Vortrags- und Diskussionszyklus «Überschuldete Staaten: Was folgt auf den Pumpkapitalismus?»
Sozialversicherungen: Stabilisatoren oder Krisenverstärker in einer überschuldeten Welt? Schlussbericht zu Monika Bütlers Vortrag vom 22. Mai 2013
Die Überschuldung von Staaten spiegelt sich in der Verschuldung der Haushalte wieder – allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Offenbar sind Menschen durchaus fähig, ihr Konsum- und Sparverhalten an die Wirtschaftspolitik ihres Landes anzupassen und selbst für sich vorzusorgen, wenn der Staat dies nicht tut. Trotz dieser an sich beruhigenden Erkenntnis plädierte Monika Bütler klar für die Etablierung von Sozialversicherungen, die nicht grosszügig, aber stabil sein müssen.
Zwei Faktoren haben laut Monika Bütler die heftigen Krisenfolgen entschärft: zum einen die äusserst lockere Geldpolitik der Zentralbanken, zum andern die Sozialversicherungen, insbesondere in Europa. Während erstere primär als Konsumstütze wirkt, sorgen letztere dafür, dass Menschen nicht in Armut abgleiten und ihrer Frustration in sozialen Unruhen Ausdruck geben. Die Kosten dieser Massnahmen sind jedoch nicht zu unterschätzen. Bei den Sozialversicherungen sind dies neben den Beiträgen der Versicherten und der Administration vor allem auch die indirekten Kosten. Denn Sozialversicherungen halten über die von ihnen ausgehenden Fehlanreize ab vom Arbeiten, vom Sparen und zuweilen gar vom Heiraten. Und sie generieren implizite Schulden: Rentenversprechen, die in den Haushaltsrechnungen der Staaten nicht als solche ausgewiesen werden. Dennoch braucht es Einrichtungen, die das möglicherweise unkluge – oder schlaue – Verhalten der Menschen korrigieren. Zunächst hält Monika Bütler jedoch fest, dass die Haushalte sich so dumm nicht präsentieren. Dies zeigen die kürzlich veröffentlichen Haushaltsdaten der EZB. «Wohlgenährte deutsche Häuslebauer, bedürftige Griechen – an diese Bilder haben wir uns gewöhnt. Die Statistiken der EZB wollen aber gar nicht passen zu den armen Südeuropäern, die
Monika Bütler zeigte sich davon überzeugt, dass allen gedient ist, wenn der Staat Menschen zur Vorsorge zwingt, Fehlanreize sollten aber so rasch wie möglich korrigiert werden.
von den knausrigen Deutschen kurzgehalten werden.» Die Zahlen zeigen nämlich deutlich, dass deutsche Haushalte im Mittel weniger vermögend sind als die Haushalte in Italien, Spanien, Griechenland und Frankreich – in Ländern also, in denen die implizite Verschuldung relativ hoch ist. Ein Zufall ist das nicht. Für Monika Bütler ist klar: «Die Haushaltsvermögen sind ein Spiegel der Wirtschaftspolitik der Länder.» Denn Sparen geschieht aus drei Gründen: weil man kann, weil man will oder weil man schlicht muss. Das Können hängt beispielsweise davon ab, ob vom Einkommen nach Abzug der Steuern und Krankenkassenprämien überhaupt noch etwas übrig bleibt zum Sparen. So liegt die effektive Steuerbelastung der deutschen Haushalte bei rund 53 Prozent, diejenige der Zyprioten bei nur 19 Prozent. Das Müssen ergibt sich in erster Linie aus den Bedingungen des Immobilien- und Kreditmarkts: In Italien gibt es kaum Mietwohnungen und für einen Hauskauf müssen 50 Prozent
Eigenkapital aufgebracht werden; in Deutschland hingegen braucht es für die Gründung eines Unternehmens nur wenig Startkapital. Das Wollen schliesslich ergibt sich aus dem Müssen: Wer den grosszügigen Rentenversprechen – wie beispielsweise in Griechenland – nicht traut, wird selbst vorsorgen, und zwar nicht nur für sich, sondern auch für seine Kinder; dass nämlich heutige Schulden die kommenden Generationen irgendeinmal belasten werden, ist allen klar. Wer nun aber aus diesen Erkenntnissen den Schluss zieht, dass es am besten keine Sozialversicherungen braucht, liegt falsch. Es ist allen gedient, wenn der Staat die Menschen zur Vorsorge zwingt – vorausgesetzt freilich, er tut dies richtig und mit Mass. Gerade die Altersvorsorge einfach den Individuen zu überlassen, wäre aus mehreren Gründen fahrlässig. Die Talfahrt an den Börsen bescherte den angesparten Alterskapitalien im Jahr 2008 einen Verlust von 10 bis 30 Prozent. Wo kollektiv gespart
«Nur wenn Rentenversprechen klar und auch glaubwürdig sind, kann Altersarmut abgewendet werden. Eine solche Garantie aber ist ohne einen Ausgleich zwischen den Generationen nicht zu leisten.» Die Referentin
wird, wie beispielsweise in der Schweiz mit der 2. Säule oder in den Niederlanden, können die Versicherten weitgehend aufgefangen werden. Wo hingegen die Menschen privat versichert sind, wie etwa in den USA, in Chile oder Australien, bedeuteten diese Kursstürze eine direkte Kürzung der eigenen Rente. Auch eine Altersvorsorge im Umlageverfahren, wie die AHV sie darstellt, ist geeignet, individuelle Risiken aufzufangen. Weil sie eine «Versicherung zwischen den Generationen» darstellt, können grössere Schwankungen – im Wirtschaftswachstum, im Arbeitsmarkt, bei Katastrophen – viel besser ausgeglichen werden. Im Übrigen sind die umlagefinanzierten Altersversicherungen selbst ein Kind der Krise: Sowohl die AHV wie auch die Social Security der USA wurden als Folge der Wirtschaftskrise der 1930erJahre eingeführt, letztere als Teil des New Deal unter Franklin D. Roosevelt. Für die Versicherungsökonomin Monika Bütler ist klar, warum es für gewisse Risiken eine staatliche – sprich obligatorische – Versicherung braucht. Grössere makroökonomische Schwankungen wie auch systemische Risiken, wie wir sie in der aktuellen Krisenfolge erleben, können nicht individuell, sondern nur über Generationen versichert werden. Risiken, über die man zu viel weiss, würden vom Markt auch nicht versichert. Und der Konsumverzicht heute für ein fernes Alter hat seine Grenzen – gerade weil man weiss, dass im schlimmsten Fall der Staat einspringen würde. Genau deshalb braucht es den Staat, der einen direkt und über den Arbeitgeber zwingt zu sparen. Dabei sollten allerdings ein paar wichtige Regeln befolgt werden. Gerade weil sich die Haushalte, wie zu Beginn gezeigt wurde, auf die vorhandenen oder eben fehlenden Versprechen einstellen und ihr eigenes Sparen komplementär zum Zwangssparen vornehmen, gilt es, den Bürgerinnen und Bürgern frühzeitig deutlich zu machen, was ge-
nau sie vom Staat zu erwarten haben und was nicht. Nur wenn Rentenversprechen klar und auch glaubwürdig sind, kann Altersarmut abgewendet werden. Unabdingbar ist, dass die staatlich verordnete Vorsorge die Existenzsicherung garantiert – und sie darf sich auch darauf beschränken. Eine solche Garantie aber ist ohne Umlageverfahren, also einen Ausgleich zwischen den Generationen, nicht zu leisten. Dies bedingt jedoch, dass auch die Risikoteilung zwischen den Generationen austariert sein muss – etwa indem zwar gewisse Garantien gegeben werden, die jedoch sowohl an die einbezahlten Beiträge wie auch an andere Faktoren wie Lebenserwartung, Zinsentwicklung, Inflation und das Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Rentnern gekoppelt sind. Wer schliesslich mehr freie Wahl der Vorsorgemöglichkeiten verlangt, sollte für geeignete Standardoptionen sorgen und verhindern, dass individuelle Entscheidungen die Existenzsicherung gefährden können. Wenig überraschend dreht sich die Diskussion um die Reformaussichten für die schweizerische AHV, die voraussichtlich ab 2020 in ernsthafte Schwierigkeiten geraten wird. Gemäss den Ausführung von Monika Bütler ist klar: Gerade noch böte sich die Chance, die Weichen für Korrekturen zu stellen, sodass sich die Haushalte rechtzeitig darauf einstellen können. Eine längere Arbeitszeit jedenfalls dürfte angesichts der gestiegenen Lebenserwartung unumgänglich sein, denn Beitragserhöhungen und Mehrwertsteuerprozente allein werden die Auswirkungen der demografischen Entwicklung nicht kompensieren können.
Monika Bütler, geb. 1961, Dr. oec. HSG, ist seit 2004 ordentliche Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen. Davor unterrichtete sie an den Universitäten Tilburg (Niederlande) und Lausanne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozialversicherungen, Arbeitsmarkt, politische Ökonomie und Informationsökonomik. Monika Bütler ist Mitglied des Bankrats der SNB und Forschungskoordinatorin beim niederländischen Forschungsnetzwerk Netspar. Neben wissenschaftlichen Arbeiten verfasst sie regelmässig Beiträge an ein weiteres Publikum, u. a. als regelmässige Kolumnistin der «NZZ am Sonntag» und als Mitherausgeberin des Blogs batz.ch.
Programmvorschau Dienstag, 1. Oktober 2013 Roger de Weck: Die Zukunft des Kapitalismus Neuer Ort: Club Baur au Lac (Villa Rosau), Glärnischstr. 10, 8002 Zürich Zeit: 18 – 20.30 Uhr (inkl. Apéro riche)
Dr. Katja Gentinetta Gesprächsleiterin MoneyForum Dieser Schlussbericht ist auch im Downloadarchiv des MoneyForums auf moneyforum.sunflower.ch verfügbar.
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