Hans Peter Treichler - Die Arbeiterin in Zürich um 1900

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Hans Peter Treichler

Die Arbeiterin in Zßrich um 1900 Sozialgeschichtliches auf den Spuren Verena Conzetts (1861–1947)

Conzett Verlag


Hans Peter Treichler

Die Arbeiterin in Zßrich um 1900 Sozialgeschichtliches auf den Spuren Verena Conzetts (1861–1947)

Conzett Verlag


Alle Rechte vorbehalten Nachdruck in jeder Form sowie die Wiedergabe durch Fernsehen, Rundfunk, Film, Bild- und Tonträger, die Speicherung und Verbreitung in elektronischen Medien oder Benutzung für Vorträge, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher und schriftlicher Genehmigung des Verlags

1. Auflage 2011 © 2011 Conzett Verlag by Sunflower Foundation, Zürich EPUB-ISBN 978-3-03760-023-8

Weitere Informationen finden Sie unter www.conzettverlag.ch und www.sunflower.ch


Inhalt

Vorwort von Jürg Conzett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung von Andreas Urs Sommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Die Arbeiterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scharen von Fabriklerinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beengtes Zuhause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kinderarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krank – was nun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endlich Sonntag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zahlen zum Proletariat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Seine eigene Spur ziehen: Das Leben der Verena Conzett-Knecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stimme der Arbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höhen und Tiefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der «wilde Löwe von Chicago» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Für des Volkes Rechte, gegen alles Schlechte . . . . . . . . . . . . Immer mit einem Fuss im Gefängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hausfrau und Kauffrau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neu aufgleisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vor dem Nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Aufstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33 36 39 45 48 49 51 53 57 59 60 64

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3. Arbeiteralltag: Wohnen, Essen, Haushalten . . . . . . . . . . . . «Luft- und fensterlose Löcher» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ewigen Härdöpfel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Preise und Löhne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 70 73 78

4. Solidarität: Erste Organisationen für Arbeiterinnen . . . . . 85 Eine Gräfin weist den Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Schlüsseljahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 «Leider abgewiesen» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Jedes Jahr ein Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Prüde Genossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 5. Kämpfen für die Zukunft: Zürich 1875 bis 1900 . . . . . . . Ein Buchbinder aus Breslau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . «Was wollen die Sozial-Demokraten?» . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Textnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

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Vorwort

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ft werde ich gefragt, ob der Name der Strasse, in der ich mein Büro habe, etwas mit mir zu tun habe. Ja, tatsächlich. Die kleine Verena-Conzett-Strasse ist nach meiner Urgrossmutter benannt, deren Lebensende mit meinem Geburtsjahr übereinstimmt und deren Geburtsjahr sich im Jahre 2011 zum 150. Mal jährt. Wenn ich in ihren alten Schriften lese, fühle ich mich innerlich verbunden mit ihren Ansichten. Grund genug, Hans Peter Treichler zu einer Art Sozialgeschichte mit biografischem Charakter zu bitten, Andreas Urs Sommer über Sozialpolitisches einst und heute nachdenken zu lassen und im MoneyMuseum eine eigene Ausstellung zur «Arbeiterin in Zürich um 1900» zu gestalten. Sie alle zeigen: Das Gefühl des Umbruchs, der Beschleunigung und der Zerstörung überlieferter Ordnung war damals so gross wie heute. Und die zentrale Frage für die individuelle Persönlichkeit bleibt die gleiche: Wie können wir es einrichten, dass unsere Erwerbsarbeit Selbstzweck wird – dass wir sie tun, weil wir sie tun wollen? Jürg Conzett

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Arbeit, Sklaverei und Selbstbestimmung Eine Einleitung

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on den sozialen Zuständen, die Hans Peter Treichler in diesem Buch eindringlich schildert, können wir uns heute in Mitteleuropa kaum mehr einen Begriff machen. Kaum eine Leserin, ein Leser wird es wirklich nachfühlen können, wie das Leben einer Fabrikarbeiterin im späten 19. Jahrhundert ausgesehen hat. Die Welt, mit der uns Katalog und Ausstellung konfrontieren, ist uns fremd geworden. Und doch haben manche unserer Grosseltern und Urgrosseltern diese Welt noch hautnah erlebt, ja sie durchlitten. Die Not, die uns hier in Bild und Text vor Augen geführt wird, betraf jede Lebenslage: sehr lange Tages- und Wochenarbeitszeiten, Arbeit von Kindsbeinen an, kein Unfall- und kein Kündigungsschutz, keine Kranken- oder Rentenversicherung, geringe Bildungschancen, Mangelernährung und prekäre Wohnverhältnisse, die das Zusammenleben in jeder Hinsicht beeinträchtigten. Mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft kam die «Soziale Frage» aufs Tapet, die Frage also, wie mit den gewaltigen Missständen umzugehen sei, die der soziale Umbruch und das Ende traditioneller bäuerlicher (und bürgerlicher) Lebensformen mit sich brachte. Mit dem Fortschreiten der Industrialisierung konkretisierte sich die «Soziale Frage» als «Arbeiterfrage»: Wie sollten die Existenzbedingungen der neu entstandenen Scharen von Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeitern – nicht selten Kindern – nachhaltig verbessert werden? Nicht zufällig ist das 19. Jahrhundert auch das grosse Zeitalter der gesellschaftlichen Visionen und Reformideen. Es brachte den Sozialismus und den Marxismus ebenso wie den modernen 9


Liberalismus und Utilitarismus hervor, die allesamt auf die «Arbeiterfrage» ihre Antworten formulierten. Selbst die katholische Kirche, die aus ihrer schroffen Ablehnung alles «Modernen» kein Hehl machte, sah sich zur Konzeption einer eigenen Soziallehre veranlasst. Ein Jahr nachdem die Hauptperson dieses Buches, Verena Conzett, Präsidentin des neugegründeten Schweizerischen Arbeiterinnenverbands geworden war, veröffentlichte Papst Leo XIII. 1891 seine Sozialenzyklika Rerum Novarum, die sich gegen die sozialistische Forderung nach Abschaffung des Privateigentums wandte und die Kirche selbst als Basis jeder gesellschaftlichen Ordnung verstand. Der Papst distanzierte sich dabei von einem Schlagwort der Französischen Revolution, nämlich von der Gleichheit: «Vor allem ist […] von der einmal gegebenen unveränderlichen Ordnung der Dinge auszugehen, wonach in der bürgerlichen Gesellschaft eine Gleichmachung von hoch und niedrig, von arm und reich schlechthin nicht möglich ist. Es mögen die Sozialisten solche Träume zu verwirklichen suchen, aber man kämpft umsonst gegen die Naturordnung an. Es werden immerdar in der Menschheit die grössten und tiefgreifendsten Ungleichheiten bestehen.» Der Klassenunterschied zwischen Kapitalisten und Arbeitern wird damit zementiert. Aber die Lehre der Kirche gebiete, so der Papst, dass Arbeiter und Arbeitgeber in Eintracht und Frieden kooperierten. Man sei aufeinander angewiesen: «So wenig das Kapital ohne die Arbeit, so wenig kann die Arbeit ohne das Kapital bestehen.» Die «unveränderliche Ordnung der Dinge», die man kirchlicherseits beschwor, um Arbeiter und Arbeitgeber zu einem versöhnlichen Miteinander zu ermahnen, entsprach freilich nicht der vorherrschenden Erfahrung in dieser Zeit. Das Gefühl des Umbruchs, der Beschleunigung und der Zerstörung überlieferter Ordnung liess sich schon im späten 19. Jahrhundert nicht mehr so ein10


fach wegreden. Man suchte nach neuen Begriffen, um mit aktuellen Erfahrungen umzugehen. Manche besannen sich auch auf alte Begriffe, mit deren Hilfe sie versuchten, die Gegenwart in Gedanken zu fassen. Als Verena Knecht, spätere Conzett, mit 13 Jahren in einer Zürcher Seidenfärberei als Hilfsarbeiterin ihre erste Stelle antrat, machte sich im nahen Basel der dortige Professor für Klassische Philologie – mit einem Jahresgehalt von 3000 Franken – Gedanken über die Frage, was uns Heutige denn von den alten Griechen unterscheide: «Wir Neueren haben vor den Griechen zwei Begriffe voraus, die gleichsam als Trostmittel einer durchaus sklavisch sich gebarenden und dabei das Wort ‹Sklave› ängstlich scheuenden Welt gegeben sind: wir reden von der ‹Würde des Menschen› und von der ‹Würde der Arbeit›.» Friedrich Nietzsche, der hier über die Gesellschaft seiner Gegenwart nachdenkt, zögert nicht, den noch fast rechtlosen modernen Industriearbeiter mit dem antiken Sklaven zu vergleichen, der quasi eine blosse Sache in der Hand des ihn besitzenden Herrn war. Für reines Wortgeklingel hält Nietzsche es, von der «Würde der Arbeit» und der «Würde des Menschen» zu sprechen, während in Tat und Wahrheit der nur schlecht verhüllte Sachverhalt der Sklaverei vorliege. Diese Diagnose führt Nietzsche allerdings nicht zu klassenkämpferischen Parolen: Zwar glaubt er im Unterschied zu Papst Leo XIII. nicht an eine «unveränderliche Ordnung der Dinge», hält aber dennoch die Fronarbeit von Sklaven für eine notwendige Basis grosser Kultur. Diese politisch reaktionäre Auffassung, die Nietzsche später überwunden hat, war freilich schon damals keine längerfristig erfolgversprechende Option. Vielmehr wurde grundsätzlich die Notwendigkeit eingesehen, die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft zu verbessern. Auch in einem Obrigkeitsstaat wie dem Deutschen Reich bescherten die Sozialreformen Bismarcks der 11


Arbeiterschaft zunächst eine Krankenversicherung, dann eine Unfall- und schliesslich eine Rentenversicherung, die zu einer schrittweisen Verbürgerlichung der Industriearbeiterschaft führten. Diese Verbesserungen wurden nicht durch eine Revolution von unten erreicht, etwa durch die Enteignung der Kapitaleigentümer, sondern durch den Ausgleich der Interessen zwischen der Arbeiter- und der Arbeitgeberschaft. Gesellschaftlich-politische Initiativen, wie sie Verena Conzett sowohl in Interessensgruppierungen wie dem Schweizerischen Arbeiterinnenverband und dem Schweizer Arbeiterbund als dann auch in ihrem Unternehmen entfaltete, waren wegleitend. Das Arbeiterinnenschicksal des 19. Jahrhunderts ist uns fremd geworden, weil wir uns kaum vorstellen können, wie wenig Freiräume dieses Schicksal der eigenen Lebensgestaltung liess. Zwar war es im rechtlichen Sinne keine Sklaverei, Fabrikarbeiterin zu sein, aber die scheinbare Freiheit, jederzeit kündigen zu können, war keine echte Freiheit, denn die Alternative zur Fabrikarbeit hiess Hunger und Not. So bestand zwar kein rechtlicher, aber ein ökonomischer Zwang, auf dem Posten zu bleiben. Im Blick auf solche Verhältnisse liesse sich sagen, dass Sklaverei in einem weiteren Sinne des Wortes erst dann abgeschafft wäre, wenn wir wirklich über die eigene Zeit verfügen können. Das 20. Jahrhundert hat in Mitteleuropa der durchschnittlichen «Arbeitnehmerin» gewiss positive Veränderungen gebracht, gerade verglichen mit den bescheidenen Verbesserungswünschen der Arbeiterinnen des späten 19. Jahrhunderts: ein paar Rappen mehr Lohn, ein freier Samstagnachmittag, etwas weniger als 13 Stunden tägliche Arbeitszeit. Die Wünsche der Menschen sind während der vergangenen 150 Jahre kontinuierlich gewachsen, damit auch ihre Erfüllungschancen: Niemand muss mehr im Alter von 13 Jahren eine Fabrikanstellung antreten oder eine 100-Stunden-Woche absolvieren. Der Traum 12


der Verbürgerlichung, der damalige Arbeiterinnen umtrieb, ohne dass er wie bei Verena Conzett in Reichweite rückte, hat sich für viele ehemalige «Proletarier» verwirklicht. Der Rahmen, innerhalb dessen wir über unsere eigene Zeit verfügen können, ist stetig gewachsen. Wir können heute den Traum der Individualisierung träumen und ihn uns mindestens teilweise erfüllen, selbst wenn wir kein Erwerbseinkommen haben, sondern uns auf die sozialen Sicherungssysteme verlassen (müssen). Aber die Frage bleibt, ob wir tatsächlich allen Zwängen entronnen sind. Sind wir nicht immer noch gezwungen, unsere Zeit mit Dingen zuzubringen, die wir vielleicht nicht tun wollen? Die Vergegenwärtigung der vergangenen Arbeiterinnenschicksale dient – neben dem Interesse, das sie um ihrer selbst willen verdienen – auch wesentlich dazu, uns bewusst zu machen, wie weit gesteckt unsere Freiheitsspielräume sind. Wir sollten uns fragen, was wir mit der Zeit machen, von der uns jetzt so viel mehr zur freien Verfügung steht als unseren Ahninnen und Ahnen. Begeben wir uns womöglich freiwillig in andere Knechtschaften – indem wir die Zeit beispielsweise mit Fernsehen oder im Internet vertrödeln? Und tun wir das, was wir tun, weil wir es tun wollen, oder tun wir es nur, weil wir es aus ökonomischen Gründen tun zu müssen glauben? Keine unwesentliche menschliche Aufgabe ist es, die Welt, in der man leben will, mitzugestalten – für andere und für sich selbst Freiräume zu schaffen. Andreas Urs Sommer

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Kapitel 1

Die Arbeiterin

Abb. 1: Arbeiterinnen und Aufseher der Textilfabrik Zinggeler in Richterswil ZH stellen sich der Kamera des Fabrikanten und Fotografen Rudolf Zinggeler (1864–1954). Foto um 1900.



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ie Frauen und Mädchen, die an diesem Herbstmorgen vor sechs Uhr auf dem Mühlesteg beim Zürcher Hauptbahnhof eintreffen, haben zumeist einen Weg von einer Stunde und länger hinter sich. Trotz des strengen Fussmarschs haben sie kalt; sie schlagen die Arme übereinander wie Fuhrleute, die sich wärmen wollen, hauchen in ihre steifen, blaugefrorenen Hände. Es sind die ersten Fabrikarbeiterinnen, mit denen es die eben schulentlassene Verena Knecht (später Conzett) zu tun bekommt. Sie merkt sich diesen Anblick für immer. «Die Arbeiterinnen, jung und alt, trugen Kleider aus dunkelblauem Baumwollstoff, in den kleine weisse Tupfen oder Sternchen eingedruckt waren. Sie hatten wollene, handgestrickte Zipfeltücher umgebunden, eine Wollschleife um die Ohren und trugen einen mächtigen Deckelkorb am Arm.» Manche Mädchen sind nicht älter als sie selbst, manche Frauen wiederum gleichen eher ihrer Grossmutter. Den frühmorgendlichen Marsch aus Vororten wie Höngg und Altstetten, wo die Wohnungsmieten tiefer sind als in der Stadt, nehmen sie sommers wie winters unter die Füsse. Verena lernt den Arbeitsweg an der nächsten Fasnacht kennen, als sie bei einem der Fabrikmädchen in Affoltern übernachtet. Es hat seit Stunden geschneit und man bricht früher als gewöhnlich auf. «Gegen halb fünf bildete sich ein langer Zug in der Mitte des Dorfes. Voran marschierten die Arbeiter der Maschinenfabrik Neumühle, dann kamen die Frauen und Mädchen, und den Schluss bildeten die Kinder.» Rufe hallen durch das Schneetreiben, «denn es war zu dunkel, um einander zu sehen, dazu schneite es immer noch fein und dicht. Todmüde vor Anstrengung, 17


die Unterkleider vom Schweiss, die Oberkleider vom Schnee durchnässt, langten wir gegen sechs Uhr in der Fabrik an.» Dies ist das Jahr 1874, und Zürichs Fabriken dringen allmählich bis in den Stadtkern vor. Die genannte Neumühle nimmt ein ausgedehntes Stück Limmatufer gegenüber dem Bahnhof ein. Etwas weiter flussaufwärts erhebt sich auf zwei Brücken eine wunderliche Fabrikwelt: die Seidenzwirnereien und -spinnereien des Oberen und Unteren Mühlestegs. Sie sind, so wie die dazugehörige Papier- und Motorenfabrik, auf Pfählen gebaut. Dampfmaschinen beginnen um sechs Uhr früh zu fauchen, die zahlreichen Fabrikkamine rauchen – und dies alles über dem rasch ziehenden Wasser der Limmat.

Scharen von Fabriklerinnen So wie Verena und ihre Kolleginnen nehmen in diesen Jahren Abertausende von Mädchen und Frauen täglich den Weg zur Fabrik unter die Füsse. Die erste umfassende Erhebung, die Fabrikzählung von 1882, meldet 135 000 Beschäftigte in der Industrie, davon 65 000 Frauen: ziemlich genau die Hälfte! In der Textilindustrie stellen Frauen eine Dreiviertelmehrheit, vorab bei der Seidenverarbeitung. Zudem dienen sie als Heimarbeiterinnen den Uhrenfabriken und den Strohflechtereien zu; manche weben zuhause Seidentücher und Seidenbänder für den «Fergger» – den Mann, der den Kontakt mit der Fabrik besorgt. Zur Zeit der nächsten statistischen Erhebung von 1900 ist ihre Zahl nochmals massiv angestiegen – auf 120 000 Fabrikarbeiterinnen, zu denen fast ebenso viele Heimarbeiterinnen kommen. Eindrücklich fasst der Gewerkschafter Otto Lang die Arbeitsmarktzahlen der Jahrhundertwende zusammen: «Von 1 470 000 in Beru18


Abb. 2: Am Unteren Mühlesteg in Zürich erhebt sich über der Limmat ein unwirkliches, auf Pfählen erbautes Fabrikquartier. In der Seidenfärberei Meier (Haus Bildmitte und niedriger Vorbau) findet die 13-jährige Verena Knecht im Frühling 1874 ihre erste Anstellung als Hilfsarbeiterin. Foto um 1900.

fen tätigen Personen waren 420 000 Frauen. Von den 221 Berufen, welche zu diesem Zeitpunkt ausgeführt wurden, hatte die Frau bereits 210 erobert; es gab nur 11 Berufe, die keine weiblichen Arbeitskräfte aufwiesen.» Mehr noch: 90 000 Frauen hatten sich in 146 verschiedenen Berufen selbstständig gemacht. Die schweizerische Volkswirtschaft hing stärker denn je ab von einem Heer weiblicher Arbeitskräfte: meist unterbezahlte und in untergeordneter Stellung tätige Frauen, meist einer Generation zugehörig, die das bäuerliche «Heimet» hinter sich gelassen hatte und jetzt in den Arbeitervierteln der Städte und den halb ländlichen Fabriksiedlungen entlang den Mittellandflüssen nach einer neuen Lebensform suchte. 19


Völlig unerreichbar schien dabei das bürgerliche Ideal der Ehegattin, Mutter und Hausfrau, die dem berufstätigen Gatten ein schmuckes Heim bereitete und die Brotarbeit dem «Ernährer» überliess. Ein solch geordnetes, geräumiges Zuhause blieb für die allermeisten Arbeiterinnen ein Wunschtraum. In vier Fünfteln aller Fabrikarbeiterfamilien waren beide Elternteile in der Industrie tätig. Für die Frauen ergab sich dadurch eine unerträgliche Doppelbelastung. Nur die Randstunden und der Sonntag blieben für Hausarbeiten wie Kochen, Flicken und Saubermachen; die Betreuung der Kinder war Zufallssache. Der regelmässige Kirchenbesuch endete bei den meisten Arbeiterfrauen mit der Konfirmation, vorab in den mehrheitlich protestantischen Industriekantonen. Noch weniger Zeit blieb für die politische Arbeit der Frauen in Gewerkschaft oder Partei. Ohnehin war sie umstritten; auch bei den als fortschrittlich geltenden Sozialdemokraten standen viele Genossen dem politischen Engagement der Frauen skeptisch gegenüber. Die niedrigen Fabriklöhne, die bei den weiblichen Beschäftigten noch um ein Drittel tiefer lagen als jene ihrer männlichen Kollegen, erstickten jede Hoffnung auf eine «Überwindung der proletarischen Lebensführung», wie es in einer Untersuchung heisst. Diese glang nur einer schmalen Oberschicht der Arbeiterschaft.

Beengtes Zuhause Einem familiären Privatleben im heutigen Sinn standen die prekären Wohnverhältnisse entgegen. Zwar wurden, vorab in den ländlichen Industrieregionen, sogenannte Kosthäuser zur Unterbringung der Arbeitskräfte errichtet. Aber die Miete einer Wohnung teilte sich die Kernfamilie oft mit Fremden, den «Kostgängern» 20


oder «Schlafgängern», oder dann mit mehr oder weniger vertrauten Verwandten. Der Vermieter erliess Hausordnungen, die tief ins Privatleben eingriffen. Lichterlöschen wurde beispielsweise für zehn Uhr nachts angeordnet: «Um 10 Uhr abends sollen alle Bewohner zu Hause sein, zu Bett gehen und Feuer und Licht gelöscht werden. Ausnahmen können nur in Krankheitsfällen, aus vorheriger Anzeige, vom Obermeister erlaubt werden.» Weiter heisst es: «Geistige Getränke dürfen weder in der gemieteten Wohnung ausgeschenkt, noch Trinkgelage, Schmausereien oder Lärm gestattet werden. Ebensowenig dürfen die Kinder ungewaschen, ungekämmt oder in zerrissener Kleidung herumlaufen.»

Abb. 3: Arbeiterfamilie in Einzimmerwohnung, die als Wohn- und Schlafraum und Küche dient. Die Aufnahme gehört zu einer Dokumentation über Heimarbeit in der Schweiz, die 1909 in Bern gezeigt wurde. Foto um 1900, wahrscheinlich Bern.

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All dies ergab Probleme vielfältiger Art. Anny Morf, eine junge Fabrikarbeiterin, Altersgenossin von Verena, erzählt: «Wir hatten noch einen Kostgänger, einen Halbbruder des Vaters, der als Heizer bei den SBB arbeitete. Der Onkel zahlte Miete und kam zum Essen.» Das engte die beschränkte Mittagszeit ihrer Mutter zusätzlich ein. Wegen verschobener Schichtzeiten musste diese erst das Mittagessen für den Vater bereitstellen, eine halbe Stunde später jenes für den Kostgänger. Noch schlimmer: «Dieser Onkel wollte mich später, als ich etwa vierzehn Jahre alt war, missbrauchen. Ich wehrte mich so heftig, dass das Küchengestell umfiel.» Über moralisch-sittliche Probleme klagen viele Fürsorger, die Sozialbeamten von einst. So droht angeblich überall die Gewöhnung an homosexuelle Praktiken. Denn oft würden sich die «Schlafgänger» zu zweit ein Bett teilen: «Fremde Arbeiter, die in Pension sind, werden zusammengelegt.» Ebenso die Kinder der Familie: «Um sich vor Frost zu schützen, krochen die Buben auf den Laubsäcken zu zweit und zu dritt dicht aneinander, näher als gesundheitlich und moralisch zuträglich war.» Wie zu erwarten lag auch die Zahl unehelicher Geburten in den Industrieregionen doppelt so hoch wie im bäuerlichen oder bürgerlichen Umfeld. Ob ehelich gezeugt oder nicht – die Säuglinge hatten eine erheblich tiefere Überlebensrate als im Landesdurchschnitt. In den Jahren 1850 bis 1880 starb im Kanton Zürich jedes vierte lebendgeborene Arbeiterkind im ersten Jahr, während die Sterblichkeitsrate bei Bauern- oder Bürgerfamilien bei 12 Prozent lag. Mangelhafte hygienische Verhältnisse und einseitige Ernährung waren die Hauptgründe. Vom Stillen wurde Fabrikmüttern kategorisch abgeraten; Fabrikärzte befürchteten beispielsweise bei Arbeiterinnen im Textildruck, sie riskierten, «ihrem Sprössling eine mit giftigen Farbstoffen besudelte Brust zu reichen». Ohnehin nahmen die meisten Mütter schon Tage nach der Geburt die Arbeit 22


wieder auf. Den Säugling betreuten ältere Geschwister, oder er wurde einer fremden Familie in Obhut gegeben. Trotz solch unlösbarer Schwierigkeiten umwarben die Unternehmer gerade die kinderreichen Arbeiterfamilien, da diese zukünftiges Personal garantierten. Stellenausschreibungen zielten etwa auf «eine solide, ordnungsliebende Familie mit arbeitsfähigen Kindern» ab, nicht selten begnügten sich die Fabrikanten in solchen Fällen mit einem herabgesetzten Zins für die Kosthauswohnung. Fand sich für Kleinkinder weder ein Krippenplatz noch eine Familie zum «Verkostgelden», duldeten manche Aufseher, dass ihre Mütter sie mit in den Fabriksaal brachten. Das verbot zwar die Fabrikordnung, aber lieber duldete die Leitung solche Unregelmässigkeiten, als ihr Arbeiterpotenzial zu verlieren.

Kinderarbeit Freudestrahlend kehrte die halbwüchsige Verena Knecht an einem Märzabend noch vor ihrem Schlussexamen als Sechstklässlerin nach Hause zurück: «Mutter, Mutter, denke, ich habe schon Arbeit!» Als Dreizehnjährige hatte sie für ihre erste Stelle als Gehilfin in einer Textilfärberei vorgesprochen. So wie viele ihrer Altersgenossinnen würde sie von nun an als Lehr- oder Laufmädchen zum Unterhalt der Familie beitragen. Die Schule beschränkte sich fortan auf zwei Vormittage im Ergänzungsunterricht, obwohl ihr einstiger Lehrer protestierte und vorschlug, ein Stipendium für den Besuch der Sekundarschule zu beschaffen. Aber die Familienfinanzen fielen stärker ins Gewicht: «Wie glücklich war ich, als ich mit dem ersten Zahltag nach Hause kam. Stolz legte ich der Mutter mein erstes selbstverdientes Geld in die Hand, bare Franken 7.20 für zwei Wochen.» 23



Abb. 4: Junge Arbeiterinnen und Aufseher im Stanz- und Frässaal einer Westschweizer Blechwarenfabrik. Foto um 1910.


Drei Jahre vor Inkrafttreten des ersten landesweit verbindlichen Fabrikgesetzes (1877) teilte Verena das Schicksal Tausender Minderjähriger aus Fabriklerfamilien: eine Sechstagewoche mit 12- bis 13-stündigen Arbeitstagen, nur an zwei Morgen unterbrochen für den Ergänzungsunterricht, und dies für einen Taglohn von kaum mehr als einem halben Franken. Eine Zürcher Statistik um 1860 hatte rund 4000 kleine Fabrikler im Alter von 12 bis 15 Jahren erfasst. Diese Zahl war bis 1877 noch angestiegen, dies während mehrere europäische Staaten die Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft entscheidend einschränkten: Preussen beispielsweise liess für Kinder unter 14 Jahren «bloss» sechs tägliche Arbeitsstunden zu. Bis das erwähnte Gesetz das Einstellungsalter für Jugendliche auf 14 anhob, war für Verena und ihre Altersgenossen die Kindheit verstrichen. Die geisttötende und abstumpfende Arbeit in den dröhnenden Fabrikhallen liess jede Spielfreude und Mitteilsamkeit verkümmern. Die Fabrikordnung sah für «Schwatzen» oder Zuspätkommen zehn Rappen Abzug vor – zwei Stundenlöhne! In den Webereien beaufsichtigten Mädchen und Buben je einen oder zwei mechanische Webstühle. Liefen die Spulen in den Weberschiffchen aus, musste «angesetzt» werden. Dabei «mussten die jungen Lungen den Faden des neuen Spülchens durch die Öse saugen», Baumwollstaub und Öl drangen in die Atemwege. Als kleinste und wendigste Arbeitskräfte übernahmen die Buben das Putzen und Ölen der grossen Maschinen – auch dies eine gesundheitsschädigende Aufgabe, bei der die Kinder, auf dem Rücken unter der Mechanik liegend, ölige Dämpfe einatmeten und sich Kopf und Arme wundstiessen. Zwar brachte das Fabrikgesetz das längst fällige Verbot der Kinderarbeit. Durchsetzen liess es sich jedoch nur in Fabriken und Werkstätten, nicht aber in den Web- und Stickkellern der Klein26


bauern. Hier spannten Ostschweizer Heimarbeiter ihren Nachwuchs vor und nach den Schulstunden ein, «durch keine gesetzlichen Einschränkungen gehemmt», und dies bis gegen Jahrhundertende. Erst das kantonale Schulgesetz von 1899, das auch die Heimarbeit mit einbezog, schuf hier Abhilfe.

Krank – was nun? Verenas Vater verlor, wie sich noch zeigen wird, das Augenlicht – und damit seine Stelle. Die Papierfabrik zahlte weder Abgangsentschädigung noch hatte sie für ihre Beschäftigten ein Vorsorgeprogramm eingerichtet. Das galt für viele industrielle Betriebe der Zeit: Wer krank war, bezog keinen Lohn und konnte froh sein, wenn er nach seiner Genesung den alten Posten wieder erhielt. Immerhin zeigt eine regionale Untersuchung von 1880, dass fast zwei Drittel aller Fabrikler eine rudimentäre Taggeldversicherung besassen, die den halben Lohn während 3 bis 6 Monaten weiterzahlte. Im Todesfall erhielten die Überlebenden zwischen 15 und 25 Franken, in manchen Fällen auch die Bestattungskosten. Aber der Beitritt war freiwillig; von den erfassten 530 Fabriken kannten nur deren 111 ein Obligatorium. Und die eigentlichen Krankheitskosten? Manche Unternehmen beschäftigten einen eigenen Fabrikarzt, der über die fabrikeigene Krankenkasse entschädigt wurde. Deren Verwaltung lag vielfach in den Händen der Belegschaft, die oft eine starke emotionale Bindung an «ihre» Kasse zeigte: Vorstand und Kontrolleure wurden in gutbesuchten Generalversammlungen gewählt, denen oft ein «Kassenball» folgte. Bezeichnenderweise taufte man betriebseigene Kassen oft auf den Namen Helvetia: Über die nüchternen Statuten und Bestimmungen legte sich das Bild der schützenden Landesmutter. 27


Die Star-Erkrankung von Verenas Vater zeigt zudem, dass bereits eine öffentliche medizinische Grundversorgung bestand. Beide Augen wurden – kostenlos – vom Ophthalmologen am Zürcher Kantonsspital operiert. Diese erste Poliklinik des Landes bestand seit 1842 und ersetzte das Armenspital von einst. Verenas Jugenderinnerungen schildern auch ein mittelalterlich anmutendes Irrenhaus mitten in der Altstadt. 1870 machte es dem neu erbauten «Burghölzli» in Hirslanden Platz – damals eine der fortschrittlichsten und bestgeführten Irrenanstalten Europas. Sehr viel prekärer stand es um die medizinische Versorgung durch Hausärzte. Als erster «Arbeiterarzt» eröffnete 1901 Fritz Brupbacher eine Praxis an der Badenerstrasse, mitten im Industriequartier. Ein Grossteil seiner Patientinnen und Patienten beglich das – bescheidene – Honorar bar oder zahlte es in Raten ab: Heimarbeiterinnen oder Hilfsarbeiter mit wechselnden Arbeitgebern, die keiner Kasse angehörten.

Endlich Sonntag Einen einzigen Vorteil brachte das schwülheisse Klima der Fabriksäle den Arbeiterinnen: Es half die Kleider schonen. Die kleine Verena hatte ihre Kolleginnen in der uniformen Tracht aus dunkelblauem Baumwollrock und mächtigem Wollschal kennengelernt. Aber wo die Temperatur im Betrieb es erlaubte, wurde diese Kleidung ausgetauscht gegen eine Ärmelschürze, die man über dem blossen Unterhemd trug. Fotos der Zeit zeigen, dass auch die Strassenschuhe in der Fabrikgarderobe blieben; viele Frauen klapperten in Holzschuhen durch die Fabriksäle. So als wollten sie sich für die eigene Unansehnlichkeit während der Arbeitswoche entschädigen, strebten Mädchen und Frauen 28


wenigstens am Sonntag etwas modischen Glanz an. Liess das Nachholen der Haushaltaufgaben noch Zeit für einen Spaziergang, nahmen sie ihre besten Sachen aus dem Schrank. Als elegant galten weitgeschnittene «Jüppen», die beim Gehen mit einer Hand gerafft wurden. Hinzu kamen schwarzseidene Umhänge mit Rüschen und Spitzen, sogenannte Mantillen, ergänzt durch Accessoires wie Hüte, Handschuhe oder Schärpen. Natürlich stiessen solche Extravaganzen auf die Missbilligung von Fürsorgern, Pfarrern und Kirchpflegern. So wie ihre Burschen und Männer angeblich den Lohn an Kartoffelschnaps und «Bränz» (Obstbrand) verschwendeten, würden die Fabriklerinnen das Haushaltgeld an unnötigen modischen Tand vergeuden. Einmal mehr sahen sich die besorgten Bürger in ihrer Ansicht bestätigt: «Die Arbeiter könnten es sehr wohl zu etwas bringen, wenn sie nur sparen wollten.» Solch unberechtigte Vorwürfe ertönten vorab in den ländlich geprägten Fabrikdörfern. In einem städtisch geprägten Arbeiterquartier wie Aussersihl war das Proletariat vollends sich selbst überlassen. Dafür sollten sich hier im letzten Drittel des Jahrhunderts die ersten Körperschaften zur Selbsthilfe bilden: Vereine, Gewerkschaften und Parteien.

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Zahlen zum Proletariat Die ersten Erhebungen Erste Untersuchungen zu den Arbeits- und Lebensverhältnissen der Fabrikbevölkerung fallen in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Als treibende Kraft erweist sich die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG). Die 1810 gegründete private Fürsorgeorganisation veranlasst grossflächige Erhebungen und widmet ab 1860 in kurzen Abständen mehrere Jahresversammlungen (mit entsprechenden Publikationen) «der immer brennender werdenden Arbeiterfrage». – 1858 Kanton Zürich. Johann Jakob Treichler, Zürcher Regierungsrat seit 1856, versendet im Auftrag der Kommission für Fabrikfragen Fragebogen an 130 Unternehmer und verwertet die Ergebnisse in der 100seitigen Broschüre Mittheilungen aus den Acten der Fabrikkommission. Diese erste systematische Übersicht über die Industrieverhältnisse eines begrenzten Gebiets (Kanton Zürich) liefert die Grundlagen zu den Beratungen über das 1859 verabschiedete kantonale Fabrikgesetz. – 1860 SGG-Tagung Glarus. Zum 50-jährigen Jubiläum beruft die SGG ihre Mitglieder nach Glarus zu Referaten und Fabrikbesichtigungen. Der Hauptvortrag über die gesundheitsschädlichen Einflüsse verschiedener Industriezweige wird veröffentlicht. Seine Ergebnisse gehen in das wegweisende Glarner Fabrikgesetz von 1864 ein. – 1868 SGG-Tagung Aarau. Unter dem Vorsitz von Bundesrat FreyHérosé gründet die SGG eine «Kommission für Arbeiterfragen». Direktes Resultat ist die Untersuchung Arbeiterverhältnisse und Fabrikeinrichtungen in der Schweiz des ETH-Dozenten und Nationalökonomen Viktor Böhmert, 1873 in zwei Bänden erschienen. Sie enthält landesweite Betriebsstatistiken und detaillierte Angaben zu den ökonomischen Bedingungen der Industriebevölkerung, insbesondere zahlreiche Arbeiterbudgets.

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– 1872 Erhebung Fridolin Schuler über die Glarner Industrieverhältnisse; sie diskutiert v.a. gesundheitliche Auswirkungen der Arbeitsbedingungen. – 1880 Volkszählung. Die seit 1860 alle zehn Jahre veranlasste Volkszählung bezieht erstmals in grösserem Rahmen Aspekte der Arbeitswelt mit ein (Fabrikbelegschaften, Heimarbeit). – 1882 SGG-Tagung Glarus zum Thema Die Ernährung der Fabrikbevölkerung und ihre Mängel. Die Untersuchung von Fridolin Schuler wird veröffentlicht und begründet die Zusammenarbeit zwischen SGG und Julius Maggi, der zur «Hebung der Volksgesundheit» eine eiweissreiche Grundnahrung auf Hülsenfruchtbasis produziert (Leguminosenmehle und -suppen). – 1882 erste eidgenössische Fabrikzählung. Sie erfasst auch grössere Gewerbebetriebe und gibt die Beschäftigtenzahl mit 134 900 an (davon 64 500 Frauen). Die in Heimarbeit beschäftigten Zulieferer (ca. 100 000 Personen) bleiben ausgeklammert. – 1968 Standardwerk Erich Gruner. Der Berner Historiker und Politologe fasst Lebensverhältnisse und politische Organisation der ersten Industrialisierungsphase im Werk Die Arbeiter in der Schweiz im 19. Jahrhundert zusammen (siehe Bibliografie).

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Kapitel 2

Seine eigene Spur ziehen: Das Leben der Verena Conzett-Knecht

Abb. 5: Verena Conzett (1861–1947) erlebte als Fabrikarbeiterin, Gewerkschafterin und Unternehmerin ein Stück Zeitgeschichte mit, das von persönlichen Schicksalsschlägen geprägt war (Foto um 1895). Sie hielt ihr Leben im Erinnerungsband Erstrebtes und Erlebtes fest.



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wei Episoden aus Verena Conzetts Kindheitserinnerungen in Erstrebtes und Erlebtes bleiben besonders haften. Die Erstklässlerin lernt widerwillig, «am Strick» zu gehen: Die kleinen ABC-Schützen müssen sich beim gemeinsamen Spaziergang der Klasse an einem Seil festhalten, damit sie nicht auf die Fahrbahn geraten oder anderswie verloren gehen. Das war «für lebhafte Kinder, wie ich eines war, eine rechte Plage». In ihrer Ungeduld gerät Verena immer wieder nebenaus und wird jedes Mal dafür bestraft. «Trotzdem habe ich in meinem langen Leben nicht gelernt, stets in den Fussstapfen anderer zu gehen.» Ebenso bezeichnend ist die zweite Episode, die sich um das Einsammeln von Brennholz für den Kochherd zuhause dreht: Verena und ihre kleine Schwester haben einen eisigkalten Nachmittag lang Holzspäne aus einem Schutthaufen geklaubt. Aber als sie den Sack mit den Abfällen nach Hause tragen wollen, werden sie vom Polier gezwungen, die angeblich gestohlenen Späne wieder auf den Bauplatz zurückzutragen. Verena muss zum ersten Mal erfahren, «dass Gewalt vor Recht geht. Durch dieses Ereignis wurde mein Rechtsgefühl ausgeprägter, und wo ich fortan Unrecht sah, setzte ich mich mit heiligem Eifer für die Betroffenen ein, unbekümmert darum, ob es mir zum Schaden gereichte oder nicht.» Verena Conzett-Knecht, geboren 1861, hat ihre Lebensbeschreibung viele Jahre nach diesen Ereignissen zu Papier gebracht. Ihre Erinnerungen, 1929 erschienen, fanden grossen Widerhall und wurden mehrmals neu aufgelegt – eines der seltenen autobiografischen Zeugnisse aus der «Unterschicht», wie die gängige Bezeich35


nung heute lautet. Aber der über 400 Seiten starke Band ist viel mehr als eine Quelle für Sozial- oder Alltagshistorikerinnen und -historiker. Er beinhaltet das ergreifende Lebensfazit einer Frau, die von früher Kindheit an dem Unrecht entgegentrat, in welcher Form es sich auch zeigte, und die dabei immer wieder vom vorgegebenen Pfad abwich. Für die vorliegende Spurensuche durch die weibliche Arbeitswelt des ausgehenden 19. Jahrhunderts erweist sie sich als ideale Begleiterin, die hier immer wieder zu Wort kommen soll.

Die Stimme der Arbeiter Dass sich Verena auf ihrem Lebensweg mit einem Mann verband, der ebenso wenig wie sie davor zurückschreckte, gesellschaftliche Missstände anzuprangern, scheint im Rückblick fast unvermeidlich. Der Journalist, Agitator und Drucker Conrad Conzett, mit dem sie sich 1883 verheiratete, war in kurzer Zeit zu einer führenden Figur der schweizerischen Sozialdemokratie geworden. Der 13 Jahre ältere Bündner war nach sechs Jahren als Gewerkschafter in Chicago in die Heimat zurückgekehrt und brachte den Duft der weiten Welt in die hiesige Arbeiterbewegung. Für die junge Verena war er anfänglich der «grosse, dunkle Mann» mit geheimnisvoller Vergangenheit, von dem Mädchen träumen. Aber aus der Liebesehe der beiden erwuchs eine Partnerschaft, die über den tragischen Tod des Gatten hinauswirkte. Sie machte Verena zu einer der bestimmenden Gestalten bei den Solidaritätsbestrebungen unter den schweizerischen Arbeiterinnen und später zu einer innovativen Verlegerin, die der schweizerischen Presse- und Verlagslandschaft bedeutende Impulse gab. Was sie in ihrem Lebensrückblick festgehalten hat, ist demnach mehr als ein privates Zeugnis. Wer seinen Spuren folgt, folgt auch einem Stück Zeitgeschichte. 36


Abb. 6: Conrad Conzett (1848–1897). Der charismatische Gewerkschaftsführer, Drucker und Journalist war die führende Figur der jungen Schweizer Sozialdemokratie.

Das beginnt mit dem Ausrufer, der in den Gassen von Zürichs Altstadt den Ausbruch des Kriegs zwischen Preussen und Frankreich kundgibt. 1870 besolden Städte und Gemeinden noch einen Weibel, der mit Trommel und Schelle an unterschiedlichen Plätzen um Aufmerksamkeit heischt und mit lauter Stimme die neusten Aktualitäten verkündet. Eine willkommene Attraktion für das neunjährige Schulkind: «Ich zog dem Manne bis spät abends von Strasse zu Strasse nach. Inzwischen war meine Mutter in grosser Angst um mich, denn so lange war ich noch nie ausgeblieben.» 37


Der Sieg der deutschen Armeen über das Frankreich von Napoleon III. sollte weitreichende Folgen haben. Er bereitete die nationale Einigung Deutschlands vor und leitete die «Gründerzeit» ein – eine Epoche des rasanten wirtschaftlichen Aufschwungs, auch für die Schweiz. Die rasche Expansion heimischer Unternehmen, vor allem im Textil- und Maschinensektor, brachte einen steilen Anstieg der Arbeiterzahlen. Die Eidgenossenschaft reagierte darauf mit einem landesweit gültigen Fabrikgesetz, 1877 verabschiedet, das Höchstarbeitszeiten (11 Stunden/Tag) und ein Mindesteinstellungsalter (14 Jahre) festlegte. Es folgten die Gründung des Gewerkschaftsbundes und der Sozialdemokratischen Partei. Erstmals hatte die Schweiz eine «Linke», hatte die Arbeiterschaft eine politische Stimme erhalten. Voll zum Tragen kam sie indes erst, als nach dem Ersten Weltkrieg das die konservativen Kräfte bevorteilende Proporzwahlsystem durch das Majorzsystem abgelöst wurde. Dass Deutschland bis 189o mit dem berüchtigten Sozialistengesetz alle öffentlichen Bestrebungen um Besserstellung des Proletariats niederhielt, wirkte sich auch für die Schweiz aus. Aktivisten wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht verlegten ihre publizistische Tätigkeit hierher: Seit 1882 erschien ihre Parteizeitung Der Sozialdemokrat in Conzetts Druckerei und gelangte von dort auf den abenteuerlichsten Wegen ins Nachbarland. Aus der Druckerei an der Kasinostrasse in Zürich-Hottingen wurde so eine Schaltstelle des internationalen Sozialismus; die junge Gattin Conrad Conzetts verfolgte die Entwicklungen aus nächster Nähe. Auch nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes blieb Zürich im Brennpunkt. Der Internationale Sozialistenkongress von 1893 und – vier Jahre später – der Internationale Arbeiterschutzkongress wählten Zürich als Standort. Als Delegierte an beiden Anlässen erlebte Verena Conzett hautnah mit, dass aus der Stadt 38


an der Limmat eine Zelle des sozialen Fortschritts und der internationalen Solidarität geworden war.

Höhen und Tiefen Wie die Episode mit dem Brennholz zeigt, wuchs die kleine Verena in bedrängten wirtschaftlichen Verhältnissen auf. Das Einkommen von Vater Johann Knecht, Aufseher in einer Papierfabrik, reichte knapp für die Miete einer feuchten und düsteren Wohnung in der Schmalzgrube, einer engen Gasse beim Predigerplatz. Durch einen Glücksfall konnte die Familie in eine freundliche, sonnige Hinterhofwohnung am Rennweg wechseln, die auf einen verborgenen Garten führte. Gleich nebenan entstand in eben diesen Jahren an Stelle eines aufgeschütteten Stadtgrabens die Bahnhofstrasse, und mit dem Rennwegtor wurden die letzten Reste der Stadtbefestigung gesprengt. Noch blieb das biedermeierliche Zürich spürbar: Am Martinimarkt füllten sich Strassen und Plätze mit Marktständen, und auf dem benachbarten St. Petersturm hielt Tag und Nacht ein Feuerwächter Ausguck, bei dem Verena und ihre Schwestern gerne den Sonntagnachmittag verbrachten. Das bescheidene Idyll am Rennweg fand ein jähes Ende, als Vater Knecht 1874 am Star erblindete und seine Stelle verlor. Verena, die eben zu dieser Zeit ihre sechsjährige Grundschulzeit hinter sich gebracht hatte, trat als Laufmädchen ihre erste Stelle in einer benachbarten Wollfärberei an. Sie selbst war voller Stolz, «mit meinen schwachen Kräften der Familie eine Stütze zu sein». Nicht so der hilflose Vater: «Wie mag es dem intelligenten, feinfühligen Manne weh getan haben, dass sein zartes Kind schon in die Fabrik musste, während er, der 52-jährige kräftige Mann, durch das Schicksal zum Nichtstun verurteilt war!» 39



Abb. 7: Industriequartier auf Pf채hlen: der Obere und Untere M체hlesteg (Blick von der Bahnhofbr체cke). Sowohl Vater wie Tochter Knecht arbeiten w채hrend Jahren im unteren Komplex, der auch eine Papier- und eine Seidenfabrik einschliesst. Foto um 1900.


Die folgenden Jahre bringen für Verena in raschem Wechsel weitere Stellen in Fabriken und Gewerbebetrieben: in der grossen Seidenspinnerei am Mühlesteg, gleich neben dem ehemaligen Arbeitsort des Vaters gelegen, dann in einem Modeatelier, das Krawatten produziert, weiter in einer Zuschneiderei, wo Dutzende Näherinnen und Schneiderinnen in einem Mansardenraum in brütender Hitze an ihren Maschinen sitzen, schliesslich im Seidenhaus Zürrer an der Bahnhofstrasse, wo Verena hinter dem Ladentisch Krawatten auf Bestellung anfertigt. In der Seidenspinnerei, wo im Stücklohn gearbeitet wird, erweist sie sich als so geschickt, dass ihr Lohn jenen der an der Maschine arbeitenden erwachsenen Arbeiterinnen übersteigt. Prompt erhält sie bei jedem Zahltag einen Abzug wegen angeblich mangelhafter Arbeit. Als sie sich beschwert, erklärt man ihr, die älteren Kolleginnen würden, «sobald sie vom Verdienst des Kindes wissen, höheren Lohn verlangen», was nicht angehe; schliesslich weist man Verena einer anderen Abteilung zu. Als das Mädchen eines Abends aus dem Fabriktor kommt, trifft sie auf eine Ansammlung von Kolleginnen, die sich um eine Flugblätter verteilende junge Frau scharen: bessere Schutz- und Lohnverhältnisse für Fabriklerinnen werden gefordert. Doch diese erste Begegnung mit der Sozialdemokratie wird von anderen Ereignissen überdeckt. Vaters Erblindung erweist sich als nicht so endgültig wie befürchtet; eine Operation stellt das Augenlicht wieder her. Vater erhält den einstigen Posten in der Papierfabrik zurück, aber der Jubel in der Familie ist von kurzer Dauer. Schon wenige Monate später kehrt das Übel zurück. Eine weitere Operation wird nötig, gleichzeitig wird der Familie die günstige Wohnung gekündigt – ein Schicksalsschlag am anderen! Dafür zeigt sich die junge Ladentochter beim Kreieren von Schleifen und Krawatten so einfallsreich und geschickt, dass ihre Modelle reissenden Absatz finden. Das fällt dem Geschäftsführer 42


Abb. 8: Nach der Eröffnung des Zürcher Hauptbahnhofs (1871) entsteht über einem aufgefüllten Stadtgraben die Bahnhofstrasse. Den Vorzeigeboulevard säumen von Beginn weg Prestigegeschäfte der Uhren- und der Seidenbranche. Foto um 1880.

auf, der sich nächstens selbstständig machen will und seine begabte Jungmodistin gerne mitnähme. Verena sagt zu und findet sich einige Monate später als Verkäuferin im neu eröffneten Seidenhaus Henneberg an der Bahnhofstrasse wieder. Henneberg drückt seine Anerkennung in handfester Weise aus. Dem Weihnachtszahltag liegt eine Gratifikation von 60 Franken bei – ein Monatslohn! Überglücklich lässt Verena die drei Goldmünzen klingeln: «Jetzt bin ich Kapitalist!» Zwar ist es Henneberg, der innert Kürze ein Millionenvermögen macht und sich in der Folge eine protzige Villa am Alpenquai bauen lässt, neben Tonhalle und «Rotem Schloss» gelegen (die spätere Migros-Klubschule). Aber so völlig abwegig ist der Ausruf der jungen Verkäuferin nicht. Ihr modisches Flair bringt ihr den Auftrag Hennebergs ein, in Heimarbeit Schleifen und Krawatten zu produzieren. Die Mutter wird eingespannt, daraus resultiert ein beträchtlicher Nebenverdienst. Wenn man das ausbauen würde … 43


Abb. 9: Der prunkvolle Geschäftssitz des Seidenhauses Henneberg an der Kreuzung Bahnhof-/Börsenstrasse ist die erste Adresse für modebewusste Zürcherinnen und Zürcher. Am Samstagabend verkauft Verena oft bis halb zehn Uhr Krawatten an junge Herren im Ausgang. Stich 1895.


Aber Verenas Weg führt in eine andere Richtung. Ihr Schwager, ein Spengler, lädt die 21-Jährige an einen Unterhaltungsabend seiner Gewerkschaft ein. Unter den Gästen befindet sich ein stattlicher jüngerer Herr, der auf fast unheimliche Weise dem Idealmann entspricht, den sie kürzlich für ihre Schwestern skizziert hat. «Er sah gar nicht wie ein Arbeiter aus», erinnert sie sich: grossgewachsen, südländisch dunkel und irgendwie geheimnisvoll. Wie sich herausstellt, ist der immer gut gekleidete Mann erst kürzlich nach Zürich gezogen und hat hier die Redaktion der Arbeiterstimme übernommen.

Der «wilde Löwe von Chicago» Conrad Conzett, mit dem sich Verena 1883 verheiratet, ist älter, als er aussieht. 1848 in Chur geboren, stammt er aus einer gut situierten Händler- und Handwerkerfamilie. Zum zukünftigen Arbeiterführer scheint er kaum prädestiniert: «Mangel kannten wir nie», wird er später seiner zweiten Gattin berichten. Aber als Buchdruckerlehrling gerät Conzett auf der damals üblichen «Walz» schon früh mit sozialistischen Ideen in Kontakt. An der Druckerschule, die er in Leipzig besucht, lehrt Wilhelm Liebknecht, der kämpferische Sozialist. Er öffnet dem jungen Bündner die Augen «für die Verarmung der Massen, die Vergrösserung der Kluft zwischen Arm und Reich». Hat es damit zu tun, dass es den knapp Zwanzigjährigen nach den Vereinigten Staaten zieht, wo diese Unterschiede noch viel krasser zutage treten? Jedenfalls schlägt sich Conzett als Hilfsarbeiter und Friseur nach Chicago durch und findet dort Arbeit in einer Druckerei. Im Kontakt mit der Basler Auswanderungsagentur Zwilchenbart begleitet er in den folgenden Jahren mehrmals 45


Abb. 10: Conrad Conzett empfiehlt sich in einer Annonce als Vertreter einer Basler Auswanderungsagentur, der selber «lange Zeit in den Vereinigten Staaten von Nordamerika gelebt hat». Aus: Volksfreund (Chur), 22.1.1881

Auswanderungswillige von der Schweiz in die Staaten – «Unterzeichneter hat sechs Reisen über den Atlantik gemacht», heisst es später in einer Annonce. Aber wozu soll es dienen, arbeitssuchende Landsleute in eine Welt zu bringen, wo ein noch härterer Kampf zwischen Unternehmer und Arbeiter tobt? In Chicago, wo Conzett 1875 seine eigene Druckerei gründet und den aufmüpfigen Vorboten herausgibt, haben sich Zehntausende deutschstämmiger Arbeiter niedergelassen; viele sind gewerkschaftlich organisiert. Entsprechend jagen sich Streiks, Aussperrungen, Demonstrationen mit Polizeieinsatz – und mittendrin meist der junge Bündner Redaktor, der in der Stadt am Lake Michigan zum populären Arbeiterführer aufsteigt. Er ist Mitbegründer der Labour Party des Staates Illinois, Vorsteher der Druckergewerkschaft Chicagos und gehört zu den Delegierten, die 1876 in Philadelphia die Workingmen’s Party of the United States gründen. Es kommt ein zweites Blatt hinzu, die Chicagoer Arbeiter-Zeitung, die Conzett praktisch im Alleingang schreibt, setzt und vertreibt, nach amerikanischer Manier seine Leitartikel 46


direkt in den Setzrahmen pfeffernd. In Chicago trifft er auch auf Barbara Wismann, die Tochter eines Bündner Emigranten. Die beiden heiraten; zwei Söhne werden geboren. Aber für ein geruhsames Familienleben bleibt kaum Zeit. Der «wilde Löwe von Chicago» hält Vorträge, kämpft gegen Korruption, Trusts und Polizeigewalt, gegen die unverfrorene Manipulation der Wahlen. Auch englischsprachige Pamphlete und Kampflieder sind aus der Zeit in der Windy City erhalten, darunter das vielzitierte, höhnische Gedicht The Rich Man to his Son mit der Strophe: In this world you’ll remain a king, The poor they’ll remain slaves. It’s money has the purest ring, The honest are but knaves. Kein Wunder, dass Überarbeitung und stete Anfeindungen zu Nervenkrankheit und Hirnhautentzündung führen. 1878 zwingt Conzetts schlechte Gesundheit die Familie zur Rückkehr in die Heimat. Es folgen vier ebenso stürmische Jahre in Chur – stürmisch in mehr als einer Hinsicht. Denn es zeichnet sich ab, dass Gattin Barbara immer weniger Verständnis aufbringt für das Engagement des Ehemannes. To rise with the masses – not from them heisst der Wahlspruch der amerikanischen Gewerkschaftsführer. Sie aber hat darauf gesetzt, dass ihr dynamischer und charismatischer Gatte die Familie zu Wohlstand und Ansehen führen wird. Barbara kehrt in die Staaten zurück; Conzett bleibt mit zwei minderjährigen Buben in Chur – dem 1873 geborenen Adolf und dem zwei Jahre jüngeren Conrad.

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Für des Volkes Rechte, gegen alles Schlechte Conrad Conzett ohne eigene Zeitung: Das ist seit den Jahren in den USA undenkbar geworden. In Chur wird der Volksfreund lanciert, ein Kampfblatt mit dem Wahlspruch «Für des Volkes Rechte, gegen alles Schlechte». Es erscheint zweimal wöchentlich, und wie in Chicago zeichnet der Herausgeber sowohl als Hauptautor wie als Setzer und Drucker der bescheidenen vier Seiten. Sein Credo, wie Conzett es im Neujahrsartikel von 1881 formuliert, ist einfach. Die Kluft zwischen Arm und Reich, die Einkommensschere, die den Mittelstand verkümmern lässt und die Massen in die Armut treibt – sie müssen sich schliessen. Als «überspannten Hetzer und Wühler», wie ihn die Gegner schildern, sieht er sich bei dieser Aufgabe nicht. Gewaltanwendung, wie sie anarchistische Gewerkschaftsführer in Chicago fordern, ist ihm fremd: «Wir werden gut demokratisch bleiben.» Denn wenn die sozialistische Aufklärungsarbeit erst «Licht in die Köpfe» gebracht hat, kommt die Umwälzung ganz ohne Bomben und Attentate in Gang. Der Weg führt über die Arbeitszeit der Beschäftigten, ein Lieblingsgedanke Conzetts: Die täglichen Fabrikstunden müssen sich «den Fortschritten anpassen, welche im Maschinenwesen gemacht werden», dies aber auf der Basis internationaler Zusammenarbeit zwischen allen Gewerkschaften. Entsprechend organisiert Conzett noch im selben Jahr in Chur den Sozialistischen Weltkongress. Natürlich wird das Zusammentreffen vermeintlicher Anarchisten und Demagogen im bieder-bürgerlichen Städtchen am Rhein von allen Seiten angefeindet. Aber der Erfolg des Anlasses und das Echo auf die Artikel im Volksfreund bringen Conzett neue Verbündete. Der Grütliverein, eine gesamtschweizerische, parteiähnliche Organisation linksdemokratischer Kräfte, vertraut ihm den Druck des Grütlianers an. Kommt 48


hinzu, dass die deutschen Sozialisten einen schweizerischen Herausgeber für ihre in Deutschland verbotene Zeitschrift Der Sozialdemokrat brauchen. Die Redaktion sitzt in Zürich, und 1882 entschliesst sich Conzett zur Übersiedlung in die Limmatstadt. Ein bedeutsamer Schritt, der für den betriebsamen Bündner einen weiteren Neubeginn darstellt. Bei einem Gewerkschaftstreffen haben ihn gemeinsame Freunde mit einer lebhaften Zürcherin bekanntgemacht, einer Verkäuferin in einem Modegeschäft. Es scheint, als habe Conzett in der jungen Verena Knecht die ideale Partnerin für diesen Neubeginn gefunden. Und Verena? Erst zögert sie noch, vor allem angesichts der beiden Knaben, die eine Mutter brauchen. Ist sie reif genug für diese Verantwortung? Werden die Buben sie akzeptieren? Die Entscheidung fällt, als Adolf, der Ältere, sie mit den Worten umarmt: «Wänn de Vater di nüt hüratet, hürat i di!»

Immer mit einem Fuss im Gefängnis In ruhiges Fahrwasser führt der Neubeginn freilich nicht. Die Hochzeitsreise gibt Verena einen Begriff davon, welch grosse Hoffnungen die Schweizer Arbeiterschaft in ihren Mann setzt. In Solothurn und Freiburg spricht er vor begeisterten Gewerkschaftern, in Genf kommt es zur Begegnung mit Philipp Becker, dem exilierten deutschen Arbeiterführer. Schon in den ersten Monaten der Ehe eskaliert die Herausgabe des Sozialdemokraten zur Affäre. Die wöchentliche Auflage gelangt weiterhin auf Schleichwegen ins Nachbarland. In Berlin will man jedoch nicht tatenlos zusehen, Spitzel werden in den Bekanntenkreis des Paares eingeschleust. Die deutsche Regierung übt Druck auf Bern aus, und der Bundes49


anwalt ordnet eine Haussuchung der im Vorort Hottingen gelegenen Druckerei an. Die bürgerliche Presse Zürichs wittert sogar eine aus Deutschland gesteuerte Verschwörung und fordert die Ausweisung Conzetts – eines Schweizer Bürgers! Als dieser sich mit einem Artikel zur Wehr setzt, trägt ihm das eine Verleumdungsklage ein; Conzett muss eine zweiwöchige Gefängnisstrafe absitzen. Verenas erste Schwangerschaft begleiten bedrohliche Träume. Nacht für Nacht erscheint ihr im Schlaf ein krokodilartiges Monster mit weit aufgerissenem Rachen – ein böses Vorzeichen? Die kleine Margrit, die im Januar 1885 zur Welt kommt, ist ein gesundes Mädchen, wenn auch zart. Hier wirken sich, so meint der Hausarzt, «Entbehrungen und Überarbeitung» aus, die Verena in ihrer eigenen Kindheit durchmachen musste. Nach einem Kuraufenthalt im Bündnerland kehren Mutter wie Tochter frisch gestärkt in die Stadt zurück. Aber zwei Tage später erkrankt das Kind an Typhus, ebenso die zwei Stiefsöhne und – etwas später – ihr Vater. Margritli stirbt, aber zur Trauer bleibt kaum Zeit, so sehr überwiegt die Sorge um die kranke Familie. Erst nachdem sich alle erholt haben – so die Erinnerungen –, «kam mir der Verlust meines Lieblings so recht zum Bewusstsein. Oft meinte ich, des Kindes Stimme zu hören, eilte an sein Bettchen – und starrte die Leere an.» Auch die Geburt des ersten Sohnes, Hans, fällt in ein unruhiges Jahr. Beim Streik der Schlosser von 1886 reagieren Zürichs Behörden mit überharten Massnahmen. Sie bieten Polizeikräfte und eine Art Bürgerwehr auf, um Streikbrecher zu schützen. Entsprechend heftig reagieren die Streikenden. Es kommt zu einem Auflauf vor der Hauptwache. Conzett versucht die Aufrührer zu beschwichtigen und wird mit Steinen beworfen; schliesslich muss er sich vom Gegner – der Polizei – beschützen lassen. Das gleiche Jahr bringt indes einen publizistischen Erfolg. Die 50


Conzetts lancieren mit dem wöchentlich erscheinenden Zürcher Anzeiger ein fortschrittliches Familienblatt. In Verena Conzetts Worten: «Die Druckereieinrichtung wurde bestellt, ein passendes Lokal am Oetenbach gemietet, und mit Neujahr 1886 flog unser Zürcher Anzeiger zum erstenmal ins Land hinaus und in die Familien der Arbeiter hinein.» Das klingt relativ einfach, aber noch hat eine Druckerei in jedem Kellerlokal oder jeder Handwerkerbude Platz. Gesetzt wird von Hand; die Schnellpresse nimmt kaum mehr Raum ein als eine Kartoffelhurde. Das hat seine Vorteile: In Hottingen beispielsweise, unter den misstrauischen Augen der deutschen Spitzel, zieht man kurzerhand von der Kasino- an die Neptunstrasse, später verlegt man die Einrichtung an die Kirchgasse und tritt sie dem Grütliverein ab.

Hausfrau und Kauffrau Hauptsitz wird nun aber die Oetenbachgasse, wo die Conzetts gleich um die Ecke am Rennweg Redaktionsräume hinzumieten – ein «Sozi-Nest» in diesem Quartier der Handwerker und Ladenbesitzer! «In verhältnismässig kurzer Zeit hatten wir mehrere tausend Abonnenten», meldet der Lebensrückblick. «Unser Zürcher Anzeiger wurde wirklich zum Vorkämpfer für die Sozialdemokratie.» Viele Leser versichern, sie seien über die Lektüre Parteimitglieder geworden, «diese Zeitung verstehe sogar den Frauen die Augen zu öffnen». Diesem diskriminierenden Nachsatz zum Trotz ist bei den Conzetts die Zusammenarbeit zur echten Partnerschaft geworden. Verena entdeckt ihr kaufmännisches und administratives Talent und bringt ihre eigenen Vorstellungen über ein populäres Familienblatt ein. Da nun auch die Arbeiterstimme in ihrem Haus gedruckt wird, 51


Abb. 11: Titelseite der Arbeiterstimme vom Januar 1890. Das wöchentlich erscheinende Kampfblatt des Proletariats wird von Conzett redigiert, die Mehrzahl der Leitartikel stammt aus seiner Feder.

hat sie gleich zwei Zeitungen administrativ zu betreuen, hinzu kommt das Führen des Haushalts «mit meinen vier grossen und kleinen Männern». Wenn sie zum Einkaufen auf die Strasse tritt, realisiert sie, welches Misstrauen dem «roten Conzett» überall entgegenschlägt. «Als ich einst meinem Mann klagte, die Leute schauten mich oft an, als ob ich Hörner hätte, meinte er scherzend: ‹Die begreifen eben nicht, dass ein so entsetzlicher Sozi ein so herziges Fraueli sein eigen nennen kann.›» Der «entsetzliche Sozi» springt auch in die Lücke, als Bismarck endlich seinen Willen durchsetzt und Bern zwingt, das deutsche Redaktionsteam des Sozialdemokraten auszuweisen (1888). Die vier Genossen, von den Zürcher Arbeitern feierlich verabschiedet, setzen sich nach England ab. Aber zum Erstaunen aller erscheint das Blatt weiterhin. Conzett hat wie selbstverständlich die Redaktion übernommen und publiziert so lange weiter, bis sich das bisherige Team in London etabliert hat. 52


Neu aufgleisen Das letzte Jahrzehnt des Jahrhunderts beginnt mit einem Eklat. In Deutschland bringen die Wahlen einen Erdrutschsieg für die Sozialdemokraten; mit 1,3 Millionen Stimmen stellen sie die zweitstärkste Partei. Das Sozialistengesetz ist unhaltbar geworden; Hunderte von exilierten Volksführern kehren in die Heimat zurück. Das wirkt sich auch auf die Schweiz aus. Immer stärker setzt sich der Gedanke durch, dass auf die Dauer nur eine Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgeber und -nehmer die Zukunft des Landes garantiert. Das Jahr 1890 stellt auch für das Ehepaar die Weichen neu. Conrad Conzett übernimmt das Präsidium des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), Verena leitet das Sekretariat des Schweizerischen Arbeiterinnenverbandes (SAV) und ist damit so etwas wie die «Erste Arbeiterin des Landes» geworden. Im Jahr darauf kommt der zweite Sohn, Simon, zur Welt. Aber noch immer führt Verena die Administration der beiden Zeitungen: ein Energiebündel, eine unermüdliche Kämpferin! Und nun soll sie auch noch Ansprachen halten? Sie, das kleine Vreni aus der Schmalzgrube? 1893 ist es aber so weit. Am Sozialistenkongress im Sommer tritt sie als schweizerische Frauendelegierte auf, braucht aber zu ihrer Erleichterung keine Rede zu halten. Doch im Dezember kann sie sich nicht mehr drücken: Sowohl die Basler wie die Zürcher Arbeiterinnen laden sie zum Weihnachtsreferat ein. «Mit zitternden Knien bestieg ich das Podium», schreibt sie vom Zürcher Auftritt. «Zu meinem grössten Erstaunen fand ich den Anfang, und der Vortrag ging ordentlich vonstatten.» Auch in Basel hat sich das Lampenfieber nicht gelegt: «Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen; wie ich angefangen und was ich gesprochen habe, wusste ich nachher nicht mehr.» Das Fazit: «Ich nahm mir fest vor, keine Reden mehr zu halten.» 53


Dabei bleibt es indes nicht. Neue Anfragen flattern ins Haus, in der Folge tritt Verena sogar gelegentlich mit ihrem Mann zusammen aufs Podest. Trotzdem – ein Power-Paar wird nicht aus den beiden. Zu düster ballen sich plötzlich die Wolken über dem Geschäft. In Zürich erscheint neu im gleichen Jahr der Tages Anzeiger, ein liberales Blatt zu günstigen Abonnementspreisen. «Für uns war das Ergebnis geradezu niederschmetternd; ein Drittel unserer Leser verzichtete für das neue Jahr.» Gemeint ist das Jahr 1894, das weitere herbe Enttäuschungen bringt. Streiklustige Gewerkschafter, die sich vom SGB Unterstützung aus dem Streikfonds erhoffen, bringen die SGB-Spitze zu Fall; auch Conzett tritt als Präsident zurück. Die Entfremdung zwischen den Arbeitern und dem alten Kämpfer wirkt sich sofort finanziell aus. Druckaufträge aus Gewerkschaftskreisen werden immer seltener. Auch die Söhne aus erster Ehe bereiten Sorgen: Adolf zieht zu seiner Mutter nach Chicago, Conrad erkrankt erneut an Typhus und fällt durch seine schwärmerische Religiosität auf.


Abb. 12: Die 1895 eröffnete Tonhalle am See, Inbegriff bürgerlichen Schwulstes, beherbergt den Internationalen Arbeiterschutzkongress von 1897. Foto um 1900.

1896 etablieren sich die Conzetts wieder mit einer eigenen Druckerei, diesmal an der Gartenhofstrasse zwischen Wiedikon und dem rasch wachsenden Arbeiterquartier Aussersihl. Adolf kehrt unvermutet aus den Staaten zurück, und die Eltern hoffen ihn als Partner aufzunehmen. Die Gatten sind sicher, «dass es Adolfs freundlicher Art gelingen werde, Druckaufträge zu er-


halten», die man dem «roten Conzett» verweigert. Aber Amerika hat aus dem umgänglichen Burschen einen Karrieremenschen gemacht. Fragt ihn sein Vater nach Bekannten von früher, erhält er zur Antwort, der und der sei «10 000 Taler wert, jener 50 000, ein weiterer 100 000». Noch schlimmer: In Chicago hat Adolf erfahren, sein Vater habe seinerzeit bei Wahlen grosse Bestechungssummen von Seiten mancher Kandidaten zurückgewiesen. Das macht er ihm jetzt zum Vorwurf: «Du wärst ein reicher Mann geworden, wenn du gewollt hättest. Warum tatest du nicht was andere Redaktoren?» So wird natürlich nichts aus der geplanten Partnerschaft. Conrads Ältester wandert kurze Zeit später nach Südafrika aus. Ein paar Briefe treffen noch ein, dann verliert sich seine Spur. Für das Ehepaar folgen weitere Enttäuschungen. 1896 werden aus der eigenen Partei Stimmen gegen Conzetts Kantonsratskandidatur laut; er tritt verbittert zurück. Überhaupt hat sich der unbeugsame Kämpfer zum niedergeschlagenen und resignierten Veteranen gewandelt; immer seltener gelingt es der zuversichtlichen Verena, ihn aufzurichten. «Die Gegner vor mir», entgegnet er dann, «die eigenen Leute im Rücken – das ist alles, was ich in vielen Jahren opferfreudiger Arbeit erreicht habe!» Dazu passt, dass der Druckauftrag für den Internationalen Arbeitsschutzkongress vom Sommer 1897, mit dem die Conzetts fest gerechnet haben, an ein anderes Unternehmen geht. Noch schlimmer: Sohn Conrad erleidet im Militärdienst einen schweren Reitunfall, verliert vorübergehend das Gehör und zeigt nach der Entlassung aus dem Spital Symptome schwerer Depression. Hinzu kommen Verwirrungszustände, bis man Conrad ins Irrenhaus Burghölzli überführen muss. Als im Dezember die ersten Wechsel uneingelöst zurückgehen und Betreibungsandrohungen eintreffen, wird klar: Die Druckerei steht vor dem Konkurs. Am 8. Dezember kehrt Conrad Conzett von 56


einem geschäftlichen Gang nicht mehr zurück. In Horgen wird seine Leiche einen Tag später aus dem See gezogen: Der beinahe 50-Jährige hat sich das Leben genommen.

Vor dem Nichts «Wie ein Blitzschlag ging es durch meinen Körper», heisst es in Erstrebtes und Erlebtes, «ich war auf einmal steif und dürr.» Verlust des Gatten, geschäftlicher Ruin, zwei unmündige Söhne zu versorgen, einer der Stiefsöhne im Irrenhaus, der zweite in Afrika verschollen – die junge Witwe sah sich in einer verzweifelten Situation. Wie sich Verena Conzett in den folgenden Wochen und Monaten aus dem bodenlosen Tief hochkämpfte, berührt beim Lesen der Biografie auch heute noch zutiefst. Trotz Abraten des Waisenamts und der Vormünder der Knaben trat sie die Erbschaft der verschuldeten Druckerei mit sämtlichen Verpflichtungen an. Der Name Conzett sollte bleiben, «wie das ganze Leben meines Mannes gewesen – ehrenhaft». Neue schwere Schläge folgten. Der Druckauftrag für das 1898 als Tageszeitung lancierte Volksrecht ging an einen Konkurrenten – und dies, obwohl die Genossen am feierlichen Begräbnis Conzetts jede mögliche Unterstützung zugesichert hatten. Eine Frau an der Spitze einer Druckerei, so war die Meinung, würde sich nicht lange halten können. Gläubiger, die Stundung versprochen hatten, leiteten Betreibungen ein. Aber es war ausgerechnet einer dieser gefürchteten Zahlungsbefehle, der einen ersten Lichtblick brachte. Als Verena im Betreibungsamt vorsprach, um Aufschub zu erwirken, fand der Beamte eine andere Lösung: Sie würde für das Amt einen grösseren Posten Formulare drucken und mit dem Honorar die Schuld begleichen. «Wer konnte glücklicher sein als 57


ich!», heisst es in den Erinnerungen. «Erst zu Hause schaute ich den Auftrag genauer an – 20 000 Zahlungsbefehle!» Trotz dieser bitter-ironischen Note brachte der Amtsauftrag die Wende, zusammen mit einer grösseren Bürgschaft aus linksdemokratischen Kreisen. Es folgten weitere Formularbestellungen von Ämtern, dann ein Druckauftrag für das schweizerische Ortschaftenverzeichnis. Der Zürcher Anzeiger, der sich schlecht und recht über die Runden gerettet hatte, erhielt neuen Auftrieb, als Verena das Abonnement mit einer Versicherung koppelte – ein Konzept, das sie selbst kurz vor dem Tod des Gatten entwickelt hatte. Viele Arbeiter scheuten vor dem Papierkram zurück, den das Abschliessen einer privaten Unfallversicherung brachte. Verband man die Police mit der Abo-Verpflichtung, hielt sich der Aufwand in Grenzen. Die Prämien verteilten sich, zusammen mit den Zeitungskosten, über das ganze Jahr; zudem sicherte sich der Verleger die Treue des Abonnenten. Es war die gleiche Formel, die dem bis anhin grössten verlegerischen Wagnis des Hauses zum Erfolg verhalf. In freien Stunden sollte als belehrend-unterhaltende Familienzeitschrift eine Alternative zur seichten Triviallektüre bieten – «ausländischer Schundliteratur, die Herz und Geist bei gross und klein vergiftet», wie Verena klagte. Sie war die «Ursache der Volksverdummung, der grosse Feind sozialistischer Entwicklung», und ihr galt es «ein gediegenes, billiges Familienblatt» entgegenzustellen, «das Eltern und Kindern Unterhaltung und geistige Anregung bot». Obwohl Druckerei und Verlag immer noch auf finanziell wackligen Füssen standen, wurde das Wochenblatt 1908 lanciert; es fand auf Anhieb grosses Echo. S’blaui Heftli, so genannt wegen der Grundfarbe des Titelblatts, entwickelte sich zu einer schweizerischen Institution, und dies landesweit: ab 1912 erschien in der Romandie das Schwesterblatt Lectures du foyer. 58


Die Entfremdung «Nach der Jahrhundertwende entfremdete sich (Verena) Conzett der Arbeiterbewegung», meldet der biografische Eintrag im Historischen Lexikon der Schweiz. Sie selbst sah das anders: Es waren die Genossinnen, die ihre Haltung nicht verstanden. «Während drei Jahrzehnten hatte ich selbstlos für die Aufklärung der Arbeiterin und die Verbesserung ihres Loses gewirkt», beklagt sie sich, «und nun brachten sie mir auf einmal Misstrauen entgegen.» Den Anlass gaben Versammlungen, an denen Verena unrealistische Vorstösse bemängelte: «War ich anderer Meinung oder stellte ich einen eigenen Antrag, wurde ziemlich hörbar von ‹Unternehmerstandpunkt› gemunkelt.» Hinzu kamen gesundheitliche Störungen, welche die Witwe zu längeren Kuraufenthalten zwangen. «Vor meiner Erkrankung hätte ich den Kampf mit den Genossinnen frischfröhlich aufgenommen, aber mit meinen schwachen, überempfindlichen Nerven ging das nicht.» Ganz generell war seit Jahrhundertbeginn eine neue Generation engagierter Frauen am Werk – Pioniere wie Margarete Faas oder Marie Walter, die auf Konfrontation und Klassenkampf setzten. Hinzu kam das Vorbild der Volksrecht-Druckerei, die seit 1906 als Genossenschaft betrieben wurde. Müsste eine überzeugte Sozialistin, so war die Meinung bei den Genossinnen, diese Lösung nicht auch für ihren eigenen Betrieb anstreben? Zum offenen Bruch kam es indes nicht. Verena trat aus dem Arbeiterinnenverein aus, blieb aber weiter tätig als Gewerkschafts- und Parteimitglied. Zusammen mit Sohn Hans, auch er SP-Mitglied und später Nationalrat, führte sie im Betrieb bezahlte Ferien ein – ein weiteres Novum.

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Der Aufstieg Die einstige kleine Fabriklerin vom Mühlesteg, die überarbeitete Ladentochter vom Seidengeschäft an der Bahnhofstrasse, die Vorkämpferin für weibliche Gewerkschaften – sie galt nun als Unternehmerin, hatte ein Jahrzehnt nach dem Tod ihres Gatten eine vom Konkurs bedrohte Druckerei zur aufstrebenden, vielseitigen Firma ausgebaut. So gesehen führt unsere Kurzbiografie aus dem zeitlichen wie thematischen Rahmen dieser Darstellung heraus. Dennoch folgen hier die weiteren Stationen: als Abrundung eines aussergewöhnlichen Lebenslaufs, der auch weiterhin durch Höhen und Tiefen führen wird. Vielleicht verkörpert sich der Wandel am augenfälligsten in einer betrieblichen Massnahme, die in Zürcher Druckerkreisen für Kopfschütteln sorgte. 1908 schaffte Verena Conzett eine LinotypeSetzmaschine an. Bis dahin verfügte erst die Neue Zürcher Zeitung über diese in den USA entwickelte Neuerung, die im gleichen Arbeitsgang ganze Zeilen setzte und zugleich goss. Dies ermöglichte eine Stundenleistung von 12 000 Zeichen und mehr. Mit einem Anschaffungspreis von 20 000 Franken passte die vielbestaunte Maschine schlecht zur kleinen Hinterhoffirma. Das zeigt sich an der Reaktion des neu eingestellten Maschinenmeisters: Für ihn «sah das ‹Budeli› an der Gartenhofstrasse so armselig aus, dass er beinahe wieder kehrtgemacht hätte». Auch für Verena brachte der Kauf zuerst schlaflose Nächte. «Ich ahnte damals nicht», heisst es im Rückblick, «dass ich mit der Anschaffung (…) den Grundstock für den späteren Erfolg des Geschäfts gelegt hatte.» Eher zufällig begann die geschäftliche Partnerschaft mit Emil Huber. Der frischgebackene Rechtsanwalt, 18 Jahre jünger als die Witwe und im gleichen Haus wohnhaft, war ein vielseitig interessierter Wirtesohn, der mit der Schriftstellerei liebäugelte, sein fünf60


Abb. 13: Das Porträt von Dora Hauth zeigt die Unternehmerin Verena Conzett. Es schmückte während Jahren die Eingangspartie des Ende der 1920er-Jahre eröffneten neuen Betriebszentrums am Hallwylplatz.


aktiges Drama Winkelried und Gundeldinge sowie einen Gedichtband aber zugunsten eines Studiums der Rechte zur Seite legte und nach der Promovierung zum Teilhaber eines der angesehensten Zürcher Advokaturbüros aufstieg. Die Witwe konsultierte ihn erst in juristischen Fragen, doch das lockere Verhältnis verfestigte sich bald. Huber unterstützte die Lancierung von In freien Stunden erst finanziell, trat dann als Associé ins Unternehmen ein und zog seinen Schwager Ernst Meyer als Verlagsleiter nach. Da auch Verenas Söhne Hans und Simon, beide als Drucker ausgebildet, der Firma beitraten, wurde aus dem Aussersihler «Budeli» ein aufstrebendes Familienunternehmen. Dies galt umso ausgeprägter, als sich Hans Conzett 1911 mit Emil Hubers ebenfalls im Betrieb tätigen Schwester Marie vermählte: aus der geschäftlichen Partnerschaft war eine verwandtschaftliche geworden. Das passte gut zur Zielrichtung des «blauen Hefts», das ja ein Familienpublikum anpeilte. Ebenfalls im Jahre 1911 führten die Conzetts den arbeitsfreien Samstagnachmittag für alle Beschäftigten ein, als erste private Druckerei des Landes; ein Jahr später zog der Betrieb in zwei Häuser an der Werdgasse um. 1914, bei Kriegsausbruch, zählte er rund zwei Dutzend Mitarbeitende. In freien Stunden erschien jetzt in einer Auflage von 40 000 Exemplaren: die meistgelesene Familienzeitschrift des Landes! Verena Conzett, die zusammen mit den Söhnen die Redaktion betreute, trat nach und nach ihre Aufgaben in der Geschäftsleitung ab. Ein reiches, von Arbeit und Kampf erfülltes Leben, das einen geruhsamen Herbst verdient hätte! Aber es hielt für die 57-Jährige erneut eine tragische Wendung bereit. Im Oktober 1918 starben innerhalb einer Woche beide Söhne an der Spanischen Grippe – junge, kräftige Familienväter rund um die dreissig! Ein weiteres Mal stellte sich Verena Conzett der Verantwortung, bezog zusam62


Abb. 14, 15: Die beiden SÜhne Hans und Simon, geboren 1886 und 1891, verstarben im Oktober 1918 innert Wochenfrist an der Spanischen Grippe – zwei von Millionen Opfern, welche die Epidemie kurz nach Ende des Weltkriegs in ganz Europa forderte.


men mit den zwei Witwen und den vier Enkelkindern eine Wohnung in Kilchberg und übernahm allein die Geschäftsleitung. Was die Firmenchronik über die Entwicklung der 1920er-Jahre berichtet, klingt imposant. Die Einführung des Tiefdrucks eröffnete neue Absatzgebiete; Druckerei und Zeitungsverlag erhielten mit dem Morgarten-Verlag einen Buchverlag angegliedert, zu dem später der Manesse-Verlag kam. Jahr für Jahr wuchs die Belegschaft, was sich bei den Firmenfeiern an den «runden» Geburtstagen Verena Conzetts zeigte. 1921 versammelten sich rund hundert Beschäftigte im Zunfthaus zur Waag, 1931 wich man auf die Tonhalle aus; die Belegschaft war auf 430 Personen gestiegen. In eben diesen Jahren hatte die Firma, jetzt unter dem Namen Conzett & Huber, ihr neu erbautes Quartier am Hallwilplatz bezogen; mit der Zürcher Illustrierten hatte sie erfolgreich eine völlig neue Art von Publikumszeitung lanciert: ein grossformatiges illustriertes Wochenblatt.

Lebensfazit Dies alles waren eindrückliche Errungenschaften, aber sie täuschen nicht darüber hinweg, dass sich der Grundton von Verena Conzetts Leben verdüstert hatte. Davon zeugen die einleitenden Seiten des Rückblicks Erstrebtes und Erlebtes, der ebenfalls in dieser Epoche entstand und im Morgarten-Verlag erschien. Den Selbstmord des Gatten, den Verlust von zwei Söhnen zu schildern fiel ihr auch Jahre nach den Ereignissen «unsagbar schwer». Dass sie auch diese Arbeit zu Ende brachte, hatte mit einem Versprechen zu tun, das sie ihren Söhnen kurz vor deren Tod abgelegt hatte: Die Autobiografie sollte, aus dem Zentrum des Geschehens heraus, einer späteren Generation von Sozialdemokraten vor Augen 64


führen, «wieviel Selbstlosigkeit und Opfersinn dazu gehörte, die Fahne stets hochzuhalten». Das tut Erstrebtes und Erlebtes auf eindrückliche Weise. Das Buch ist zudem das Porträt einer ungewöhnlichen Frau, die ohne jegliche formale Ausbildung die Administration eines Gewerbebetriebs übernahm und ihn später zur Grossdruckerei mit angegliedertem Verlag ausbaute – dies mit Ideen und Methoden, die ihrer Zeit weit voraus waren. Eine Publikumszeitschrift wie In freien Stunden beispielsweise stand in der damaligen Verlagslandschaft völlig allein da. Ebenso neuartig waren die Publikumserhebungen, welche die Bedürfnisse der Leserschaft abklärten, und dies in einer Zeit, die den Begriff «Marktforschung» noch nicht kannte. Vor allem aber faszinieren die Zuversicht und Tatkraft, mit der Verena Conzett die Schicksalsschläge überwand, die das Leben für sie bereithielt. Es brauchte dafür jenen Optimismus, den der schwerblütiger veranlagte Conrad Conzett an seiner Gattin so bewunderte: «Der Himmel mag noch so grau und finster sein, ein blaues Fleckchen findest du immer!»

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Kapitel 3

Arbeiteralltag: Wohnen, Essen, Haushalten

Abb. 16: Kinder einer Landarbeiterfamilie in ihrer Unterkunft in Chermignon VS. Neben dem Alkoholismus war die grosse Kinderzahl das Haupthindernis auf dem Weg zum sozialen Aufstieg.



D

urch die frühsten Erinnerungen von Verena Conzett-Knecht treibt sich eine Hexe mit dem grusligen Namen «Frau Cholera». Von ihr wussten die Schulkameraden, dass sie jeden erwürgte, der ihr in die Klauen geriet; nur wer als Schutz ein Amulett trug, blieb verschont. Hinter dem Kindheitstrauma, das der damals Sechsjährigen noch während Jahren zu schaffen machen wird, steckt die Cholera-Epidemie des Jahres 1867. Sie hielt Zürich während des ganzen Sommers in Atem und forderte in Stadt und Land über 500 Todesopfer. Auch an der Eingangstüre zum Mietshaus der Familie hing eine Warntafel mit der Aufschrift Hier herrscht die Cholera! Sowohl über wie unter der Wohnung der Knechts lagen Cholerakranke darnieder. Während sich die kleine Verena nach dem Abklingen der Epidemie unter Zittern wieder in den dunklen Hausflur getraute, begann in Zürich die Debatte über die Hintergründe der Massenerkrankung. Die Hauptursache fanden die Stadtmediziner in den hygienischen Verhältnissen der Altstadt. Die Mietwohnung der Familie Knecht in der engen Schmalzgrube, einer Gasse zwischen Predigerplatz und Limmat, lag mitten in einem dieser Hochrisikoquartiere. In hohen und schmalen Häusern wohnten hier fast durchwegs Arbeiter und Handlanger sowie Kellnerinnen und Kellner der zahlreichen Wirtschaften im Niederdorf; anders als heute galt die alte Kernstadt als wenig attraktive Wohnlage. Die Schuld daran trug vorab die mangelnde Entsorgung. Seit dem Mittelalter hatte sich wenig verändert: Zwischen den eng 69


aneinandergebauten Häuserreihen lagen handtuchbreite Durchlässe, «Ehgräben» genannt. «In diesen Graben», so erinnert sich Verena Conzett, «entleerte sich damals aller Unrat der angrenzenden Häuser und bewegte sich langsam der Limmat zu. Nach einem solchen Ehgraben hinaus lagen der Abort, die Küche und ein Schlafzimmer der Wohnungen. Wir Kinder beider Häuserreihen sahen oft stundenlang den mächtigen Ratten zu, die im Graben ihr Unwesen trieben. (…) Nie erhellte ein Sonnenstrahl unsere Wohnung oder auch nur einen kleinen Teil davon. Jeden Morgen ging meine Mutter mit einer Schaufel voller glühender Kohle, darauf Wacholderbeeren lagen, mehrere Male durch sämtliche Räume, um die stinkende, muffige Luft zu vertreiben.»

«Luft- und fensterlose Löcher» Während sich in den Altstädten von Bern, Basel, Genf oder Zürich eigentliche Slums bildeten, entstanden in eben diesen Jahren neue Arbeiterquartiere, in denen bald ähnliche Verhältnisse herrschten. Mietskasernen mit billigem Wohnraum wurden in Zürich vor allem entlang der Langstrasse hochgezogen – im seit 1860 rasch wachsenden Aussersihl sowie jenseits der Bahngleise rund um den Limmatplatz im späteren Kreis 5. Obwohl es sich um Neubauten handelte, hielten die Gesundheitsinspektoren oft menschenunwürdige Zustände fest. In den Mietskasernen – so ein Bericht – «verbargen sich in den feuchtgrünen, salpeterschwitzenden Mauern Schaben, Wanzen und Mäuse»; sie umschlossen «Höfe voller Unrat und Gestank». Eine Privatsphäre im heutigen Sinne kannten Arbeiterfamilien nicht. Viele teilten ihre engen Räume mit Untermietern, den sogenannten Schlafgängern. Aus Winterthur meldete ein Beobachter um 1880, oft teilten sich «zwei bis drei Familien in 70


eine Wohnstube, in eine Küche und einen Herd, so dass kaum noch für eine Familie eine Schlafkammer abgesondert ist». Ledige Arbeiter, «die sich haufenweise im gleichen Hause verkostgelden, zusammen essen und zusammen schlafen», wohnten neben Randständigen, die auf dem Estrich oder im offenen Hausflur schliefen. Auch auf dem Land trafen Fabrikarbeiter keine besseren Wohnbedingungen an. Hier stellten die Unternehmer sogenannte Kosthäuser bereit – ins Grüne verpflanzte Wohnkasernen mit einem Dutzend kleiner Wohnungen pro Stockwerk, die sich einen einzigen Abort teilten. Eine Bewohnerin der «Wälewoog» im zürcherischen Wald erinnert sich an die im Untergeschoss montierten Fabrikturbinen, die das ganze Haus vibrieren liessen, ebenso an die ums Haus verlaufenden Baugräben, die nach der Fertigstellung nie ausgeebnet worden waren und sich mit einer Kanalfauna aus Ratten, Molchen und Spinnen füllten. Der Glarner Fabrikinspektor Fridolin Schuler traf entlang der Linth auf baufällige Buden mit Schlafzimmern, «die sechs bis acht Menschen beherbergen. In den Stuben halten sich abends und an Feiertagen oft ein Dutzend und mehr Personen auf – rauchende Männer, bettnässende Kinder. Wie oft hängt fingerlanger Schimmel von den Wänden herunter, wie oft verpestet Modergeruch den Wohnraum!» Zwar sorgten einzelne Unternehmer mit einfachen Reihenhäusern für menschenwürdige Unterkünfte, so Julius Maggi für die Belegschaft seiner Suppenfabrik in Kemptthal oder die weiter flussabwärts an der Töss gelegene Maschinenfabrik Rieter. EscherWyss liess am Nordrand Zürichs erschwingliche Reihen-Arbeiterhäuser erstellen, die für 5000 bis 6000 Franken zum Verkauf standen – etwa ein Drittel von dem, was ein gewöhnliches Einfamilienhaus kostete. Ein «Pflanzblätz» gehörte dazu – ein Stück Gartenland zum Bebauen, wie es oft auch im Umfeld der Kosthäuser angeboten wurde. 71


Abb. 17: Trinker in seinem Heim. Xylographie aus: Dßckelmann, Die Frau als Hausärztin (1904). So wie Anny Morfs Vater verschleuderten zahlreiche Fabrikarbeiter ihren Lohn in der Kneipe.


Aber nur wenigen Fabriklern blieb nach einem Elfstundentag und einem oft zeitraubenden Arbeitsweg genügend Zeit zum Gärtnern. Oft wurden die Kinder eingespannt. «Unsere Wohnung gehörte der Fabrik», berichtet die kleine Anny Morf, die mit Feuereifer Mist zum Düngen auf den Strassen einsammelt. «Jedem Bewohner der Fabrikhäuser stand so viel Land zur Verfügung, als er bebauen konnte. Wir pflanzten Kartoffeln und Gemüse. Ich setzte Hyazinthen in ein Beet.» Aber noch bevor Anny ihren ersten Blumenstrauss binden kann, beteiligt sich ihr Vater am Streik der Albisriedener Maschinenarbeiter (1906), wird entlassen und verliert damit Wohnung samt Garten. Der Mutter gelingt es gerade noch, einen Teil der kaum ausgereiften Kartoffeln und Kohlköpfe auszugraben und wegzubringen.

Die ewigen Härdöpfel «Unsere Ernährung bestand aus Milch, Brot und Kartoffeln», heisst es in Annys Erinnerungen weiter, «sonst hatten wir eigentlich nicht viel. Wenn wir Fett hatten, machten wir Rösti, und wenn wir keines hatten, goss meine Mutter Milch zu den Kartoffeln, damit sie ein bisschen weicher wurden.» Zwar erhielten Fabriklerinnen eine zusätzliche halbe Stunde Mittagszeit, um zuhause das Essen vorzubereiten. Trotzdem reichte es in den wenigsten Fällen zum Rüsten von Gemüse und Aufsetzen einer Suppe. Viele Mütter hätten auch nie richtig kochen gelernt, wie Fridolin Schuler in der genannten Abhandlung beklagt, so dass auch ihren Töchtern das nötige Wissen fehle. «Unsere Hauptnahrung waren Kartoffeln», heisst es in einem weiteren Lebensrückblick, «entweder gebraten oder in einer Wassersuppe gesotten oder vermischt mit Dörrobst als Brei serviert.» Seit den 1870er-Jahren wurden sie manchmal 73


durch Polenta oder Teigwaren ersetzt – angeregt durch die Essgewohnheiten der italienischen Gastarbeiter, die am Bau der Gotthardbahn beschäftigt waren. Fleisch kam nur selten auf den Tisch, und dies fast nur in minderwertiger Qualität. Aus der Metzgerei bezog man Lunge und Kopf- oder Euterfleisch vom Rind. Dieses Zweitklassfleisch wurde «mit unendlichem Wasserschwall zu purem Leim gekocht», wie sich eine weitere Arbeiterin erinnert. War etwas Schmalz übrig, briet man es hinterher in der Pfanne von allen Seiten her an, was die Illusion eines «echten» Fleischgerichts vermittelte. Fürsorger klagten, in manchen Männerhaushalten erspare man sich die Kocherei ganz und begnüge sich mit dem «ebenso wärmenden Fusel» – Kartoffelschnaps aus den überall anzutreffenden Brennereien. Hinzu komme «eine wohlfeile Kombination aus Brot und Kartoffeln». Fabrikkantinen waren nahezu unbekannt; überhaupt verpflichtete erst das Fabrikgesetz von 1877 die Unternehmer zum Bau eines Verpflegungsraums. Als Zwischenmahlzeit musste ein Stück Brot genügen, manchmal auch als Mittagsmahl. Verena Conzett erinnert sich an die Henkelkörbe, mit denen ihre weiter entfernt wohnenden Kolleginnen in der Zwirnerei anrückten. Oft enthielten sie ein einziges Stück Brot für die Zwölfuhr-Verpflegung, dazu aber Garn oder Wolle, mit denen selbst die Mittagspause für eine private Arbeit genutzt wurde. Viele Fürsorger sahen die einzig mögliche Abhilfe in möglichst breit gestreuten Volksküchen, die über Mittag einen nahrhaften Teller Suppe zum Selbstkostenpreis anboten. Verena Conzett berichtet denn auch von einer gemeinnützigen Küche in den Oberen Zäunen. Sie offerierte einen grossen Teller Fleischsuppe mit Gemüse zum Preis von 10 Rappen. Aber das entsprach, wie das folgende Kapitel zeigen wird, einem halben Stundenlohn: Selbst die Fürsorge-Suppe galt als Luxus! Hier hakte um 1880 die Schweizerische Gemeinnützige Gesell74


schaft (SGG) ein. Ihr Gewährsmann, der Arzt Fridolin Schuler, legte den Finger auf den wunden Punkt: In der Arbeiterküche dominierten mit Kartoffeln, Teigwaren oder Mais die Kohlenhydrate. In diesem einseitigen, weil viel zu stärkehaltigen Angebot fehlten die Proteine. Da Eier oder ein tägliches Fleischgericht aus Kostengründen ausschieden, stiess Schuler auf die billigeren, aber eiweissreichen Hülsenfrüchte: Erbsen, Linsen und Bohnen. Seine Abhandlung Die Ernährung der Fabrikbevölkerung und ihre Mängel führte zur Zusammenarbeit mit dem jungen Müllereibesitzer Julius Maggi. Gemeinsam mit der SGG produzierte und propagierte Maggi in den folgenden Jahren zur «Hebung der Volksgesundheit» eine eiweissreiche Grundnahrung auf Hülsenfruchtbasis. Diese Leguminosenmehle und -suppen kamen um 1884 als «Maggi-Mehl» auf den Markt. Das Pfund kostete 45 Rappen und gab 15 Portionen einer nahrhaften Erbsen- oder Linsensuppe her. Drei Rappen für 30 Gramm Eiweiss: damit schien das Ernährungsproblem gelöst! Ironischerweise fanden Maggis Suppen aber vor allem bei den bürgerlichen Hausfrauen Anklang. Die Koch- und Essgewohnheiten der Fabrikbevölkerung, so zeigte sich, liessen sich nur schwer ändern. «Fürs gleiche Geld ist eine Flasche Kartoffelschnaps zu haben», klagte ein Fürsorger mit Bezug auf die Maggi-Packung. «Da hat mancher Arbeiter seine Wahl schnell getroffen!» Auch die SGG liess sich entmutigen und schlug Mitte der 1880er-Jahre eine neue Strategie ein. Empfohlen wurden jetzt in einem weiteren Feldzug Milch und Käse zur Bereicherung der Arbeiterküche.

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Abb. 18: Gemüserüsterinnen im Rüstsaal von Julius Maggis Suppenmehlund Würzefabrik in Kemptthal ZH. Foto um 1890. Das als eiweissreiche Grundnahrung propagierte Leguminosenmehl wurde ergänzt durch neu entwickelte Trockensuppenpräparate mit kurzer Kochzeit.


Preise und Löhne 187o kommt Verena Conzetts Vater als Aufseher in einer Papierfabrik auf einen Wochenlohn von 20 Franken, was einem Taglohn von 3.20 Franken entspricht. Der Vater der genannten Anny Morf, einfacher Fabrikarbeiter in der Maschinenbranche, verdient um die Jahrhundertwende 2.75 Franken im Tag. In einer berührenden Passage schildert Anny, wie sie und ihre Mutter mit allen Mitteln die ausstehende Monatsmiete für ihre Dreizimmerwohnung in Albisrieden zusammenkratzen. Von den benötigten 18 kommen aber bloss 15 Franken zusammen; die Familie muss die Wohnung räumen und steht auf der Strasse.

Abb. 19: Auslage der Gemüsehandlung Meier. Obst und Gemüse wurden von Arbeiterfamilien wo möglich selbst angebaut; manche Arbeitgeber stellten Terrain für Pflanzgärten zur Verfügung. Foto um 1890, wahrscheinlich Olten.


Die genannten Zahlen geben einen Begriff vom Arbeiterbudget im ausgehenden 19. Jahrhundert. Gerechnet wird mit der kleinsten Einheit, dem Rappen. Manche Streiks werden um die Erhöhung des Stundenlohns um ein oder zwei Rappen geführt. Ein- oder Zweiräppler spielen im Alltag die Hauptrolle; im Zentrum steht nicht das Franken-, sondern das Zehnrappenstück mit dem Libertaskopf. Denn: Der tägliche Zahlungsverkehr spielt sich ausschliesslich mit Geldmünzen ab. Auch Bessergestellte bekommen kaum je eine Banknote zu Gesicht; ohnehin beginnt die Schweizerische Nationalbank erst 1907 mit der Ausgabe einer Notenserie,


welche die Notenwährung der jeweiligen Kantonalbanken ablöst. Einen Höhepunkt im Leben der jungen Verena Conzett bedeutet das 20-Franken-Goldstück, das sie um 1880 als Weihnachtsgratifikation erhält; es wird sogleich zur Bank getragen. Generell steigen die Industrielöhne im Zeitraum von 1870 bis 1900 um etwa 25 Prozent, während sich der Index der Nahrungsmittelpreise um 10 Punkte erhöht. Der Brotkorb wird also etwas grösser, aber noch immer gibt die durchschnittliche Fabriklerfamilie die Hälfte ihres Einkommens für die Ernährung aus. Um beim Einkommen zu bleiben: Verena Conzett verdiente als junge Krawattenmacherin 60 Franken im Monat, was dem Durchschnittslohn einer Textilarbeiterin entsprach. Am besten wurden männliche Arbeiter in der Schwerindustrie bezahlt, die es um 1870 auf 120 Franken im Monat brachten. Zehn Jahre später betrug der durchschnittliche Jahreslohn für Fabrikarbeiter 750 Franken; das doppelverdienende Ehepaar kam auf 1200–1300 Franken. Rund ein Viertel davon ging für die Wohnungsmiete weg (Fr. 250.– bis 350.– für eine Zwei- bis Dreizimmerwohnung). Heizung und Beleuchtung frassen weitere 60 bis 80 Franken pro Jahr weg. Den grössten Posten bildete, wie gesehen, die Ernährung. Während des gesamten hier erfassten Zeitraums bewegte sich der Preis für ein Kilo Weissbrot um Fr. 0.45, für einen Liter Milch um Fr. 0.16; es blieb als Grundnahrung die Kartoffel (8 bis 9 Rappen/Kilo). Der Preis für ein Kilo Kaffee (Fr. 1.80 bis 2.00) betrug fast einen Taglohn. Ein dreiminütiges Telefongespräch zwischen Zürich und Winterthur, ab 1880 möglich, kostete 30 Rappen – mehr als einen durchschnittlichen Stundenlohn –, eine Fahrt auf dem Rösslitram 10, eine Halbliterflasche Kartoffelschnaps 50 Rappen. Diese Relationen hatten auch für die besserverdienenden Klassen Gültigkeit. Beamten- oder Lehrerfamilien galten bei einem Jahreslohn von 2500 bis 3000 Franken als gutgestellt. Aber selbst 80


für diese Schicht, die im eigenen Haus wohnte, ein oder zwei Dienstboten hielt und die Töchter zum Welschlandjahr ins Pensionat schickte, bildete die Anschaffung eines Paars Schuhe (Fr. 10.–) einen beachtlichen Posten. Auch einen Sonntagsausflug auf die Rigi überlegte man sich gründlich, denn in Begleitung von Frau und zwei Kindern legte auch ein Gymnasiallehrer mehr als einen Wochenlohn hin: Rigibahn Hin- und Rückfahrt ab ArthGoldau Fr. 10.–, Bahn-Retourbillet Zürich–Arth-Goldau Fr. 7.–, dies alles pro Person. Vollends unerschwinglich, sowohl für den Arbeiter wie den leitenden Beamten, blieb eines dieser kutschenlosen Gefährte, wie man sie seit Jahrhundertbeginn ab und zu auf der Strasse antraf. Das erste Günstigangebot des Automobilhändlers war 1904 das Modell Oldsmobile «Curved Dash»; mit seinem Preis von 4000 Franken blieb es der reichen Oberschicht vorbehalten.

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Löhne und Preise in Auswahl (Stand 1890) – Durchschnittlicher Stundenlohn in Franken Baumwollindustrie Männer Baumwollindustrie Frauen Seidenindustrie Männer Seidenindustrie Frauen Seidenindustrie Färber/in Schwerindustrie Dreher/Giesser Pferdetram-Führer

0.23 0.17 0.33 0.22 0.44 0.50 0.23

– Durchschnittlicher Wochenlohn in Franken Textilindustrie Männer Textilindustrie Frauen Nahrungsmittelindustrie Männer Nahrungsmittelindustrie Frauen Industrie gesamt Männer Industrie gesamt Frauen

17 12 25 18 23 12

– Jahreslohn doppelverdienendes Ehepaar Textilindustrie Industrie gesamt

1400–1500 1700–1800

– Wohnungs-Jahresmiete in Franken (städtische Verhältnisse) 1-Zimmerwohnung mit Küchenanteil 150–200 2- bis 3-Zimmerwohnung 200–300 3-Zimmerwohnung mit Mansarde 440–500 Heizung und Beleuchtung (zusätzlich) 30–50 – Preise Lebensmittel/Varia in Franken (Stand 1882) 1 Kilogramm Weissbrot 1 Liter Milch 1 Kilogramm Kartoffeln 1 Kilogramm Zucker 1 Kilogramm Bohnenkaffee 1 Kilogramm Rindfleisch

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0.46 0.22 0.09 0.90 1.80 1.57


½ Kilogramm Maggi-Suppenmehl 1 Ei 1 Teller Suppe in Volksküche Mahlzeit in Restaurant 1 Liter Petrol für Lampe 1 Fahrt mit Pferdetram Telefonanruf interurban (3 Min.) 1 Paar Schuhe – Jahresausgaben Arbeiterfamilie (in Prozent des Gesamtverdiensts) Nahrungsmittel davon Milch/Milchprodukte Brot Fleisch Alkoholika, Tabak Miete, Heizung, Beleuchtung Bekleidung Versicherung, Steuern Bildung, Erholung Transport, Möbel, Varia

0.45 0.09 0.10 1.00 0.24 0.10 0.30 10.–

50 12 10 9 5 22 8.5 4 2.5 8

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Kapitel 4

Solidarit채t: Erste Organisationen f체r Arbeiterinnen

Abb. 20: Arbeiterinnen und Aufseher einer Basler Spinnerei posieren mit ihren Arbeitsger채ten vor dem Fabrikgeb채ude. Foto um 1900.



I

n der Stadt Fribourg macht 1874, im Jahr der fortschrittlichen neuen Bundesverfassung, ein Streik von sich reden. Drucker und Setzer der Imprimerie Liberté protestieren gegen die Einstellung von Frauen in ihren Betrieb. Sie wittern in ihnen eine unliebsame und feindlich gesinnte Konkurrenz. Der Streik bleibt erfolglos; die Liberté stellt erstmals weibliche Hilfskräfte ein. Aber die Auseinandersetzung zeigt deutlich: Weibliche Beschäftigte in Gewerbe und Industrie kämpfen nicht nur gegen Unterbezahlung und überlange Arbeitszeiten, die ihnen der Fabrikant oder Meister auferlegt. Sie haben an vielen Orten auch die männliche Belegschaft gegen sich, die sich vor Lohndrückerei fürchtet und um ihr Berufsprestige bangt. Es ist das gleiche Jahr, in dem Verenas Vater am Star erkrankt, seinen Aufseherposten in der Papierfabrik am Mühlesteg verliert und die Versorgung der Familie an die Gattin und die Töchter abtreten muss. Wenn den Frauen eine zwar schlecht entlöhnte, aber meist langfristig gesicherte Anstellung in der Fabrik tatsächlich versagt bleibt – müssen sie dann alle umsteigen auf Heimarbeit, wie sie Mutter Knecht schon seit einer Weile zu einem Hungerlohn betreibt? Oder suchen die Frauen eine Stellung als Dienstmagd, Putzfrau, Kellnerin oder Wäscherin mit ähnlich miserablen Bedingungen?

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Eine Gräfin weist den Weg Tatsächlich zeigt sich in der frühen Geschichte der schweizerischen Arbeiterinnenbewegung, dass selbst die zu Recht als menschenfeindlich und ausbeuterisch empfundene Anstellung in einem Fabrikationsbetrieb zum umstrittenen Gut wurde. Die Klassengenossen selbst, so tadelte Conzetts Arbeiterstimme, träten der Frau als unerwünschter Konkurrenz entgegen: «Wir haben schon einmal an dieser Stelle beklagt, dass auch für die organisierten Arbeiter die Arbeiterin nur als Feindin, als Konkurrentin existiert. In nur sehr wenigen Gewerkschaften hat sie Zutritt, ja einige derselben, wie die Typographen, verlangen einfach, dass die Frauenarbeit in ihrem Fache womöglich von Gesetzes wegen verboten werde.»


Abb. 21: In Uhrenfabriken wie der Horlogerie Réunie SA bei Neuchâtel stellten weibliche Arbeitskräfte die Mehrzahl der Beschäftigten. Trotz der anspruchsvollen Arbeit – jeder Werkplatz ist ausgerüstet mit einer von Treibriemen gesteuerten Maschine – lagen ihre Löhne etwa ein Drittel unter jenen der männlichen Kollegen. Foto um 1900.

Diese Haltung blieb keineswegs auf das Druckergewerbe beschränkt. Auch aufgeschlossene Gewerkschafter tendierten durchaus in die gleiche Richtung, wie aus einer Stellungnahme des Arbeiterbunds hervorgeht: «Ein Verbot verheirateter Frauen in Fabriken würden wir gern befürworten, schon um zu zeigen, dass die organisierte Arbeiterschaft kei-


neswegs jene feindliche Stellung zur Familie einnimmt, die man ihr gern unterschiebt. Ist es doch nur zu wahr, dass die Besorgung des Haushalts, die Erziehung der Kinder und das ganze Familienleben des Arbeiters unter der Fabrikarbeit der Hausfrau schwer leidet.» In zahlreichen Proletarierfamilien zeigte die wirtschaftliche Realität aber unmissverständlich, dass das gemeinsame Überleben von der Fabrikarbeit beider Ehegatten abhing. Ebenso klar wurde, dass die weiblichen Beschäftigten ihre Interessen in eigenen Organisationen verteidigen mussten. Und hier tat ausgerechnet eine Aristokratin den entscheidenden Schritt: Es war die aus Schlesien stammende Gertrud Gräfin Schack von Wittenau, einige Zeit verheiratet mit einem Künstler aus dem Schweizer Jura, die am Anfang der schweizerischen Arbeiterinnenbewegung stand. Gertrude Guillaume, wie sie jetzt hiess, regte in den Jahren 1886/87 mit einer Reihe von Vorträgen in St. Gallen, Winterthur und Zürich die Gründung von Interessengemeinschaften arbeitender Frauen an. Von der Arbeiterstimme als «menschenfreundliche Dame» gewürdigt, legte die Gräfin ihren Zuhörerinnen ans Herz, dass es für Lohnempfängerinnen jeder Branche keinen «Standeshochmut» mehr geben solle: «Die Putzmacherin soll sich nicht besser dünken als die Nähterin, diese nicht höher als die Fabrikarbeiterin und diese nicht meinen, sie sei mehr als die Magd.» Erst durch den solidarischen Zusammenschluss komme die arbeitende Frau in die Lage, ihre Interessen zu vertreten – ob gegen ausbeuterische Unternehmer oder gegen engstirnige männliche Gewerkschafter.

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Schlüsseljahre Gertrude Guillaume zog es zurück nach Deutschland, wo sie wegen «gemeingefährlicher Bestrebungen» prompt ausgewiesen wurde; sie fand schliesslich Zuflucht in England. Aber ihre Vorträge in der Schweiz zeitigten Wirkung. Innert weniger Monate schlossen sich in St. Gallen, Winterthur, Zürich, Bern und Basel weibliche Beschäftigte in gewerkschaftsähnlichen Vereinen zusammen. 1890 trafen sich ihre Vertreterinnen in Basel und gründeten den Schweizerischen Arbeiterinnenverband (SAV): die Pionierzeit der schweizerischen sozialistischen Frauenbewegung. Als Präsidentin – genauer: als «Secretärin des Centralvorstands schweiz. Arbeiterinnenvereine» – zeichnete Verena Conzett. Die rund 300 Angehörigen der fünf Sektionen zahlten einen Mitgliederbetrag von monatlich fünf Rappen. Man traf sich in der Regel vierzehntäglich am Samstagabend oder Sonntagnachmittag. Neben Fabrikarbeiterinnen nahmen Näherinnen, Wäscherinnen, Kellnerinnen oder Dienstmädchen teil. Viele waren Ehegattinnen mit Kindern, ja bei der Berner Sektion wies man sogar darauf hin, sie bestehe «ausschliesslich aus geplagten Familienmüttern». Gerade hier lag aber einer der strittigen Punkte. In manchen Fällen erhoben Ehemänner Einspruch, musste die Frau um ihr Recht zur Teilnahme kämpfen. Conzetts Arbeiterstimme rügte: «Dass die Genossen ihren Frauen erlauben, den Arbeiterinnenvereinen beizutreten, davon sollte unter keinen Umständen die Rede sein. In einer Sozialistenfamilie soll die Frau dem Mann gleichgestellt sein. Der Mann soll hier weder etwas zu erlauben noch zu verbieten haben.» Kam hinzu, dass viele Männer an den Vereinsabenden der Frauen nur widerwillig die Aufsicht über die Kinder übernahmen. Davon zeugen Aufrufe im Stil: «Drum, ihr Fraue, chömed go lose und lönd emol öier Manne diheime la gaume!» 91


Selbst wenn sich die Männer zum Gaume oder Kinderhüten bereiterklärten, blieb ein Hauptproblem bestehen: das mangelnde weibliche Interesse. «Im Vergleich zu der grossen Menge industriell tätiger Frauen ist die Zahl der organisierten Arbeiterinnen eine sehr kleine», beklagte Verena Conzett 15 Jahre nach dem Zusammenschluss von Basel in einem ihrer wenigen erhaltenen schriftlichen Beiträge. «Es mangelt eben der Frau oft an Einsicht in die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, an Erkenntnis der gemeinsamen Interessen, welche alle Arbeitenden miteinander verbinden sollten. Dieser Umstand ist eines der grössten Hemmnisse der gesamten Arbeiterbewegung. Der Frau aber ohne weiteres jedes Interesse und Verständnis für öffentliche Angelegenheiten abzusprechen, ist unrichtig. Tatsache, ist, dass die Frau, sobald sie den Nutzen und den Segen der Organisation erkannt hat, zum mindesten ebenso eifrig, aufopfernd und ausdauernd für diese eintritt wie der Mann, nur hält es eben ungemein schwer, der Frau diese Erkenntnis beizubringen.» Zu diesem Zeitpunkt – 1905 – hatte sich die Zahl der SAV-Sektionen immerhin auf zehn verdoppelt. Sie wiesen 485 Mitglieder auf, zudem waren Frauen in 13 durchwegs weiblichen oder gemischten Gewerkschaften organisiert, dies etwa in der Konfektion und der Uhren- oder Seidenfabrikation. Aber das Hauptproblem blieb bestehen. Verena Conzett weiter: «Wenn der Arbeiter nach vollbrachtem Tagwerk nach Hause kommt, so ist er doch wenigstens frei und kann in politischer Betätigung und im Gespräch mit Freunden eine Stunde geistiger Erholung finden. Anders die Frau. Für sie schlägt nur selten die Stunde der Erholung, ihre Arbeitszeit hat meist keine bestimmte Grenze und oft genug beginnt für sie die häusliche Arbeit, wenn sie bereits von einem Tagwerk in der Fabrik nach Hause kommt. Nicht besser ergeht es der in der Hausindustrie beschäftigten Arbeiterin. Von morgens früh bis abends 92


spät wechseln beständig Erwerbs- und häusliche Arbeiten, und es ist deshalb kein Wunder, dass weder politische noch wirtschaftliche Fragen diese mit Arbeit überlastete und übermüdete Frau noch interessieren.»

«Leider abgewiesen» Einer der wichtigsten politischen Vorstösse des SAV, eine Petition an die Bundesversammlung, galt denn auch der Freigabe des Samstagnachmittags für Fabriklerinnen, «welches für Tausende von Arbeiterinnen eine grosse Wohltat wäre». Sie hatte ebenso wenig Erfolg wie die Forderung nach der Ernennung weiblicher Fabrikinspektoren oder die SAV-Initiative zur Einführung unentgeltlicher Kochkurse. «Bedauerlicherweise», so Verena Conzetts Verbandschronik, «wurde von den gesetzgebenden Behörden dieser Petition keine Folge gegeben.» Es war ein Fazit, das auf jeden einzelnen Vorstoss der Arbeiterinnen in diesen ersten Jahren zutraf. Die Forderung nach unentgeltlichen Kochkursen wurde ebenso abgeschmettert wie jene nach einem achtwöchigen Urlaub für Wöchnerinnen oder der Erweiterung des Schutzgesetzes für werktätige Frauen, die das Fabrikgesetz nicht erfasste. Gerade diese bedeutende Lücke hatte Verena Conzett bei ihren Vorbereitungen zum internationalen sozialistischen Arbeiterkongress von 1893 dokumentiert. Leidtragende waren die Näherinnen und Putzmacherinnen von kleinen und mittleren Betrieben, die auch um 1890 immer noch 12 bis 13 Stunden am Tag im Einsatz standen. «Ende der Woche mussten die Lehrmädchen oft bis gegen Morgen arbeiten, damit am Sonntagvormittag abgeliefert werden konnte. War es zum Heimgehen zu spät, wurden Säcke mit Stoffabfällen, ungeglättete oder schmutzige Wäsche auf den Boden ge93



Abb. 22: N채herinnen einer Weisswarenfabrik, Standort unbekannt. In der Bekleidungsbranche f체hrte die unregelm채ssige Nachfrage oft zu verl채ngerter Arbeitszeit am Wochenende. Foto um 1900.


legt als Schlafkissen für die wenigen ruhigen Stunden.» Als weitaus wirksamer denn Eingaben aller Art erwies sich die solidarische Arbeitsniederlegung. Mehrere Streiks der 1890er-Jahre endeten mit einem Sieg der Arbeiterinnen. Im zürcherischen Wollishofen traten die Seidenweberinnen der «Roten Fabrik» volle acht Wochen in den AusAbb. 23: Fahne des Arbeiterinnenvereins stand – und sahen ihre ForAussersihl, 1880er-Jahre. derungen erfüllt. Die Weberinnen in Burgdorf erkämpften mit einem sechswöchigen Streik den 10-Stundentag, und in einer Zürcher Glühlampenfabrik erzwangen die Arbeiterinnen mit einem Ausstand von acht Tagen das Einlenken der Direktion. Trotz solcher Teilerfolge wurde indes deutlich, dass die proletarische Frauenbewegung nur zusammen mit der organisierten Arbeiterschaft festen Boden finden würde. Ohnehin teilte man mit den Gewerkschaftern die Treffpunkte – Vereinshäuser wie das Zürcher Grütliheim an der Zähringerstrasse, aber auch Gaststätten wie den Schwanen unweit vom Predigerplatz. Im Allgemeinen widerstrebte den Frauen aber die Zusammenkunft in solch «engen, dumpfen, von Alkohol und Tabakgeruch verseuchten Lokalen». Voller Freude zog der Zürcher Arbeiterinnenverein 1908 in das eben eröffnete Volkshaus am Helvetiaplatz um, wo der «prächtige, luftige Gartensaal» eine angemessenere Atmosphäre bot. Rund um die Jahrhundertwende hatten sich die meisten weib96


lichen Vereine den lokalen Arbeiterunionen angeschlossen und waren dem Arbeiterbund beigetreten. Der SAV seinerseits lehnte einen Annäherungsversuch des bürgerlich dominierten Schweizerischen Frauenbunds ab. Nach eingehender Diskussion kam man zum Schluss, dass die weibliche Solidarität zurücktreten müsse hinter das Interesse der Arbeiterschaft, «deren Wege sie zu gehen hat». 1905 kam es zum logischen Entscheid: Der weibliche Verband schloss sich dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund an.

Jedes Jahr ein Kind «Genügsamkeit und Fügsamkeit sind ein grosses Hemmnis», beklagte Verena Conzett die passive Haltung vieler Proletarierinnen. Hinzu kam die weit verbreitete Haltung, «dass die Frau ins Haus und nicht an die Öffentlichkeit gehöre». Es war eben diese ausgeprägte Fügsamkeit, die einem weiteren Problem zugrundelag: der grossen Kinderzahl proletarischer Familien. Der Arbeiterarzt Fritz Brupbacher, der 1901 eine Praxis an der Badenerstrasse eröffnete, bekam diese Kinderscharen täglich vor Augen. «Da liefen sie herum mit ihren Schnudernasen», heisst es in Brupbachers Autobiografie Sechzig Jahre Ketzer, «oft auch auf der Strasse nur mit einem Hemd bekleidet, rachitisch, mit krummen Beinen und dünnen Knochen. Geschwister, kaum elf Monate auseinander – eine Unmenge!» In der Sprechstunde bekam er ihre Mütter zu sehen: «Diese Frauen, nichts als Haut und Knochen! Es ist zum Kopfschütteln, wenn man den dicken Bauch der schwangeren Frau eines Handlangers sieht, die schon ein halbes Dutzend Kinder hat, die unterernährt, rachitisch und skrofulös sind, wo die Familie sowieso schon von der Fürsorge betreut werden muss, da der Lohn der Frau nicht ausreicht. Kann denn etwas Gutes im 97


Bauch einer so ausgemergelten Frau wachsen?» Jedes zusätzliche Kind bedeutete für die Proletarierfamilie, dass sich die ohnehin beengten Wohnverhältnisse noch verschärften. Hauptleidende war die Frau, die ihre Erwerbstätigkeit oft nur wenige Tage zu unterbrechen wagte und für die Betreuung des Neugeborenen irgendeine Notlösung suchen musste. Aber auch der Mann litt, vor allem unter der wachsenden Furcht vor Entlassung und Arbeitslosigkeit. «Das macht ihn», so Brupbacher weiter, «zum gefügigen Werkzeug des Meisters, des Unternehmers.» Dem Kampf für den Sozialismus, so viel war klar, standen zwei Erzfeinde im Weg: der Alkoholismus und der unwillkommene Kindersegen.

Abb. 24: Walliser Arbeiterfamilie: Eltern und neun Kinder am leeren Tisch.


Versammlungen der Arbeiterinnenvereine, bei denen es um «populär-hygienische Massnahmen» ging – also um Empfängnisverhütung und Familienplanung –, fanden stets grossen Zulauf. Ebenso grosse Aufmerksamkeit erregten sie aber in bürgerlichen Kreisen. Zürichs Establishment belegte, entsprechend der bürgerlichen Doppelmoral, alle Formen der Geburtenkontrolle mit einem Tabu. Der Verkauf von Kondomen beschränkte sich auf Coiffeurlokale, und nur wenige Ärzte liessen sich dazu herbei, Pessare zu verschreiben. Aufklärende Vorträge wurden verboten oder unter polizeiliche Überwachung gestellt. Es war eine Erfahrung, die auch Brupbacher machte. Nach einer entsprechenden Veranstaltung in Horgen erhob das Statthalteramt Anklage «wegen Verleitung zu unzüchtigem Handeln». Offenbar hatte der Arzt dabei ein Pessar


samt Behelfsmaterial demonstriert, was zur Anzeige ausreichte: «Es seien zwei Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren anwesend gewesen, und einige jüngere Frauenspersonen hätten schockiert den Saal verlassen; im übrigen habe der Vortrag Anlass zu zotenhaften Bemerkungen und Witzen gegeben.» Zwar endete das Verfahren mit einem Freispruch, aber der Zwischenfall entmutigte potenzielle Veranstalter ähnlicher Vorträge. «Aufklärung» war im bürgerlichen Zürich zum schmutzigen Wort geworden.

Prüde Genossen «Die Frau ist dann eine herumwandelnde Gebärmutter», wetterte Brupbacher in einer seiner Schriften, «die mit der Gebärmutter denkt. Interesselos für ihr Klasseninteresse und ihre allgemeine wirtschaftliche Besserstellung, die so notwendige Emanzipation der Frau aus ihrer niedrigen Stellung. Wie soll sie da der Frauenbewegung, dem Sozialismus sich anschliessen? Erst wenn sich die Frau von der Sklaverei der Gebärmutter emanzipiert, wird sie sich überhaupt emanzipieren.» Dieser einleuchtenden Argumentation schloss sich nur ein Teil der Genossen an. Statt sich in die Lage so mancher verzweifelter Mütter und überforderter Väter zu versetzen, sahen die führenden Sozialdemokraten in der Geburtenregelung nur immer einen Angriff auf die Arbeiterbewegung: Beschränkte man die Zahl der Kinder, so sank die Zahl zukünftiger Parteigenossen, schrumpfte die zukünftige Wählerstärke. Hinzu kam die uneingestandene Prüderie bessergestellter Parteibonzen, die sich nur schlecht von der bürgerlichen Doppelmoral abzusetzen vermochten: Sexuelle Fragen gehörten der Privatsphäre an, und diese hatte in der öffentlichen Diskussion keinen Platz. 100


Den so entstandenen deutlichen Bruch zwischen Basis und Parteiführung bekamen vor allem einsichtige Ärzte wie Brupbacher zu spüren. Kündigte er einen Vortrag über Familienplanung an – so seine Memoiren –, waren die Säle «zum Brechen voll. Eine Gewerkschaft nach der anderen wollte, dass ich über dieses Thema spreche, zuerst in der Stadt und dann im ganzen Kanton und schliesslich in der ganzen Schweiz.» Folgerichtig propagierte 1901 die Gewerkschaft der Zürcher Holzarbeiter eine Beratungsstelle: Eine von der Partei unterstützte Ärztin würde die Arbeiterinnen über die Prävention gegen ungewünschte Schwangerschaften aufklären und die entsprechenden Schutzmittel abgeben oder verschreiben. Die Beratungsstelle blieb ein Wunschtraum. Der Vorstand der Arbeiterunion schmetterte den Vorstoss ab – damit würde «die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat» gefährdet. Der Broschüre mit dem Resumee von Brupbachers Vortrag, die manche praktischen Anleitungen enthielt und in erster Auflage im Volksrecht-Verlag erschienen war, blühte das gleiche Schicksal. Obwohl der Erstdruck von Brupbachers Kindersegen – und kein Ende? nach einer Woche vergriffen war, untersagte die Parteileitung dem Verlag weitere Auflagen. Brupbacher fand problemlos einen anderen Herausgeber, der die kleine Schrift in den folgenden Jahren einige Dutzend Male neu auflegte und schliesslich über eine halbe Million Mal verkaufte. Die Vernunft hatte über das an Zynismus grenzende Kalkül der Parteibonzen gesiegt. Aber der Preis dafür war hoch. Bezahlt wurde er von den Aberhunderten junger Frauen, die in ihrer Not keine andere Lösung sahen als die Abtreibung. Da diese gezwungenermassen in die Illegalität zwielichtiger Buden von «Engelmacherinnen» führte, endete sie allzuoft in Krankheit oder Tod.

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Kapitel 5

Kämpfen für die Zukunft: Zürich 1875 bis 1900

Abb. 25: Arbeiterpaar in solidarischer Pose vor Wahlurne, gereimter Aufruf an Mädchen und Frauen zum sozialistischen Kampf. Holzschnitt für Plakat der Arbeiterbewegung, vor 1900.



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ass die erste Begegnung von Verena Conzett mit der organisierten Arbeiterschaft ins Jahr 1876 fiel, hat seinen Grund. Der Abstimmungskampf für ein eidgenössisches Fabrikgesetz hatte eben begonnen. Im folgenden Jahr brachte diese erste breit angelegte Aktion der Arbeiterschaft ein – wenn auch ganz knapp ausfallendes – «Ja» des Stimmbürgers zum Elfstundentag und zur Einschränkung der Kinderarbeit. Im Gefolge dieses Zittersiegs wurde das letzte Viertel des Jahrhunderts aber zur Schicksalsepoche der bis anhin uneinigen Linken. Nach mehreren Fehlanläufen rangen sich ihre zersplitterten Verbände zur Gründung eines nationalen Gewerkschaftsbundes (1880) und der Sozialdemokratischen Partei (1888) durch. Und rechtzeitig zu Beginn des neuen Jahrhunderts kam der Zusammenschluss der SP mit dem weitaus älteren Grütliverein zustande. Erstmals sprach man in der Schweiz von einer «Linken» als einer Kraft, mit der es zu rechnen galt. Was Agitation hiess, erlebte die 15-jährige Verena, als sie an jenem Herbstabend nach Arbeitsschluss aus dem Fabriktor der Seidenzwirnerei auf den Unteren Mühlesteg trat. Auf einer Bretterplattform des Industriequartiers über der Limmat sah sie eine junge Frau stehen, die Flugblätter verteilte und auf die sie umringenden Arbeiterinnen einredete. «Ich drängte mich vor, denn ich wollte auch hören, was die Frau sagte. Es war die Rede von besseren Arbeitsbedingungen, die besonders den Arbeiterinnen not täten; diese müssten in einem Fabrikgesetz festgelegt werden, an das sich die Fabrikanten zu halten hätten. Die Frau gab auch mir zwei Flugblätter und sagte: ‹Da lies! Was darin steht, geht auch dich 105


an!›» Von einer Kollegin erfuhr Verena, dass die Frau mit den Flugblättern Johanna Greulich hiess und mit einem bekannten Arbeiterführer verheiratet war. «Ich ging heim, ahnungslos, dass dies meine erste Begegnung mit der Sozialdemokratie gewesen.»

Ein Buchbinder aus Breslau Wie Verena bald realisieren sollte, stand der Name Herman Greulich ganz im Zentrum des Kampfs um gerechte Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Arbeiterschaft. Als Publizist und Redner, als Organisator, Gewerkschaftsgründer und – nicht zuletzt – als einer der ersten Sozialstatistiker schaffte der aus Breslau zugewanderte Buchbindergeselle in diesen Jahren ein Netzwerk zwischen den Organisationen der Arbeiterschaft. Im Zürcher Vorort Hottingen eingebürgert, wurde er nach der Eingemeindung wiederholt in den Zürcher Gemeinderat gewählt. Von seinen Anhängern als «Papa Greulich» geliebt und selbst von aufgeschlossenen Bürgerlichen als begabter Kommunikator und Vermittler respektiert, starb Greulich hochbetagt im Jahre 1925: eine Ikone der frühen Sozialdemokratie! Seine Wortgewandtheit hatte der junge Greulich erstmals beim Kampf um das Fabrikgesetz von 1877 bewiesen. Einige Jahre zuvor (mit einem Monatssalär von 40 Franken!) zum Redaktor der in Zürich erscheinenden Tagwacht eingesetzt, lieferte er in zahlreichen Artikeln die Argumente der Befürworter. Er wies auf die mörderischen Arbeitsbedingungen in Textil- und Maschinenfabriken hin und geisselte die Kurzsichtigkeit der Unternehmer, deren 13-Stundentag noch ihre besten Arbeitskräfte zu Lethargie und früher Invalidität verdammte. Als Autodidakt hatte sich Greulich mit den Grundlagen der Sozialstatistik vertraut gemacht. 106


Nach dem Rücktritt als Tagwacht-Redaktor half er beim Aufbau des kantonalen statistischen Amts, das er von 1885 bis 1887 leitete. Auch hier stellte er durch seine Erhebungen wertvolles Zahlenmaterial bereit. Es tat unwiderlegbar dar, wie sich die Kluft zwischen Arbeiter- und Unternehmerklasse zunehmend verbreiterte. Die Spitze der deutschsprachigen Sozialdemokratie fand sich ein, als im August 1897 der von Greulich organisierte Kongress zum Arbeiterschutz in der eben eröffneten Zürcher Tonhalle tagte. August Bebel, Lilly Braun und Clara Zetkin referierten, und der greise Wilhelm Liebknecht zog ein versöhnliches Fazit: «Es waltete über den Parteigegensätzen eine Art Gottesfrieden.» Zwanzig Jahre zuvor hatte sie ihr erstes Flugblatt entgegengenommen; jetzt trat Verena Conzett als Delegierte des Zürcher Arbeiterinnenvereins auf. Auch sie staunte über die ungewöhnliche Eintracht zwischen Revolutionären und katholischen Sozialpolitikern, darunter manche Priester: «Da standen auf den Terrassen der Tonhalle öfters die schwärzesten Schwarzröcke neben den rötesten Roten in gemeinsamer Bewunderung unseres blauen Sees.»

«Was wollen die Sozial-Demokraten?» Der Anblick war umso unvertrauter, als sich der Klassenkampf in den Jahren der angeblichen Belle Epoque drastisch verschärfte. Bezeichnend dafür ist der Streik der Zürcher Schlosser von 1886, der zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Streikenden und den zum Schutz der Streikbrecher aufgebotenen Kräften von Polizei und Feuerwache führte. Er wurde erfolglos abgebrochen, wobei eine gewaltsame Eskalation nur knapp verhindert wurde. Das war – wie gesehen – vor allem dem Dazwischentreten von Conrad 107



Abb. 26: Vor dem Vereinshaus zur Sonne an der Hohlstrasse warten Arbeiterinnen und Kinder mit Leiter- und Kinderwagen auf die Ausgabe verbilligter Kartoffeln. Foto aus dem Kriegswinter 1916/17.


Conzett zu verdanken, der von den Stufen der Polizeihauptwache aus zur Mässigung aufrief. Ganz generell galt Verenas damals 38-jähriger Gatte neben Greulich als wichtigste Stimme der sozialen Bewegung. Als Redaktor der die Tagwacht ablösenden Arbeiterstimme (ab 1880) hatte er in gewissem Sinn dessen Nachfolge übernommen und reiste als unermüdlicher Trommler für die Gewerkschaftsidee von Versammlung zu Versammlung. Die eigene Zeitung bot die wichtigste Plattform für die Ziele der jungen Sozialdemokratie. Wer heute eine Grundsatzerklärung wie Conzetts um 1890 erschienenes Pamphlet Wie soll’s noch enden? oder: Was wollen die Sozial-Demokraten? liest, horcht auf: Was diese kaum flügge gewordene SP anstrebte, war nichts anderes als die Kollektivierung von Besitz und Produktionsmitteln. Gleich zu Beginn macht der Text klar, dass die bestehende Ordnung des «Mastbürgertums», die «einzelne Millionäre auf Kosten Hunderttausender schafft», dem Untergang geweiht sei. Die von den Sozialdemokraten angestrebte Weltund Wirtschaftsordnung will nichts weniger als die «Überführung von Arbeitsmitteln (Grund und Boden, Maschinen, Häuser, Verkehrswege) in den Gemeinbesitz des Volks». Anders als Anarchisten und Kommunisten setzt die SP aber auf einen friedlichen Übergang von der alten zur neuen Gesellschaft: Die Schaffung des Volksstaats vollzieht sich auf demokratische Weise, dies mit den politischen Mitteln der Initiative und des Referendums. Sollte sich allerdings die herrschende Klasse diesem Prozess durch den Einsatz von Polizei und Militär widersetzen, so würde die ohnehin nicht aufzuhaltende «soziale Revolution» in die gewaltsame Zertrümmerung der alten Ordnung münden; einen solchen Verlauf hätte dann das Bürgertum selbst auf dem Gewissen. Folgt man Conzetts Masterplan weiter, so läuft der Weg zum Volksstaat über die «internationale Abkürzung der Arbeitszeit». 110


Erzwungen durch Volksbegehren, wenn nötig unter Ausrufung von Streiks, erfolgt sie «so lange, als noch ein Arbeitswilliger und Arbeitsfähiger arbeitslos ist». Alles Weitere ergibt sich aus diesem Schritt: Die Verknappung des Arbeitsmarkts bringt höhere Löhne, der Profit des Unternehmers sinkt, sodass dieser «bedeutend geneigter» ist, sein Unternehmen der Allgemeinheit abzutreten. Von der Einführung leistungsfähigerer Maschinen profitiert nunmehr der Arbeitnehmer: Statt dass der Profit des Unternehmers steigt, sinkt die Arbeitszeit, dies womöglich bis auf 6 Stunden täglich. Auch Handwerker und Gewerbler, von Conzett als «Kleinmeister» bezeichnet, profitieren von dieser Entwicklung. Die jetzt vorherrschende Expansion der Grossbetriebe verdränge sie ohnehin bald vom Markt, sodass auch ihre Zukunft in der Kollektivierung liege. Natürlich stehen, so Conzett weiter, die Grossproduktionsstätten und Landwirtschaftlichen Genossenschaften der Zukunft ebenfalls unter Leitung des Volks, indem die Arbeiterschaft ihre eigene spezialisierte Verwaltungsklasse herausbildet. Was die Rolle der Frauen betrifft, so gehen Aufgaben wie Kochen, Waschen oder Kinderbetreuung ebenfalls ans Kollektiv über, dies durch Einführung grosser Volksküchen, Waschanstalten und Kinderhorte.

Gegensätze Conzetts Vision einer klassenlosen Gesellschaft erscheint umso unwirklicher, als das bürgerliche Zürich gegen Jahrhundertende einen mächtigen Wachstumsschub durchläuft. Ab 1880 folgen sich die Neuerungen fast im Jahresrhythmus: Aufbau eines Telefonnetzes, erste Strassenbahnen, Elektrifizierung der Strassenbeleuchtung. Rein äusserlich manifestiert sich Zürichs Zukunftsfreude in 111


Abb. 27, 28: Das bürgerliche Zürich entwickelt seine eigene klassenkämpferische Propaganda. Zwei Karikaturen stellen dem wohlversorgten Arbeiter, der am Samstagabend seinen vierzehntägigen Lohn einstreicht, den geplagten Unternehmer gegenüber, der über seiner Bilanz sitzt. Karikatur aus Bürkli-Kalender für das Jahr 1884.

den erstaunlich zügig erstellten Quaianlagen, die das Seebecken von Wollishofen bis Zürichhorn mit einem Grüngürtel säumen: eine Park- und Promenadenanlage, wie sie keine andere Schweizer Stadt aufzuweisen hat. Auf deren Einweihung (1887) folgt innert weniger Jahre der Bau des prächtigen Stadttheaters (heute Opernhaus) und der pittoresken Tonhalle. Zusammen mit den Luxusmiethäusern des Roten und Weissen Schlosses verleihen sie der seeseitigen Skyline einen träumerisch-verspielten Anstrich von Überfluss und Weltläufigkeit; im Hintergrund erinnert der mächtige Torturm des zur gleichen Zeit eröffneten Landesmuseums an die Geschichte der Zünfterstadt Zürich. Grösser lässt sich der Gegensatz zu den Quartieren am nördlichen Ende der Stadt nicht denken. Der Vorort Aussersihl hat sich in wenigen Jahren zum Proletarierviertel entwickelt. In hastig 112


Abb. 29: Ungepflästerte Strasse, Mietshäuser und Kleinfabriken: Platz im Quartier Aussersihl. Foto um 1890.


Abb. 30: In vielen Mietskasernen werden Küche und sanitäre Installationen zusammengelegt (Arbeiterküche, 1930er-Jahre).

errichteten Mietskasernen entlang von Badener- und Langstrasse lebt die Arbeiterschaft der Maschinenfabriken und Giessereien an der Limmat und im Hardquartier. Die Einwohnerzahl Aussersihls ist praktisch über Nacht auf 20 000 angestiegen, und die Schulden der armen Verwandten jenseits der Sihl (Steuerkapital 780 Franken/Kopf) bei der reichen Stadt (9000/Kopf) belaufen sich auf über eine Million. Unter den elf bis anhin selbstständigen Vororten, die 1893 eingemeindet werden, spielt das Sorgenkind Aussersihl die wichtigste Rolle im Abstimmungskampf um das Vereinigungsgesetz. Seine 20 000 Einwohner – so eines der meistgehörten Argumente – werden einen neuen politischen Schwerpunkt bilden, aus dem bürgerlich regierten Zürich womöglich eine sozialistische Bastion 114


machen. Trotzdem kommt die Vereinigung mit 38 000 Ja gegen 25 000 Nein glatt durch. Sie macht Zürich zur mächtigsten Stadt des Landes: Mit einem Schlag steigt die Bevölkerungszahl von 28 000 auf 121 000, die Grundfläche von 17 auf 45 Quadratkilometer. Armes und reiches Zürich nehmen gemeinsam den Kampf um die Zukunft auf.

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Zeittabelle: «Rotes» Zürich und die Schweiz: 1875 bis 1900 1872–1878 Conrad Conzett ist in Chicago als Gewerkschaftsführer, Drucker und Verleger tätig. 1877 Eidgenössisches Fabrikgesetz wird knapp gutgeheissen (181 000: 170 000 Stimmen). Es bringt den Elfstundentag und die Altersbeschränkung für Jugendliche. 1880 Gründung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes 1880 Erstes Telefonnetz in der Stadt Zürich 1881 Internationaler Sozialistenkongress in Chur 1882 Bahnstrecke durch den Gotthard eröffnet 1882 Erste gesamtschweizerische Fabrikzählung 1883 Erste Zürcher Strassenbahn («Rösslitram») 1883 Schweizerische Landesausstellung im Platzspitz bringt 600 000 Besucher nach Zürich. 1883 Conrad Conzett übernimmt Redaktion der Arbeiterstimme, dem in Zürich erscheinenden Wochenblatt der Sozialdemokratie. 1886 Conrad und Verena Conzett lancieren den populären Zürcher Anzeiger. 1886 Streik von 150 Schlossern wird nach zehn Wochen erfolglos abgebrochen. Der Einsatz von Ordnungskräften gegen Streikposten führt zu Tumulten. 1886/87 Vorträge der deutschen Arbeiterführerin Gertrud Guillaume führen zur Gründung von Arbeiterinnenvereinen in St. Gallen, Winterthur und Zürich. 1887 Die nach zehnjährigen Arbeiten vollendeten Quaianlagen mit Quaibrücke werden eröffnet.

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1888 Gründung der Sozialdemokratischen Partei. Am Arbeitertag von Bern heissen die Vertreter 160 sozialistischer Vereine einstimmig das Parteiprogramm gut. 1890 Erste elektrische Beleuchtung von Zürichs Strassen 1890 Verena Conzett wird zur Leiterin des neu gegründeten Schweizerischen Arbeiterinnenverbands gewählt; Conrad Conzett übernimmt das Präsidium des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. 1891 Zürich eröffnet Stadttheater. 1892 Die kantonale Statistik zählt 826 dem Fabrikgesetz unterstellte Betriebe. Sie beschäftigen 37 000 Personen. Führend ist die Baumwoll- und Seidenfabrikation (je 11 000 Beschäftigte). 1893 Eingemeindung von elf Zürcher Vororten, darunter der schwer verschuldeten Gemeinde Aussersihl 1893 Internationaler Sozialistenkongress in der alten Tonhalle 1895 Neue Tonhalle am Alpenquai eröffnet. Zur gleichen Zeit entstehen an der Quaifront zwei Luxus-Mietshäuser (Rotes und Weisses Schloss). 1897 Internationaler Kongress zum Arbeiterschutz in der Zürcher Tonhalle 1898 Landesmuseum am Platzspitz eröffnet 1898 Volksrecht lanciert: erstes täglich erscheinendes Blatt der Sozialdemokratie 1901 Der Zusammenschluss von Grütliverein und SP («Solothurner Hochzeit») verdoppelt die SP-Mitgliederzahl auf 20 000. 1905 Der Schweizerische Arbeiterinnenverein schliesst sich dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund an.

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Anhang

Bibliografie Böhmert, Viktor: Arbeiterverhältnisse und Fabrikeinrichtungen in der Schweiz. 2 Bde., Zürich 1873 Brupbacher, Fritz: 60 Jahre Ketzer. Zürich 1973 (Nachdruck der Ausgabe von 1935) Conzett, Conrad: Wie soll’s noch enden? oder: Was wollen die SozialDemokraten? Zürich-Hottingen 0. J. Conzett, Verena: Erstrebtes und Erlebtes. Ein Stück Zeitgeschichte. Zürich 1929 (3. Auflage) Frei, Annette: Rote Patriarchen. Arbeiterbewegung und Frauenemanzipation um 1900. Zürich 1987 Dies.: Die Welt ist mein Haus. Das Leben der Anny Klawa-Morf. Zürich 1991 Firmengeschichte Conzett & Huber. Typoskript, unpaginiert. Archiv MoneyMuseum. Zürich o. J. Greulich, Herman: Vor 100 Jahren und heute. Zürich 1895 Gruner, Erich: Die Arbeiter in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Soziale Lage, Organisation, Verhältnis zu Arbeitgeber und Staat. Bern 1968 (= Helvetia Politica, Serie A Bd. III) Heeb, Friedrich: Aus der Geschichte der Zürcher Arbeiterbewegung. Denkschrift zum 50jährigen Jubiläum des Volksrecht. Zürich 1948

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Historisches Lexikon der Schweiz HLS (Internet-Ausgabe). Einträge Arbeiterschaft / Arbeitervereine / Fabrik / Heimarbeit / Textilindustrie Keil, Hartmut; Jentz, John (Hrsg.): German Workers in Chicago. A Documentary History of Working-Class Culture from 1850 to World War I. Urbana/Chicag0 1988 Lang, Karl: Kritiker, Ketzer, Kämpfer. Das Leben des Arbeiterarztes Fritz Brupbacher. Zürich 1983 Rickenbach, Walter: Geschichte der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft. Zürich 1960 Joris, Elisabeth: Verena Conzett. Dossier Historischer Verein Aussersihl. Zürich o. J. Pesenti, Yvonne: Beruf: Arbeiterin. Soziale Lage und gewerkschaftliche Organisation der erwerbstätigen Frauen aus der Unterschicht in der Schweiz, 1890–1914. Zürich 1988 Reichesberg, Naum (Hrsg.): Handwörterbuch der schweizerischen Volkswirtschaft. Bd. 1 mit Eintrag «Arbeiterinnenvereine» von Verena Conzett. Bern 1905 Ritzmann-Blickenstorfer, Heiner (Hrsg.): Historische Statistik der Schweiz – Statistique historique de la Suisse – Historical Statistics of Switzerland. Zürich 1996 Schneeberger, Oskar: Entstehung und Verlauf der Arbeiterbewegung in der Schweiz. Bern 1912 Stadt Zürich, Die. Illustri(e)rte Chronik. Zürich 1896 Treichler, Hans Peter: Gründung der Gegenwart. Porträts aus der Schweiz der Jahre 1850–1880. Zürich 1985 Ders.: Abenteuer Schweiz. Geschichte in Jahrhundertschritten. Zürich 1991 120


Ders.: Die stillen Revolutionen. Arbeitswelt und Häuslichkeit im Umbruch, 1880–1900. Zürich 1992 Ders.: Die Löwenbraut. Zürich 1999 Ders. (Hrsg.): Der Kluge fährt im Zuge. Zürich 2001 Ders.: Rapperswil – Stadt am Übergang. Rapperswil 2006 Ders.: Herzschrittmacher der Nation. Vor 200 Jahren gründeten besorgte Bürger die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft. In: NZZ Folio (Zürich), Februar 2010

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Textnachweise Nachweise Kapitel 1 «Die Arbeiterinnen …»: Conzett 1929, 60 «Gegen halb fünf …»: ebd. 63 Statistik 1882: HLS sub «Fabrik»; Pesenti 19 ff., 31 Statistik 1900, Otto Lang: Frei 1987, 47 Beschäftigungszahlen 1900, allgemein: Treichler 1991, 259; Pesenti 14 Vier Fünftel aller Eltern Doppelverdiener: Treichler 1991, 261 «Überwindung der proletarischen Lebensführung»: HLS sub «Arbeiterschaft» Kostgänger, Schlafgänger: ebd. Hausordnungen, «Um 10 Uhr abends …»: Treichler 1985, 134 Belästigung durch Onkel, «Wir hatten noch …»: Frei 1991, 27 Homosexuelle Praktiken: Treichler 1985, 135f. Uneheliche Geburten, Kindersterblichkeit: ebd. 140–147 Vom Stillen abgeraten: ebd. 136 Kinder «verkostgelden»: Pesenti 57 «eine solide, ordnungsliebende Familie …»: Treichler 1985, 145 erster eigener Verdienst, Ergänzungsschule: Conzett 1929, 52–56 4000 Fabrikkinder 1860, Verhältnisse Preussen: Treichler 1985, 140 Verhältnisse Kinderarbeit: ebd. 141–143 «durch keine gesetzlichen …»: ebd. 148 Schulgesetz 1899: Heeb 381 Augenerkrankung Johann Knecht: Conzett 1929, 51ff., 77–81 Taggeldversicherung, Krankenkassen: Treichler 1985, 202–204 Poliklinik, Burghölzli: Treichler 1991, 265 erster Arbeiterarzt, Honorare in bar: Brupbacher, passim Ärmelschürze, modische Sonntagskleidung: Treichler 1985, 138 «Die Arbeiter könnten …»: ebd. 141 Nachweise Kapitel 2 Episode «am Strick» gehen: Conzett 1929, 16 Episode mit Brennholz: ebd. 89 Conzett ist geheimnisvoller «grosser, dunkler Mann»: ebd. 113f. «Ich zog dem Manne …»: ebd. 23 Umzug nach Rennweg, biedermeierliches Zürich: ebd. 26 f. Erblindung Vater: ebd. 51 f.

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Eintritt ins Erwerbsleben: ebd. 54 ff. «Wie mag es …»: ebd. 54 ungerechtfertigter Abzug: ebd. 65f. Flugblätter verteilende Frau: ebd. 67 Gratifikation von 60 Franken, «Kapitalist»: ebd. 93 Begegnung mit Conrad Conzett: ebd. 113 ff. «Er sah gar nicht …»: ebd. 116 Lebenslauf Conzett bis 1882: ebd. 127–152; Firmengeschichte sub «Lebensabriss Conrad Conzett» «Verarmung der Massen …»: Leitartikel Volksfreund 1.1.1881 Conzett als Mitbegründer Labour Party etc.: German workers 406 Kampflied «In this world …»: ebd. 311 Grundideen Conzett, «demokratisch bleiben»: Leitartikel Volksfreund 1. 1. 1881 «Wänn de Vater …»: Conzett 1929, 120 Schwangerschaft, Tod Töchterchen Margrit: ebd. 199–204 Schlosserstreik: ebd. 209 f. Umzug an Oetenbachgasse, Gründung «Zürcher Anzeiger»: ebd. 207f. «Als ich einst … »: ebd. 212 Ausweisung Redaktion «Sozialdemokrat»: ebd. 222 Weihnachtsvorträge in Zürich und Basel: ebd. 245 f. Konkurrenz durch «Tages Anzeiger»: ebd. 247 SGB-Spitze wird gestürzt: ebd. 248 ff. mangelnde Druckaufträge: ebd. 262 ff. Gründung Druckerei Gartenhofstrasse: ebd. 257; Firmengeschichte sub «Periode 1886–1908» Rückkehr Adolfs aus Chicago, Enttäuschung: Conzett 1929, 260 ff. Verbitterung, «Die Gegner vor mir …»: ebd. 263 Selbstmord Conzett; «Ich war auf einmal …»: ebd. 295f. Ehrenrettung Name Conzett: ebd. 316 Episode Zahlungsbefehl: ebd. 329 Lancierung «In freien Stunden», «Schundliteratur»: ebd. 369 ff. «Während drei Jahrzehnten …»: ebd. 379 «Unternehmerstandpunkt», «Vor meiner Erkrankung …»: ebd. 380 Anschaffung Linotype: ebd. 365; Firmengeschichte sub «Periode 1886–1908» Partnerschaft mit Emil Huber: Firmengeschichte sub «Lebensabriss Emil Huber»

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Tod der Söhne Hans und Simon: Conzett 1929, 417 ff. Wachsen Belegschaft, «runde» Geburtstage: Firmengeschichte sub «Periode 1922–1943» «unsagbar schwer»: Conzett 1929, 9 «Der Himmel mag noch …»: ebd. 284 Nachweise Kapitel 3 Erinnerungen an Cholera: Conzett 1929, 13–20 Cholera-Epidemie in Zürich, Allgemeines: Treichler 1985, 235–245 «In diesen Graben …»: Conzett 1929, 18 f. «verbargen sich in …», stinkende Hinterhöfe: Treichler 1991, 261 Wohnsituation Winterthur, «ledige Arbeiter …»: Gruner 152f. Wohnbedingungen Kosthäuser: Treichler 1985, 134 f. Bericht Schuler: Treichler 1991, 254 Reihenhaussiedlungen für Arbeiter: Gruner 155 «Unsere Wohnung gehörte …», Verlust Pflanzgarten: Frei 1991, 32 f. «Unsere Ernährung bestand …»: ebd. 27 f. verlängerte Mittagszeit Fabriklerinnen: Treichler 1985, 132 Arbeiterinnen lernen nicht kochen: Gruner 136 «Unsere Hauptnahrung waren Kartoffeln …»: ebd. 135 minderwertiges Fleisch, «Fusel»: Treichler 1985, 136 f. ein Stück Brot als Mittagsmahlzeit: Conzett 1929, 61 Volksküche Obere Zäune: ebd. 61 Zusammenarbeit mit Maggi: Rickenbach 40 f.; Treichler 2010, 18 Wochenverdienst Vater Conzett: Conzett 1929, 22 Taglohn Vater Morf, Wohnungsmiete: Frei 1991, 33/39 20-Franken-Goldstück als Gratifikation: Conzett 1929, 85 Index Löhne/ Preise 1870–1900: Ritzmann 446–450 Ernährung beansprucht Hälfte des Budgets: ebd. 926 f. Monatslohn Krawattenmacherin Fr. 60.–: Conzett 1929, 85 Löhne 1870, 1880: Treichler 1985, 133f.; Treichler 1992, 20 f. Wohnungsmiete: Ritzmann 516; Gruner 155; Frei 1991, 39 Kosten Heizung und Beleuchtung: Ritzmann 502 Nahrungsmittelpreise: Ritzmann 508 Kosten Telefon: Treichler 2006, 71 Gehälter «besserverdienende Klassen»: Treichler 1999, 268 Preise Bahnfahrten: Treichler 2001, 50/55; Treichler 1999, 180 Preise frühe Autos, Oldsmobile: Treichler 1999, 268

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– Nachweise Kasten: Stunden- und Wochenlöhne: Ritzmann 446–450 Jahreslöhne: ebd. Mieten: ebd. 516, Gruner 155 Lebensmittelpreise 1882: Ritzmann 508 Jahresausgaben in Prozenten Jahresverdienst: ebd. 926 f. Nachweise Kapitel 4 Streik in Fribourg; Arbeiterin gilt als Feind: Frei 1987, 42 Widerstand Gewerkschaften gegen Frauen: Pesenti 168 f. Vater Knecht verliert Arbeit: Conzett 1929, 51 f. «Wir haben schon einmal …», «Ein Verbot …»: Frei 1987, 42 Rolle von Guillaume/Schack: Joris 13; Frei 1987, 85 Erste Arbeiterinnenvereine, Allgemeines: Pesenti 157 ff. «Die Putzmacherin soll …»: Frei 1987, 85 Allgemeines zu Gründung SAV: Joris 17–21 «Blütezeit», Mitglieder erste weibliche Vereine: Frei 1987, 86–88 «Dass die Genossen …», «Gaumen»: ebd. 43 «Im Vergleich zu …», «Es mangelt …»: Joris 17 ff. Stand SAV 1905, «Wenn der Arbeiter …»: ebd. Eingaben und Petitionen: ebd. «Ende der Woche …»: Conzett 1929, 237 Streiks 1890er-Jahre: Joris 17 ff. Streiks, Allgemeines: Pesenti 201ff. «Grütliheim», «Schwanen», verrauchte Lokale: Frei 1987, 98 Ablehnung Angebot SFB, «Fügsamkeit»: Joris 17ff. «Da liefen sie herum …»: Brupbacher 100 «Diese Frauen …»: ebd. 95 «Das macht ihn …»: Lang 61 Widerstände gegen Geburtenkontrolle: Frei 1987, 165–170; Pesenti 182–184 «Es seien zwei Kinder …»: Lang 63 «Die Frau ist dann …»: ebd. 61 Vorträge Familienplanung, Broschüre «Kindersegen»: Lang 63 Nachweise Kapitel 5 Szene Mühlesteg, «Ich drängte mich vor …»: Conzett 1929, 67 Biografie Herman Greulich: Eintrag HLS sub «Greulich»

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Greulich als «Tagwacht»-Redaktor: Heeb 17f. Arbeiterschutz-Kongress 1897: Conzett 1929, 277–281 Schlosserstreik: Heeb 227; Treichler 1991, 258 Conzetts Programm: Conzett o. J. 7–18 Eingemeindung, verschuldetes Aussersihl: Treichler 1991, 252

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Bildnachweise Abb. 1: Sammlung Historische Fotografie, Schweizerisches Nationalmuseum Abb. 2: Sammlung Historische Fotografie, Schweizerisches Nationalmuseum Abb. 3: Bildarchiv HPT, Richterswil Abb. 4: Sammlung Historische Fotografie, Schweizerisches Nationalmuseum Abb. 5: Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte, Zürich Abb. 6: Fotos aus: Erstrebtes und Erlebtes, 1929 Abb. 7: Baugeschichtliches Archiv, Zürich Abb. 8: Bildarchiv HPT, Richterswil Abb. 9: Bildarchiv HPT, Richterswil Abb. 10: Volksfreund 1881 Abb. 11: Arbeiterstimme 1890 Abb. 12: Bildarchiv HPT, Richterswil Abb. 13: Foto aus: Erstrebtes und Erlebtes, 1929 Abb. 14: Fotos aus: Erstrebtes und Erlebtes, 1929 Abb. 15: Fotos aus: Erstrebtes und Erlebtes, 1929 Abb. 16: Foto Charles Krebser, Médiathèque du Valais, Sion Abb. 17: Bildarchiv HPT, Richterswil Abb. 18: Foto Archiv Nestlé, Vevey / Bildarchiv HPT, Richterswil Abb. 19: Sammlung Historische Fotografie, Schweizerisches Nationalmuseum Abb. 20: Sammlung Historische Fotografie, Schweizerisches Nationalmuseum Abb. 21: Fotodossiers Château de Prangins, Schweizerisches Nationalmuseum Abb. 22: Fotodossier Château de Prangins, Schweizerisches Nationalmuseum Abb. 23: Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich Abb. 24: Foto Charles Krebser, Médiathèque du Valais, Sion Abb. 25: Frei, Rote Patriarchen Abb. 26: Baugeschichtliches Archiv, Zürich Abb. 27: Karikatur aus Bürkli-Kalender 1884, Bildarchiv HPT, Richterswil Abb. 28: Karikatur aus Bürkli-Kalender 1884, Bildarchiv HPT, Richterswil Abb. 29: Baugeschichtliches Archiv, Zürich Abb. 30: Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich

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