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Abb. 3 Außenansicht Freiraum ERDE

Abb. 3 Außenansicht Freiraum ERDE; Quelle: Webseite Verantwortung ERDE

Einen solchen Ort stellt der Freiraum der ERDE als ein „Büro/Gemeinschafts-/Frei- Raum, so flexibel wie der Name“ (ebd.) dar. Dort findet außerhalb der Bürozeiten ein buntes Programm statt, welches von wöchentlichen allgemeinen Treffen, diversen Arbeitsgemeinschaften (AGs), Workshops und Vorträgen bis hin zu veganem Mittagessen für Alle reicht. Der Freiraum der ERDE ist dabei Treffpunkt für Interessierte, Engagierte und zufällige Besucher*innen. Inhaltlich reichen die Angebote von Sprachkursen, über eine Wandelbibliothek für Wissensaustausch bis hin zu einem Kältetelefon für Villacher Obdachlose. Finanziert wird dieser Raum durch die „Förderung der demokratischen Arbeit der Gemeinderatsparteien“ (ebd.), die die Erdlinge aufgrund ihrer Positionen im Gemeinderat erhalten (siehe Abschnitt 3.2.3). Somit kann der Freiraum der ERDE geldfrei bleiben, das heißt alle Angebote stehen Allen kostenfrei zu Verfügung. Um ein möglichst geldlogikfreies Leben zu ermöglichen, setzt die ERDE neben der Etablierung einer Schenkkultur in Villach auf den Anbau eigener Lebensmittel und die Selbstversorgung der hierfür benötigten Ressourcen.

3.2.2 Der Garten ERDE – ein Garten für ALLE

Der Garten ERDE befindet sich sowohl direkt vor dem Freiraum der ERDE in Form von Hochbeeten, als auch auf einer 1400 m2 großen Ackerfläche, die den Erdlingen geldfrei zur Verfügung

steht30. Dort werden unter Berücksichtigung eines permakulturellen Ansatzes31

neben Bienen und Wildkräuterkästen diverse Obst- und Gemüsesorten in möglichst großer Artenvielfalt ange-

30 700 m2 dieses Ackers werden von den Erdlingen bepflanzt, die andere Hälfte ist derzeit noch frei und soll mit Bienenweiden und/oder Sonnenblumen versehen werden (Stand Mai, 2021). 31 Unter "Permakultur" wird ein holistischer Ansatz verstanden, der unter anderem beim Anbauen von Pflanzen und Gemüse berücksichtigt wird. Vorkommende Synergien zwischen Pflanzen finden hier eine zentrale Berücksichtigung, um so möglichst vielfältige statt monokultureller Gärten anzulegen.

baut und generelle Bodenfürsorge32

betrieben. Auf diese Weise wird eine Ernährungssouveränität umgesetzt, die eine von globalen Marktstrukturen unabhängige, lokale Befriedigung der Bedürfnisse erlaubt (ebd.). Zusätzlich wird eine Energieunabhängigkeit durch eine kleinstrukturierte, möglichst autarke Energieversorgung für die Region angestrebt (ERDE Blatt 2021, S. 37). Da der öffentliche Raum von den Erdlingen als lebendiges Gemeingut begriffen wird, ist der Garten der ERDE für Alle rund um die Uhr zugänglich und kann stets mitgestaltet und beerntet werden (ERDE Blatt 2021, S. 12). Dies entspricht der Idee, Villach zur essbaren Stadt zu machen

33 .

3.2.3 Politische Fraktion

Fest im praktischen Tun der Veränderung des lokalen Lebensraums verankert, bringt die Verantwortung ERDE ihre Perspektive auch in der politischen Sphäre und somit in einem größeren Zusammenhang der Gesellschaftsgestaltung ein. Derzeit ist sie mit fünf Sitzen (Stand April 2021) im Villacher Gemeinderat vertreten. Die gewählten Erdlinge bilden dabei bewusst keine Partei. Sie vertreten die Themen, die sie in ihrem praktischen Tun bereits umsetzen und stehen für die Etablierung von Strukturen, die dies strukturell und somit großflächiger ermöglichen. Auf diese Weise soll eine solidarische Verantwortungsübernahme anderen Menschen und der Natur gegenüber strukturell erleichtert und ausbeuterische Strukturen nicht länger reproduziert werden (siehe Abschnitt 4.5; Webseite).

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3.3 Datenerhebung

Die Bewegung Verantwortung ERDE lernte ich durch meine Arbeit bei der Sunflower Foundation (Zürich)35 kennen, die sich im Rahmen ihrer Netzwerktätigkeit für die Bewegung interessiert. Um Daten im Feld zu gewinnen, wurden sechs intensive Interviews im Zeitraum von Dezember 2019 bis November 2020 geführt (Charmaz, 2006, S. 25). Ein intensives Interview stellt ein gelenktes Gespräch und somit eine konstruierte und kontextabhängige Situation dar, in welcher die Befragten eingeladen und geführt werden, ihre Er-

32 Gemeint sind hier Entsiegelungsmaßnahmen für Böden und über den Garten der ERDE hinaus ein Einsetzen für die Begrenzung großflächiger Bebauungen im städtischen Raum (siehe ausführlich ERDE Blatt, 2021, S. 31). 33 Die Idee der essbaren Stadt schlägt vor den öffentlichen Raum mit essbaren Pflanzen statt ausschließlich mit Ziergewächsen zu versehen (ERDE Blatt, 2021, S.12). 34 Die politischen Aktivitäten werden teilweise finanziell abgegolten, was der Verantwortung ERDE die Finanzierung externer Kosten ermöglicht. 35 Siehe Webseite: https://www.sunflower.foundation/

fahrungen tiefgehend zu schildern und zu reflektieren (ebd. S. 27). Die ersten zwei Interviews wurden vor Ort im Wohnhaus der Familie Kravanja geführt. Aufgrund der Coronapandemie (2020/2021) wurden die weiteren vier Interviews im verbleibenden Zeitraum online abgehalten. Die Interviews dauerten zwischen vierzig Minuten und eineinhalb Stunden, folgten einem groben Leitfaden (siehe Anhang 8.1) und wurden aufgezeichnet und anschließend wörtlich transkribiert (s. Anhang 8.4). Bei den Fragen handelte es sich um sieben relativ breite und ergebnisoffene Fragen, die als Anhaltspunkte dienten und stets ein vertiefendes Nachfragen erlaubten. Auf diese Weise wurde erforscht, was die Bewegung Verantwortung ERDE für die jeweiligen Befragten ausmacht, wie sie dazu gekommen sind, was sie dort tun und wie sie sich organisieren, was Möglichkeiten, Herausforderungen und zukünftige Visionen sind. Es wurde auf ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis der Befragten geachtet und zu verschiedenen Graden involvierte Erdlinge und eine externe Person

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im Alter zwischen 25 und 65 Jahren interviewt. Die Menschen, die mit mir ihre Erfahrungen, Einschätzungen und Gefühle geteilt haben, werden hier zur Vereinfachung als die „Befragten“ bezeichnet, begegnet bin ich ihnen jedoch als Co-Schaffende eines gemeinsamen „sozial robusten Wissens“ (Schneidewind & Scheck, 2013, S. 232) auf Augenhöhe

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. Um reichhaltige Daten (en.: „rich data“, Charmaz, 2006, S.13) zu gewinnen, ist es dabei wichtig, offen für verschiedene Deutungen zu bleiben und so das implizit und explizit Gesagte nicht zugleich in vorgefertigte Kategorien einzuordnen (Glaser, 1978). Charmaz (2006) fügt hinzu: „A constructivist would emphasize eliciting the participant's definitions of terms, situations, and events and try to tap his or her assumptions, implicit meanings, and tacit rules” (ebd., S. 32).

3.4 Datenanalyse

Die Datenanalyse wurde anhand der von Charmaz (2006) vorgeschlagenen Analyseschritte „initial Coding“ und „focused Coding“ mit Hilfe der Software MAXQDA und dem begleitenden Schreiben von „Memos“ durchgeführt. Qualitatives Kodieren meint den Prozess des Definierens, um was es in den erhobenen reichhaltigen Daten geht. Die einzelnen, am empirischen Material vollzogenen Schritte, werden im Folgenden vorgestellt.

36 Die interviewten Menschen wurden entweder durch das Schildern meines Anliegens vor Ort mit mir bekannt gemacht oder meldeten sich später per E-Mail bei mir. 37 Die Befragten werden nach Rücksprache mit ihnen mit dem jeweiligen Anfangsbuchstaben ihres Vornamens und der entsprechenden Seitenzahl des jeweiligen Interviewtranskripts zitiert.

3.4.1 Initial Coding

Während des initialen Kodierens werden ausgewählte Fragmente der Daten, hier jede Zeile des transkribierten Interviewmaterials, auf ihre analytische Wichtigkeit hin untersucht (Charmaz, 2006, S. 42). Dabei wird jede Zeile mit einer Bezeichnung versehen, welche diese zusammenfasst, kategorisiert und das explizit Geäußerte und implizit Geschehene darin repräsentiert (ebd., S. 43): „we create our codes by defining what we see in the data“ (ebd. S. 46). Die Codes sollen dabei möglichst nah an den Daten erhoben werden. Dies erlaubt einen frischen, ausgangsoffenen Blick auf die erhobenen Daten: „Initial codes help you to separate data into categories and to see processes. Line-by-line coding frees you from becoming so immersed in your respondents' worldviews that you accept them without question” (ebd., S. 51). Auf der anderen Seite kann durch den Sprachgebrauch bei der Bezeichnung der Codes wiederum die eigene Forscherinnen-Perspektive einfließen. Durch das Verwenden von sogenannten in-vivo Codes

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kann daher an bedeutsamen Stellen die Sprache der Befragten selbst in die Codes übernommen werden. Dass Forscher*innen jedoch stets bereits existierende Ideen und Fähigkeiten in den Forschungsprozess mitbringen, erkennt Charmaz (2006) explizit an und betont: „There is a difference between an open mind and an empty head“ (ebd. S. 48). Durch das initiale Kodieren konnte Signifikantes aus den Daten herausgearbeitet und so die Basis für die weiteren Analyseschritte gelegt werden (Liste der initialen Codes siehe Anhang 8.2).

3.4.2 Focused Coding

An das sorgfältige initiale Zeile-um-Zeile Kodieren schließt sich das fokussierte Kodieren an, mit welchem größere Segmente der Daten synthetisiert und erläutert werden können. Hierfür werden die am bedeutsamsten erscheinenden initialen Codes ausgewählt und am vollständigen Interviewmaterial auf ihre Aussagekraft hin überprüft (Charmaz, 2006, S. 42): „Foused coding requires decisions about which initial codes make the most analytic sense to categorize your data incisively and completely“ (ebd., S. 57f.). Der Prozess des Herausbildens der fokussierten Codes erfordert das Bewegen und Vergleichen der Daten und erstellten Codes untereinander. So werden die Erfahrungen der befragten Erdlinge in Beziehung zueinander gesetzt und in prozesshafte Zusammenhänge gebracht.

38 Chamraz (2006) führt hierzu aus: „Grounded theorists generally refer to codes of participants' special terms as in vivo codes“ (ebd., S. 55).

Zu fokussierten Codes ernannte ich folgende der initialen Codes:

• Das Menschliche Miteinander • Erfahrungen in der Geldlogik • Geldlogikfreie Schenkkultur • Schöpferisches Tun • Politisches Tun • Praxis der Vielheit • Leben und Wirken in zwei Welten

Durch den aktiven Umgang mit den Daten wird ein gegenseitiges Bezogensein der Codes und schließlich theoretischen Zusammenhänge deutlich, die daher niemals als rein objektive Kriterien für sich selbst stehen (ebd., S. 66). Hierbei spielt das Verfassen von sogenannten Memos eine zentrale Rolle.

Unter Memos werden informelle analytische Notizen verstanden, die während des gesamten Datenanalyseprozesses von und an einen selbst verfasst werden. Durch den informellen Charakter der Memos wird das rasche Niederschreiben von Impulsen angeregt und dem Entdecken der Daten und Erforschen des eigenen Denkens darüber systematisch Raum geschaffen. Gleichzeitig werden die Grundsätze der Selbst-Reflexivität und der Transparenz im Forschungsprozess vereinfacht und sichergestellt. Inhaltlich reichen die Memos von ganz konkreten Ausführungen zum Bestand einzelner Codes und deren Beziehungen untereinander bis hin zu abstrakten Überlegungen zu den sich herausbildenden theoretischen Zusammenhängen

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. Hierbei helfen Memos Vergleiche zwischen den Daten und zwischen Daten und den erstellten Codes besser festzuhalten und relational einzuordnen. Somit kann aus der vorherigen Vielzahl an nebeneinanderstehenden Codes eine immer klarer werdende Struktur herausgearbeitet werden, die analytisch wichtige fokussierte Codes zu konzeptuellen Kategorien erhebt und andere wiederum als Untercodes festlegt. Hierfür habe ich unter anderem die Technik des Clustering (ebd., S. 86) verwendet, die vorschlägt mögliche konzeptuelle Kategorien in der Mitte eines Papiers zu umranden und die anderen Codes relational darum herum anzuordnen (siehe Abbildung 4, S.21).

39 Unter Theorie versteht Charmaz (2006) konsequenterweise nichts in sich Abgeschlossenes und extern an die Forschung Herangetragenes, sondern etwas, das aus dem analytischen Umgang mit den Daten entsteht und damit stets in ihnen begründet bleibt (ebd. S. 123).

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