibt, ob es nicht auch absolute Werte gibt, die Anspruch auf Anerkennung haben. Anders als Aristoteles interpretiert Simmel die beiden «Arten des Wirtschaftens» des Aristoteles als Prinzipien. Beide Prinzipien sieht er als untrennbar mit dem Geld als Mittel der freien Assoziation von Personen, mit der «Doppelrolle des Geldes» und mit der Entwicklung der Geldwirtschaft verbunden. Und im Unterschied zu Aristote288


Abschliessende Gedanken

les begrüsst er trotz aller Krisen und Sorgen im Hinblick auf die kulturellen Folgen – im Prinzip – die Dynamik der Geldwirtschaft und des Geldes als Kapital und damit die Entwicklung zur Freiheit.

Abschliessende Gedanken Heute ist es insbesondere der St. Galler Ökonom HansChristoph Binswanger, der auf die dynamische Rolle des Geldes hinweist. Auch er kritisiert wie Simmel, dass die ökonomische Theorie der heutigen (Geld-)Wirtschaft auf einem Tauschmodell und damit auf einer Abstraktion von Geld aufbaut. Auch er sieht darin eine Abstraktion vom Wesentlichen der Wirtschaft. Was also lässt sich für die Analyse und Bewältigung der gegenwärtigen Situation von Georg Simmel lernen? Die Balance zwischen den «inneren ökonomischen Kräften», den «äusseren Formen» und den verfügbaren «Kräften der Natur» scheint fundamental nicht mehr gegeben. Die Situation des 21. Jahrhunderts ist u. a. gekennzeichnet von einer inzwischen globalen Fortschrittsvision: der Hoffnung auf freie Entfaltung von Personen und Überwindung der Armut einer weiter wachsenden Weltbevölkerung. Und zugleich scheint die Situation geprägt vom Erreichen der Grenzen der «Kräfte der Natur». Diese äusseren Grenzen können die Realisierung der Fortschrittsvision genauso gefährden wie ein Mangel an «inneren ökonomischen Kräften». Was uns zu fehlen scheint, das sind Vorstellungen davon, wie diese Zielkonflikte zu überwinden sind. Georg Simmel hat uns keine Reformideen hinterlassen. Was er für uns leistet, ist vor allem die Fokussierung der Auf289


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merksamkeit des Denkens auf die Bedeutung des Geldes und der geldwirtschaftlichen Dynamik für das Verständnis der Moderne. Dies gilt sowohl für ihre Errungenschaften, ihr Vermögen, als auch für die Ambivalenz des dynamischen Fortschritts und damit auch für unsere Befangenheit in nicht mehr angemessenen «äusseren Formen» und nicht mehr adäquaten «inneren Kräften». Es geht um ein Bewusstwerden der Gefährdung der entscheidenden Errungenschaft der Moderne: den Fortschritt zur Freiheit der Person. Simmel schätzte die Schweiz. Sicherlich schiene ihm die Schweiz ein geeigneter Ort, um in einer dieser historischen Situation angemessenen Weise die Möglichkeiten der Wiedergewinnung einer Balance zwischen den «inneren Kräften», den «äusseren Formen» und den verfügbaren «Kräften der Natur» neu zu durchdenken. Dazu gilt es mit Simmel und Binswanger, die positiven und die problematischen Seiten der Dynamik (der gegenwärtigen Verfassung) der Geldwirtschaft zu verstehen, um den vor uns liegenden Herausforderungen angemessen begegnen zu können.

Literatur Flotow, Paschen von: Geld, Wirtschaft und Gesellschaft: Georg Simmels Philosophie des Geldes. Frankfurt, 1995: Suhrkamp. Simmel Georg: Philosophie des Geldes. Frankfurt, 1989: Suhrkamp.

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Peter Hablützel Dr. phil.; geb. 1946; aufgewachsen in Zürich; Studium der Geschichte, Politikwissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und des Staatsrechts in Zürich und Mainz. 1980–83 persönlicher Mitarbeiter von Bundesrat Ritschard (des schweizerischen Finanzministers); 1987–89 Gesamtprojektleiter EFFISTA (Reorganisation der Berner Staatsverwaltung); 1989–2005 Direktor des Eidgenössischen Personalamtes (EPA), der zentralen Personalabteilung der schweizerischen Bundesverwaltung. Seit 2006 Inhaber der Hablützel Consulting Bern (Personal-, Führungs- und Politikberatung). Forschungs-, Lehr- und Beratungsaufträge im Bereich Politik und Verwaltung; zahlreiche Publikationen zur schweizerischen Politik, zur Zeitgeschichte, zum Verwaltungsmanagement und zu personalpolitischen Fragen.

Der Inhalt dieser Studie bildet auch Teil einer im Entstehen begriffenen Geschichte der Schweiz seit 1945. Der Autor ist deshalb – im Sinne einer «interaktiven» Zeitgeschichtsschreibung – um jede Kritik und Anregung dankbar. peter@habluetzel-consulting.ch


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