K a s p a r Wo l f e n s b e r g e r
LIEBESKRANK Ein Interview mit List
Kriminalstück für Solostimme
C ONZETT O ESCH
Kaspar Wolfensberger
Liebeskrank Ein Interview mit List KriminalstĂźck fĂźr Solostimme
Oesch Verlag
Alle Rechte vorbehalten Nachdruck in jeder Form sowie die Wiedergabe durch Fernsehen, Rundfunk, Film, Bild- und Tonträger, die Speicherung und Verbreitung in elektronischen Medien oder Benutzung für Vorträge, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags © 2007 by Oesch Verlag AG, Zürich Umschlagbild: © bpk / Hamburger Kunsthalle / Elke Walford Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN
978-3-0350-9003-1
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Prolog
»Mitten ins Herz: Doktor der Liebeskranken ist tot! War es Mord?« (Schlagzeile in FLASH am Sonntag vom 13. Juni 2004)
»Samstagvormittag, kurz vor 11 Uhr: In der Klinik Seeblick macht Arztsekretärin Natalie M. (36) einen grausigen Fund. Chefarzt Horst-Günther List (64), bekannt aus der TV-Sendung Liebeskrank, lehnt tot im Bürodrehstuhl hinter seinem Schreibtisch, auf dem weissen Arztkittel prangt ein roter Fleck. Eine Pistole liegt neben ihm. Frau M. schluchzend zu unserem Reporter: ›Selbstmord war das nicht! Niemals! Das war Mord!‹« (METRO vom 14. Juni 2004, Frontseite)
»Wie bereits in der Sonntagspresse zu lesen war, wurde am vergangenen Samstag der Co-Chefarzt der Klinik Seeblick, Dr. med. Horst-Günther List, tot in seinem Sprechzimmer aufgefunden. List galt als Experte für die Behandlung der sogenannten ›Liebeskrankheit‹, eines in Fachkreisen noch umstrittenen Syndroms. Dem Vernehmen nach wird eine natürliche Todesursache ausgeschlossen. Die Bezirksanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen. Was immer die kriminalpolizeiliche Untersuchung ergibt – Unfall, Suizid oder Tötungsdelikt –, diese neue Tragö5
die trifft die Klinik schwer. Nach einem tödlichen Therapieunfall vor einem Jahr und dem unerwarteten Hinschied der damaligen Chefärztin, Frau Prof. Miriam Katz, kam das Haus nicht mehr aus den Schlagzeilen heraus. Es wird aufgrund dieses jüngsten Todesfalls unausweichlich sein, die Irrungen und Wirrungen im Seeblick zu durchleuchten.« (NEUE TAGESZEITUNG vom 14. Juni 2004, Lokales)
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1 Eilige Schritte in einem Korridor halten abrupt an. Oh! Haben Sie mich erschreckt! Sie waren aber auch kaum zu sehen in dieser Nische. Wollten Sie etwa zu mir? Ach, das tut mir leid. Ich habe leider keine Zeit. Meine Sekretärin wird Ihnen aber gern einen Termin … Nanu, was ist denn das? Darf ich sehen? Kleiner geht’s nicht! Eines dieser winzigen Wunder der Elektronik? Dann kommen Sie wohl für ein Interview? (Seufzt:) Das dritte in dieser Woche. Moment, ich schau nach. Wo habe ich bloss meine Agenda? Hand klopft auf die Kleidung. Da. Seiten werden umgeblättert. Augenblick, ich hab’s gleich. (M urmelnd:) Tz, tz, tz, sieht nicht gut aus. Hmm, warten Sie. Vielleicht, vielleicht. (Wieder lauter:) Doch, es sollte gehen. Ein kurzes Gespräch liegt drin. Treten Sie ein. Türe wird geöffnet. Bitte nach Ihnen. Frau Mantel hätte Sie wirklich nicht da draussen warten lassen dürfen. Seltsam, dass sie Ihnen keinen Platz im Vorzimmer angeboten hat. Aber angemeldet sind Sie doch, oder? Ach, egal. Was haben Sie denn da? Ist das Ihr Presseausweis? 7
Nicht nötig, stecken Sie den ruhig wieder ein. Ich kann mir die Namen ohnehin nicht merken. Kommen Sie. Bitte … Türe fällt ins Schloss. … nehmen Sie Platz. Papiere werden auf Tischplatte geklatscht. Sessel quietscht. Läuft Ihr Gerätchen schon? Gut. Schiessen Sie los! Pause. Keine Sorge, ich beisse nicht. Räuspern. Ihr erstes Interview? Wie ein Neuling sehen Sie mir zwar nicht aus. Hüsteln. Liege ich richtig: Sie sind nicht neu in diesem Geschäft, oder? Ich glaube, ich habe Ihr Gesicht schon mal gesehen. An einer Pressekonferenz oder so. (Freundlich:) Trotzdem, lassen Sie sich Zeit. Pause. Kein Problem, wirklich nicht. Pause. Lampenfieber? (Wohlwollend:) Prüfungsangst, so ähnlich? Ach, das muss Ihnen doch nicht peinlich sein. Ich kenne das. Bin schliesslich vom Fach. Vielleicht fange ich am besten selber an. Räuspern. Sie werden wissen wollen, worum es bei der Liebeskrankheit geht. Stimmt doch, oder? (Heiter:) Sehen Sie, schon kommen wir ins Gespräch. Also – (ernst:) gegen einen Vorwurf muss ich mich gleich im Voraus wehren: dass ich die Liebe pathologisiere. 8
Nichts liegt mir ferner. Liebe ist niemals pathologisch. Liebe ist eine zutiefst menschliche Erfahrung. Vielleicht die grösste. Die tiefste. Nein, die Liebe steht jenseits jeder Krankheitslehre, ausserhalb jeder medizinischen oder psychiatrischen Begrifflichkeit. Mein Syndrom bezieht sich denn auch gar nicht auf die Liebe selbst. Sondern auf das Leiden, das sie verursacht. Es beschreibt die Folgen, schmerzliche, qualvolle oder unerträgliche Auswirkungen der Liebe. Das Leid, das entsteht, wenn Liebe nicht erwidert, wenn sie enttäuscht oder verraten wird. Darum geht es. Verstehen Sie? Ach so, Liebeskummer!, denken Sie jetzt, nicht wahr? Nun, das wäre eine Verharmlosung. Offen gestanden kann ich das Wort nicht mehr hören: Liebeskummer! Wir sprechen hier von einer gravierenden gesundheitlichen Störung. Liebeskrankheit muss es heissen. Nicht zu verwechseln mit dem Liebeswahn, der pathologischen Eifersucht und andern Krankheitsbildern, die längst in den Psychiatriebüchern figurieren. Der Begriff Liebeskrankheit dürfte den meisten Ärzten geläufig sein, seit ich das Syndrom beschrieben habe. Räuspern. Beschrieben, nicht entdeckt. Entdeckt stand bloss in der Zeitung: »Doktor List, Entdecker einer neuen Krankheit«, aber mir klingt das zu grossspurig. In einer stand sogar »Erfinder«. Ich bitte Sie! Niemand erfindet eine Krankheit. Nein, erfunden habe ich nichts. Entdeckt eigentlich auch nicht. Ich bin ja kein Seefahrer. Sagen wir lieber: erkannt. Ich habe etwas, was unnötiges Leid verursacht, als Krankheit erkannt. Das ist auch schon alles. Immerhin wurde das Leiden dadurch der Behandlung zugänglich gemacht. So wie vor gar nicht langer Zeit die soziale Pho9
bie – Sie wissen doch, wovon ich rede? – als Krankheit erkannt und therapierbar gemacht wurde. Zuvor hatte man jenes Leiden als Schüchternheit abgetan, man apostrophierte die Kranken als ängstlich, als befangen, als gehemmt. Wenn das keine Verharmlosung war! Aber das ist vorbei: Soziale Phobie nennen wir diesen Zustand heute. Und zwar mit Recht. Seit das Leiden als Krankheit erkannt wurde, erhalten Tausende, nein, Hunderttausende, was sage ich: M illionen von Kranken endlich effiziente Hilfe. Mit kognitiver Verhaltenstherapie und modernen Psychopharmaka. Sehr effizient, das können Sie mir glauben. Vor allem die Medikamente. Kurze Pause. Zurück zur Liebeskrankheit. Nachdem ich meine Patientendaten systematisch ausgewertet hatte, war es einfach nicht mehr zu übersehen. Zuerst wollte ich es ja selbst nicht wahrhaben. Aber ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte, es blieb dabei: Der Zustand, den man gemeinhin als Liebeskummer bezeichnet, ist medizinisch gesehen – und zwar nach allen Kriterien der WHO! – eine Krankheit. Eindeutig. Ohne Wenn und Aber. Heute ist es mir schleierhaft, wie man dieses Faktum hatte übersehen können. Das, nicht mein bescheidener Beitrag ist das Erstaunliche an der ganzen Geschichte: dass die Krankheit nicht schon längst als solche erkannt wurde. (In angeregtem Gesprächston:) Da gibt es übrigens einen interessanten Aspekt: In der Weltliteratur wurde das Syndrom nämlich schon tausendfach, und bis ins kleinste klinische Detail, beschrieben: Romeo und Julia, Werther, Die Kameliendame, M adame Bovary, Tod in Venedig, und, und, und. Der Volksmund kannte die Krankheit schon immer: Man ist verrückt nach jemandem, krank vor Eifersucht, stirbt beinahe vor Sehnsucht, Sie kennen diese Redensarten. 10
Beim Anblick des Geliebten – erst recht des heimlich Geliebten, der nichts davon weiss oder wissen will – stockt der Atem. Das Herz droht zu zerspringen, das Blut schiesst ins Gesicht. Nicht nur den Appetit verschlägt es dem Liebenden, auch die Sprache. Die Stimme versagt – nicht viel anders als bei der Prüfungs- oder Autoritätsangst, Sie wissen, was ich meine. Früher wurde das Leiden mit Hexerei und Zaubertränken behandelt. Bei Naturvölkern heute noch. Das waren, wenn man so will, untaugliche – wie soll ich sagen? – alternativmedizinische Therapieversuche. Aber es wurde behandelt. Was will man mehr? Das ist doch der Beweis dafür, dass Liebesleid schon immer und in allen Kulturen als Krankheit betrachtet wurde. Bloss nicht von der medizinischen Wissenschaft! Sagen Sie selbst: Ist das nicht verrückt? Räuspern. Kurze Pause. Manche Liebeskranke werden immer noch ihrem Schicksal überlassen. Ohne jeden ärztlichen Beistand. Einzig und allein deshalb, weil niemand wahrhaben will, dass sie tatsächlich krank sind. Kein Wunder, dass Drogen- und andere Suchtkrankheiten überhand nehmen: Die Flucht in die Sucht ist nämlich oft nichts anderes als der Selbstheilungsversuch eines Liebeskranken. Sekten und Freikirchen florieren. Warum wohl? Weil man ihnen diese Patienten förmlich in die Arme treibt. – Verzeihung, ich schweife ab. Überhaupt, ich rede und rede. Aber so bin ich: Ich gerate rasch in Fahrt. Ich fange leicht Feuer. Also: Waswar Ihre Frage? Räuspern. Warten Sie, ich hab’s wieder: Alles über die Liebeskrankheit, stimmt’s? Nun (betont sachlich), wie die meisten Krankheiten kann sich das Syndrom in leichter, mittelschwerer oder schwe11
rer Form manifestieren. Es kann akut oder chronisch verlaufen. Es kann spontan auftreten und spontan wieder ausheilen. Es kann aber auch einen fatalen Verlauf nehmen. Leichte Fälle sind kaum oder überhaupt nicht behandlungsbedürftig. Wie ein leichter Sonnenbrand, verstehen Sie? (Hörbar schmunzelnd:) Wie ein milder Kater. Zu viel Sonne, zu tief ins Glas geschaut, das sind zwar zweifellos gesundheitliche Schädigungen. Doch werden sie, wie man weiss, gar nicht ungern in Kauf genommen. Oder sogar willentlich herbeigeführt. Nicht anders verhält es sich mit der Liebeskrankheit in ihrer leichtesten Form: Nachwirkung eines leichten Seelenrauschs. Psychischer Sonnenbrand, sozusagen. Nicht weiter bedenklich. Daneben gibt es aber die schweren und schwersten Formen, die dringend der Behandlung bedürfen. Manche sind allerdings schwer behandelbar. Oder unheilbar, fast wie psychischer Krebs. Holt Atem. (Dozierend:) Die Krankheit äussert sich in einer Reihe von Symptomen, die in ihrer Gesamtheit ein charakteristisches Syndrom bilden. Ich nenne es LIPS: Love Induced Psycho-Syndrom, Sammelbegriff für alle Formen der Liebeskrankheit. Die einzelnen Symptome sind uns aus anderen psychischen Krankheitsbildern bekannt: aus der manischen und der depressiven Krankheit, der Schizophrenie und dem Kreis der Angst- und Zwangsstörungen. In diesem Feld psychischer Störungen sind die verschiedenen Formen der Liebeskrankheit anzusiedeln: mal näher bei der Depression, das ist der häufigste Fall, mal näher bei der Manie oder einer Wahnkrankheit, dann wieder näher bei der Angst- oder Zwangsstörung. (Freundlich, sachlich:) Ist das so weit verständlich? Gut. Dann darf ich weiterfahren? 12
Das heisst, erst möchte ich Sieetwas fragen: Haben Sie Psychologie studiert? Nein? Medizin? Dann wohl Naturwissenschaften. Auch nicht? Publizistik? Na, so was, Sie schütteln ja dauernd den Kopf. Aber Sie sind doch Wissenschaftsjournalist, oder nicht? Sie haben mir noch gar nicht gesagt, welche Redaktion Sie schickt. Neuroscience kaum, die waren letzte Woche hier. Sie schreiben für den Seelenarzt, nicht wahr? Oder für Psychosoma? Einerlei, sind beide angesehene Fachzeitschriften. Aber ich habe eine Bitte: dass Sie mir Ihren Text vorlegen, bevor er in Druck geht. Einverstanden? Gut, damit wäre der Einstieg geschafft, nicht wahr? Dann schiessen Sie jetzt los. Telefon klingelt. List. – Ja? – Nein. (Schonungsvoll:) Nein, Frau Mantel: Keine Anrufe durchstellen, bitte. Ich bin besetzt. – Ich weiss. – Schon gut. – Ja, ja, danke. Hörer wird aufgelegt. So. Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja: bei der Symptomatik. Vermutlich wird Sie jetzt das Behandlungskonzept interessieren. Da darf ich mich kurz fassen: Wir empfehlen Psychotherapie und Pharmakotherapie, wenn möglich kombiniert. Wenn das nicht geht: Pharmakotherapie allein. Da setzen wir auf moderne Antidepressiva. Die wirken oft, aber nicht immer. Gelegentlich müssen wir zu Neuroleptika greifen. Oder zu Moodstabilizern. Nur wirken alle diese Medikamente viel zu wenig spezifisch. Jetzt steht Gott sei Dank ein Durchbruch bevor. Klaps auf die Tischplatte. Cox, Rich & Nightingale kommt demnächst mit einem Spezifikum auf den Markt. Nächsten Monat findet in 13
Amsterdam ein LIPS-Kongress statt, da wird das neue Medikament vorgestellt. Gehen Sie auch hin? (Lacht:) Das heisst dann wohl nein, nicht wahr? Schade. (Beiläufig:) Ich werde nämlich den Eröffnungsvortrag halten. – Was sehe ich: schon bald sieben? Wieder Klaps auf die Tischplatte. Tut mir wirklich leid, aber unsere Zeit ist abgelaufen. Es quietscht. Was ist? Sind Sie nicht zufrieden? Nicht ganz? Tz, tz, das tut mir leid. Pause. Hmm. Ich muss zugeben, ich war etwas kurz angebunden. Die Zeit drängt leider, ich muss gehen, ich bedaure es ja selber. Vielleicht bin ich wirklich zu wenig auf Ihre Fragen eingegangen. Tja, was machen wir da? Lassen Sie mich überlegen. Hmm. Wissen Sie was: Ich gebe Ihnen einen zweiten Termin. Ausnahmsweise. Doch, doch. Ich sehe ja, dass das Thema Sie interessiert. Und ich will natürlich nicht, dass Ihr Artikel ein Flop wird. Seiten werden umgeblättert. Wie wär’s heute in einer Woche? Ach so, nein, das geht nicht: Das ist Karfreitag. Dann eine Woche später, wieder am Freitag. Das wäre der sechzehnte. Selbe Zeit? Pause. Noch etwas: Ähm (hüstelt), Sie brauchen sich nicht bei meiner Sekretärin zu melden. Warten Sie einfach da draussen. Dort, wo Sie heute standen. Ich hole Sie selber ab. In Ordnung? Dann sind wir jetzt fertig. Sie können Ihr Apparätchen abschalten. (Lacht.) Auf Wiedersehen.
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2 Da sind Sie ja schon. Hatten Sie frohe Ostern? Waren prächtige Tage, fast sommerlich, nicht wahr? Treten Sie ein. Tür fällt sanft ins Schloss. Schalldicht. Aus Diskretionsgründen, wissen Sie. Und der Spannteppich, genau wie die Vorhänge: schallschluckend. Man hört nicht mal die eigenen Schritte, merken Sie? Sie werden auf Ihrer Aufnahme kein Echo hören, keine störenden Nebengeräusche. Nur die Geräusche, die wir selber machen (lacht). Kristallklare Stimmen. Sie werden entzückt sein, wenn Sie sich das Interview anhören (lacht). Kommen Sie. Setzen Sie sich. Möchten Sie Kaffee? Frau Mantel wird Ihnen gern einen bringen. Nein? Orangensaft? Auch nicht? Wasser vielleicht? Ja? Ist aber nur Leitungswasser. Wasser läuft, Glas wird abgestellt. Hier, bitte. Darf ich Ihnen eine anbieten? Nein? Stört es Sie, wenn ich rauche? Feuerzeug klickt. Rauch wird ausgeblasen. Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit von letzter, ich meine vorletzter Woche. Ich … Doch, doch, das war unhöflich: Ich habe Sie ja sozusa15
gen vor die Tür gesetzt. Und nicht einmal nach Ihrem Namen gefragt. Oder ich habe ihn vergessen – wenn das keine Unhöflichkeit ist. Tut mir leid, aber ich habe ein miserables Namensgedächtnis. Wie war Ihr Name, bitte? Telefon klingelt. List.– Ja? – Nein, nicht jetzt, ich bin besetzt. – Was heisst »nicht in Ihrer Agenda«? – Ach so, kann sein. Ja, ja. – Ganz ruhig, Frau Mantel. – Ich weiss. (Schonungsvoll, betont langsam:) Frau Mantel: Bitte keine Anrufe durchstellen, ja? Ich möchte nicht gestört werden. – Eine halbe Stunde vielleicht. Danke. Entschuldigen Sie. (M it gesenkter Stimme:) Etwas empfindlich, muss mit Samthandschuhen angefasst werden. Aber sonst eine Perle. Läuft Ihr Gerätchen schon? Ja? Man sieht gar nichts. Nun, wo waren wir? Ach ja, bei meiner Unhöflichkeit, wo denn sonst. Ich hatte komplett vergessen, mich vorzustellen, nicht wahr? Wenn das keine Unhöflichkeit war. Verzeihen Sie, bitte. (Lachend:) List ist mein Name. Aber jetzt zu Ihnen. Quietschendes Geräusch. Das ist nicht Ihrer, das ist meiner. Wenn ich mich drehe oder vor- oder zurücklehne, quietscht er ein bisschen. Italienisches Design, ergonomische Gestaltung, lässt sich drehen und kippen, höher und tiefer stellen – sehen Sie? Sessel quietscht. Alles, was man will. Aber quietscht wie ein altes Fahrrad. Keine Sorge: Ihrer dreht nicht und kippt nicht. Sie können sich unbesorgt zurücklehnen. Sitzen Sie bequem? Gut. Sie haben bestimmt noch Fragen, nicht wahr? Das war jedenfalls mein Eindruck. Ja, ja, mein erster Eindruck war, dass Sie sich brennend für die Liebeskrankheit interessie16
ren. Und der täuscht bekanntlich selten. (Halblaut, scherzhaft vertraulich:) Es sei denn, Sie seien meinetwegen gekommen. Nein, Spass beiseite: Ich vermute, Sie hatten sich für das Interview vorbereitet. Sie sind ein guter Zuhörer. Sie … Stimmt’s etwa nicht? Doch, doch, zuhören können Sie, das ist mir gleich aufgefallen. Interessiert und aufmerksam. Das kommt selten vor. Glauben Sie mir, ich weiss, wovon ich rede: bei drei Interviews die Woche. Die meisten geben vor, etwas erfahren zu wollen, und dann schwatzen sie einem die Ohren voll. Mit naiven Fragen, stereotypen Einwänden und Besserwissereien. Sie hören zu. Man spürt Ihr Interesse. Bläst lange Rauch aus. Zuhören ist eine Kunst, wissen Sie. Als solche ist sie zwar lernbar, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Zuhören ist nämlich auch eine Begabung. Zuhö… Oh, doch. Nur keine falsche Bescheidenheit. Für Ärzte und Psychotherapeuten ist Zuhören natürlich das tägliche Brot. Zuhören, zuhören und nochmals zuhören, das ist das A und O unseres Berufs. In der Sprechstunde zuhören, auf Patientenvisite zuhören, immer und überall zuhören. Auch auf Sendung übrigens. Haben Sie Liebeskrank schon mal gesehen? Jetzt schütteln Sie bloss nicht wieder den Kopf! (Lachend:) Ich bitte Sie: War nur ein Scherz. Es geht hier nicht um meine Sendung. – Was wollten Sie wissen? Verzeihen Sie meine Vergesslichkeit. Eine Alterserscheinung. Dieses Problem haben Sie natürlich nicht. Ich darf Sie ja nicht nach Ihrem Alter fragen, aber nach meiner Schätzung können Sie höchstens fünfund… Also, meinetwegen brauchen Sie das Gerät nicht auszu17
schalten, so persönlich verläuft unser Gespräch denn doch nicht. Oder wollten Sie bloss etwas einstellen? Egal, kommen wir zur Sache: Lesen Sie das Wochenmagazin? So? Ich fast nie. Ist mir zu sehr Boulevard. Aber ein paar Ausgaben vom letzten Sommer habe ich mir aufbewahrt. Die Interviews mit Liebenden! Die sollten Sie lesen. Jetzt staunen Sie, was? Dass ich Ihnen die Lektüre einer Wochenzeitung empfehle, wo es Ihnen um wissenschaftliche Informationen geht. Ich sage Ihnen, weshalb: Weil der Autor, vermutlich ohne es zu wissen, mit diesen Interviews die Liebeskrankheit in allen ihren Formen beschreibt. Auf schlichte, allgemein verständliche Art. Ganz unwissenschaftlich, aber trotzdem. Er befragte eine ganze Menge Menschen, was ihnen Liebe bedeute. Und wissen Sie was? Fast die Hälfte der Befragten zeigte ein leichtes bis mittelschweres LIPS, ein paar wenige ein schweres. Das ging aus den Antworten klar hervor, jedenfalls für den Fachmann. Gut, ein paar Gesunde waren auch darunter. Ein paar Verliebte, ein paar zufriedene Paare. Dann ein paar Schwärmer und Romantiker, aber ganz symptomfrei waren die nicht. Romantische Schwärmerei ist oft ein Vorstadium der Liebeskrankheit. Der Rest: Unglücklich Verliebte, Abgewiesene, Sitzengelassene, Enttäuschte, zu kurz Gekommene und so fort. Die einen zeigten eher die depressive Form, andere eine von Ängsten oder Zwängen begleitete Variante, wieder andere eher ein maniformes, euphorisches oder paranoides Zustandsbild. Ein vollständiger Katalog der Liebeskrankheiten, sage ich Ihnen. Prima Artikel, wirklich. Kennen Sie den Autor? Ich bitte Sie, schauen Sie nicht so entgeistert! Ich will Sie doch nicht in Verlegenheit bringen. Man 18
kann nicht jeden kennen, das weiss ich doch selber. Ich erinnere mich ja auch nicht. Obwohl ich vielleicht sollte. Warten Sie, es fällt mir bestimmt wieder ein. Wie hiess er schon wieder? Hmm. Ratzkopp? Oder Rotzkapp? So ähnlich jedenfalls. Tut ja nichts zur Sache. Aber die Artikel waren klasse. Warten Sie, ich suche sie raus. Doch, kein Problem. Dauert nicht lange. Gedämpftes Rumoren. (Ächzend:) Nein, tut mir leid, ich finde sie im Augenblick nicht. Wie gesagt: hervorragendes Anschauungsmaterial zum Thema Liebeskrankheit. Gleichzeitig mit jener Interviewserie startete dann meine Sendung. Die bescherte uns im Seeblick einen merklichen Zuwachs an Liebeskranken. Wir mussten viele auf den Schlossberg umleiten. Sie kennen doch den Schlossberg? Ach, kommen Sie, gucken Sie mich nicht schon wieder so an! Ich komme mir bald vor wie Ihr Examinator, wenn Sie so dreinschauen. Ich rede von der Klinik am Schlossberg, von unserer Konkurrenz, sozusagen. Dort schickten wir die Liebeskranken hin, die wir nicht selber aufnehmen konnten. Obwohl die ein anderes Spezialgebiet haben. Psychotraumatologie. Die Klinik ist spezialisiert für die Behandlung von seelisch Traumatisierten. Ach so, das wissen Sie? Na gut. Aber wir sprachen von der Behandlung der Liebeskrankheit. Sie werden wissen wollen, wie es um die Erfolgsrate steht. Sehr einfach: ein Drittel wird geheilt, ein Drittel gebessert, ein Drittel bleibt unverändert oder wird schlimmer. Mit anderen Worten: fast gleich wie bei andern psychischen Erkrankungen. Die leichten Fälle kommen natürlich gar nicht in die Klinik. Aber unter denen, die bisher bei uns landeten, gab es ein paar besonders schwere. (Räuspert sich.) Dazu sind Kliniken schliesslich da. Leider waren auch Todesfäl19
le (hustet heftig) … ’tschuldigung, Todesfälle zu verzeichnen. Seufzt. Sehen Sie, LIPS ist eben nichts Harmloses. Manchmal geht es um Leben und Tod. Da war zum Beispiel ein jung… Sessel quietscht. Moment. Jetzt muss ich Sie bitten, Ihr Gerät für einen Augenblick auszuschalten. Das ist off the record. Es klickt zweimal. Ist Ihnen nicht gut? Sie sind ja ganz weiss im Gesicht. Alles in Ordnung? Die Geschichte geht unter die Haut, nicht wahr? Mir geht es genauso: Es nimmt mich jedes Mal mit, wenn ich an die Tragödie denke. Erst sieb… (hustet), erst siebzehnjährig! Räuspert sich. Der Fall hat Frau Katz den Ruf gekostet. Seufzt. Dabei war sie eine hervorragende Person, wissen Sie. Sie nicken, war sie Ihnen ein Begriff? Ach ja? Seufzt erneut. Der Ruf der Klinik wurde leider auch beschädigt. Es gab Schlagzeilen in der Tages- und der Boulevardpresse. Klaps auf die Tischplatte. (Aufgeräumt:) Nach Amsterdam stehen wir hoffentlich wieder besser da. Je nachdem, wie das Echo auf den Kongress ausfällt. Sie kommen doch auch, oder? Ach so, stimmt. Schade. Während ich fort bin, muss der Klinikbetrieb natürlich weitergehen. Dann ist Hundt allein zuständig. Was haben Sie? 20
Doktor Hundt, mein Co-Chefarzt. Nachfolger von Frau Katz, wissen Sie. Ach so, Sie wundern sich bestimmt über die Namen! Ich weiss, ich weiss. Aber wir sind nicht die einzigen mit einem Chefärzte-Zoo. Den gibt’s auch anderswo: Frosch und Stoerk, beispielsweise. Nein, was sage ich: Froesch und Stork. Professor Franz Froesch, Chefarzt der Klinik am Schlossberg. Co-Chefarzt, zusammen mit Doktor Susanne Stork. Stork, die Koryphäe der Psychotraumatologie. Kennen Sie sie? So? Sie sehen (lachend), gewisse Namen kann ich mir merken: die von Chefärzten. Die sind immer schön kurz, wissen Sie. (Scherzhaft seriös:) Es ist nämlich ein ungeschriebenes Gesetz, dass Psychiatrie-Chefärzte in unserer Region einen einsilbigen Namen tragen. Seit Generationen. Vielleicht sind Sie zu jung, um sich an alle zu erinnern: Gut, Klug, Rath, Scherz und Stolz. Das waren die Säulen unserer Psychiatrie. Damals noch mehrheitlich Schweizer. Heute ist die Schweizer Psychiatrie – fast hätte ich gesagt: Gott sei Dank – ja fest in deutscher Hand. (Räuspern.) Fragen Sie mich nicht, wieso. Hat sich einfach so entwickelt. Darüber müssen sich andere Gedanken machen, nicht unsereiner. Moment! Damit das klar ist: Ich lebe seit über dreissig Jahren in diesem Land. Ich weiss, das hört man mir nicht an. Ich gehöre eben nicht zu den Grützi-Grützi-Deutschen, die sich einbilden, sie könnten dieses Idiom je lernen. Das masse ich mir nicht an, dass lasse ich hübsch bleiben. Mein Züricherdütsch wäre eine Beleidigung für alle Schweizer Ohren. – Wo waren wir? Ach ja, bei den grossen Namen. Den kurzen. Ja, die merkt man sich natürlich. Rath war eine internationale Grösse, auf den dürfen wir stolz sein. Das Rath-Syndrom, wissen Sie. Ist Ihnen als Wissenschaftsjournalist bestimmt ein Begriff, oder? 21
Eben. Ja, ja, das waren noch Chefärzte! Seufzt wieder. Sie sagen mir, wenn ich zu viel abschweife, ja? Nun, was ich sagen wollte: Einen echten Chefarzt, so wie früher, finden Sie in der ganzen Region, vielleicht im ganzen Land nicht mehr. Einen echten Professor erst recht nicht. Aus einem einfachen Grund: Es werden nur noch Co-Chefärzte berufen. Auch an den Universitätskliniken: Co-Chefärzte, Co-Direktoren und Co-Professoren. Lauter subalterne Gestalten, aber keine echten Chefs mehr. Jeder immer nur zuständig für ein Teilgebiet, einen Forschungszweig, eine Spitalabteilung oder ein Klinikdepartement. Teile und regiere, das ist die Devise des Regierungs- und des Universitätsrats. Wie im alten Rom. Da mit nur ja keiner zu mächtig werde. Auch wenn sie es natürlich ganz anders begründen. Keine gute Idee, wenn Sie mich fragen. Es gibt keine saubere Linie, keine klare Zuständigkeit mehr. Keine Unité de doctrine. An der Universität werden kaum noch magistrale Vorlesungen gehalten. Und die Klinikleitungen sind nicht etwa transparenter geworden. Im Gegenteil. Damit den Intrigen und Machtspielen so richtig Tür und Tor geöffnet werden, ist man auf die gloriose Idee gekommen, die Co-Chefärzte im Turnus zu Klinikdirektoren zu ernennen. Da versucht jeder, die Anordnungen seiner Vorgänger aufzuheben und so viele eigene Ideen wie nur möglich durchzuboxen. Nach zwei Jahren fängt dann alles von vorne an. Ich weiss, wovon ich rede. Kollege Hundt ist derzeit unser Direktor. Obwohl er erst seit einem Jahr Co-Chefarzt ist. Seit Frau Katz nicht mehr lebt. Zieht durch die Nase hoch. Kurze Pause. Kennen Sie übrigens die Lehrstuhlinhaber für Psychia22
trie? Die Professoren an unserer Universität? Wissen Sie, wie die alle heissen? Nein? Müssten Sie aber! Ich sag’s Ihnen: Scheu, Sorg, Trost, Blass und Kalt. Das sind unsere Psychiatrieprofessoren. Spricht Bände, nicht wahr? Früher hiessen die Grössen unseres Fachs noch Freud, Jung, Reich, Stolz und Rath. Heute Scheu, Sorg, Trost, Blass und Kalt. Ja, ja. Sie sollten sie mal sehen: Scheu, Sorg, Trost, Blass und Kalt, da würde Ihnen ein Licht aufgehen. Verzeihen Sie, ich bin ein Lästermaul. Für seinen Namen kann einer schliesslich nichts. Aber dennoch, Nomen est Omen. Telefon klingelt. (Unwillig:) Frau Mantel, ich … Ach so, Sie sind’s. – Ich bin besetzt, Herr Hundt. – Nein, ich … (Hinter vorgehaltener Hand:) Entschuldigen Sie. (In normaler Lautstärke:) Wenn’s nicht zu lange dauert. – Ja, ja. Worum geht es? – Mhm. (Gelangweilt:) Was Sie nicht sagen. So, so. – Mhm, mhm. – Kleinen Moment, Herr Hundt. Ich muss nur kurz … (Flüsternd, hinter vorgehaltener Hand:) Tut mir leid. Wir müssen leider Schluss machen. – Moment noch, warten Sie! Seitenblättern. (Flüsternd:) Hier: Geht das? Ja? Gut. Wiedersehen. (Wieder lauter:) So, Herr Hundt, bin wieder da.
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3 Schön, dass Sie noch einmal gekommen sind. Nehmen Sie doch Platz, bitte. Sessel quietscht. Ich war mir gar nicht sicher, ob Sie meine Einladung verstanden hatten. Das war ja wieder ziemlich ungehobelt von mir: einfach die Agenda aufzuschlagen und auf den Freitagabend zu tippen, den Telefonhörer am Ohr. Tut mir leid. Aber Kollege Hundt wollte und wollte nicht aufhören. Er hatte ein Problem, wissen Sie. Ich musste ihm einfach mein Ohr leihen, dem Arbeitsklima zuliebe. Nur: Siehätten nicht das Nachsehen haben sollen. Wo Sie sich bereits zweimal herbemühen mussten. Macht Ihnen nichts aus? Bestimmt nicht? Das beruhigt mich. Heute sollte nichts mehr dazwischen kommen. (Vertraulich:) Ich bin nämlich bereits im Wochenende. Offiziell, meine ich. Aber für Sie habe ich mir die Zeit gern freigehalten. Um unser Gespräch zu Ende zu führen. Kaffee? Nein? Ach ja, richtig: ein Glas Wasser. Oder darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Ja? Aber gern. Wasser läuft, Geschirr scheppert. Dauert nicht lange. Stört es Sie, wenn ich rauche? Feuerzeug wird geknipst, Rauch ausgeblasen. Arbeitsklima, sagte ich. Ich könnte auch Therapieklima 24
sagen. Wie sollen seelisch Kranke gesunden, wenn an einer Klinik unter den Ärzten, Therapeuten und Pflegern ein schlechtes Klima herrscht? Das ist wie in einer Familie: Offenheit und Ehrlichkeit müssen zwischen den Eltern herrschen, und Liebe natürlich, damit sich ein Kind gesund entwickelt. Es braucht Wohlwollen, Vertrauen, gegenseitige Achtung. Und Anerkennung. Und Ermutigung. Gut, manchmal muss auch Strenge sein. Grenzen müssen gesetzt werden, Eltern müssen auch nein sagen können. Ärzte genauso. Und gerade so, wie Kinder lernen müssen, mit Kritik und Frustration umzugehen, müssen das auch Patienten lernen. Bei Kindern ist das … Aber was belehre ich Sie, vielleicht haben Sie ja selbst welche. Nein? (Scherzhaft tröstend:) Kann ja noch werden. (Rasch wieder ernsthaft:) Oh, Verzeihung! Ich wollte Sie nicht kränken. Ich … Wasserkocher pfeift. Augenblick, ich giesse den Tee auf. Geschirr scheppert. Hier, bitte. Ach, ähm, lassen Sie mich Ihren Sessel etwas zur Seite rücken. Sonst steht der Schreibtisch so zwischen uns. So. Und etwas näher. So, das passt besser. Jetzt noch das Beistelltischchen, für Ihren Tee. Hier, bitte. Tut mir leid, ist bloss gewöhnlicher Beuteltee. Zucker? Tee wird umgerührt. Nein, was ich sagen wollte: Was die Kinder in einer Familie, das sind die seelisch Kranken in einer Klinik, bildlich gesprochen. Wenn Misstrauen herrscht, wenn Machtspielchen und Intrigen das zwischenmenschliche Klima vergiften, dann ist es unmöglich, dass die Patienten 25
gesunden. Liebeskranke schon gar nicht. Das leuchtet doch jedem ein, oder nicht? Aber jetzt zu Ihnen. Sie schreiben einen Artikel über LIPS, nicht wahr? Deshalb sind Sie hier, ist ja klar. Habe ich Ihnen das Syndrom hinreichend erklärt? Ja? Haben Sie keine Fragen mehr? Räuspern. Erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung? Pause. Sie sind, was Fragen angeht, etwas zu zurückhaltend. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Sie schon welche gestellt haben. Wenn, dann ist mir entfallen, was es war. Darf ich ganz offen sein? Also: Ich vermute bei Ihnen eine übertriebene Scheu. Vielleicht vor Autoritätspersonen. (Beruhigend:) Ich weiss, ich weiss, ich wirke gelegentlich etwas autoritär. (Gespielt jovial:) Dabei bin ich ein ganz netter Kerl, wissen Sie. Spass beiseite: Lassen Sie sich von meiner Statur nicht beeindrucken. Wer einen Kopf grösser ist als der Durchschnitt, schaut notgedrungen ein wenig auf die andern herab. Ist deswegen aber längst kein Übermensch. Aufrechte Haltung und korrekte Kleidung machen einen nicht zu einem besseren Menschen. Und hundertzwanzig Kilogramm Körpergewicht nicht zu einem Ungeheuer. Geben Sie mir Recht? Na, also. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber Sie neigen ein wenig zum Erröten. Wenn Sie Ihr Gerätchen bedienen, zittern Ihre Hände. Und wenn ich mich nicht irre, so haben Sie mir bis jetzt noch nicht einmal Ihren Namen … Warten Sie! Ich weiss genau, was Sie sagen wollen. Sie seien nicht als Patient hier … Ist mir vollkommen klar. Keine Sorge, ich werde 26
Sie nicht therapieren. Versprochen. Grosses Ehrenwort. Nein, Sie sind hier, um sich zu informieren. Sie wollen über LIPS schreiben. Ich weiss. Ich spüre ja auch Ihr Interesse. Ich lese es aus Ihren Augen. Und ich weiss es zu schätzen. Gerade deshalb ist es mir ein Anliegen, dass Sie nicht ein drittes Mal frustriert weggehen. Nur deshalb bin ich etwas besorgt. (M it gesenkter Stimme:) Abgesehen davon: Wenn Sie wegen soziophoben Problemen, wegen Autoritätsoder Prüfungsangst, ärztlichen Beistand brauchen würden, wären Sie bei mir sowieso an der falschen Adresse. M ein Spezialgebiet ist die Liebeskrankheit. Für die soziale Phobie gibt es kompetentere Leute. Professor Scheu, zum Beispiel. Aber wieso reden wir überhaupt davon? Ich will ja bloss das Eine (lacht): Sie ermutigen. Damit Sie Ihre Fragen stellen. Also, packen Sie aus: Haben Sie Fragen? Pause. Nun? Aber irgendetwas ist doch offen geblieben. Warten Sie mal, warten Sie … Ach ja, jetzt fällt es mir ein: die Interviews aus dem Wochenmagazin. Interviews mit Liebenden. Die habe ich für Sie hervorgesucht. Sessel quietscht. Augenblick. Ich hab sie gleich. Rumoren auf dem Schreibtisch. Hier, bitte sehr. Für Sie. Doch, doch, nehmen Sie sie. Ein kluger Kopf, dieser Rotz…, Ratzkoth… oder …kath irgendwas. Ich weiss nicht mehr. Sie sehen, so steht’s mit meinem Namensgedächtnis (lachend): Solche mit mehr als einer Silbe kann ich mir beim besten Willen nicht merken. Sie können den Namen ja selber lesen. Steht irgendwo, klein gedruckt. Spielt ja keine Rolle. Jedenfalls hat er, ohne es zu wissen, die Liebeskrankheit aufs Trefflichste … 27
Ist etwas? Ach, ich wiederhole mich … Kurz und gut: Ein kluger Kopf. Lesen Sie eines der Interviews, vielleicht gleich das erste. Dann werden Sie sehen, was ich meine. Räuspern. Lesen Sie nur. Doch, doch, jetzt. Sie sind doch bestimmt ein Schnellleser, oder? Dachte ich mir. Wie ich. Ich warte. Pause. Leises Fingertrommeln auf der Tischplatte. Schon fertig? Alle Achtung! Na, was habe ich gesagt? Gut, nicht wahr? Der Kerl stellt ein, zwei harmlose Fragen, und die Leute plaudern drauflos. Ich weiss wirklich nicht, wie er das macht. Er ist ja kein Arzt. Und kein Therapeut. Aber trotzdem: Irgendwie flösst er den Menschen Vertrauen ein. Es muss seine Ausstrahlung sein, seine blosse Gegenwart. Jedenfalls reden und reden sie. Kehren ihr Innerstes nach aussen. Und offenbaren so ihre Liebeskrankheit. Etwa der Mann im ersten Interview: Er sagt, er sei unglücklich verliebt. Ich sage: Er ist krank. Er braucht ärztliche Hilfe. Psychotherapie oder ein modernes Antidepressivum. Noch besser Benzofluoxan. Das ist der Wirkstoff des Medikaments, das demnächst auf den Markt kommt. Von Cox, Rich & Nightingale, das habe ich Ihnen gesagt, oder? Damit wäre seine Liebeskrankheit vermutlich in zwei, drei Wochen abgeklungen. Geheilt will ich nicht behaupten, aber deutlich gebessert. Wissen Sie, ich wünschte, dieser Rath… Dingsbums würde einmal etwas Vernünftiges über LIPS schreiben. Nach all dem Stuss, der bis jetzt verbreitet wurde. Über mich, meine ich. Über den Doktor der Liebeskranken, wie sie mich im Boulevard nennen. Und über den See28
blick. De mortuis nil nisi bene, aber es war Frau Katz gewesen, die uns die negativen Schlagzeilen bescherte. Schuldlos, aber trotzdem. Ich weiss zwar gar nicht, ob der Seeblick für Ihre Leserschaft interessant ist. Meinen Sie? Gut, ich erzähle Ihnen die Katz-Geschichte. Als Hintergrundinformation. Seufzt. Es ging um Sterbehilfe. Aber das war eine familiäre Angelegenheit von Frau Katz. Mit dem Seeblick hatte diese Sache rein gar nichts zu tun. Erst im Nachhinein wurde ihre persönliche Entscheidung mit dem tragischen Todesfall in der Klinik verknüpft, von dem ich Ihnen erzählte. Off the record, Sie erinnern sich: Der liebeskranke junge Patient, der hier (räuspert sich), hier starb. Hüstelt. Das war nämlich ein Patient von Frau Katz. Hustet. Verzeihung. Bekommt einen Hustenanfall. (Hustend:) Meine Güte, ’tschuldigung, ist bloss … Hustet noch einmal. Räuspert sich erneut. So. War bloss ein Hustenreiz. Wie gesagt, das war ein Patient von Frau Katz. Auf der Abteilung hiess es immer: Das Patientchen von Frau Katz. Oder noch schlimmer, Patientlein. Patientli. Entchen, Entlein, Entli! Despektierlich, finden Sie nicht? Nicht nur dem Patienten, auch der Sprache gegenüber: An ein lateinisches Wort gehört kein deutsches Suffix angehängt. Weder ein -chen noch ein -lein. Und schon gar kein -li. Auch kein -in, übrigens. Frau Mantel kapiert zwar nie, weshalb ich ihr die Patientin korrigiere. »Wenn es doch um eine Frau geht«, sagt sie immer. (Unwirsch:) Spielt keine Rolle, Patientin gibt’s nicht. Patient heisst es. Patient bedeutet leidender 29
Mensch, ganz gleich ob Kind, Frau oder Mann. (Lauter, gereizt:) Sie soll meinetwegen die Kranke schreiben, wenn sie unbedingt ein Femininum braucht. Nichts gegen die Gleichstellung von Mann und Frau, aber nicht auf Kosten der Sprache! Alles, was recht ist – Verzeihung, ich rede mich wieder einmal in Rage. Wo waren wir? Bei der Katz-Geschichte, richtig. Nun, Frau Katz war fort gewesen, als der Todesfall hier passierte. In Haifa. Um ihrem todkranken Vater beizustehen. Stellen Sie sich das vor: Die Frau reist nach Israel, um ihrem Vater Sterbehilfe zu leisten. Aktive Sterbehilfe. (M it gesenkter Stimme:) Dabei ist die dort natürlich verboten. Das weiss doch jeder. (Wie zuvor:) Ihre Eltern waren erst im Alter nach Israel ausgewandert. Sie selber war nicht orthodox, nicht einmal praktizierend, soviel ich weiss. Wie dem auch sei, der alte Herr hatte sie um Hilfe gebeten. Er habe sie angefleht, sagt man. »Wenn du mich liebst, mein Kind«, soll er zu ihr gesagt haben, »dann bringst du, wenn du wiederkommst, dieses Pulver mit.« Pentothal Natrium, meinte er. Er hatte Prostatakrebs. Knochenmetastasen und unerträgliche Schmerzen. Er wollte nur noch eins: erlöst werden. Er hing nicht mehr am Leben, seine Frau war bereits tot. Trotzdem, ich habe miterlebt, wie schwer sich Frau Katz mit ihrem Entscheid tat. »Muss ich meinem Vater diesen Wunsch erfüllen?«, fragte sie mich einmal. »Darf ich? Oder muss ich nein sagen? Ich weiss nicht, womit ich grössere Schuld auf mich lade: wenn ich ihm den Wunsch erfülle oder wenn ich ihn zurückweise.« Nein, leicht hatte sie sich nicht getan mit ihrem Entscheid. Sie war in einer Zwickmühle. Umso mehr, als ihre jüngere Schwester, die den Vater pflegte, strikt dagegen war. »Sie hängt so an ihm«, sagte Frau Katz. »Sie würde es mir nie verzeihen.« »Tun Sie es 30
trotzdem, Frau Katz«, sagte ich, um ihr Mut zu machen und sie aus ihrem inneren Konflikt zu befreien. »Tun Sie es, wenn es Ihnen richtig scheint.« Tatsächlich entschied sie sich bald darauf, ihrem Vater den erlösenden Liebesdienst zu erweisen. Sie beschaffte sich das Mittel, reiste wieder hin und gab es ihm. Aber etwas muss schiefgelaufen sein. Jemand muss Verdacht geschöpft haben. Auf jeden Fall wurde Frau Katz nach dem Tod ihres Vaters festgenommen. Sie sass eine Zeitlang in Israel in Untersuchungshaft. Und genau in der Zeit kam hier ihr junger Patient ums Leben. Offenbar konnte man ihr dann doch nichts Strafbares nachweisen. Sie wurde freigelassen. Als sie wieder da war, kam beides in der Zeitung: ihre Verhaftung in Haifa und der Todesfall hier in der Klinik. »Tod im Seeblick, wo war Professor Katz?«, »Praktiziert Doktor Katz Euthanasie?«, »Seeblick im Zwielicht«, so und ähnlich lauteten die Schlagzeilen. Das war für unsere Klinik natürlich keine Empfehlung. Wir haben uns noch immer nicht ganz davon erholt. Seufzt. Frau Katz erholte sich gar nicht mehr. Sie litt entsetzlich unter Schuldgefühlen. Ob dem Vater, der Schwester, der Familie des verstorbenen Patienten oder der Klinik gegenüber, war mir nie klar. Sie zerbrach an ihren Skrupeln und nahm sich das Leben. Mit Pentothal Natrium. Eine menschliche Tragödie. Und für die Klinik ein schwerer Schlag. Ist Ihnen was? Soll ich das Fenster öffnen? Gut. Sofort. Telefon klingelt. Das gibt’s doch nicht! Es klingelt weiter. (AusDistanz:) Keine Sorge, diesmal lasse ich mich nicht 31
stören. Bin eigentlich schon weg. Feierabend, Wochenende. Hundt hat Dienst, man wird zu ihm durchstellen. So, die frische Luft tut gut, nicht wahr? Telefon klingelt weiter. Na so was. Stellt denn niemand durch? (Wieder näher:) Entschuldigen Sie, ich werd wohl müssen. Wenn es bloss nicht wieder Hundt ist. List. Ja? – Nein, tut mir leid. (Betont freundlich:) Weil ich dann in Amsterdam bin. – Ganz richtig. – Nein, als Referent. – Dienstagvormittag um zehn. – Nun, Randzeitreferat würde ich es nicht nennen, Herr Kollege. Keynote address trifft schon eher zu. – Wie bitte? – Nein, Herr Hundt, das werde ich nicht. – Wie Sie meinen. Gute Nacht. Hörer wird aufgelegt. Sessel quietscht. Tiefer Atemzug. (Vertraulich:) Jetzt wollte er mir doch tatsächlich vorschreiben … was soll’s. Ich will Sie nicht mit diesen Dingen behelligen. Wo waren wir? Nun, Frau Katz war nicht ganz pflegeleicht, das können Sie mir glauben. In der Behandlung der Liebeskrankheit ging sie ihre eigenen Wege. Da waren wir oft nicht gleicher Meinung. In den meisten Fällen behandelte sie psychotherapeutisch. Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden. Nur wandte sie bei jungen Patienten ein ziemlich umstrittenes Verfahren an, eine Art Körper… (hustet), eine Art Körperthera… (hustet heftig), ’tschuldigung, eine Art Körpertherapie. Da war sie Experte, das muss man ihr lassen. Mir sind solche Methoden eher suspekt, wissen Sie. Körpertherapie ginge ja noch. Aber Festhalte… (kriegt einen Hustenanfall) – was ist denn los? Entschuldigen Sie, ich rauche zu viel – Festhaltetherapie musste es sein. Deklariert hatte sie es zwar nie, dass sie mit Liebeskranken Festhaltetherapie praktizierte. Aber getan, min32
destens in diesem einen Fall. Den Patienten körperlich festhalten, den Patienten an sich drücken – ich weiss ja nicht. Selbstverständlich wird die Methode, wie alle Therapiemethoden, ganz einleuchtend begründet: mit dem Bedürfnis nach bedingungsloser mütterlicher oder väterlicher Zuwendung. Mit dem ungestillten Bedürfnis nach Körperwärme, Nähe und Geborgenheit. Zieht Luft durch die Nase ein. Fragt sich nur, wessen Bedürfnis. Zieht nochmals Luft ein. Wissen Sie (betont sachlicher Tonfall), von der Hand weisen kann man es nicht, dass ein Therapeut auch ein wenig von eigenen Bedürfnissen gelenkt sein könnte, wenn er seine Patienten an sich drückt. Grundsätzlich, meine ich, ich spreche nicht von Frau Katz. Dass sie partner- und kinderlos war, sagt noch nichts über ihre Motive aus. Ihr deswegen fragwürdige Absichten zu unterstellen – nein. Honni soit qui mal y pense. Im Fall dieses Unglückspatienten hatte ich ihr aber dringend zu einer medikamentösen Behandlung geraten. Mit Medikamenten hätte er vermutlich überlebt. Doch leider hatte Frau Katz … Es klopft. Ach, wie ärgerlich. Das muss Hundt sein. Es klopft energischer. Ja, das ist Hundt. Sonst weiss ja niemand, dass ich noch da bin. Sessel quietscht. Ich fürchte, das kann lange dauern. Tut mir leid, ich glaube, wir müssen Schluss machen. Aber wir sind ja fertig, oder nicht? Sie sehen irgendwie … Sie sehen wirklich irgendwie – wie soll ich sagen? –, nun, entspannt und zufrieden sehen Sie mir jedenfalls nicht aus. Das lässt sich auf die Schnelle 33
nun leider nicht mehr ausbügeln. Wissen Sie was: Wenn Sie möchten, können Sie noch ein letztes Mal kommen. In einer Woche. (Scherzhaft verschwörerisch:) Gleicher Ort, gleiche Zeit. Es klopft zum dritten M al, sehr laut. Ja, ja, ja, ich komme! Also dann, auf Wiedersehen. (Halblaut:) Sie zögern? Ach so, Sie haben Recht: Da steht ein Hundt vor der Tür (kichert). Gehen Sie besser durchs Vorzimmer hinaus. Frau Mantel ist nicht mehr da. Hier, bitte. Türe wird geöffnet. Jawohl, hier durch und dann die Tür dort drüben. Da passiert Ihnen nichts.
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4 Hallooh, da sind Sie ja wieder. Hereinspaziert! Ach Gott, Sie sind ja pudelnass. Giesst es so? Eben hat noch die Sonne geschienen. Was will man: April. Schirm wird zusammengeklappt, nasse Kleidung ausgeschüttelt. Lassen Sie nur. Kein Problem. Türe fällt ins Schloss. Schlüssel wird gedreht. Nur, damit keiner hereinplatzt. Oh, geben Sie her, ich hänge ihn auf. So. Ich bitte Sie, setzen Sie sich doch. Sie sollten sich hier längst zu Hause fühlen. Hier, Ihre Tasse Tee, schon aufgegossen. Grüntee, ist das recht? Gut. Sessel quietscht. Aha, Ihr Gerätchen ist aufnahmebereit. Fast hätte ich’s übersehen. Oder vielmehr: Ich nehme es kaum noch wahr. Für mich sieht das unscheinbare Ding aus wie ein Feuerzeug, und Feuerzeuge, zu meiner Schande muss ich es gestehen, liegen hier überall herum. (Unverbindlicher Plauderton:) Ich hoffe nur, dass das Wetter in Amsterdam etwas freundlicher ist. Ich bin sozusagen auf dem Sprung, wissen Sie. In drei Tagen beginnt der Kongress. Kennen Sie Amsterdam? Das dachte ich mir. (Ernst:) Ähm, erlauben Sie, aber jetzt muss ich Sie fra35
gen: Schüchtere ich Sie wirklich so ein? So sehr, dass Sie kein Wort herausbringen? Pause. Wie? Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihre Geste richtig deute. Angina können Sie kaum meinen, so krank sehen Sie nicht aus. Kieferstarre? Nein? Eine Erkrankung im Halsbereich? Laryngitis? Ist das ein Ja oder ein Nein? Nun, es geht mich ja nichts an. Aber wenn Sie an Laryngitis leiden, dann können Sie selbstverständlich nicht sprechen. Sie dürfen gar nicht, bis die Entzündung abgeklungen ist. Ich wundere mich nur, dass Sie unter diesen Umständen ein Interview … Ich bitte Sie! So war es nicht gemeint. Im Gegenteil, ich freue mich, dass Sie hier sind. (Lachend:) Das spüren Sie doch, hoffe ich. Wirklich. Sie sind der aufmerksamste Zuhörer, den man sich wünschen kann. Sie machen sich Notizen und nehmen buchstäblich alles auf, was ich sage. Ausserdem haben Sie versprochen, mir den Text vorzulegen, ehe er in Druck geht. Also, da kann doch gar nichts schiefgehen. Hören Sie, ich bin erleichtert, dass Ihre – wie soll ich sagen: Störung? – nichts mit mir zu tun hat. Oder nicht nur mit mir. Räuspern. Ähm, Sie fahren nicht nach Amsterdam, oder? Pause. Schade. (Vertraulich:) Falls Sie doch kommen möchten, lassen Sie es mich wissen, ja? Ich kann Ihnen ohne weiteres eine Zutrittskarte beschaffen. Würde ich gern für Sie tun. Doch, bestimmt. Kein Problem. (M it gesenkter Stimme:) Und, ähm, ein Hotelzimmer 36
auch, falls Sie eines brauchen. Selbst wenn Sie sich ganz kurzfristig entscheiden sollten. Cox, Rich & Nightingale stellt mir jeweils ein kleines Kontingent an Deluxe-Zimmern zur Verfügung. (Sachlich:) Die Vorträge dürften übrigens hochinteressant werden. Sie könnten bestimmt zusätzliches Material für Ihren Artikel sammeln. Cox, Rich & Nightingale wird sein neues Produkt lancieren. Benzofluoxan, ich glaube, ich habe es Ihnen schon gesagt. Sehr erfolgversprechend bei LIPS. Ich hoffe bloss, dass sie auch einen treffenden Markennamen für das neue Produkt kreieren. (Leiser:) Die Namen, die zur Auswahl stehen, sind noch streng vertraulich. Luvexx wäre mein Favorit. Wäre doch genial, oder? Luv-exx, Sie verstehen. Nun, bald wird man erfahren, wofür sie sich entscheiden. (Wieder in normaler Lautstärke:) Eigentlich erstaunlich, dass Ihre Redaktion Sie nicht hinschickt. Der Seelenarzt muss doch über den Kongress berichten. Oder für welche Zeitschrift schreiben Sie? Sehen Sie? Schon wieder vergessen. Tz, tz, tz. Unverbesserlich, nicht wahr? Eigentlich beschämend. Oh, sehr liebenswürdig. Aber verdient habe ich Ihre Nachsicht nicht. Vielleicht hätte ich mir den Ausweis, den Sie mir beim ersten Mal unter die Nase hielten, doch ansehen sollen. Da stand bestimmt drauf, wer Sie schickt. Haben Sie ihn hier? Nein? Macht nichts. Ich weiss immerhin noch, weshalb wir letztes Mal aufhören mussten: Hundt stand vor der Tür. Ein ziemlich böser Hundt. Ich bin nur froh, dass ich Sie durchs Vorzimmer hinausgehen liess. Er machte mir nämlich eine hässliche Szene. Es wäre mir sehr peinlich gewesen, wenn Sie die mitbekommen hätten. Aber ich muss mich an die eigene Nase fassen. Ich hätte mich seinen Plänen von Anfang an widersetzen müssen. 37
Sessel quietscht. Ich will Ihnen eine nette, kleine Geschichte erzählen. Sie haben doch Zeit, oder? Gut. (Vertraulich:) Heute setze ich Sie nämlich bestimmt nicht vor die Tür. Wir werden nicht gestört werden, Frau Mantel ist schon weg und Kollege Hundt auch. Und der diensthabende Arzt ist ein erfahrener Bursche. – Die Geschichte geht so: Der Co-Chefarzt und Direktor einer renommierten Klinik beschliesst ein paar bauliche Massnahmen. Das liegt in seiner Kompetenz. Das Gebäude besagter Klinik besitzt zwei Flügel, einen Nord- und einen Südflügel. Beide Flügel haben gleich viele Stockwerke, gleich viele Abteilungen, gleich viele Betten. Beide bieten Seesicht, der Südflügel hat mehr Morgen-, der Nordflügel mehr Abendsonne, das ist auch schon der ganze Unterschied. Der Eingang der Klinik liegt auf der Seeseite, im Mitteltrakt zwischen den beiden Flügeln. Eine feudale, helle Halle mit Empfangstheke und Kunst an den Wänden. Eine der Massnahmen, die der Klinikdirektor anordnet, besteht darin, auf der Rückseite des Klinikgebäudes einen zweiten Eingang zu bauen. Der bisherige soll zum Eingang Süd werden, einzig für die Patienten, Besucher und Beschäftigten des Südflügels bestimmt. Der neue soll dem Nordflügel dienen. Der Direktor begründet die Massnahme damit, dass die beiden Flügel praktisch wie zwei unabhängige Kliniken funktionieren. Was durchaus stimmt. Die Sache hat bloss einen kleinen Schönheitsfehler: Auf der Bergseite liegen die Rampen der Zulieferer, der Warenlift und die Notausgänge. Der neue Eingang führt in ein dunkles, enges Treppenhaus. Die Absicht ist klar: Apartheid. Nicht Rassen-, aber Klassentrennung. Der Südflügel soll zur Erstklassklinik aufpoliert, der Nordflügel zum Billigkrankenhaus degradiert 38
werden. Sie haben es natürlich erraten: Als Nachfolger von Frau Katz regiert Doktor Hundt über den Südflügel des Seeblicks, während ich für die Abteilungen des Nordflügels zuständig bin. Denken Sie bitte nicht, dass ich hier Interna ausplaudere. O nein, Indiskretionen darf ich mir keine erlauben. Hundt selber wird die Sache während meiner Abwesenheit nächste Woche publik machen. Der Klinikverwalter steht auf seiner Seite. Ein ziemlich durchsichtiges Machtspielchen. Mobbing auf der Chefetage. Mir bleibt nur, an den Aufsichtsrat zu gelangen. Wenn’s nicht zum Heulen wäre, wär’s zum Lachen. Oder was sagen Sie dazu? Ich weiss, ich weiss, ich sollte Sie gar nicht fragen. Es mag seltsam klingen, aber ein bisschen Verständnis bringe ich für Hundts Massnahme auf. Nämlich dann, wenn ich seine Handlungsweise von der psychologischen Seite her betrachte: Es ist nicht leicht für einen Chefarzt, wenn sein Co allein im Rampenlicht steht. Gesucht habe ich das Rampenlicht freilich nicht. Ich stand einfach unversehens drin. Zuerst mit meinen wissenschaftlichen Publikationen über LIPS. Dann mit der Fernsehsendung Liebeskrank. Schliesslich mit den Interviews und Berichten in der Presse. Und jetzt kommt noch das Interesse von Cox, Rich & Nightingale dazu, die Benzofluoxan-Studie, die wir hier im Nordflügel durchführten, die Einladung nach Amsterdam, und, und, und. Das nagt begreiflicherweise an Hundts Ego. Verständlich, dass er sich da auf seine Weise zu profilieren versucht. – Ach, was rede ich überhaupt von Hundt. Was interessieren Sie schon die Querelen zweier Co-Chefärzte. Reden wir von erfreulicheren Dingen. Von Ihnen: Sie sehen heute blendend aus. Doch, wirklich. 39
Pause. Ich weiss, Sie haben dieses kleine Problem, aber sonst geht es Ihnen gut. Besser als die vorigen Male. Jedenfalls sehen Sie besser aus. Entspannter. (Vertraulich:) Sie können nämlich nicht verbergen, wie es Ihnen geht. Selbst wenn Sie wollten. Sie sind ein offenes Buch. Sie haben ausdrucksvolle Augen, Sie … Ach, kommen Sie! Ich rede als Arzt. Da darf ich das doch sagen. Da brauchen Sie nicht gleich zu erröten. (Beschwichtigend:) Verzeihung. Tut mir leid. Was ich damit sagen wollte: Sie machen es mir leicht. Man spürt Ihr Interesse, das habe ich Ihnen ja schon gesagt. Man merkt, ob Sie verstanden haben; man sieht sofort, ob Sie zustimmen; man spürt, wenn Sie mehr wissen möchten. Es ist leicht zu erkennen, wenn Sie überrascht sind. Oder irritiert. Oder verärgert. Manchmal staunen Sie wie ein Kind, wissen Sie das? Dann schauen Sie mit Ihren grossen Augen so … Wie? Ob mich das stört? O nein, das tut es nicht, falls Sie das meinten. Nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil. Man redet nicht gern, wenn man kein Interesse spürt. Man will schliesslich niemanden langweilen. Kurz, Sie gehören zu den Menschen, mit denen man gern spricht. Mit denen man sich wohl fühlt. Mit denen man gern näher … Gut, gut. Ich habe verstanden, ich höre auf. (Lachend:) Aber ich nehme nichts zurück. Bitte (scherzhaft flehend), bitte, bitte, nehmen Sie mir mein kleines Loblied nicht übel. (In normalem Tonfall:) Déformation professionelle, wissen Sie. Die Liebeskranken lehren einen, auf den Gesichtsausdruck zu achten. Liebeskranke haben einen unverkennbaren Blick, wussten Sie das? Im Vorstadium ist 40
er schwärmerisch und überschwenglich, dann wird er unsicher und fragend. Mit Ausbruch der Krankheit verändert er sich: Er wird saugend. (Dozierend:) Der saugende Blick ist ein Frühzeichen der Krankheit. Darin liegt ein unausgesprochener Anspruch: Du musst mich beachten, mich wollen, mich lieben, ich habe ein Recht auf dich, das sagt der Blick. Im späteren Verlauf der Krankheit wird er anders: misstrauisch, dann aggressiv, dann verzweifelt, schliesslich stumpf. Das Gesicht, die Stimme, der ganze Körper des Kranken verändern sich mit seinem seelischen Zustand: Zuerst verlangend, sehnend und hoffend; dann saugend, fordernd, besitzergreifend; danach, wenn der Kranke spürt, dass er nicht zum Ziel kommt, enttäuscht, wütend, zornig. Auf die Enttäuschung folgt Verzweiflung oder Hass. Depression oder Raptus. Mit anderen Worten: Der Patient bricht zusammen oder rastet aus. In irgendeiner Form. Im Extremfall heisst das Suizid. Oder Mord und Totschlag. Mal wird der Geliebte umgebracht, der nichts vom Patienten wissen will, mal der Nebenbuhler. Oder beide zusammen. Es sei denn, man leistet rechtzeitig ärztliche Hilfe. – Sehen Sie, Sie können es nicht verbergen: Ich langweile Sie! Doch, doch. Auch das spürt man, wissen Sie. Zu theoretisch, nicht wahr? Kein Problem. Ich weiss, was Sie interessiert: die Praxis. Ich merkte es gleich, als ich Ihnen die Geschichte von jenem kleinen Patienten erzählte. Dem von Frau Katz. Da hingen Sie förmlich an meinen Lippen. Rotkäppchen hiess der Patient auf der Abteilung. Das war natürlich nur ein Spitzname, darum darf ich ihn nennen. Rotkäppchen. Seltsam, nicht? Ich weiss gar nicht mehr, wie das Kind – war ja fast noch ein Kind – zu seinem Spitznamen kam. Vielleicht seiner Mütze wegen? Das 41
heisst, es war ein Kopftuch. Hm, warten Sie, aber das war doch schwarz, nicht rot, wenn ich mich recht erinnere. Na, einerlei. Wissen Sie, manchmal geben die Schwestern – Verzeihung: Pflegefachfrauen heisst es heute –, manchmal geben die Pflegefachfrauen den Kranken Kosenamen. Besonders den jungen. Hustet. Hätte Frau Katz bloss Medikamente verordnet! Aber nein, Psychotherapie musste es sein. Festhalte… (heftiges Husten), Festhaltetherapie, verdammt noch mal. Verzeihung. (Räuspern.) Sie fand, Rotkäppchen müsse gehalten werden, so lasse es sich am besten beruhigen. Intensiv gehalten, verstehen Sie? Jeden Tag mehrmals. Sie müsse diesen jungen Menschen an sich drücken, fand sie, damit er gesund werde. Nun, vielleicht war ja was dran. Vielleicht brauchte Rotkäppchen tatsächlich etwas Mutterliebeersatz. Das erstaunt Sie? Es ist aber tatsächlich so: Menschen, die im Leben emotional zu kurz kamen, sind für die Liebeskrankheit besonders anfällig. Trotzdem, Medikamente wären das Richtige gewesen. Mindestens im akuten Stadium der Krankheit. Aber Frau Katz sah das anders, sie musste das Kind an sich drücken. Sie war strikt gegen Benzofluoxan, warum, weiss ich auch nicht. Und dann, als sie nach Israel reiste, um ihren Vater zu – zu erlösen, musste sie den Patienten jemand anderem anvertrauen. Ein Assistenzarzt kam nicht in Frage, Rotkäppchen war das Kind wohlhabender Eltern, war auf die Privatstation eingetreten und hatte Anrecht auf die Behandlung durch einen Chef- oder Oberarzt. Frau Katz hätte ohne weiteres mich anfragen können, ich hätte ihr bestimmt keinen Korb gegeben. Leider zog sie es vor, einen andern damit zu beauftragen, 42
ihren Stellvertreter Hundt. Ob sie ihn tatsächlich damit beauftragt hatte, ihre Therapiemethode anzuwenden, bleibe dahingestellt. Hundt legte seinen Auftrag offenbar so aus. Soviel ich weiss, verfuhr er mit Rotkäppchen auf die gleiche Weise wie Frau Katz. Dabei ist er gar kein ausgebildeter Festhaltetherapeut. Vielleicht hielt er das zarte Geschöpf nicht vorsichtig genug fest, um es einmal so zu sagen. Vielleicht drückte er es nicht besonders professionell an sich. Seufzt. Der junge Mensch kam bei der Behandlung ums Leben. Er starb unter den Augen oder vielmehr in den Armen seines Arztes. Herz-Kreislauf-Versagen. Er… (hustet), Erstick… (hustet heftig), Erstickungs… (räuspert sich), Erstickungstod, um genau zu sein. Seufzt erneut. Was ist denn? Sessel quietscht. Sie gehen? Wieso denn so plötzlich? Wir sind doch noch gar nicht fertig! Nun gut, ich will Sie nicht aufhalten … Aber Sie kommen wieder, nicht wahr? Ich erwarte Sie. Nächste Woche, nach dem Kongress. Wie gewohnt, ich verlasse mich drauf.
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5 Tür fällt ins Schloss. Im Hintergrund leise M usik. Ach bitte, schauen Sie nicht so. Wegen der paar Minuten. Das macht doch nichts. Auf Sie habe ich gern gewartet. (Vertraulich:) Ich habe mich sogar den ganzen Tag auf unser Plauderstündchen gefreut. Setzen Sie sich doch. Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause. Die Musik stört Sie doch nicht etwa, oder? Darf ich etwas lauter stellen? Nur bis der Tee fertig ist. M usik wird lauter. (Raunend:) Nur ein paar Minuten. Ouvertüre verklingt. La Traviata, die kennen Sie bestimmt, oder? Dachte ich mir. – Hören Sie! Eine Tenorstimme. Pavarotti. Warten Sie … M usik wird noch lauter. … hier! Das geht unter die Haut, finden Sie nicht? Ein, zwei M inuten ist Gesang zu hören. Wasserkocher pfeift. Schade. M usik wird leiser. Geschirr scheppert. Ach was! Lassen wir den Tee. Heute offeriere ich Ihnen etwas anderes. Gläser klirren. Ein Gläschen Sekt werden Sie doch nicht ablehnen, oder? 44
Ach, kommen Sie! Ausnahmsweise. Nur heute. (Verschmitzt:) Das wird Ihre Zunge lösen. (Beschwichtigend:) War doch nur ein Scherz. Aber trotzdem: zur Feier des Tages. Und der Woche, einverstanden? Der Amsterdamer Kongress war nämlich ein voller Erfolg. Mein Referat auch, nebenbei gesagt. Ein norwegischer Kollege sprach auf einem Panel statt vom LIPS- unentwegt vom List-Syndrom. Witzig, was? Freut einen natürlich. Aber das Wichtigste: Benzofluoxan wurde lanciert. Unter dem Markennamen Luvexx. Als Therapeutikum gegen die Liebeskrankheit. Das wird ein Renner werden! Und ich bin daran nicht ganz unbeteiligt. Darauf dürfen wir doch anstossen, finden Sie nicht? Na also! Es ist Feierabend. Und Wochenende. Ich weiss, ich weiss, für Sie ist es Arbeit. (Lachend:) Für mich eigentlich auch. (Vertraulich:) Aber Arbeit der allerangenehmsten Art. Soo. Vorsicht, gleich … Diskretes Knallen, leises Zischen. Gläser werden gefüllt. Hier, bitte. Sollte ein anständiger Sekt sein. Zum Wohl. Kaum hörbares Gläserklingen. Auf Ihre Gesundheit! Aah! Tut gut, nicht wahr? Nun müssen wir uns aber um Ihren Artikel kümmern. M usik wird ausgeblendet. Die passt nun leider nicht mehr, tut mir leid. Alles zu seiner Zeit. Wann soll er erscheinen? Eilt es? Nicht? Umso besser. Schluckgeräusch. Da können wir uns erst ein bisschen über Sie unterhalten. Wieso nicht? Ich rede schliesslich die ganze Zeit. Und Sie schweigen. Ein eigenartiges Interview, das müssen Sie 45
doch selber sagen. Aber ich gebe zu: Sie haben Erfolg. Sie haben schon eine ganze Menge herausbekommen, oder nicht? Wissen Sie, anfangs dachte ich, Sie litten bloss an einer Art Examensangst. Dann bedeuteten Sie mir, Sie hätten eine Laryngitis oder sonst etwas. Mir ist eines klar: Es geht um eine gravierende Störung, stimmt’s? Eben. Sehen Sie, ich könnte es mir leicht machen. Ich könnte Sie bitten, mir alles auf Ihren Notizblock zu schreiben: Ihre Fragen, die Zeitschrift, für die Sie arbeiten, Ihre Krankheit. Will ich aber nicht. Zwar möchte ich nur allzu gern wissen, wer Sie … was für eine Person Sie sind. Aber nicht auf die leichte Tour. Wissen Sie was? Wir machen ein Spiel. Ein Ratespiel. Es geht so: Ich rate, Sie antworten. Doch, bitte. Bis jetzt haben Siegefragt – ohne Worte zwar, aber ich habe Sie stets verstanden – und ich habe geantwortet. Jetzt drehen wir den Spiess um: Ich frage, Sie antworten. Sie brauchen bloss mit Ja oder Nein zu antworten, Sie nicken oder schütteln den Kopf. Einverstanden? Na ja, oder Sie zucken die Schultern. Sie sind natürlich völlig frei. Ich will es Ihnen bloss leicht machen. So wie Sie es mir bisher leicht machten, mit Ihnen zu reden. Schön, das sehe ich gern: Sie lehnen sich zurück. Sie entspannen sich. Gut, ich fange an. Die erste Frage lautet: Fühlen Sie sich von mir noch immer eingeschüchtert? So lala, heisst das, oder? Gut. Ich bin also nicht der einzige Grund. Es spielen bei Ihrer – nennen wir es Sprachlosigkeit – noch andere Dinge mit. Ist das richtig? 46
Das dachte ich mir. Nächste Frage: Litten oder leiden Sie tatsächlich an Laryngitis? An Kehlkopfentzündung? Nein? Dann hatte ich Ihre Geste falsch verstanden. Sie wollten mir einfach bedeuten, dass Sie nicht reden können, nicht wahr? Eben. Ist es eine bösartige Krankheit? Entschuldigen Sie, wenn ich so direkt frage: ein Kehlkopftumor? Krebs? Nein? Gott sei Dank. Sind Ihre Stimmbänder aus einem andern Grund gelähmt oder verletzt? Auch nicht. Gut. Eins ist auch klar: Taubstumm sind Sie nicht, Sie hören ja jedes Wort. Und einen Hirnschlag können wir ausschliessen, Sie leiden nicht an Aphasie. Nein, Sie leiden an Aphonie. An funktioneller Aphonie. Beschämend, dass ich es nicht längst erkannt habe. Aber Sie hatten sich verbeten, dass ich mich als Arzt um Sie kümmere. Erinnern Sie sich? Gut. Dann fahre ich jetzt weiter. Nicht als Arzt, wohlverstanden. Nein, aus menschlichem Interesse. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie, als Sie noch reden konnten, ein bisschen zu Hemmungen neigten? Ja? Dass Ihnen manchmal, zum Beispiel in einer Prüfungssituation, die Stimme versagte? Aber jetzt ist es mehr als das, nicht wahr? Eine schwerer wiegende Störung? Sie nicken. Dann ist es so, wie ich dachte: Sie haben die Stimme durch einen Schock verloren. Stimmt das? Das tut mir aufrichtig leid. Meine nächste Frage ist sehr persönlich, das weiss ich, aber ich muss sie stellen: Hatte der Schock etwas mit der Liebe zu tun? Mit einer Trennung vielleicht? Mit einer Enttäuschung? Oder einem Verlust? Mhm. Ich habe es geahnt. Sie sind seelisch verletzt worden. Jemand hat Ihnen, ich nehme an ohne jede Vor47
warnung, die Liebe gekündigt. Jemand hat Sie abgewiesen. Oder sitzenlassen. Ist vielleicht einfach verschwunden. Der Schock sitzt tief. So tief, dass Ihre Stimme versagte. – Und doch war Ihnen dieses Interview wichtig? Schweigen. Sie beschämen mich. Nochmals kurzes Schweigen. Also, ich stelle es mir so vor: Sie dachten, der Schock sei überwunden. Sie gingen davon aus, dass Sie würden sprechen können. Aber dann war die Stimme in unserem allerersten Gespräch für einen Augenblick weg. Wie in einer Prüfung. Weil ich etwas autoritär auf Sie wirkte. Und die Stimme blieb weg, denn aus irgendeinem Grund holte Sie Ihr Trauma wieder ein. War es so? Irgendwie schon, heisst das? Sie wissen es selbst nicht? Nun, solche Dinge laufen oft unbewusst ab. Der Schmerz ist auf alle Fälle immer noch da, nicht wahr? Sie geben kein Zeichen. Aber ich verstehe auch so, ich sehe ja Ihre Augen. Sie leiden nicht an Soziophobie, nicht an Autoritätsangst – oder nicht nur –, Sie leiden an etwas viel Ernsterem. Ich weiss jetzt, woran, und doch darf ich Ihnen nicht helfen. Ich habe mir selbst die Hände gebunden: Ich habe versprochen, Sie nicht zu therapieren. Sonst würde ich Ihnen vorschlagen, es mit Flüstern zu versuchen. Bei einer funktionellen Aphonie streikt zwar die Stimme, aber flüstern kann der Kranke in der Regel trotzdem. Haben Sie das schon einmal versucht? Verzeihung. Ich höre auf. Ich stelle keine Fragen mehr. Längeres Schweigen. Hörbares Schlucken. Glas wird abgestellt. Ihre Offenheit rührt mich. 48
Sie haben mir etwas sehr Persönliches anvertraut. Eines verstehe ich jetzt besser: Auch wenn Sie als Wissenschaftsjournalist hier sind, Sie interessieren sich nicht nur von Berufs wegen für die Liebeskrankheit. Sie wollen auch aus persönlichen Motiven mehr darüber wissen. Lange Pause. Jeder will das. Pause. Niemand ist gegen diese Krankheit gefeit. Lange Pause. Journalisten nicht. Und Psychiater nicht. Lange Pause. Sie nehmen doch noch ein Schlückchen? Ach, wie schade. Sei’s drum. Ein Glas wird gefüllt. Ich will Ihnen etwas erzählen. Längeres Schweigen. Ich sprach davon, dass Menschen, die in ihrem Leben emotional zu kurz kamen, für die Liebeskrankheit besonders anfällig sind. Meistens sind das Menschen, die zu wenig Mutterliebe erfuhren. Pause. Oder zu viel. Pause. Oder falsche. Pause. Oder Vaterliebe: zu wenig, zu viel oder falsche. Schluckgeräusch. Glas wird abgestellt. Oder gar keine. Längere Pause. Mein Vater war verschollen. Im Krieg gefallen oder in Gefangenschaft geraten, das wussten wir damals nicht. Ich hatte kaum Erinnerungen an ihn, ich besass bloss eine 49
Fotografie von ihm, das Bild eines grossen, stattlichen Manns mit einer Uniformmütze auf dem Kopf. Bald trauerte ich dem unbekannten Vater nach, bald hasste ich ihn. Dafür, dass er mich allein gelassen hatte. In den Fängen einer stolzen und herrischen Frau, die kein Herz für mich hatte. Kein liebes Wort, keine liebevolle Umarmung, keine zärtliche Berührung. Auch keine Schläge, nicht einmal Schelte. Die hätte ich besser ertragen als diese Kälte. »Halt dich gerade!«, sagte die Frau in einem fort. Nicht böse, aber kalt. »Pass auf, du scheuerst deine Hosen durch!«, meinte sie, wenn ich beim Spielen auf dem Fussboden kniete. »Du kommst zu spät!«, sagte sie tadelnd und räumte den Mittagstisch ab, wenn ich auf dem Nachhauseweg noch ein bisschen geschwatzt hatte. »Hör auf damit!«, rief sie zum Fenster hinaus, wenn ich draussen mit andern herumtollte. »Lass das!«, wenn Besuch da war und ich meiner Cousine unter dem Tisch aus Jux einen Stoss versetzte. Sie scheitelte mein Haar und rückte meinen Krawattenknopf zurecht, wenn ich das Haus verliess. Stellen Sie sich das vor: Ich musste Hemd und Krawatte tragen, und manchmal sage und schreibe gebügelte Hosen! Sie kleidete mich wie einen Gigolo. Sie brüstete sich, das spürte ich genau, vor Freundinnen mit meinen guten Zensuren, ohne mich selber je dafür zu loben. Sie hiess mich auf dem Klavier vorspielen, wenn Gäste kamen, und genoss deren Applaus, als ob er ihr gälte. Es war selbstverständlich, dass ich sie, als ich aufs Gymnasium ging, ins Theater und auf Empfänge begleitete. Dort half ich ihr aus dem Mantel – an Vaters statt, das hatte ich bald einmal begriffen –, wie sie es mir beigebracht hatte, und sie lächelte mir gnädig zu. Ich hatte meine Existenzberechtigung einzig als begabtes, sauberes und anständiges Kind. In der Schule war ich als Musterschüler verschrien. Und 50
als Streber. Ich wurde geschnitten und fühlte mich, ausser wenn ich mit guten Noten glänzen konnte, wie der letzte Dreck. Schweigen. Ich war ein einsames Kind. Einsam, intelligent und unglücklich. Aber meine Intelligenz schützte mich nicht davor, Dummheiten zu machen. Nicht nur Dummheiten, auch wirklich schlimme Dinge. Einmal, als ich noch klein war, tötete ich eine junge Katze, obwohl ich das Tierchen heiss liebte. Und wissen Sie warum? Aus Scham. Aus Angst vor Tadel und Verachtung. In der Nachbarschaft hatte eine Katze geworfen, ich entdeckte die Katzenfamilie auf dem Weg in den Kindergarten in einem Hinterhof. Brav erkundigte ich mich bei der Frau, die aus dem Fenster guckte, ob ich mit den Kätzchen spielen dürfe. Sie erlaubte es mir. Ich durfte mit den Tierchen spielen, Tag für Tag. Meine Mutter durfte nichts davon erfahren, sie hätte es mir verboten. Ich hatte keine Erfahrung im Umgang mit Tieren. Als die Kätzchen grösser wurden, begannen sie sich zu balgen, und eines Tages griff mich das frechste an – im Spiel natürlich, aber das wusste ich nicht – und kratze mich an der Hand. Das hatte ich noch nie erlebt, ich hatte die Kätzchen bis dahin bloss als weiche Knäuel kennengelernt, die man streicheln konnte und über die Hand krabbeln liess. Bei dieser spielerischen Attacke erschrak ich gewaltig und schlug mit der Hand reflexartig aus. Eine brüske, heftige Bewegung. Ohne es zu wollen, schleuderte ich das verletzliche kleine Tier gegen eine Mauer. Es blieb liegen, und als ich es holte, sah ich, dass es aus Ohren und Mäulchen blutete. Ich spürte intuitiv, dass das Tier schwer, vielleicht tödlich verwundet war. Dass ich daran schuld war, peinigte mich entsetzlich. Ich getraute mich nicht, jeman51
den zu holen. Aus Angst, man würde mich für einen Tierquäler halten. Ich geriet in Panik und beschloss, das verletzte Tier verschwinden zu lassen. Erst wollte ich es in eine Mülltonne werfen. Dann entsann ich mich, dass junge Katzen ertränkt wurden. Mit Grauen hatte ich Erwachsene davon reden hören. So nahm ich das Tierchen, lief zu einem Brunnen und drückte es unter Wasser, bis es nicht mehr zappelte. (Räuspert sich.) Ich musste es tun, ich konnte nicht anders. Es (hüstelt), es kam einfach über mich. (Hustet heftig.) ’tschuldigung. Es war eine Panikreaktion, gesteuert von Angst, Schuldgefühlen und Scham. So war das. Ich schäme mich noch heute dafür. In jenem Hinterhof liess ich mich nie mehr blicken. Ich wurde nie zur Rede gestellt, vielleicht wurde ich gar nie verdächtigt. Schweigen. (Bedrückt:) Aber das Schlimmste war: Ich konnte mit niemandem über meine Mordtat reden. Ich musste ganz allein damit fertig werden. Erneut kurzes Schweigen. Sie sind der erste Mensch, dem ich diese Geschichte erzählen kann. Nein, muss. Warum, weiss ich auch nicht. Schweigen. Es tut gut, es zu erzählen. Es befreit irgendwie. Danke, dass Sie zuhören. Schweigen. Unglücklich und einsam war ich. Die meiste Zeit ohne Freunde. (Heiterer:) Nur einmal gab es einen Nachbarjungen, der sagte zu mir: Du bist prima. Da verliebte ich mich Hals über Kopf. Ich verliebte mich in diesen Jungen, bloss weil er mich ein bisschen mochte. Oder mich wenigstens nicht verachtete. Ich war hingerissen, fing regelrecht Feuer. Ich wollte ihn ganz für mich haben. (Raunend:) So funktioniere ich heute noch, um ehrlich zu sein. (Wie zu52
vor:) Als sich herausstellte, dass der Junge noch andere Freunde hatte, wurde ich krank. Liebeskrank, heute ist mir das klar. Zum ersten, aber nicht zum letzten Mal. Schluckgeräusch. Glas wird abgestellt. Darf ich Ihnen jetzt nachschenken? Nein? Schade. Ein Glas wird gefüllt. Ich bin eben nicht anders gestrickt als andere Menschen. Nicht anders als viele meiner Patienten. Nicht anders als Rotkäppchen. Jetzt schauen Sie wieder so! Aber Sie haben Recht, wir wollten von Ihnen reden. Von niemandem sonst. Sie leiden, nicht wahr? Sie sind verletzt. Sie hungern und dürsten. Seelisch, meine ich. (Vertraulich:) Ich glaube, was Sie brauchen, ist … Sessel quietscht. Oh, Verzeihung, ich wollte nur … Flasche stösst gegen Gläser. Ähm, möchten Sie wirklich nicht noch ein Schlückchen? Nein? Verkommen lassen sollte man so ein Tröpfchen aber nicht. Dann werde ich mich wohl selber darum kümmern müssen. Erneut wird eingeschenkt. Wo waren wir? Ach ja, bei Rotkäppchen. Krank war das Kind, liebeskrank, zum ersten Mal in seinem Leben. Und hübsch war es, das können Sie mir glauben. Attraktiv, im wahrsten Sinne des Wortes. Vielleicht müsste ich schön sagen. Moment, was soll denn nun dieser Blick? Also, falls Sie das meinen: Ich habe keine pädophilen Interessen. Ich mag ja alle möglichen Neigungen haben, aber pädophil bin ich nicht. (Räuspern.) Ob das auch auf Frau Katz zutrifft, kann ich nicht sagen. Und für Herrn 53
Hundt wage ich diesbezüglich die Hand erst recht nicht ins Feuer zu legen. – Das Kind war von jener Schönheit, die fast nur Menschen aus dem pazifischen Raum eigen ist. Ein Mischlingskind, wissen Sie. Nicht das Kind eines weissen Vaters und einer farbigen Mutter, wie wir es hier oft und öfter sehen, nein, umgekehrt: die Mutter eine Weisse. Aus der Schweiz, nehme ich an. Oder Deutsche. Der Vater ein amerikanischer Mischling. Architekt von Beruf, ein sehr erfolgreicher, hatte es geheissen. Dessen Mutter, Rotkäppchens Grossmutter also, stammte aus Hawaii. Rotkäppchens richtigen Namen weiss ich übrigens nicht, und wenn ich ihn wüsste, dürfte ich ihn nicht nennen. Rotkäppchen war zwar nicht mein Patient – leider, sonst wäre alles anders gekommen – , aber seine Akte hatte ich ein bisschen studiert. Musste ich ja, ich war damals Klinikdirektor, da hat man über alles informiert zu sein. Zum ersten Mal hatte ich das Kind aber in meiner Fernsehsendung gesehen. Unglückliche erste Liebe, wissen Sie. Rührend. Nichts wirklich Tragisches, nichts Aussergewöhnliches, so hatte es ausgesehen. Aber dann wurde das Kind krank und kränker, ass nichts mehr und man befürchtete, es könnte sich ein Leid antun. Da wurde es zu uns eingewiesen. Es war sonst nämlich niemand da, der dem jungen Menschen hätte beistehen können, bloss eine Tante, die ihn vorübergehend bei sich aufgenommen hatte. Der Vater, ein sportlicher und waghalsiger Bursche, war ein Jahr zuvor bei einem Unfall ums Leben gekommen. Geschwister gab es keine. Die Mutter scheint eine vielbeschäftigte Frau gewesen zu sein, eine Figur aus der Kunstoder Kulturwelt, Malerin oder Schriftstellerin oder so etwas. Jedenfalls war sie, als ihr Kind in seine Liebeskrankheit hineinrutschte, aus irgendeinem Grund nicht erreichbar. Ich glaube, sie war auf einer Auslandreise. 54
Wie gesagt: eine sehr attraktive Erscheinung. Ich spreche vom Patienten, nicht von der Mutter, der bin ich nie begegnet. Hässlich war die bestimmt auch nicht, denn vom Vater allein konnte das Kind sein bildschönes Gesicht unmöglich geerbt haben. Sie – die Mutter, meine ich – soll zwar eine eher unangenehme Person sein. Fand jedenfalls Kollege Hundt. Sie soll sehr emotional auf den Tod ihres Kindes reagiert haben. Doktor Hundt hatte ihre Reaktion hysterisch genannt. Sehr unsensibel. Das finden Sie auch, nicht wahr? Ich seh’s Ihnen an. Ich frage Sie: Wie in aller Welt soll eine Mutter denn reagieren, wenn sie erfährt, dass ihr Kind durch eine dubiose Behandlung zu Tode kam? Wie Hundt ihr diesen (räuspert sich), diesen tragischen (hustet), diesen tragischen Un… (längerer Hustenanfall), Unfall erklärte, weiss ich natürlich nicht. Ich bezweifle, dass er ihr reinen Wein einschenkte. Wissen Sie was? Hundt hat Angst vor dieser Frau. Mäntelchen erfuhr es von Hundts Vorzimmerdame. Er hält sie für unberechenbar. Weil sie so hysterisch reagierte. Er befürchtet, sie könnte sich nach ihrer Entlassung an ihm rächen. Was gucken Sie so verdutzt? Ach so: weil ich Entlassung sagte? Nun, nicht aus dem Gefängnis. Aus der psychiatrischen Klinik. Es heisst, sie habe nach dem Tod ihres Kindes hospitalisiert werden müssen. Nicht bei uns, natürlich. Auf dem Schlossberg, nehme ich an. Selbstverständlich wurde der Bezirksanwalt eingeschaltet. Er ordnete eine gerichtsmedizinische Untersuchung an. Der Fall ist noch hängig. Vermutlich wird Hundt mit einem blauen Auge davon kommen: ärztlicher Kunstfehler, bedingte Strafe wegen fahrlässiger Tötung, wenn’s 55
hoch kommt. Übrigens: Nichts davon ist vertraulich, es stand alles in der Zeitung. Gut, ein kleines bisschen mehr als das, was in der Zeitung stand, weiss ich vielleicht schon. Falls es Sie interessiert. Zum Beispiel, dass Hundt die fatale Behandlung in einem besonderen Therapiezimmer durchführte, einem Gruppenraum mit Sesseln, Matratzen und Kissen drin, auf denen man sich früher, als Gruppentherapie noch in Mode war, fläzte. Also, ähm, wenn Sie das Therapiezimmer sehen möchten, kann ich es Ihnen nachher zeigen. Wollen Sie? In Ordnung. Nachher, ja? Dumm war bloss, dass dieser Gruppenraum eigentlich zu meinem Klinikflügel gehört. Genaugenommen liegt er im Mitteltrakt, gehört aber zum Nordflügel. Es gibt noch einen zweiten solchen Raum, der liegt einen Stock höher und gehört zum Südflügel. Der Todesfall passierte also gewissermassen auf meinem Territorium. Der Bezirksanwalt hatte aber rasch kapiert, dass das nichts zu bedeuten hatte. Es war Frau Katz, die damit begonnen hatte, das Zimmer – mein Therapiezimmer – für Rotkäppchens Behandlung zu benützen. Vermutlich aus Bequemlichkeit, denn das Patientenzimmer ihres Schützlings lag auf derselben Etage. Sie hatte Knieprobleme und wollte das Treppensteigen vermeiden. Hundt setzte die Behandlung dann in demselben Zimmer fort, ohne daran zu denken, dass er sich damit in meinem Bereich aufhielt. Für mich wäre das überhaupt kein Problem gewesen, aber für Hundt war es eines, als er im Nachhinein realisierte, dass er sich auf fremdem Hoheitsgebiet aufgehalten hatte. Ich glaube, das war für ihn schlimmer als der Todesfall selber. Er achtet nämlich strikt auf die Trennung aller Räumlichkeiten und Aktivitäten in der Klinik. Peinlich, aber wahr: Hundt liess die Türen aller seiner Abteilungen zum Mit56
teltrakt mit Schnappschlössern versehen. So, dass man zwar hinaus, aber ohne Schlüssel nicht hinein kann. Stellen Sie sich das vor! Bloss, damit niemand unbemerkt sein Reich betritt. Ein ziemlich ungewöhnliches Regime eines Co-Chefarztes, finden Sie nicht? Der Wechsel vom Nord- in den Südflügel ist jetzt nur noch im Erdgeschoss möglich, unter den Argusaugen der Empfangsdame. Einer Vertrauten, die er dort platziert hat. Wenn er sein Bauvorhaben, von dem ich Ihnen erzählte, durchsetzt, dann muss jeder, der vom einen in den andern Flügel will, in Zukunft das Klinikgebäude verlassen und es auf der andern Gebäudeseite wieder betreten. Alles nur, weil Hundt sich aufgrund meines bescheidenen wissenschaftlichen Erfolgs benachteiligt fühlt. Aber das interessiert Sie vermutlich gar nicht … Doch? Ich verstehe: Ihr Artikel über die Liebeskrankheit soll bestimmt in einen kleinen Bericht über den Seeblick eingebettet werden. Mir soll’s recht sein. Aber bitte, hauen Sie mir den Doktor Hundt nicht gleich in die Pfanne. Ich muss noch eine Weile mit ihm kutschieren, verstehen Sie? Es wird nachgeschenkt. Rotkäppchen hätte eigentlich im Nordflügel liegen sollen. Schluckgeräusche. Der erste Kontakt hatte ja in meiner Sendung stattgefunden, ich hatte also ein Anrecht auf diesen Fall. Aber es kam anders. Die Katz, Pardon: Frau Doktor Katz hatte als erste von seinem Eintritt Wind bekommen und schnappte sich das Kind. Über ihre Motive kann ich nur mutmassen. Vielleicht hatte sie einfach eine Schwäche für schöne junge Menschen. Erneut wird nachgeschenkt. 57
Nun, diese Schw… (Schluckauf), diese Schwäche könnte man ihr nicht einmal ankreiden. Wer hat die nicht? Das Schöne zieht uns nun einmal stärker an als das Hässliche. Sie nahm das liebeskranke Geschöpf unter ihre Fittiche und liess, solange es ging, keinen andern Therapeuten an den Fall heran. Ich sprach trotzdem einige Male mit ihrem Schützling, wenn ich ihm irgendwo begegnete. Er kannte mich ja. Ich konnte mir also ein Bild vom Schweregrad seiner Krankheit machen. Mehr als einmal machte ich Frau Katz darauf aufmerksam, dass Benzofluoxan das Mittel der Wahl wäre, aber sie lehnte stur ab. »Da machen Sie einen Fehler, Frau Katz«, sagte ich. »Halten Sie sich da raus, Herr List«, erwiderte sie stets, »das Kind kriegt kein Benzofluoxan!« Das Medikament war noch nicht zugelassen, aber ich hatte die Bewilligung für klinische Versuche. Ich hatte schon mehrere Dutzend liebeskranke Patienten mit der neuen Substanz behandelt. Mit eindrücklichem Ergebnis: hervorragende Wirkung, gute Verträglichkeit, keine nennenswerten Nebenwirkungen. Bis heute sind kaum Kontraindikationen bekannt. Eigentlich gibt’s nur eine einzige: Asthma. Ein Asth… (hustet), ein Asthmatiker darf das Medikament nicht nehmen. Sessel quietscht. Ich sage Ihnen: Luvexx wird ein durchschlagender Erfolg. Die Aktien von Cox, Rich & Nightingale werden raketenhaft ansteigen. (Raunend:) Wer klug ist, investiert jetzt in CR&N. (Kichernd:) Ich hoffe, Sie wissen diesen Tipp zu schätzen. Sessel quietscht. Mir fehlten damals noch ein Dutzend Fälle, um meine klinischen Versuche mit signifikantem Ergebnis abzuschliessen. Vor allem jüngere Probanden brauchte ich dringend. Rotkäppchen hätte perfekt in meine Studie ge58
passt. Nur, die Katz war diesbezüglich ziemlich abweisend. Und der Hundt, als sie weg war, erst recht, versteht sich. Aber lassen wir das. Wie gesagt, bei der Liebeskrankheit geht es um viel Geld. Um sehr viel, jedenfalls für Cox, Rich & Nightingale. Ich habe andere Prioritäten. Wissenschaftliche, nicht pekuniäre. Das Geld, das Cox, Rich & Nightingale in die LIPS-Forschung steckt, fliesst ja nicht in meine Tasche. Nun ja, ich bin ihr Chief Medical Consultant in Sachen LIPS, das bessert mein bescheidenes Chefarztsalär etwas auf. Und die Firma trägt meine Auslagen für Kongresse und Reisen – man muss sich ja weiterbilden und man muss auch mal ausspannen – und sie sponsert meine Sendung Liebeskrank, aber damit hat sich’s. Die Summen, die in der Presse genannt werden, sind jedenfalls stark übertrieben. Mir ist es wichtiger, dass mir die Firma mit den LIPS-Kongressen eine wissenschaftliche Plattform bietet. Apropos Wissenschaft: Cox, Rich & Nightingale forscht auch auf dem Gebiet des Anti-aging. Sehr zukunftsträchtig. Und ein Segen für die Menschheit. Doch, doch, glauben Sie mir. Seufzt. Sie glauben mir nicht. Natürlich nicht, wie sollten Sie? Der Gesunde interessiert sich in aller Regel nicht für Krankheiten. Erst wenn er krank wird, beginnen sie ihn zu interessieren. Genau so ist es mit dem Altern: Den Jungen macht es wenig Eindruck, wenn sie hören, dass das Alter eine Geissel ist. Eine echte Behinderung. Im zwischenmenschlichen Kontakt, meine ich. Ich rede jetzt nicht von Alterskrankheiten, nicht vom Alt- und Kranksein. Ich rede vom Alt- und Gesundsein, dasist die Geissel, die ich meine. Verstehen Sie nicht? 59
Stellen Sie sich einmal Folgendes vor: Sie sind jung und schön – es dürfte Ihnen nicht schwerfallen, sich das vorzustellen – und betrachten einen anderen attraktiven, jungen Menschen. Sie sehen ihn, er sieht Sie. Sie betrachten ihn im Bewusstsein, dass er Sie sieht, wie Sie sind: anziehend und voller Lebenskraft. Sie ahnen, dass Sie ihm gefallen. Feine Signale gehen hin und her. Alles ist möglich. Jetzt merken Sie plötzlich, dass Sie eine Maske auf dem Gesicht tragen. Die Fratze eines hässlichen alten Menschen klebt auf Ihrer Haut. Sie haben die Augen, das Herz und die Wünsche des jungen Menschen, der Sie in Wirklichkeit sind. Nur merkt der andere nichts davon. Eben noch wähnten Sie, Sie zögen seinen Blick kraft Ihrer Ausstrahlung an. Jetzt merken Sie, dass er Sie, mit den Augen des Unversehrten, bloss wie einen Aussätzigen anstarrt. Nichts ist mehr möglich. Weil Sie die verdammte Maske nicht mehr von Ihrem Gesicht kriegen. Ein Albtraum, nicht wahr? Ja, für Sie vielleicht. Für unsereinen ist es grausame Realität. Immer, wenn man einem jungen, schönen Menschen gegenübersitzt. (Räuspern.) Kurzes Schweigen. Man sei so alt, wie man sich fühle, heisst es. Glauben Sie den Quatsch nicht. Man fühlt sich jung, sieht aber alt aus, das ist die bittere Wahrheit. Man fühlt sich jung, hat aber nichts davon. Im Gegenteil, es ist eine Qual. Flasche stösst an Gläser. Ups, leer? Flasche wird abgestellt. Wie gesagt: Im Anti-aging liegt die Zukunft. Ich jedenfalls würde alles dafür geben, wenn ich meine Maske loswürde. Dieses zerknitterte Gesicht, diese hängenden Backen, diesen wabbligen Hals. Kommen Sie mir jetzt nicht 60
mit Schönheitschirurgie, das wäre bloss ein Tropfen auf den heissen Stein. Überhaupt: trauen Sie keinem Chirurgen. Nein, da ist nichts zu machen. Aber Cox, Rich & Nightingale wird auch auf diesem Gebiet einen Durchbruch schaffen. Nur, mir wird’s nichts mehr nützen. Sie werden dereinst davon profitieren. Oder Ihre Kinder. Ach so, nein. Sie sagten ja, Sie haben keine. Pause. Ich nannte Sie ein offenes Buch. Aber im Augenblick sind Sie mir eher ein Rätsel. So wie Sie mich anschauen. Sie sind eine …, eine Sphinx sind Sie. Nun, wenn Sie nichts sagen, erzähle ich Ihnen von früher. Soll ich? Dann mache ich meine Drohung wahr. Es ist schliesslich das Privileg der Alten, dass sie die Jungen mit Geschichten von früher langweilen dürfen. Also, da wir von Masken sprachen: Einmal schleppte mich ein Freund auf einen Maskenball. Kein derber Faschingsball, Fasching war nie mein Ding, sondern ein gepflegter Anlass in der sogenannt guten Gesellschaft, zu der meine Familie allerdings nie gehört hatte. Alle waren kostümiert und maskiert: als Harlekin, Burgfräulein oder Pirat. Sie kennen das sicher. Ich fand es faszinierend, mich im Schutz einer Maske unter mir unbekannten Menschen zu bewegen. Es gab mir ein sonderbares Gefühl von Sicherheit und Macht. Die Macht desjenigen, der aus dem Verborgenen heraus handelt. Dabei hatte ich mich nicht einmal vollständig maskiert. Ich hatte mich als Komtur verkleidet, das passte zu meiner schon damals stattlichen Gestalt, trug aber bloss eine dieser Masken, mit denen man die Augenpartie halbwegs bedeckt. Das genügte, dass ich Dinge tat oder sagte, die ich mir sonst nie erlaubt hätte. Nichts Schlimmes, nur ein bisschen gewagter als sonst. 61
Da trat eine junge Frau auf mich zu, die noch viel mehr wagte. Sie war überhaupt nicht maskiert. Sie hatte sich lediglich in Rokokomanier gekleidet, geschminkt und gepudert und trug eine weisse Perücke. So eine Mozartperücke, wissen Sie. Aber, und das war ihre Maske, sie stellte sich stumm. Sie sprach den ganzen Abend kein Wort. Auch nicht, als sie anfing, mit mir zu tändeln; auch nicht, als sie mit mir tanzte. Ich versuchte erst gar nicht, sie zum Reden zu bringen. Ich wolltedas Geheimnis überhaupt nicht lüften. Jedenfalls nicht, solange ich mit ihr zusammen war. Stumm nahm sie mich nach dem Tanz am Arm und führte mich auf die Terrasse hinaus. Es war klirrend kalt. Draussen zog sie mich schweigend an sich. Wir küssten uns. Dann ging sie. Ohne Abschiedswort. Sie schenkte mir nur einen verheissungsvollen Blick. Ich war wie verzaubert. Natürlich wollte ich die Geheimnisvolle wiedersehen. Ich begehrte sie, ich bildete mir ein, sie müsse die wundervollste, liebenswerteste und geistreichste Person sein. Ich sah sie nie wieder. Aber noch heute erinnere ich mich an diesen Blick. So etwas vergisst man nicht. Flaschen und Gläser werden weggeräumt. Das Ro-Rokokowesen spukte lange Zeit in meinem Kopf herum. Liebeskrank war ich nicht, nur ziemlich verwirrt. Erst recht, als mir einer einflüsterte, ich hätte mich an jenem Abend von einem hübschen, als Fräulein verkleideten staubdummen, was sage ich: taubstummen Jüngling bezirzen lassen. Ich wusste nicht mehr, wo mir der Kopf stand und wo mir das Herz sass. Längeres Schweigen. Feuerzeug klickt, Rauch wird ausgeblasen. Nein, so etwas vergisst man nicht. Schweigen. Ähm, habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie unwider62
stehliche …, ich meine, dass Sie ausgesprochen ausdrucksvolle Augen haben? Ich versuche mir eben vorzustellen, wie Sie mit einer Rokokokorücke …, äh, -perücke aussähen. Haben Sie je eine aufgesetzt? Oh! Sie haben Recht, es ist spät geworden. Sessel quietscht. Mein Gott, ich habe die Zeit ganz vergessen. Entschuldigen Sie, dass ich Sie über Gebühr aufgehalten habe. Und dass ich Ihnen nichts zum Knabbern angeboten habe. Ich war wieder einmal sehr unhöflich. Nächste Woche werde ich das ausbügeln.
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6 Endlich! Jetzt war ich aber echt in Sorge um Sie. Ich warte seit einer geschlagenen Stunde. Ist etwas passiert? Nein? Gottlob. Türe fällt ins Schloss. Glas wird gefüllt. Bitte sehr: Ihr Sekt. Glas wird abgestellt. Greifen Sie zu, ich hoffe, Sie mögen Mandeln. Verzeihen Sie, ich habe bereits mit unserem Feierabendritual begonnen. Musste mir die Wartezeit etwas verkürzen. Wie? Wieso nicht? Ist doch eine schöne Tradition: Freitagabend, ein Gläschen Sekt. Wirklich nicht? Schade. Dann muss ich allein trinken? Sekt darf man nicht stehen lassen. Sessel quietscht. Entspanntes Ausatmen. Oh, Verzeihung: Sie nehmen Tee, nicht wahr? Sessel quietscht. Wasser läuft. Dauert nicht lange. Darf ich in der Zwischenzeit Musik abspielen? Zur Einstimmung, bis der Tee fertig ist? Die CD ist nämlich noch eingelegt. Opernmusik wird sachte eingeblendet. Es geht weiter, wo wir letztes Mal aufhörten. Lautstärke schwillt an. Ist das nicht meisterhaft? Maestro Giuseppe Verdi wusste alles über die Liebe. Und über die Liebeskrankheit 64
offensichtlich auch. Hier, hören Sie sich das an: Violetta und Germont. Duett aus La Traviata. (Flüsternd:) Ich bin mir gar nicht schlüssig, ob Liebeskranke von dieser Musik gesund oder noch kränker werden. Was glauben Sie? Gesang: Non amarlo ditegli. Das schmerzt, finden Sie nicht? Weicht einen auf. Das Duett geht zu Ende. Nicht nur unter die Haut geht das. Nein, direkt ins Herz. Gesang. Baritonstimme: Di Provenza il mar, il suol. Hören Sie das? Das ist etwas vom Allerschönsten! (M it leiser Stimme:) Ich habe mich schon oft gefragt, was Musik eigentlich mit dem Menschen macht. Ich bin überzeugt, sie wirkt direkt aufs Gehirn. Direkt auf die Nervenbotenstoffe und Hirnströme. Und aufs Vegetativum. Händel zum Beispiel hat eine ordnende Wirkung. Bach klärt Kopf und Geist und gibt Kraft. Mozart weitet das Herz. Schubert schürt latente Trauer und bahnt den Tränen den Weg. Die Romantiker wecken Sehnsucht und Fernweh, die Spätromantiker bringen den Menschen in Wallung. Die spürt man nicht nur in der Brust, sondern auch im Bauch. Oder eine Etage tiefer. Da gibt es bestimmt eine direkte hormonelle Wirkung. Rachmaninow macht einen halb verrückt. Den würde ich in Ihrer Gegenwart nie auflegen, das wäre gefährlich. Schlager, das ist ja klar, wecken seichte Gefühle und machen dumm. Die Musik, die die Jungen hören, Heavy Metal oder wie das heisst, macht nur eins: aggressiv. Bei der Traviata bin ich mir nicht sicher, aber ich habe eine Hypothese: Sie hält die Gesunden gesund und macht die Kranken kränker. Die Liebeskranken, meine ich. 65
Eine kurze Weile nur M usik. (Flüsternd:) Besuchen Sie die Oper? Heisst das nein? Oder nicht oft? Es wäre mir ein Vergnügen, Sie einmal einzuladen. Hätten Sie Lust? Wasserkocher pfeift. Oh! Rumoren. Hier, bitte, Darjeeling. Ich hoffe, er schmeckt Ihnen. M usik wird leiser. Also. Mit Ätiologie, Symptomatik und Therapie des LIPS waren wir durch, oder? Eben. Oh, da fällt mir etwas ein: Da liegt das neue Wochenmagazin. Hier. Frau Mantel hat es mir aufs Pult gelegt. Ich habe es noch nicht gelesen, aber Frau Mantel sagt, es werde eine Fortsetzung der Interviews mit Liebenden angekündigt. Erinnern Sie sich? Die von Rotzkapp oder wie er heisst. Sie wissen schon. Dieses Mal soll es aber eine Expertenbefragung werden. Da darf man gespannt sein – eine Befragung von Experten der Liebe! Telefon klingelt. Entschuldigen Sie. Sie werden sehen, es ist Hundt. Nur er ruft in letzter Zeit ständig nach Feierabend an. List. – Ja? Oh, sind Sie noch im Haus, Herr Kollege? – Ich? Allerdings. – Nein, nein, keine Ursache. – Wie bitte? – Mhm. Stimmt. – Hätte das nicht bis Montag Zeit? – Nun, wie Sie meinen. – Erstens, weil es mein gutes Recht ist. Zweitens, weil Cox, Rich & Nightingale die Kosten übernimmt. Und drittens, weil Elle et Lui eine Reportage bringen wird. – Elle et Lui. Die Illustrierte. – (Betont geduldig:) Nein, Herr Hundt, der Klinik bringt es etwas ein, nicht mir. Ein Symposium dieses Kalibers sorgt für Publizität, dafür sollten Sie mir eigentlich dankbar sein. – Nein, meinem Vertrag mit der Klinik widerspricht das nicht, das 66
haben meine Anwälte genaustens geprüft. – Wie bitte? Ich finde, Sie sollten Ihre Wortwahl sorgfältiger treffen. – Doch, Herr Hundt, wenn Sie mediengeil sagen, dann ist das … – So, finden Sie? – Und ich finde – (Halblaut:) Selber Narzisst! Das gibt’s doch nicht. Erst beschimpft er mich, dann knallt er mir den Hörer auf die Gabel. Reizend! Schluckgeräusch. Kennen Sie eigentlich den Hundt? Nein? Oder heisst das ja? Er kann ziemlich giftig werden. Ein Ossi, wissen Sie. DDR. Und beissen kann er wie ein Appenzeller. (Schlürft Sekt.) Sennenhundt, Appenzeller Sennenhund, meine ich. Nicht eben angenehme Stimme. Bellend, wenn er laut wird. Sonst eher quengelnd. Mit andern Worten: Kein Charmeur. Nicht ganz der Typ, mit dem Sie gerne einen Abend verbringen würden. (Lachend:) Vermute ich jedenfalls. – Nun, Frau Katz muss Qualitäten in ihm gesehen haben, sonst hätte sie ihn kaum protegiert. Klar, als Gutachter ist er eine Kapazität, das muss man ihm lassen. Nur qualifiziert das einen nicht unbedingt zum Chefarzt. Der Typ des Psychotherapeuten ist er jedenfalls nicht, dazu fehlt ihm die menschliche Wärme. Und die Ausbildung. Das einzige, wovon er etwas versteht, ist Atemtherapie, autogenes Training und Hypnose. Schmalspurpsychotherapie, wenn Sie mich fragen. Was die soziale Kompetenz betrifft, darüber schweigt des Sängers Höflichkeit. Publiziert hat er fast ausschliesslich forensische Arbeiten. Aber wissen Sie was? Dafür wird er nächstes Jahr mit einer Professur belohnt. Zwar bloss ehrenhalber, aber wer fragt schon danach, wenn er den Titel einmal trägt? Als Privatdozent hat er seine Jahre abgesessen, jetzt wird er Professor für das Gebiet der forensischen Psychiatrie. Herr Professor Doktor med. Rainer Hundt! Na, jetzt sagen 67
Sie mir: Wer hätte Grund, sich benachteiligt zu fühlen? Ich sag’s ganz ehrlich: Ich wäre auch gern ein Herr Professor. Man kann es Geltungssucht nennen, ich weiss. Was soll’s, so bin ich nun mal, ich steh dazu. Verdient hätte ich den Professorentitel allemal. Aber es wird nichts daraus. Nun, wenigstens nimmt man meine Forschung in der Pharmaindustrie zur Kenntnis. Cox, Rich & Nightingale hält treu zu mir. Am Wochenende treffe ich meine Sponsoren in Luzern. Im Schweizerhof, sehr angenehmes Haus. Wir besprechen das bevorstehende Symposium und meine nächste Fernsehsendung. – Wo waren wir eigentlich? Ach so: Hundt. Hundt genoss die Protektion von Frau Katz, ihr hat er seine Karriere zu verdanken. Sie musste es allerdings schwer büssen, ihn angestellt zu haben. Schluckgeräusche. Man munkelt … Feuerzeug klickt. Rauch wird ausgeblasen. … es habe jemand ein bisschen nachgeholfen, als sie damals in Haifa verhaftet wurde. Sie erinnern sich: die Sterbehilfegeschichte. Dass Hundt als Chefarzt und Teilzeit-Forensiker Beziehungen zu Gerichtspsychiatern in aller Welt pflegt, ist allgemein bekannt. Nicht auszuschliessen, dass ein Kollege in Israel einen Wink erhalten und an die Polizei weitergeleitet hat. Welches Interesse dieser jemand daran gehabt haben könnte, dass die Katz in Israel ins Gefängnis gesteckt wurde, darüber kann man bloss Vermutungen anstellen. Als sie aus der Untersuchungshaft entlassen wurde und nach Hause zurückkehrte, fing das Elend für sie erst richtig an: Ihr Vater war tot, sie hatte ihn ja selber … erlöst. Rotkäppchen, ihr besonderer Schützling, war tot, und sie musste die Verantwortung – nicht die juristische, aber die moralische – für den angeblichen Kunstfehler ihres Stellvertreters überneh68
men. Vor allem der Familie des jungen Opfers gegenüber. (Räuspert sich.) Also, wenn Sie mich fragen, so ist Kunstfehler nicht das richtige Wort. Für mich steht fest: Der Patient wurde um… (hustet), umgebracht. Vielleicht nicht mit Vorsatz. Vielleicht im Affekt, das will ich nicht ausschliessen. Aber umgebracht. Erdrückt. Jetzt machen Sie grosse Augen, was? Aber so war es, glauben Sie mir. Ich habe die Leiche mit eigenen Augen gesehen. Ich bin kein Gerichtsmediziner, aber ich weiss, wie das Gesicht eines (hustet wieder), verdammt noch mal, eines Erdrückten aussieht. Ich war zwar erst fünf Jahre alt, als wir bombardiert wurden. Aber das vergisst man nicht, wie ein Verschütteter, ein von Trümmern Erdrückter, aussieht. Der Anblick ist … Mein Gott, wie blass Sie sind! Schockiere ich Sie? Dann lassen wir es. Soll ich Ihnen noch eine Tasse Tee aufgiessen? Ach, Sie haben noch … Dann nehmen Sie noch ein Extrastück Zucker, das wird Ihre Lebensgeister wecken. Hier. Tee wird umgerührt. Also, wo waren wir? Die arme Frau Katz geriet wegen ihrer Inhaftierung in Israel ins Zwielicht, sie wurde vom Aufsichtsrat wegen der schlechten Presse des Seeblicks in die Mangel genommen, und sie musste, um das Mass voll zu machen, Hundt post mortem ihren Posten überlassen. Sie kann einem wirklich leid tun. Schweigen. Hundt weniger, der macht einem Angst. Doch. (Vertraulich:) Manchmal fürchte ich, er könnte einmal richtig ausrasten. Total die Kontrolle verlieren, wissen Sie. Nicht bloss im Sinn der Redensart, nein, richtig. Mord und Totschlag. 69
Doch, wirklich. Ich neige nicht zur Ängstlichkeit, aber vor einem potentiellen Amokläufer nimmt man sich besser in Acht. Ich habe Ihnen von der Szene erzählt, die er mir hier vor der Tür machte. So etwas könnte eskalieren. Er trägt nämlich eine Mordswut in sich. Auf mich. Vielleicht auch auf andere. Als Psychiater weiss ich, wozu Menschen fähig sind, wenn sie sich – zu Recht oder zu Unrecht, das spielt keine Rolle – chronisch benachteiligt oder zu wenig respektiert fühlen. Ich verrate Ihnen da kein Geheimnis, jeder weiss es: Hundt ist fasziniert von Gewalt. Nichts macht er lieber als Analysen von Mordfällen und Gutachten über Mörder. Das beruhigt mich einigermassen, denn so sublimiert er seine eigene mörderische Energie. Aber wer weiss, wie lange dieses Ventil dem Druck Stand hält. Denken Sie, ich übertreibe? (Schluckt.) Ich hoffe, Sie haben Recht. Feuerzeug klickt. Rauch wird ausgeblasen. Trotzdem, ich treffe meine Massnahmen. Ich habe keine Lust, mich abmurksen zu lassen. Die Tür zum Korridor ist immer abgeschlossen. (Plötzlich beunruhigt:) Oder? Habe ich den Schlüssel gedreht, als Sie hereinkamen? Sessel quietscht. (Leiser, aus Distanz:) Na, so was. Kann passieren. Schlüssel wird gedreht. (Wieder näher:) Die Tür dort drüben, auch schalldicht übrigens, geht ins Vorzimmer, das wissen Sie ja. Meine Pufferzone. Ein Bodyguard ist mein Mäntelchen zwar nicht gerade. Aber ich bin überzeugt, dass es die Hemmschwelle eines Amokläufers erhöht, wenn er im Vorzimmer auf ein hübsches, unschuldiges Persönchen trifft. Und hier … Schublade wird aufgezogen. … immer in Griffnähe. Scharf geladen. Völlig idioten70
sicheres Modell. M usses sein, bin schliesslich kein Experte, war nie bei der Bundeswehr. Ach, Sie! Sie brauchen nicht zu erschrecken. Die ist natürlich gesichert. Im Notfall aber sofort bereit. Sehen Sie hier den Sicherungshebel? Ents… (Schluckauf), Entsichern, zielen und peng. Si vis pacem, para bellum. Sind Sie kein Lateiner? Wenn du Frieden willst, wappne dich für den Krieg. An mir soll’s nicht liegen. Ich bin ein friedfertiger Mensch. Ich bin gewappnet. Schweigen. Keine Sorge, Hundt ist bestimmt schon weg. Schublade wird zugeschoben. Tut mir leid: Eigentlich wollte ich Ihnen ja bloss Einblick in die Klinik geben. Jetzt haben wir unversehens ein paar unerfreuliche Dinge zu Tage gefördert. So ist es eben: Wo Rauch ist, ist auch Feuer. (Schluckauf.) Quatsch. Wo Licht ist, ist auch Schatten, wollte ich sagen. Längeres Schweigen. (Nachdenklich:) Eigentlich merkwürdig. Kurzes Schweigen. Ach so, Verzeihung, ich bin gedanklich abgeschweift. Zu dieser Expertenbefragung. Ich meine, es ist doch merkwürdig, dass sich dieser Rotzkatz nicht an mich wendet. Gut, er ist kein Wissenschaftsjournalist, bloss ein gewöhnlicher. Aber er befasst sich mit dem Thema Liebe. In der Ankündigung des Wochenmagazins heisst es, es würden Interviews mit Fachleuten gebracht, die sich von Berufs wegen mit dem Thema Liebe befassen: mit Eheberatern, Paartherapeuten, Pfarrern, Ärzten, Psychologen und so weiter. Auch eine Dame des Sexgewerbes soll zu Wort kommen. Und ein Partnervermittler und ein Philosoph. Originelle Idee! Nur seltsam, dass der Autor mich nicht 71
einbezieht. Müsste er eigentlich, wenn er schon eine Exbeberten…, Expertenbefragung macht. Finden Sie nicht? Na klar (lacht), Sie halten sich da raus! Längeres Schweigen. (Beiläufig:) Wissen Sie was? Kurzes Schweigen. Darf ich ganz offen reden? Ich habe mich schon mehr als einmal bei einem läppischen Gedanken ertappt. Bei einem Verdacht: dass Ihr Stimmverlust ein fauler Zauber sei. Eine Finte. Vielleicht tut die Person nur so, dachte ich. Vielleicht sitzt dir da gar kein Wischensafts…, Wissenschaftsjournalist gegenüber, vielleicht ist das ein Agent. Schweigen. Von Hundt, zum Beispiel. Oder vom Schlossberg. Werkspionage sozusagen. Oder von Pharmart. Die setzten ja alles daran, noch vor Cox, Rich & Nightingale ein LIPS-Medikament auf den Markt zu bringen. Vielleicht, dachte ich, ist das überhaupt kein Journalist, vielleicht ist das ein Polizist. Nur war mir nicht klar, in welcher Angelegenheit ein Polizist in meinem Sprechzimmer ermitteln sollte. Forschungsklau? Wissenschaftsbetrug? Kunstfehler? Sexueller Übergriff? Da hätte er sich wohl im Sprechzimmer geirrt, da müsste er sich vielleicht den Herrn Kollegen Hundt vorknöpfen. Oder geht es um Erpressung? Mord? Sagen Sie’s mir! Schweigen. Sie bringen mich noch um! (Räuspern.) Mit Ihrem Schweigen. Wirklich. (Plötzlich heiter:) Glauben Sie mir, solche und noch ganz andere Dinge habe ich mir gedacht. Vielleicht, habe ich mir gedacht, sitzt dir da jemand gegenüber, der dich irgendwie hereinlegen will. Verar… (kleiner Rülpser), Verzeihung, verarschen. 72
Schlürft. Jawohl, solche Fantasien hatte ich! Paranoid, nicht wahr? Stuss. Reiner Unsinn. Vollkommen lächerlich. Schweigen. Schlürfen. Rauch wird ausgeblasen. Ähm, ich habe mir auch schon gedacht, vielleicht führt dein Gesprächspartner – ich darf Sie doch trotz allem meinen Gesprächspartner nennen? Ach, kommen Sie! Vielleicht, dachte ich, führt dein Gesprächspartner etwas ganz anderes im Schild. Vielleicht will er dich um den Finger wickeln. Für etwas gewinnen. Ein bisschen, ähm, verführen. Schweigen. (Betont trocken:) Sie können jetzt natürlich sagen, das sei reine Protektion – Projektion, meine ich: ich sei der, der genau das beabsichtige. Pause. (Ebenso trocken:) Das wäre in der Tat gar nicht leicht zu widerlegen. Langes Schweigen. Gelegentliches Sektschlürfen. Das Mäntelchen hat mir neulich etwas erzählt: Es heisse, Doktor List sei ein eingefleischter Single. Wie würden Sie das auslegen? Na? Nicht gerade ermutigend, Ihr Schulterzucken. Kurzes Schweigen. Tja, sollen die Leute ruhig rätseln. Ihnen will ich’s gern verraten: Ich bin ungebunden. Wenn man von den heimlichen Ansprüchen von Frau Mantel einmal absieht. Sie malt sich allerhand aus, bloss weil ich nett zu ihr bin. Ach Gott, das Mäntelchen! Manchmal wird ihr Blick fast ein wenig saugend, wissen Sie. (Vertraulich:) Ich geb’s ja zu: 73
Das eine oder andere Mal habe ich schon ein Gläschen Sekt mit ihr getrunken, um sie bei Laune zu halten. So ein Tröpfchen lockert sie nämlich im Nu auf. Da wird sie fast ein bisschen frivol (kichert). Hat nichts zu bedeuten. Mir jedenfalls nicht. – Wo war ich überhaupt? Ach so: Ungebunden bin ich. Geschieden, um genau zu sein. Heirat als Jugendsünde, wissen Sie. Und Sie, sind Sie verheiratet? Nein? Oder nicht mehr? Geht mich ja nichts an. Dass ich übrigens ohne Anhang bin, wie man so schön sagt, habe ich dem Umstand zu verdanken, dass mir mein damals dreijähriger Sohn nach der Scheidung gezielt und konsequent entfremdet wurde. So etwas ist keine Kunst, glauben Sie mir. Das kann jeder. Würde ich auch fertig bringen, wenn ich wollte. Oh! Sie stossen sich wohl an meinem sarkastischen Ton? (Aufbrausend:) Was wissen Sie denn?! (Wieder ruhiger:) Den muss man sich aneignen, wenn man seelisch nicht draufgehen will. Um ehrlich zu sein, es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, wie der Knirps weinte und sich an mich klammerte, als wir zum letzten Mal zusammen waren. Als spürte er, dass er mich nie mehr sehen würde. Wer weiss, was man dem Kleinen alles über mich erzählt hatte, dass er später keinen Kontakt zu mir suchte. Heute ist mein Sohn längst erwachsen, und ich habe nicht die blasseste Ahnung, wie er aussieht. Schweigen. Ich hatte den Kerl, das Kerlchen lieb, und er mich auch. Dass man seinem Partner so etwas antun kann! Dabei waren wir immerhin verheiratet gewesen. Schweigen. Dann schon lieber Single, wie immer man es mir auslegt. 74
Kurzes Schweigen. Auch wenn ich das Alleinsein satt habe. Seufzt. Mehr als satt. Ich leide darunter. (Weinerlich:) Sie wissen gar nicht, was ich durchmache. Etwas längeres Schweigen. Ich sag Ihnen was: Es ist das Los der Grossen und Starken, dass alle Welt meint, sie brauchen niemanden. Aber auch starke Menschen haben Bedürfnisse, auch Grosse haben Gefühle. Und Dicke genauso, nicht anders als die Kleinen und Feinen. Sie alle sehnen sich danach, einen andern Menschen in die Arme zu nehmen. Etwas Nähe und Wärme zu spüren. Schweigen. Und zu geben! Ja, Nähe und Wärme zu geben. Im Hintergrund noch immer leise Opernmusik. Längeres Schweigen. M usik bricht abrupt ab. (Plötzlich gereizt:) Finden Sie das eigentlich lustig? Feuerzeug wird geknipst. Sie sitzen da und ziehen mir die Würmer aus der Nase. Doch. Sie nötigen mich zu reden. Ich ziehe mich sozusagen vor Ihnen aus, und Sie halten sich bedeckt. Rauch wird ausgeblasen. Ist doch so! Genau wie mein erster Analytiker – eine zierliche, aber knallharte Frau, nebenbei gesagt –: Sass schweigend da und … Was verdrehen Sie die Augen? (Gespielt beleidigt:) Sie wollen nichts von meiner Analyse hören? Dann eben nicht. Schweigen. (Bemüht, unbeschwert zu klingen:) Also, wenn Sie ein Geheimanalytiker wären, ein 007 der Ps-Psychotherapie 75
sozusagen, with a license to heal, oder ein Undercover S-Supervisor, dann hätten Sie Ihren Auftrag schon beinahe erfüllt: Ich beginne, Ihnen meine geheimsten Gedanken und Gefühle zu offenbaren. Obschon Sie bloss Journalist sind. Nun ja, Wissenschaftsjournalist. Rauch wird ausgeblasen. Sie sind wirklich ein Tausendsassa. Wie machen Sie das bloss? Ich sag’s Ihnen: Magie. Magie der Ausstrahlung. Magie der Augen. Was denn sonst? Man braucht Sie bloss anzusehen, dann mussman Sie einfach …, dann mussman einfach Vertrauen fassen. Schluckgeräusche. Ich mache mir nichts vor: Sie sind die Hauptfigur in diesem Stück. Nicht ich. Obschon ich es gewohnt bin, die erste Geige zu spielen. Und auch diesmal gern der Held wäre, das sage ich ganz offen. Im Augenblick weiss ich nicht einmal, was mein Part ist. Hanswicht vielleicht, Hanswurst, wollte ich sagen. Oder Bösewicht. Oder Nebenbuhler, ich weiss es wirklich nicht. Aber Siespielen die Hauptrolle, Siebestimmen die Handlung, Sieganz allein. Sie hätten die Sympathie des Publikums, wenn es eins gäbe. Nicht ich. Siesind der Star. Doch, doch. Es geht in unserem Stück um Sie. Nicht um mich. Das bildete ich mir anfangs bloss ein. Aber es geht um Sie. Das spüre ich ganz deutlich. Das wurde mir heute klar, ich weiss auch nicht, warum. (Schlürft Sekt.) Ich rede zu viel. Rauch wird ausgeblasen. (Betont sachlich:) Sagen Sie, hat Frau Mantel Sie schon einmal empfangen? Nein? Kennen Sie sie überhaupt? 76
Nein? Nie gesehen? M an hört, wie Tasten gedrückt werden. Vielleicht ist sie noch da. Darf ich Sie bekannt machen? Dann können Sie sie … Nein? Alles klar. Halten wir es wie bisher. Sie antwortet ohnehin nicht. Ist wohl schon weg. Hörer wird aufgelegt. Wissen Sie eigentlich, was ein Einwegspiegel ist? Schon gehört? Wir brauchen Einwegspiegel für die Ausbildung unserer Psychotherapeuten. Und zur Qualitässsi…, …tätssicherung von Gruppen- und Familientherapien. Der Therapieraum, den ich Ihnen letztes Mal hätte zeigen wollen, hat einen solchen Einwegspiegel. Wollen Sie ihn jetzt sehen? Keine Sorge, uns wird kein Hundt über den Weg laufen. Wir sehen uns den Raum durch den Einwegspiegel an. Das heisst aus dem Beobachtungsraum, und der befindet sich in meinem Trakt. Also, gehen wir, ich zeig’s Ihnen. Kommen Sie. Lassen Sie ruhig alles liegen! Dauert ja nicht lange.
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7 (Zerknirscht:) Sie kommen tatsächlich? Türe fällt ins Schloss. Ich habe offengestanden nicht erwartet, Sie noch einmal zu sehen. Aber bitte, setzen Sie sich. Ich mache Tee. Geschirrscheppern. Für das, was letzte Woche vorgefallen ist, muss ich mich in aller Form entschuldigen: Ich fürchte, ich konnte bei den letzten zwei Gesprächen die Contenance nicht ganz wahren. Nein, bitte, zucken Sie jetzt nicht mit den Schultern. War es so? Sehen Sie! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie peinlich mir das ist. Tut mir leid, aber von nun an wird es keinen Sekt mehr geben! Ich hätte es nämlich wissen müssen: Ich unterliege, selbst wenn ich nur ein bisschen was intus habe, dem imperativen Zwang zur Offenheit. Ich mussdann offen und ehrlich sagen, was ich denke und fühle. Ganz ungeschminkt. Ich kann gar nicht anders. Dazu kommt, dass ich die Trinkmenge rasch aus den Augen verliere. Ich achte einfach nicht mehr darauf. Schon in der Teutonia hatten sie gespottet, ein Glas Wein wirke bei mir wie das reinste Wahrheitsserum. Geschweige denn eine ganze Flasche. Ich sei, hatte es geheissen, wenn ich beschwipst sei, eine viel zu ehrliche Haut. Zu offen. Zu direkt. Fast schonungslos, mir selber und andern gegenüber. Immerhin muss ich mir nicht den Vorwurf machen, Sie 78
angeschwindelt zu haben. Ganz im Gegenteil: in vino veritas. Zum Glück war es bloss Sekt. In der Verbindung hatten sie nämlich gemerkt, dass meine Offenbarungswut mit dem Alkoholgehalt steigt. Bier ging gerade noch, aber beim Wein hörte der Spass auf. Das heisst, da fing er – für die andern – erst richtig an: Je mehr Alkoholprozente, desto ungeschminkter die Wahrheiten, die ich ungefragt verkündete. Je härter das Getränk, desto schonungsloser meine Kommentare. Und desto vollständiger meine Amnesie. Korn und Weinbrand mündeten jedes Mal in ein Fiasko. Nur wusste ich jeweils nichts mehr davon. Filmriss, wissen Sie. Wasserkocher pfeift. Geschirrscheppern. Tasse wird abgestellt. Hätten wir bei unseren letzten zwei Interviews etwas Hartes getrunken, so würde mir jetzt jede Erinnerung an das, was ich geplaudert hatte, fehlen. Aber ich kann mich nicht herausreden. Wir hatten bloss Sekt, und deshalb habe ich noch vage in Erinnerung, dass ich Dinge sagte, die ich besser für mich behalten hätte. Sie sind ja nicht hierher gekommen, um sich meine Lebensgeschichte anzuhören. Falls ich mich über die Kollegen Katz und Hundt ausgelassen haben sollte, bitte ich Sie, es zu vergessen. Es gehörte sich einfach nicht, Sie mit diesen Dingen zu behelligen. Sie sind schliesslich wegen LIPS hier. Oder etwa nicht? Tee wird umgerührt. Schweigen. Darf ich Sie etwas fragen? Überspielen Sie die Interviews jeweils auf Ihren PC? Nein? Sind unsere Gespräche alle auf Ihrem Gerätchen gespeichert? Ja? Ist alles hier drauf? 79
Wirklich? Dann möchte ich Ihnen einen Handel vorschlagen: Sie löschen die letzten beiden Gespräche und ich gebe Ihnen so viele Interviews, wie Sie wollen. Mir ist klar, dass Sie einen grösseren wissenschaftsjournalistischen Beitrag planen – bei dem Aufwand, den Sie treiben. Mich freut das natürlich. Ich biete Ihnen jede Unterstützung, die Sie brauchen, damit Ihre Arbeit ein Erfolg wird. Es wäre auch für mich eine Befriedigung, wenn Sie damit bei Ihrer Redaktion und bei der Leserschaft Erfolg hätten. Räuspern. Könnten Sie die zwei letzten Gespräche löschen? Ja? Würden Sie das tun? Jetzt gleich? Heissen Dank. Aber geben Sie Acht, dass Sie nicht das Falsche löschen. Klicken. Erledigt? Tabula rasa? Hörbares Aufatmen. Das ist sehr nobel von Ihnen. Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet. Ähm … (hüstelt), und bitte vergessen Sie die Demonstration, die ich Ihnen oben im Beobachtungsraum gab. Ich hatte Ihnen eigentlich nur den Ort des Dramas zeigen wollen, nicht die Festhaltetherapie an sich, die die Kollegen Hundt und Katz in jenem Raum praktiziert hatten. Pause. Entschuldigen kann ich diese Unverfrorenheit nicht. Höchstens erklären: Mit dem Sekt und mit meiner persönlichen Geschichte. Ein unverarbeitetes Erlebnis, wissen Sie, aber darauf möchte ich jetzt nicht zu sprechen kommen. Längeres Schweigen. Sessel quietscht. 80
Ich bin nämlich noch aus einem weiteren Grund niedergeschlagen. Haben Sie den neuen Faktor gelesen? Die Reportage über den Amsterdamer Kongress? Nein? Haarsträubend, sage ich Ihnen. Da steht, die Liebeskrankheit sei ein Schwindel, ein blosses Konstrukt, eine Erfindung der Pharmaindustrie. So was von bösartig! Ein Artikel voller Häme, typisch Faktor, so im Stil von: »Früher nannte man es noch Liebeskummer, jetzt soll es plötzlich eine Krankheit sein.« Billigster Boulevard. Fast, als würde einer daherkommen und schreiben: »Früher nannte man es Schüchternheit, jetzt soll es auf einmal Soziophobie heissen.« Zynisch, finden Sie nicht? Da macht sich einer über Kranke lustig. Was den Kollegen Hundt nicht davon abhielt, sich unbändig darüber zu freuen. Beim Wochenrapport lag der Faktor zuoberst auf seinem Aktenstoss. Er grinste nur, sagte aber ostentativ kein Wort. Es ist leider überhaupt nicht absehbar, welchen Schaden ein solcher Artikel anrichtet. Er kann ohne jedes Echo bleiben, dann habe ich Glück gehabt, oder er kann einen Dammbruch bewirken: Dann wird es weitere Verrisse geben, es wird Leserbriefe hageln von Kollegen, die der Diagnose Liebeskrankheit schon immer skeptisch gegenübergestanden haben wollen, und so fort. Ich muss mich auf das Schlimmste gefasst machen. Sessel quietscht. Es wäre eine Katastrophe. Auch für Cox, Rich & Nightingale. Die haben Jahre – und eine Menge Geld – in die Behandlung der Liebeskrankheit investiert. Längeres Schweigen. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn einem das, wofür man Jahre an Forschungsarbeit investierte, auf einmal genommen wird? Nein? Ich sag’s Ihnen: Wie plötzlicher Kindstod. 81
Wirklich. Ich kann nachfühlen, wie es ist, wenn einem ein Kind wegstirbt: Man ist verzweifelt, man fühlt sich leer, man fragt sich, ob man selber die Schuld trägt … Ich sehe, Sie sind auch schockiert. Mich rührt Ihre Betroffenheit. Wissen Sie, es ist nicht das erste Mal, dass die Existenz einer psychischen Krankheit bestritten wird. Vor Jahrzehnten erhob sich in der antipsychiatrischen Szene ein Geschrei: Es gebe keine Geisteskrankheiten, hiess es, die Diagnose Schizophrenie sei eine Erfindung der herrschenden Klasse. Sie diene einzig dem Zweck, unbotmässige Mitbürger mit Medikamenten gefügig zu machen oder in Anstalten zu versenken. In Italien ging man so weit, die psychiatrischen Kliniken einer ganzen Region zu schliessen. Die Kranken wurden, um die Forderung der Antipsychiater zu erfüllen, freigelassen – so hiess es damals: freigelassen. Mit dem Resultat, dass die bedauernswerten Kranken, unbehandelt wie sie waren, im Wahn durch die Strassen irrten, im Gefängnis landeten oder unter Brücken erfroren. (Energisch:) Das darf nicht noch einmal geschehen! Jetzt müssen wir handeln: Ihr Artikel muss ein Erfolg werden. Im Interesse der Kranken. Klaps auf die Tischplatte. Was brauchen Sie noch? Wenn Sie wollen, stelle ich Ihnen meine Statistiken zur Verfügung. Der wissenschaftliche Teil muss nämlich niet- und nagelfest sein. Vielleicht könnten Sie zur Veranschaulichung der Theorie den einen oder andern Fallbericht einbauen. Ich denke an etwas aus dem Leben Gegriffenes. Wie die Interviews im Wochenmagazin. Feuerzeug klickt. Die haben Sie inzwischen bestimmt gelesen, oder? Na klar, dachte ich mir. 82
Übrigens: Der Autor war eine Frau. Das habe ich kürzlich entdeckt, als ich die Website des Wochenmagazins überflog. Kleine Überraschung, was? War mir gar nicht bewusst gewesen. Sie heisst … (bläst Rauch aus), warten Sie: Ratz…, nein, Rotz…, ach was, ich geb’s auf. Ich blamiere mich bloss. Irgendein unaussprechlicher Doppelname. Mit Bindestrich. Drei-, nicht bloss zweisilbig! Kein Wunder, dass ich ihn mir nicht merken konnte. Aber ich will mich nicht herausreden, mein Namensgedächtnis ist eine Schande. Manche Leute verübeln mir das, wissen Sie. Es wurde mir schon als Arroganz ausgelegt. Als Desinteresse an der Person. Aber das ist an den Haaren herbeigezogen. Rauch wird lange ausgeblasen. Wie wollen wir vorgehen? Hmm. Wissen Sie was? Als Fallbeispiel könnten wir den Fall Rotkäppchen nehmen. Das tragische Ende würden wir weglassen. Am besten, ich erzähle Ihnen die Geschichte noch einmal von Anfang an. Damit Sie sie in ihren Zusammenhängen hören. Einverstanden? Kann ich losschiessen? Läuft Ihr Gerätchen? Sie wissen ja, ich gerate rasch in Fahrt. Bremsen Sie mich, pfeifen Sie mich zurück, wenn ich abdrifte. Gut, ich … Nein, noch etwas, bevor ich anfange: Sie wundern sich vielleicht, weshalb ich mich so genau an den Fall erinnere, wo es doch gar nicht mein eigener war. Nun, ich habe eben ein ausgeprägtes Gedächtnis für Patientendaten. Die Namen ausgenommen (lacht). Aber für Symptome, Behandlungsmassnahmen, Medikamentendosen und so weiter. Weil mir noch jugendliche Probanden für meine Studie fehlten, interessierte mich der Fall besonders. Frau Katz hatte die Akte Rotkäppchen allerdings in ihrem Büro unter Verschluss gehalten, statt sie im Ärztesekretariat abzulegen. Das war ihr gutes Recht, weil es sich um ihren 83
Privatpatienten handelte. Aber ich hätte mir doch etwas mehr Transparenz gewünscht. Ich musste mir alle Informationen häppchenweise zusammensuchen. Einmal konnte ich immerhin einen Blick in eine Kopie der Akte werfen. Darauf waren alle Namen abgedeckt. Für mein Empfinden trieb sie es mit der ärztlichen Verschwiegenheit auf die Spitze. Es war regelrechte Geheimniskrämerei. Sogar später, als der Todesfall in der Presse kam, gab es meines Wissens keinen einzigen Hinweis auf die Herkunft des Patienten. Die Familie sollte inkognito bleiben. Frau Katz wollte es so. Das hat nun allerdings den Vorteil, dass ich Ihnen bedenkenlos über den Fall erzählen darf. Ohne Gefahr zu laufen, versehentlich die Schweigepflicht zu verletzen. Weil ich die Identität des Patienten nämlich gar nicht kenne. Da kann ich sie logischerweise auch nicht preisgeben. Meine erste Begegnung mit Rotkäppchen unterstand ohnehin nicht der Schweigepflicht. Sie spielte sich ja in aller Öffentlichkeit ab: in Liebeskrank. Mir als Fernsehpsychiater sind jeweils nur die Vornamen der Ratsuchenden bekannt. Zu jenem Zeitpunkt war das junge Ding noch nicht sehr krank. Oder gar nicht. Im Gegenteil, das Früchtchen hatte einen ziemlich kecken Auftritt: halb blutjunge Geisha, halb jugendlicher Karatekämpfer, ein schwarzes Kopftuch umgebunden. Guckte mit Mandelaugen in die Kamera, wann immer sich die Gelegenheit bot. War öfter und länger im Bild als alle andern Ratsuchenden, das zeigte unsere Auswertung deutlich. Ich kann Ihnen sagen, die ganze Crew war hingerissen. Alle scharwenzelten vor und nach der Sendung um das attraktive Geschöpf herum – die andern Teilnehmer, die Assistenten, Kameraleute und Techniker, alle. Kurz: der Liebling des Abends. Könnte durchaus sein, dass sich das Kind gar 84
nicht aus Not gemeldet hatte, sondern bloss, weil es einmal im Fernsehen kommen wollte. Das gibt’s, wir kennen das. Ich kann auch nicht ausschliessen, dass der Regisseur eine solche Person nicht ihres Problems, sondern ihres Aussehens wegen für die Sendung auswählt. Mindestens einetelegene Figur mussdabei sein, wissen Sie, sonst schalten die Zuschauer ab. Und telegen war das junge Blut. Sein Problem war fast zu trivial für die Sendung: Hatte sich verliebt, hatte seit Wochen nichts von seinem Schatz gehört, bekam weder auf SMS noch auf E-Mails Antwort. Und war sich ziemlich sicher, dass sein Schwarm sich mit jemand anderem herumtrieb, aus Überdruss oder um seine Eifersucht zu schüren. Uns Profis war klar, dass der Auftritt dazu dienen sollte, dem Schatz Eindruck zu machen oder unverbrüchliche Liebe zu signalisieren. Das gehört zu den legitimen Motiven der Ratsuchenden einer solchen Sendung. Mal geht die Rechnung auf, mal wirkt der Auftritt kontraproduktiv. Wenn Sie die Sendung gesehen haben, dann wissen Sie vielleicht, dass jeder Ratsuchende, nachdem er seine Geschichte erzählt hat, die Frage stellt: »Herr Doktor, bin ich krank?« Das gehört zum Ritual, und jeder bekommt eine Antwort. Klipp und klar. Nun, Shea war nicht krank. Damals noch nicht. Habe ich Shea gesagt? Dürfte mir eigentlich nicht passieren. Tz, tz. Namen, die ich behalten sollte, vergesse ich, und solche, die ich vergessen sollte, behalte ich. Na ja, er ist auch kurz genug. Sie dürfen ihn natürlich nicht verwenden. Vergessen Sie ihn. Nehmen Sie irgendeinen, aber keinen amerikanischen, damit man keine Rückschlüsse ziehen kann. Ich glaube, es war eine Verwandte, die dafür gesorgt hatte, dass der Patient in den Seeblick kam. Die Mutter befand sich damals ja, wie ich schon sagte, im Ausland. Im 85
Nahen Osten, glaube ich. Wegen irgendwelchen geschäftlichen oder Familienangelegenheiten. Eigentlich schlimm, finden Sie nicht? Schon fast verantwortungslos: Lässt ihr Kind, das schon den Vater verloren hatte, allein. Ein doppeltes Trauma. Klar, dass das den Ausbruch der Liebeskrankheit begünstigte. Wäre der Vater nicht ums Leben gekommen und wäre die Mutter nicht einfach so verreist, wäre dieser Patient mit dem Ende seiner ersten Liebe bestimmt fertig geworden. So aber brach LIPS aus, und zwar mit aller Gewalt. Seufzt. Mütter wissen oft nicht, was sie anrichten. Seufzt erneut. Der Junge hing viel zu stark an ihr. Shea … Was ist? Ach so, Ihnen ist der Name nicht geläufig? S-h-e-a: Schee. Das ist ein Knabenname. Wie Sean, Shawn und so weiter. Die irische Form von John, wenn ich mich nicht irre. Man könnte meinen, es sei ein Mädchenname, wenn man ihn nicht kennt. Und genau daswar ein Teil des Problems: dass der Patient noch keine Identität als Mann hatte. Man nannte ihn Rotkäppchen – weiss Gott warum –, und tatsächlich war er einer dieser Epheben, die auf den ersten Blick aussehen wie ein schönes junges Mädchen. Solche Wesen üben auf manche Leute eine grosse Faszination aus. Wie stark Frau Katz sich von ihm faszinieren liess, kann ich nicht beurteilen. Sicher ist nur, dass sie sich ihm mit besonderer Aufmerksamkeit widmete. Vielleicht gehört es zu den Prinzipien der Festhaltetherapie, dass sich Therapeut und Patient duzen. Auf jeden Fall duzte Frau Katz den Jungen. Das wäre an sich bei einem Siebzehnjährigen nicht weiter schlimm, sofern er damit einverstanden ist. Dass sich Frau Katz von ihm duzen liess, 86
fand ich schon eher bedenklich. Auf alle Fälle hatten wir das in unserer Klinik nie so gehandhabt. Wir achten nämlich auf die therapeutische Distanz. Immerhin, sie soll es nicht zugelassen haben, dass er sie auch noch »Tante« nannte. Ich bitte Sie: die behandelnde Ärztin – »Tante«! Ich will nicht päpstlicher sein als der Papst: Es war ihr wohl darum gegangen, eine mütterlich-therapeutische Beziehung zu diesem jungen Patienten aufzubauen. Und das mit gutem Grund, denn die Beziehung des Jünglings zur realen Mutter muss ziemlich defizient gewesen sein. Sie stutzen. Das bedarf einer Erklärung, wie? Nun, da muss ich etwas ausholen. Ich hoffe bloss, dass ich Ihre Aufmerksamkeit damit nicht zu sehr strapaziere. Nein? Gut, umso besser. Denn irgendwie scheint mir der Verlauf dieses Falles exemplarisch für die Entwicklung von LIPS beim jugendlichen Patienten zu sein. Und dazu soll unser Fallbeispiel ja dienen. Die Sache ist die: Der Sportunfall, bei dem sein Vater ums Leben kam, das war ein Flugzeugabsturz gewesen. Segelflugzeug. Wenn Sie mich fragen, so riecht das ziemlich nach kaschiertem Suizid. Diese Dinge sind viel, viel häufiger, als man glaubt. Da gibt es eine enorme Dunkelziffer. Die Gründe für den Suizid sind mir nicht bekannt, aber es ist nicht auszuschliessen, dass die Beziehung der Eltern irgendwie belastet gewesen war. Wie dem auch sei, Jugendliche neigen ohnehin dazu, der Mutter die Schuld am Suizid des Vaters zuzuweisen. Heute weiss man, dass ein junger Mann, dessen Vater früh starb – besonders, wenn der Vater Selbstmord beging –, später im Leben zu Depressionen neigt. Dass er rascher als andere suizidal wird. Und dass er Gefahr läuft, an LIPS zu erkranken. Kurze Pause. Wieso schauen Sie mich jetzt so an? 87
Sie denken wohl an meinen Vater? Nicht? Aber Sie erinnern sich, wie er starb, oder? Dass er sich erschoss, als ich ein Jüngling war? Habe ich das nicht erzählt? Ich dachte, ich hätte es erzählt. In einem dieser peinlichen Sektgespräche, in denen ich rührselig wurde. Nein, reden wir nicht von jenen Gesprächen. Zum Glück haben Sie die gelöscht. (Unwirsch:) Er hat sich eben erschossen, und damit basta. Kurzes Schweigen. Weil er ein Ehrenmann war. Feuerzeug klickt. Rauch wird ausgeblasen. Den Grund erfuhr ich erst viel später. Nämlich den, dass meine Mutter einen Geliebten hatte. Den hatte sie all die Jahre, in denen Vater als verschollen galt. Im Versteckten, versteht sich. Dann wurde Vater aus der Gefangenschaft entlassen, kam nach Hause und fand Jahre später heraus, dass sie ihn die ganze Zeit betrogen hatte. Da setzte er sich an den Schreibtisch und schoss sich ins Herz. Hier. Genau da, sehen Sie? Zwischen diesen zwei Rippen schoss er sich in die Brust. Er wusste genau wo. Ein einziger Schuss. Sofort tot. Er richtete es so ein, dass man es für einen Unfall hätte halten können. Beim Waffenreinigen. Die Geschichte war für mich natürlich nicht besonders lustig. Ist aber verarbeitet, wissen Sie. In Hunderten von Analysestunden. Bei mir besteht keine Depressionsgefahr mehr. Nur diese Anfälligkeit für LIPS, die ist geblieben. Da bin ich gefährdet, das gebe ich zu. Kurzes Schweigen. Aber zurück zu unserem Fall. (Sehr nüchtern:) Da haben wir nämlich eine ganze Rei88
he von typischen Belastungsfaktoren beisammen: Wir haben es mit einem Jugendlichen zu tun, der als Einzelkind aufwächst. Er sieht ausgesprochen gut aus, hat aber noch keine genügend entwickelte männliche Identität. Sein Vater, erfolgreicher Architekt und Sportsmann, halb Weisser, halb Südsee-Insulaner, vermutlich ein irgendwie entwurzelter Mensch, kommt beim Absturz seines Segelflugzeugs ums Leben. Man kann nicht ausschliessen, dass er den Absturz in suizidaler Absicht selbst herbeigeführt hatte. Mit einem Schlag verliert der Junge sein wichtigstes männliches Vorbild. Er hängt – was bleibt ihm anderes übrig? – an seiner Mutter, vielleicht mehr, als ihm selber bewusst ist. Gleichzeitig gibt er ihr heimlich die Schuld oder Mitschuld am Tod des Vaters. Unser Jüngling weiss nicht recht, wo er steht. Er tritt in martialischer Pose auf und spielt gleichzeitig kokett mit seinem attraktiven Äussern. Ein narzisstischer Zug ist unverkennbar. Er verliebt sich in ein Mädchen, das sich nach einiger Zeit von ihm abwendet. Genau zu der Zeit verreist seine Mutter ins Ausland, weiss der Teufel, weshalb. Jetzt bricht alles zusammen: Er kann sich nicht eingestehen, dass seine Sehnsucht dem Vater gilt, noch weniger, dass er die Nähe zur Mutter sucht. Er projiziert alle Gefühle auf das Mädchen, das er nicht mehr hat. Er rutscht seelisch ab, wird suizidal. (Streng:) Haben Sie das? Ach, du meine Güte! Entschuldigen Sie, aber jetzt wähnte ich mich für einen Augenblick beim Diktat. (Amüsiert:) Das würde mir Frau Mantel nicht verzeihen, wenn ich ihr mit Ihnen untreu würde. Nein, was ich fragen wollte: Konnten Sie das soweit nachvollziehen? Gut. Eins müssen wir noch festhalten: Die einzige Bezugsperson, die der junge Patient in dieser belastenden Situation hat, ist eine Verwandte mütterlicherseits. Diese 89
sorgt dafür, dass er in unsere Klinik kommt. Zu seinem Glück (hustet), nein: Unglück, muss ich sagen. Längerer Hustenanfall. Moment, wir sind noch nicht fertig. Das war erst die Vorgeschichte. Jetzt muss ich Ihnen noch den klinischen Zustand, die Behandlung und den Verlauf beschreiben, damit Sie die vollständige Fallgeschichte haben. Was ist los? Sie meinen, es reicht für heute? Sessel quietscht. Sie sind bestimmt müde, Sie sehen erschöpft aus. Wir schliessen die Fallgeschichte das nächste Mal ab. Gute Nacht. Und – auf Wiedersehen, hoffe ich.
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8 Türe fällt heftig ins Schloss. (Ärgerlich:) Was war letzte Woche eigentlich los? Papier klatscht auf Tischplatte. Wo steckten Sie? Sessel quietscht. Ja, ja, jetzt zucken Sie natürlich wieder mit den Schultern! (In Harnisch:) Ach, kommen Sie mir nicht mit diesem Blick! Den kenne ich. Ich habe letzten Freitag auf Sie gewartet, das wussten Sie doch ganz genau. Ja, doch. (Schnaubt.) Sonst wäre ich früher in Pfingsturlaub gefahren, wie alle andern. Und wie Sie vermutlich auch! Aber nein, ich blieb hier. Ihretwegen. Sessel quietscht. Seiten werden umgeblättert. Hier, bitte sehr: Freitag, 28. Mai, 18 Uhr, Interview. Na, was sagen Sie jetzt? Feuerzeug klickt. Nun gut, passiert ist passiert. (Barsch:) Jetzt setzen Sie sich schon. Rauch wird ausgeblasen. Längere Pause. (Kleinlaut:) Verzeihung. Tut mir leid, dass ich Sie angeschnauzt habe. Das war ein Ausrutscher. Sie müssen verstehen, da bin ich empfindlich. Ich hasse es, wenn man mich versetzt. Doch, haben Sie. Na gut, vielleicht unabsichtlich. Will ich mal hoffen. 91
(Kurz angebunden:) Ich mache Tee. Wasser läuft. Geschirrscheppern. (In verändertem Tonfall:) Um Gottes Willen, jetzt machen Sie doch kein solches Gesicht. Ich meine, das darf unser Verhältnis doch nicht erschüttern, wenn einer von uns beiden seinem Ärger ein bisschen Luft macht! Gut, schliessen wir Frieden. Sessel quietscht. Hier. Ach, kommen Sie! Nur die Hand … Na, also. Es soll gelten. Sessel quietscht. Wissen Sie, Sie bedeuten mir viel …, ich meine, unsere Gespräche bedeuten mir viel. Sie gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Also, ähm, unsere Gespräche. Rauch wird ausgeblasen. Stellen Sie sich vor, ich habe sogar schon von ihnen geträumt. Wasserkocher pfeift. Verzeihung, bin gleich wieder da. Tee wird aufgegossen. Tasse wird abgestellt. Hier bitte. Earl Grey, ist das recht? Ich dachte, ein bisschen Abwechslung würde nicht schaden. Mmm, duftet verführerisch! Das ist das Bergamottextrakt, habe ich recht? (In vertraulichem Tonfall:) Ich habe mich nämlich ein bisschen über Teesorten informiert. Ich habe gelesen, dass die Bergamottfrucht dem Earl Grey Tea sein besonderes Aroma verleiht. Ihr wird ja eine ganz, ähm, anregende Wirkung zugeschrieben. Wissen Sie was? Ich glaube, ich nehme auch eine Tasse. Augenblick. Die gleichen Geräusche wie vorher. So. Tee wird umgerührt. 92
Darf man zum Wohl sagen? Das müssten Sie als Teetrinker doch wissen. Tasse wird abgestellt. So. Und jetzt an die Arbeit! Damit Sie Ihren Bericht endlich unter Dach und Fach bringen. Haben Sie schon eine erste Fassung? Nicht? (Nachdenklich:) Das macht mir aber etwas Sorgen. Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Man weiss ja, was es braucht, bis ein Artikel dieses Kalibers das Plazet der Redaktion hat. Wissen Sie was? Rumoren auf dem Schreibtisch. Hier, nehmen Sie. Das sind die Abstracts meiner wissenschaftlichen LIPS-Artikel. Und hier zwei, drei Vorträge. Die könnten Ihnen eine Hilfe sein, wenn Sie den theoretischen Teil Ihrer Arbeit verfassen. Die WochenmagazinInterviews haben Sie ja, die geben auch Material her. Dann können wir uns jetzt wieder der Fallgeschichte widmen, die Sie zur Illustration einbauen wollten. Also, zur Sache: Fall Rotkäppchen. Übrigens, wissen Sie was? Letzte Nacht fiel mir plötzlich ein, woher der Junge seinen Spitznamen hatte. Jetzt staunen Sie, was? Im Traum fiel es mir ein. Ich wusste auf einmal wieder, weshalb man ihm einen Märchennamen verpasst hatte, bei dem man unwillkürlich an ein Mädchen denkt. Als ich aufwachte, wusste ich es noch, aber ein paar Augenblicke später war es wieder weg. Zu dumm … Nun, spielt ja keine Rolle. Tee wird umgerührt. (Grüblerisch:) Und doch, jetzt lässt mir diese Frage keine Ruhe: Wieso nennt man einen Jungen, der sich ein schwarzes Kopftuch umbindet, Rotkäppchen? Es gibt eine ganz einfache Antwort, ich weiss es. 93
Schlürfendes Geräusch. Tasse wird hingestellt. Sie kennen das sicher: Eine Frage geht einem unaufhörlich durch den Kopf. Die Antwort liegt einem auf der Zunge, die Lösung liegt auf der Hand. Aber man sieht sie nicht. Man hat ein Brett vor dem Kopf. Genauso geht es mir: Ich habe ein Brett vor dem Kopf, ich sehe das Naheliegende nicht. Zu dumm. – Nun, wie gesagt, spielt keine Rolle. M ein Problem ist ein kleines: Was macht es schon für einen Unterschied, ob ich weiss, woher der Patient seinen Spitznamen hatte, oder ob ich es nicht weiss. In der Sprechstunde habe ich es dagegen mit dem Brett vor dem Kopf meiner Patienten zu tun, und da geht es meist um etwas Wichtiges. Um Ausblendung, um Verdrängung. Mal wird die Lösung ausgeblendet, mal das Problem. Es gibt Patienten, die hören das Gras wachsen, aber das Donnergrollen hören sie nicht. Sie sehen alles Mögliche, oder vermeinen es zu sehen, nur das Offensichtliche sehen sie nicht. Sehenden Auges stürzen sie in den Abgrund. Mit offenen Augen rennen sie ins Verderben. Apropos: Hundt stürmte kürzlich wutentbrannt in mein Büro. Hier herein. Letzte Woche. Lassen Sie mich überlegen: Ich glaube, es war an jenem Abend, an dem ich auf Sie wartete. Ja, letzten Freitagabend. Weil ich auf Siewartete, hatte ich nicht zugeschlossen. Hundt kam hereingeplatzt und veranstaltete einen Riesentumult. Ich glaubte, er werde handgreiflich. Für einen Augenblick fürchtete ich, jetzt sei es so weit – ich hatte schon die Hand an dieser Schublade, hier, mit der Pistole drin. Und wissen Sie, wieso er sich so aufregte? Bloss, weil ich seine Apartheidpolitik nicht eingehalten hatte. Ich hatte nämlich ein Dutzend LIPS-Patienten des Südflügels in meine Benzofluoxan-Studie einbezogen. War dringend nötig gewesen, sonst hätte ich die Studie nie rechtzeitig abschliessen können. Dieses Faktum 94
war bisher kein Problem gewesen, jetzt ist es ihm plötzlich ein Dorn im Auge. Dabei war zu jenem Zeitpunkt nicht er Chefarzt des Südflügels, sondern Frau Katz. Mit ihr hatte ich den Deal geschlossen, sie hatte die Patienten bestimmt, die ich mit Benzofluoxan behandeln konnte, nicht er. Er war damals bloss Oberarzt. Jetzt ist er auf einmal der Ansicht, ich hätte die Patientendaten nach dem Tod von Frau Katz nur mit seiner Einwilligung verwenden dürfen. So ein Stuss. Er versucht bloss, mich unter Druck zu setzen. Ich vermute, er will erreichen, dass ich ihn als Co-Autor meiner Studie aufführe. Weil er nämlich noch keine einzige klinische Studie publiziert hat. Bloss forensische. – Moment mal, wie bin ich jetzt auf den Hundt gekommen? Ach so: Ins Verderben rennen, ein Brett vor dem Kopf haben, Herkunft des Spitznamens Rotkäppchen – jetzt habe ich den Faden wieder. Also, ihren Schützling wollte Frau Katz nicht in die Studie einbezogen haben, das sagte ich Ihnen schon. Es gab ja eine unbegreifliche Geheimnistuerei um diesen Jüngling, Frau Katz liess ihn regelrecht abschirmen. Umso abwegiger schien es mir, dass sie ihn dann ihrem Oberarzt und nicht mir als Co-Chefarzt anvertraute, als sie nach Israel reiste. Das Bürschchen war nämlich in einem desolaten Zustand: anorektisch, mal völlig apathisch, dann wieder agitiert. Sein Blick war längst nicht mehr saugend, er war verzweifelt, wurde stumpf. Der Patient zeigte die charakteristischen Verhaltensstörungen des jugendlichen LIPS-Patienten. Einmal, als ich über die Abteilungen ging, war das Personal in heller Aufregung: Der Jüngling war unauffindbar, man rief nach ihm, man suchte ihn überall. Schliesslich fand man ihn – wissen Sie wo? – in der Bettzeugtruhe hinter seinem Bett. Er hatte sich in die Bettzeugtruhe hineingezwängt. 95
Dort hockte er, mit verweinten Augen, aber völlig verstockt. Ein Häufchen Elend mit schwarzem Kopftuch. Wie ein verschreckter Pirat. Nein, wie eine nasse Maus. Man musste ihn herausziehen. Frau Katz war damals noch nicht fort. Sie nahm die Maus in Empfang, und ab ging es zur Festhaltesitzung hinter dem Einwegspiegel. Vielleicht taten diese Sitzungen dem Bürschchen sogar gut – solange Frau Katz sie durchführte und nicht Herr Hundt. Ich las nämlich einmal einen Brief, den der Junge seiner Mutter geschrieben hatte. Das überrascht Sie offensichtlich … Es war so: Seine Mutter war zu jener Zeit auf Auslandreise gewesen. Irgendwo im Nahen Osten, ich weiss nicht genau wo, ich sah ja nur den Brief, nicht den Umschlag. Der Brief war spediert worden, wurde aber an den Absender zurückgeschickt, weil der Empfänger – eben die Mutter – inzwischen nicht mehr an jenem Ort war. »Liebe Mami«, schrieb er, »mir geht’s nicht besonders gut. Wann kommst du wieder? Ich vermisse dich. Aber mach dir keine Sorgen, Frau Doktor Katz schaut gut zu mir.« So hiess es in seinem Brief. Nein, stimmt nicht: »Miriam«, hiess es, nicht »Frau Doktor Katz«. »Miriam schaut gut zu mir.« Klingt irgendwie suspekt, finden Sie nicht? Zu vertraulich. Nicht ganz unproblematisch. »Es gibt noch einen andern Arzt, der mich behandelt«, schrieb er weiter, »aber den mag ich weniger.« Na, welchen Arzt wohl? Herr Hundt wird sich hüten, den Brief herauszugeben. Und weiter hiess es, ich sehe den Brief noch vor mir: »Wie geht es Opa? Muss er sterben? Sag ihm, er dürfe noch nicht.« Rührend, finden Sie nicht? »Sag ihm, er dürfe noch nicht«! »Ich möchte ihn noch einmal sehen. Ich wünsche ihm gute Besserung. Ich schicke ihm liebe Grüsse. Und dir auch. Küsschen, dein Shea.« »Küsschen«! 96
Sagen Sie selbst, grüsst ein siebzehnjähriger Bursche seine Mutter mit Küsschen? Ich weiss nicht. Immerhin, man kann dem Brief entnehmen, dass die Sitzungen mit Frau Katz ihm gut taten. Wenigstens rein subjektiv. Die mit Herrn Hundt allerdings weniger. Dann schrieb er noch: »PS Sandra ist ein Arsch.« Vermutlich die Freundin, die ihn sitzen liess. Für den Fachmann war dieses PS ein erstes Gesundungszeichen. Er hätte wirklich eine Chance gehabt, glauben Sie mir. Seufzt. Der Rest gehört nicht mehr in Ihren Fallbericht. Wir hätten also eine typische Vorgeschichte: Einzelkind, Suizid des Vaters, pathogene Mutter-Sohn-Beziehung. Wir hätten den aktuellen Auslöser in Form einer Liebesenttäuschung. Wir hätten weiter den klassischen Verlauf mit harmlosem Prodromalstadium – bei seinem Auftritt in meiner Sendung war er noch weitgehend gesund –, dann das Zusatztrauma, den Weggang der Mutter. Konsekutiv die drastische Verschlechterung, die zur Hospitalisation führte. Und wir hätten schliesslich die Behandlungsbedürftigkeit mit klarer Indikation sowohl für Psychotherapie als auch Psychopharmakotherapie. Beides, damit das klar ist. Dabei lassen wir es bewenden, alles Weitere hiesse, sich zu einem hängigen Gerichtsverfahren zu äussern. Auch wenn Sie den Fall natürlich anonymisieren. Wir können ja … Es klopft. Das gibt’s doch nicht! Ich wette, das ist Hundt. (Halblaut:) Ich habe doch abgeschlossen, oder? Es klopft erneut, lauter. Nein, das ist die andere Tür. Das muss Frau Mantel sein. Seltsam, geht das Telefon nicht? Sessel quietscht. 97
(Leise, aus Distanz:) Schon gut. – Doch, doch, kein Problem. – Gehen Sie nur. Gute Nacht. Türe fällt sanft ins Schloss. Sessel quietscht. (M it gesenkter Stimme:) Einfach so hereinspazieren darf sie nicht, das habe ich ihr ausgetrieben. Wissen Sie, was ich glaube? Sie wollte bloss sehen, wer hier sitzt. (Lacht.) Hat aber nicht geklappt, ich habe ihr die Sicht verdeckt. Manchmal hat die Leibesfülle eben auch ihre Vorteile. – Habe ich Ihnen eigentlich gesagt, dass Frau Mantel Rotkäppchens Festhaltetherapie beobachtet hatte? Nein? Das war so: Die Kaffeemaschine, die drüben im Vorzimmer steht, war kaputt. Eine zweite steht oben im Beobachtungsraum, Sie haben sie bestimmt gesehen, als wir … (hüstelt), als wir oben waren. Die meiste Zeit steht der Raum leer und die Maschine wird nicht gebraucht. Also ging Frau Mantel nach oben, um ihren Pausenkaffee zu trinken. Ohne zu ahnen, dass hinter dem Einwegspiegel eine Therapiesitzung im Gang war. Das realisierte sie erst, als sie durch die Scheibe guckte. Voller Entsetzen kam sie heruntergerannt und klopfte an meine Tür. So wie vorhin, nur lauter. »Stellen Sie sich vor, Herr Doktor«, rief sie, als ich öffnete, »da oben sitzt Frau Katz auf einer Matratze und knutscht mit einem Jungen.« »Sachte, sachte, Frau Mantel«, sagte ich. Um sie zu beruhigen, ging ich mit ihr nach oben in den Beobachtungsraum. Ich brauchte bloss einen Blick durch den Einwegspiegel ins Therapiezimmer zu werfen, und mir war klar – bei allen Vorbehalten der Therapiemethode gegenüber –, dass alles mit rechten Dingen zuging. Frau Katz sass auf der Matratze und hielt den Jungen fest in den Armen. »Das ist Festhaltetherapie, Frau Mantel«, sagte ich. Ich hätte es besser nicht gesagt. Denn weil ich sie mit dieser Aussage beruhigt hatte, sah 98
sie später keinen Grund, mir früh genug zu berichten, was in den Wochen danach in jenem Raum vor sich ging. Zwischen Hundt und Rotkäppchen. Sie nahm wohl an, dass auch bei Hundt alles mit rechten Dingen zu und her gehe. Erst an jenem Unglückstag kam sie wieder heruntergerannt und schrie: »Hier stimmt doch etwas nicht, Herr Doktor! Der Junge keucht so! Und Doktor Hundt auch! Das kann doch keine Therapie sein!« Sie war völlig ausser sich. Sie machte ein grosses Geschrei: Sie habe beobachtet, wie Hundt den Jungen zur Matratze geführt habe; das Mikrofon sei eingeschaltet gewesen – sie wird es wohl selber eingeschaltet haben, die neugierige Person –, sie habe gehört, wie er ihn aufgefordert habe, sich hinzulegen, wie jedes Mal. Aber dieses Mal habe sich der Junge gesträubt, er habe sich bloss hinsetzen, nicht hinlegen wollen. Hundt habe in einem fort auf den Jungen eingeredet, fast beschwörend. Der Patient sei immer unruhiger geworden; er habe sich, als Hundt ihn bei der Hand nahm, furchtbar aufgeregt, habe sich gewehrt und vor Aufregung zu husten und zu keuchen begonnen. Hundt habe sich nicht abschütteln lassen, er habe sich über den Jungen gebeugt und ihn auf die Matratze niedergedrückt. Dann habe er sich auf ihn gelegt und – sie sei sich fast sicher – habe ihn geküsst. Der Junge habe sich noch viel mehr aufgeregt, habe mit den Beinen gestrampelt, gejapst und gekeucht und gehustet. Plötzlich sei er blau geworden im Gesicht. Da sei sie davongerannt, mich zu holen. Was sie berichtet hatte, war zwar aufgeregtes Zeug, aber es klang alarmierend genug, um sofort Nachschau zu halten. Wir rannten nach oben. Wirklich lag der Junge auf der Matratze, Hundt über ihm. Und tatsächlich war das Bürschchen blau im Gesicht. Blauer als blau, es war kein schöner Anblick. Hundt ist ja kein Schwergewicht, aber seine acht99
zig, fünfundachtzig Kilogramm wird er schon auf die Waage bringen. Er erhob sich eben, als wir im Beobachtungsraum ankamen – es sah wirklich ganz so aus, als habe er auf dem Jüngling gelegen, weiss der Teufel, ob aus therapeutischen oder andern Gründen. Er machte sich an seinem Hosengurt, an Sheas Hosengurt, zu schaffen. Dann an seinem Hemd. Er riss ihm das Hemd auf, tätschelte seine Wange, hechelte nervös: »Komm schon, komm schon, mein Junge«, und beugte sich wieder über ihn. Er war völlig konfus. Nun, er ist kein Notarzt. Bin ich ja auch nicht. Er blickte um sich, suchte offensichtlich ein Telefon. Wahrscheinlich wollte er unseren Internisten, einen ausgebildeten Notarzt, rufen. Er griff zum Hörer, den er in Reichweite hatte, und realisierte im selben Augenblick, dass das bloss das Telefon für die interne Verbindung mit dem Beobachtungsraum war. Er liess den Hörer fallen, ohne ihn einzuhängen. Er wusste ja nicht, dass wir da waren und ihn sahen. Wir konnten uns nicht bemerkbar machen. Klopfen hätte nichts gebracht, die Scheibe ist schalldicht. Der Hörer war nicht eingehängt, wir hatten keine Möglichkeit mehr, uns mit dem Therapiezimmer zu verbinden. Es war wie verhext. Ich rannte aus dem Beobachtungsraum, wollte wie früher auf den Mitteltrakt hinaus, um ins Therapiezimmer zu gelangen. Ich rannte, verdammt noch mal, gegen eine verriegelte Tür. Ich hiess Frau Mantel den Internisten ins Therapiezimmer rufen. Dann rannte ich durch Korridore und Treppenhäuser in die Eingangshalle und von dort wieder hoch ins Therapiezimmer. Grotesk, nicht wahr? Dabei waren wir keine zwei Meter entfernt gewesen. Bloss wegen Hundts Türschliessmanie musste ich den endlosen Umweg machen und verlor wertvolle Zeit. Damit will ich nicht behaupten, dass ich den Jungen hätte retten können, 100
wenn ich früher gekommen wäre. Zusammen mit Hundt, der offenbar irgendwohin gelaufen war und jetzt mit dem Internisten dahergerannt kam, betrat ich das Therapiezimmer. Der Junge lag blau und reglos auf der Matratze. Er war tot. Er… (hustet), erstickt. Längeres Schweigen. Schrecklich, nicht wahr? Schweigen. Ach Gott! Tut mir leid. Ich hätte Sie nicht mit alledem belasten dürfen! Die ganze Geschichte kam mir einfach wieder in den Sinn, als Frau Mantel anklopfte. Tut mir wirklich leid. Darf ich Ihnen …? Sessel quietscht. Ach, bitte, ich möchte nur … Nicht? Also, gut. Geht es? Wirklich? Noch eine Tasse Tee? Kräutertee vielleicht? Nein? Wieder längeres Schweigen. Wissen Sie, wer einem auch leid tun kann? Die Mutter. Rotkäppchens Mutter, selbst wenn es wahr sein sollte, dass sie keine angenehme Person ist, wie Hundt behauptet. Das muss man sich einmal vorstellen: Sie hatte ein Jahr zuvor den Ehemann verloren. Dieser Verlust allein wöge schwer genug, was immer ihr eigener Anteil an jener Tragödie gewesen sein mag. Dann hatte sie, das wissen wir aus Sheas Brief, einen todkranken Vater zu pflegen. Kaum aus dem Ausland zurück – ich glaube sogar: am Tag ihrer Ankunft –, erfährt sie vom Tod ihres einzigen Kindes, das während ihrer Abwesenheit in die Klinik gebracht worden war. Unvorstellbar! Zu allem persönlichen Elend musste sie sich schliesslich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass der Tod ihres Sohnes einen weiteren Todesfall nach sich zog: Den Suizid von Frau 101
Katz, von der Rotkäppchen so viel gehalten hatte. Ich weiss ja nicht, ob Frau Katz’ Tod Sheas Mutter überhaupt berührte. Aber ausschliessen kann man nicht, dass diese Tragödie bei ihr eine weitere Wunde schlug. Kein Wunder, dass die Frau einen kompletten Zusammenbruch erlitt und offenbar für Monate hospitalisert werden musste. Man hört, sie sei lange Zeit, vielleicht bis heute, arbeitsunfähig gewesen. Sie soll ein echtes Psychotrauma erlitten haben, verwunderlich ist es nicht. Das alles müsste sich Herr Hundt einmal vergegenwärtigen, ehe er eine Frau, die derartige Schicksalsschläge verarbeiten muss, als hysterisch bezeichnet. Hundt wurde vom Untersuchungsrichter natürlich mit den Aussagen von Frau Mantel konfrontiert. Und selbstverständlich hatte er für alles eine Erklärung: Ja, er habe den Jungen aufgefordert, sich auf die Matratze zu legen. Für die gewohnten Entspannungsübungen nämlich. Gewiss habe er eindringlich auf den Jungen eingeredet. Er sei nun mal Hypnosetherapeut. Ja, der Junge habe sich gesträubt. Aber aus keiner andern Not heraus als wegen einer unerwarteten Atemnot. Früher hätten bei ähnlichen Zuständen die Atem- und Entspannungsübungen immer geholfen. Der Junge sei nicht blau geworden, weil er, Hundt, sich über ihn beugte, sondern umgekehrt: Er habe sich über ihn gebeugt, als der Patient blau geworden sei. Klar habe er Hemd und Hosengurt des Jungen gelockert. Schliesslich habe dieser keine Luft mehr gekriegt. Er habe sich nicht auf ihn gelegt, geschweige denn ihn geküsst. Das sei Mund-zu-Mund-Beatmung gewesen, die er aber rasch wieder eingestellt habe, als er die Art der Atemnot erkannt habe. Und noch etwas hatte er dem Untersuchungsrichter gesagt: Weder er noch Frau Katz hätten je Festhaltetherapie mit dem Jungen praktiziert. Das ver102
stehe, wer kann. Dass er sich selber entlasten wollte, leuchtet mir ja ein. Aber wieso bestreitet er, dass Frau Katz Festhaltetherapie praktizierte? Schliesslich hatte ich mit eigenen Augen gesehen, wie sie den Knaben in ihren Armen hielt. Und noch eine Aussage soll er gemacht haben: Es habe zwischen Frau Katz und Rotkäppchens Mutter eine enge persönliche Beziehung bestanden. Eine enge Beziehung! Tja, vielleicht wusste Kollege Hundt da mehr als unsereiner. Keine Ahnung, ob was Wahres daran ist. (Nachdenklich:) Wenn, dann würde das die Geheimnistuerei rund um das Bürschchen erklären. Aber jetzt müssen wir aufhören, nicht wahr? Diesmal mache ich Schluss. Aus Rücksicht auf Sie. Ich sehe ja, dass Sie das Ganze mitnimmt. Ein Wissenschaftsjournalist muss allerhand einstecken, nicht wahr? Sessel quietscht. Nächstes Mal können wir abschliessen, ja? Gute Nacht und schlafen Sie gut. Türe fällt ins Schloss.
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9 Hallo! Kommen Sie herein, kommen Sie. Türe fällt ins Schloss. Brr. Was sagen Sie dazu? Mitten im Juni! Über Pfingsten eine solche Hitze und jetzt dieser Kälteeinbruch! Das muss die Schafskälte sein. Darf ich Ihren Mantel abnehmen? Verstehe. Tut mir leid, aber um diese Jahreszeit wird hier nicht mehr geheizt. Nehmen Sie doch Platz. Sie sehen drollig aus, vermummt wie Sie sind. Wollen Sie gar nichts ablegen? Auch den Hut und den Schal nicht? Bitte, wie Sie wollen. Nein, nein, stört mich nicht. Jetzt mache ich Ihnen aber schleunigst Ihren Tee. Oder möchten Sie einen heissen Punsch? Ich könnte in der Küche einen bestellen. Nicht? Dann also Tee. Wasser läuft. Wie wär’s mit einer ayurvedischen Mischung? Nein? Lieber Schwarztee? Prince of Wales? Gut. Ich nehme auch eine Tasse. Oder wissen Sie was? Ich giesse gleich eine Kanne auf. Tea for Two. (Nachdenklich:) Ich habe viel über unser letztes Gespräch nachgedacht. Im Nachhinein ist mir bewusst geworden, wie sehr die Rotkäppchengeschichte Sie aufwühlte. Es war etwas rücksichtslos von mir, sie Ihnen aufzutischen. Zumal 104
Sie diesen Teil des Falles gar nicht verwenden dürfen. Ich weiss auch nicht, was in mich gefahren war – es kam einfach über mich. Meine Art der Verarbeitung, könnte man sagen. Das Ganze war auch für mich ein Trauma, das können Sie sich bestimmt vorstellen. Wasserkocher pfeift. Geschirrscheppern. (Aus grösserer Entfernung:) Darf ich Ihnen etwas zum Aufwärmen anbieten? Keine Sorge, keinen Sekt! Bloss einen Asbach. So. Den Tee lassen wir noch zwei, drei Minuten ziehen. Sessel quietscht. Einen schönen kleinen Teetisch haben wir da, finden Sie nicht? Sieht doch hübsch aus, dieses Teelicht. Oh, fast hätte ich’s vergessen: Ich habe Konfekt besorgt. Sessel quietscht. Schranktüre wird auf- und zugemacht. Hier, bitte. Von Sprünglii. Ein richtiger Zviirii, so sagt man doch, oder? So, ich glaube, der Tee ist bereit. Darf ich? Zwei Tassen werden gefüllt. Tee wird umgerührt. Geht das überhaupt mit den Handschuhen? Oder soll ich für Sie umrühren? Tatsächlich, es geht. Nun ja, das scheint mir auch sehr feines Leder zu sein: sehr feines Leder für sehr feine Hände. Ich mit meinen Pranken könnte den Löffel unmöglich halten. Hier, bitte, bedienen Sie sich. Nein? Wegen der Handschuhe? (Lachend:) Wenn Sie erlauben, schiebe ich Ihnen ein Stück in den Mund. Sie mögen keins? Schade. Brr, es ist wirklich kalt. Sessel quietscht. Möchten Sie einen Schuss Asbach? Nicht pur, natürlich. In den Tee, das wärmt Sie garantiert rasch auf. 105
Nein? Lieber aus dem Glas? Auch nicht? Aber sagen Sie mir, wenn Sie später einen Schluck möchten, ja? Wie? Ich? Nein, ich sollte besser nicht. Flasche gluckert. Na, wenn Sie mir einschenken, kann ich nicht nein sagen. Halt, das genügt. Danke, danke. Tee wird geschlürft. Vorsicht: heiss! Erneutes Schlürfen. Ahh! Da fühlt man sich schon besser. Flasche gluckert erneut. Nein, danke, danke, mehr nicht. Wenn ich mir’s recht überlege, so sind wir eigentlich fertig, oder nicht? Sie haben doch alles, was Sie für Ihren Artikel brauchen: Die theoretischen Grundlagen, die diagnostischen Kriterien, die Behandlungsgrundsätze, die Ergebnisse meiner Benzofluoxan-Studie, Fallgeschichten und Verlaufsbeispiele. Nein, Ihnen kann nichts mehr passieren, Sie sind mittlerweile ein veritabler LIPS-Experte. Was schütteln Sie den Kopf? Weil ich Experte sage? Es ist doch so. Haben Sie den Entwurf Ihres Artikels jetzt mitgebracht? Nein? Hmm. Sie kommen wohl einfach nicht vom Fleck … Wissen Sie was? Am besten hören Sie sich alle bisherigen Gespräche noch einmal an. Wenn dann noch Unklarheiten bestehen oder Fragen auftauchen, kommen Sie noch einmal vorbei. Doch, jederzeit. Es liegt mir daran, dass Sie mit Ihrem Beitrag Erfolg haben. Nur, ähm, ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass … 106
Tee wird umgerührt. … wie soll ich sagen? Dass ich Sie für meine Zwecke benütze. Wenn in Ihrer Zeitschrift ein LIPS-Beitrag erscheint, dann ist das für mich natürlich ein grosser Erfolg. Eine grosse Ehre. Auch der Seeblick wird davon profitieren. Vorausgesetzt, dass Ihr Artikel positiv ausfällt. Schluckgeräusche. Ich will nicht anmassend erscheinen, aber ich rechne eigentlich eher mit einem freundlichen als einem unfreundlichen Beitrag aus Ihrer Feder. Wenn Sie einen Verriss schreiben wollten, wären Sie bestimmt nicht mehr als zweimal gekommen. Stimmt doch, oder? Schlürfen. (Scherzhaft flehend:) Kommen Sie, sagen Sie etwas! Machen Sie es mir doch nicht so schwer. – Nein, ich will gar keine Antwort. Nehmen Sie jetzt einen Schuss Asbach? Warum nicht? Ihnen ist kalt. Ich möchte, dass Sie sich hier wohl fühlen, wissen Sie. Ich brauche noch einen. Flasche gluckert. Das genügt. Schluckgeräusche. Wie wär’s mit etwas Hintergrundmusik? Es erklingt leise Klaviermusik. Bekannte klassische M elodie. Kennen Sie diese Melodie? Schon gehört, nicht wahr? Schubert, das Ständchen. Das heisst: Liszt. Nein, das ist kein Witz. Variationen über Franz Schuberts Ständchen. Von Franz Liszt. Ein Vorfahre von mir, ein entfernter Verwandter. In Ungarn geboren, deshalb benützte er die ungarische Schreibweise unseres Familiennamens. Das Zett machte ihn in Deutschland natür107
lich zu einem Exoten. (Witzelnd:) Ich habe mir schon überlegt, ob ich mir das Zett auch implantieren lassen solle. Würde mich vielleicht etwas interessanter machen. Attraktiver. (Lacht.) Charismatischer. Noch etwas Tee? Teetassen werden gefüllt. Flasche gluckert. Liszt war ein Charismatiker. Ein Magier. Er verzauberte die Menschen. Ein begnadeter Komponist, der brillanteste Klaviervirtuose seiner Zeit. Die Frauen beteten ihn an. Die Männer vielleicht auch, das könnte ich mir vorstellen. Und wissen Sie was? Er hatte in jeder Hinsicht Erfolg, trotz seines grauenhaften Aussehens. In der Jugend war er ein Schönling, aber im Alter sah er fürchterlich aus. Sie kennen bestimmt die Bilder mit der schlohweissen Mähne, den stechenden Augen und den Falten und Warzen im Gesicht. All das war offenbar kein Hindernis. Er war bis ins hohe Alter ein wahrer Casanova. Ist doch irgendwie ermutigend, finden Sie nicht? Was schwatze ich wieder! Hören wir lieber die Musik. M usik schwillt an: Die Variationen brausen. (Raunend:) Wem das nicht unter die Haut geht, dem ist nicht zu helfen. Der ist gefühlskalt. M usik ebbt ab: Das Stück geht zu Ende. Genug. Man sollte sich an dieser musikalischen Kost nicht überessen. Aber hier: Pralinen, auch etwas fürs Gemüt, nicht wahr? Die hier müssen Sie versuchen. Ach so, stimmt. Sie mögen keine. Schade. Langes Schweigen, unterbrochen von Schluckgeräuschen. Darf ich Ihnen etwas sagen? Mir ist klar, dass Sie nicht nur wegen LIPS hier sitzen. Es gibt noch einen andern Grund, weshalb Sie immer wieder kommen. 108
Ich bitte Sie! Glaubten Sie wirklich, das bleibe mir verborgen? Ich mag ja manchmal ein Brett vor dem Kopf haben, aber ein so dickes dann doch wieder nicht. Oh, ich mache Ihnen keinen Vorwurf! Im Gegenteil, ich freue mich jedes Mal, wenn Sie hier sind. Aber eins müssen Sie mir sagen: Stimmt es, dass Sie ursprünglich einzig und allein wegen eines Interviews über die Liebeskrankheit kamen? Damals, als wir im Korridor fast einen Zusammenstoss hatten? Ehrenwort? Gut. Es wäre auch allzu peinlich, wenn ich mir das nur eingebildet hätte. Dann lassen Sie mich rekapitulieren: Sie kamen für ein LIPS-Interview zu mir, denn Sie wollen für Ihre Zeitung einen wissenschaftsjournalistischen Artikel zum Thema Liebeskrankheit schreiben. Ja? Eben. Ihr Problem war, dass Sie ein Trauma erlitten hatten, das Ihnen die Stimme raubte. Das Trauma hatte mit einem Verlust zu tun, mit einem Liebesverlust. Das haben Sie mir in unserem Frage- und Antwortspiel verraten. Sie waren aber überzeugt, dass Sie Ihre Aphonie überwunden hatten, nicht wahr? Es war ein kleiner Schock für Sie, dass Ihre Stimme in unserer allerersten Begegnung dann doch versagte. Vielleicht weil Sie früher an Examensangst litten und weil ich ein bisschen autoritär auf Sie wirkte. Wie ein Examinator eben. Ich weiss noch, dass ich Ihnen Fragen stellte, die Sie nicht gleich beantworten konnten. Zum Beispiel die nach dem Autor der Interviews mit Liebenden, die im Wochenmagazin erschienen waren, erinnern Sie sich? Dabei weiss ich den Namen selber nicht, bis heute nicht. Ich wusste ja nicht einmal, dass es sich um eine Frau handelte. Später gaben Sie mir zu verstehen, dass Ihr Stimmverlust nicht nur mit mir zu tun hatte. Das Trauma hatte Sie wieder 109
eingeholt. Unsere Gespräche hatten wohl aus irgend einem Grund Ihre LIPS-Aphonie erneut ausgelöst. Leider, nicht wahr? Aber Sie verbaten sich ausdrücklich, dass ich mich als Arzt um Sie kümmere. Zum Glück stellte Ihre Sprachlosigkeit kaum ein Hindernis dar. Eigentlich gar keins. Vielleicht im Gegenteil. Im Verlauf unserer Gespräche weckte dann irgendetwas Ihr besonderes Interesse. Etwas oder jemand. Nur weiss ich immer noch nicht, wer oder was. Ist es die Person von Frau Katz? Sie bedeuteten mir einmal, dass Sie Ihnen ein Begriff sei. Stimmt doch, oder? Na, sehen Sie. Flasche gluckert. Manchmal fragte ich mich, ob Sie vielleicht in Sachen Hundt recherchieren. Oder ganz allgemein in Sachen Psychiatrie. Auf alle Fälle waren Sie immer ganz Ohr, wenn wir über die mehr oder weniger unerfreulichen Dinge sprachen, die sich in einer Klinik abspielen können. Was immer es war, wonach Sie suchten – zum Teil wurden Sie fündig. Sonst wären Sie ja nicht wieder gekommen. Aber ganz am Ziel sind Sie noch nicht. Habe ich recht? Eben. Wissen Sie was? (Vertraulich:) Ich wollte gar nicht wissen, in welcher Angelegenheit Sie, abgesehen von der Liebeskrankheit, recherchieren. Sonst wären unsere Gespräche nämlich bald vorbei gewesen, und das hätte ich bedauert. Sehr. Natürlich wunderte ich mich, dass Sie mir nicht auf irgendeine Weise klar machten, worauf Sie hinauswollen. Ich kann mir aber vorstellen, wieso: Man muss den ollen List nur reden lassen, werden Sie sich gedacht haben, dann erfährt man früher oder später schon, was man wissen will. (Lacht.) Feuerzeug klickt, Rauch wird ausgeblasen. 110
Mir soll’s recht sein. Do ut des. Ich meine, das ist doch eigentlich ein fairer Handel: Ich sage Ihnen, was Sie über LIPS wissen wollen, und Sie schreiben einen wohlwollenden Artikel. Ich plaudere auch sonst ein bisschen aus der Schule, und Sie bereiten mir das Vergnügen Ihrer höchst angenehmen Gesellschaft. Von mir aus kann es so weitergehen. Flasche gluckert. (Vertraulich:) Noch etwas wollte ich ganz bewusst nicht wissen: Ihren Namen. Dass ich Sie nicht mehr nach Ihrem Namen fragte, hat nichts mit Desinteresse an Ihrer Person zu tun, weiss Gott nicht. Ganz im Gegenteil. Auch nichts mit Vergesslichkeit. Ich wollte ihn gar nicht erfahren, sonst hätte ich Sie ja um Ihre Karte bitten können. (M it gesenkter Stimme, noch vertraulicher:) Aber dann wäre das Besondere, das Geheimnisvolle, das unseren Gesprächen von allem Anfang an anhaftete, verloren gegangen. Ich bin sehr empfänglich für diese Art Begegnung, wissen Sie. Die Rokokodame, erinnern Sie sich? (Wohlwollend:) Ich wollte es ganz Ihnen überlassen. Wenn es Zeit dafür ist – und wenn Sie Ihre Stimme wieder haben –, dann werden Sie Ihren Mund öffnen und mir Ihren Namen nennen. Schluckgeräusche. Darf ich Ihnen eine sehr persönliche Frage stellen? Wie geht es Ihnen? Also, wie geht es Ihnen wirklich? Ihnen als Mensch, nicht als Journalist. Hier und jetzt, wo Sie mir gegenübersitzen, meine ich. Schweigen. Ich bitte Sie! Schauen Sie nicht so. Schweigen. Du meine Güte! Sind Sie …? Hatte ich also doch ein Brett vor dem Kopf? 111
Schweigen. (Teilnahmsvoll:) Leiden Sie unter Schlaflosigkeit? Ja? Seit wann? Seit vier, fünf Wochen? Oder seit sechs? Wirklich? Wie ich. Mein Gott, wie konnte ich nur so blind sein? Es geht Ihnen also auch nicht besonders gut in der letzten Zeit. Dann frage ich Sie jetzt offen heraus: Von allem Anfang an? Seit unserem ersten Gespräch? Nein? Seit dem zweiten oder dritten? (Agitiert:) Und ich habe nichts davon gemerkt! Das heisst, das habe ich wohl. Nur legte ich es falsch aus. Ihr Autoritätsproblem habe ich von Anfang an erkannt. War ja keine Kunst. Dass Sie an LIPS-Aphonie leiden, und nicht etwa an einer andern Art von Sprachlosigkeit, liess sich mit unserem Ratespiel klären. Nur, dass dasnoch mitspielte, habe ich nicht gemerkt. Ich wagte gar nicht, es zu merken. Da hatte ich einen blinden Fleck. Erst gerade eben, wie Sie mich so ansahen und ich dieses Besondere, dieses, ähm – Saugende in Ihrem Blick erkannte, erst da ist mir ein Licht aufgegangen. Ich war die ganze Zeit der Überzeugung, Ihr Schmerz und Ihre Aphonie hätten einzig und allein mit Ihrem Trauma, mit einer Trennung, mit einer Enttäuschung, mit einem Verlust zu tun. Dass da noch etwas ganz anderes mitschwang, war mir nicht bewusst gewesen. In diesem Fall … Was ist? Habe ich etwas Dummes gesagt? Hastiges Schlucken. Hustenanfall. Rückenklopfen. Danke, es geht wieder. (Hustend:) Bloss verschluckt. Darf ich das Glas …? Hustet erneut. Flasche gluckert ausgiebig. So. (Räuspert sich.) Ich hoffe, das war’s. 112
(Wie ernüchtert:) Sie verstehen, dass ich jetzt etwas verwirrt bin. Feuerzeug klickt. Es ist mir äusserst peinlich. Am besten … Rauch wird hastig ausgeblasen. … am besten reden wir nicht mehr davon. Reden wir von etwas anderem. Von irgendetwas. Rasch! Haben Sie noch Fragen? Nein? Nun, dann, ähm … Abwechselnd wird Rauch ausgeblasen und sind Schluckgeräusche zu hören. (Hektisch, ohnePause:) Jetzt fällt mir etwas ein: Rotkäppchen. Ich weiss wieder, woher der Junge seinen Spitznamen hatte. Ganz einfach: Es muss eine Verkleinerungsform seines Familiennamens gewesen sein. So wie man einen Knaben Müllerchen nennen würde. Wie Mützchen statt Mutz oder Kätzchen statt Katz. Wieso zucken Sie jetzt zusammen? Das muss ja nicht despektierlich, das kann liebevoll gemeint sein. Sheas Vater muss einen Namen getragen haben, der dem Sinn nach Rotkappe bedeutet. Redhood vielleicht, oder Redcap. So einfach ist das. Pause. (In hohem Tempo:) Und dann noch etwas, ich glaube, das schulde ich Ihnen, der Wahrheit zuliebe: das mit den Türen. Die Katz hat mit den Schnappschlössern angefangen, nicht der Hundt. Ich muss gestehen: Zuallererst liess ich eine Tür mit einem Schloss versehen. Aber nur eine, die neben dem Beobachtungsraum. Und bloss darum, weil Mäntelchen es leid war, dass die vom Südflügel sich ständig mit ihrem Kaffee im Beobachtungsraum bedienten. Ich liess, weil sie mir damit in den Ohren lag, ein Schloss anbringen. Den Schlüssel dazu behielt ich bei mir, und 113
damit war Mäntelchens Kaffeeproblem gelöst. Im Gegenzug liess die Katz an ihrer Tür im ersten Stock ein Schnappschloss anbringen. Und Hundt, als er Chef wurde, an allen übrigen Türen seines Flügels. Auf allen Etagen. Mittlerweile habe ich an meinen natürlich auch welche montieren lassen, ich bin ja nicht blöd. Gleichgewicht der Kräfte. So, jetzt wissen Sie es. Schlürfen. (Im gleichen Tempo:) Und noch etwas, wenn wir schon beim Klarstellen sind: Die Katz hatte sich nicht ganz so zugänglich gezeigt, wie ich es dargestellt hatte. Im Zusammenhang mit meiner Benzofluoxanstudie, erinnern Sie sich? Ich sagte ja, sie habe mir die Erlaubnis gegeben, einige ihrer jugendlichen Patienten in die Studie einzubeziehen. Tat sie aber nicht. Sie legte mir jeden erdenklichen Stein in den Weg. Ich musste warten, bis sie in Israel war. Erst als sie weg war, konnte ich mein Patientengut aufstocken. Hundt wollte sich zwar querstellen, aber davon liess ich mich nicht beeindrucken. Ich bitte Sie, wo kämen wir hin, wenn ein Oberarzt einem Chefarzt und Klinikdirektor ins Handwerk pfuschen könnte. Und heute gebärdet er sich, als habe er ein Anrecht auf die Ergebnisse ausgerechnet jener Studie, die er damals zu verhindern trachtete. Ohne Erfolg, Gott sei Lob und Dank. So konnten, einmal abgesehen vom wissenschaftlichen Wert der Studie, junge Menschen, die schwer unter ihrer Liebeskrankheit litten, geheilt werden. Leider nur elf, nicht alle zwölf. Ich hatte auch Rotkäppchen in die Studie einbezogen, aber … Was gucken Sie so? Das war doch selbstverständlich! Der Junge hatte es ja am allernötigsten. Ich wusste schliesslich, wie es um ihn stand. Ich kannte ihn. Zum Zeitpunkt der Sendung war 114
er zwar noch nicht krank gewesen, das stimmt. Das heisst, er war symptomfrei gewesen. Aber die Krankheit war latent vorhanden, sie war schon im Anzug. Ich sah sie kommen. Deshalb gab ich ihm auch eine klare Antwort, als er am Schluss der Sendung fragte: »Herr Doktor, bin ich krank?« »Jawohl, mein Junge«, sagte ich, »du bist krank.« Ich wollte ihm reinen Wein einschenken. Ich durfte seinen Zustand nicht verharmlosen. Natürlich machte ich ihm Mut. »Es lässt sich etwas machen«, erklärte ich ihm, »man kann dir helfen. Du kannst in unsere Klinik kommen, wenn es schlimmer wird.« Ich sah in ihm schon damals einen idealen Kandidaten für meine Studie. Prompt brach die latente Krankheit aus, als die Mutter verreiste. Ich hatte recht gehabt. Was haben Sie? Einen Einwand? Telefon klingelt. List. – (Unwirsch:) Nein, Herr Hundt, ich bin besetzt. – (Freundlicher:) Was Sie nicht sagen. Den aus Israel? Den haben Sie gestern getroffen? – Ja, den kenne ich auch. Schon lange. – (Angespannt:) Ob ich mit ihm worüber sprach? Dass Frau Katz …? Weiss ich nicht mehr, ist lange her. – Hat er gesagt? (Ärgerlich:) Und wenn schon? Was geht Sie das an? – Und jetzt soll ich schuld daran sein, dass sie im Gefängnis sass? Bloss weil ich diesem Kollegen ganz arglos von ihren Plänen erzählte? – Ich bitte Sie, wer hat dem alten Katz Pentothal Natrium gegeben? Etwa ich? – Nein, können Sie nicht. Ich sagte Ihnen doch, dass ich besetzt bin. – Nein, geht jetzt nicht. Gute Nacht. Knallt den Hörer auf. Du heiliger Strohsack! Mei, mei, mei, das wird Ärger geben. Jetzt muss ich aber wirklich einen kippen. Flasche gluckert. Schluckgeräusche. Was regt er sich eigentlich so auf ? Ihm ist ja gar kein 115
Nachteil daraus entstanden, dass die Katz damals im Gefängnis sass. Im Gegenteil, er nützte ihre Abwesenheit schamlos aus! Riss einen Therapiefall an sich, obschon ihm die entsprechende therapeutische Ausbildung fehlte. Und wissen Sie was? Er glaubte mir verbieten zu können, Rotkäppchen Benzofluoxan zu geben. Er! Mir! Verbieten! Bei den andern schaute er irgendwann weg. Er tat, als wisse er nicht, dass ich sie mit Benzofluoxan behandeln liess, damit ich sie in meine Studie einbeziehen konnte. Aber bei Rotkäppchen wollte er es partout verhindern. Bloss weil es um einen VIP-Patienten der Katz ging. Um ein verhätscheltes Muttersöhnchen. Ich musste dem Jungen das Medikament heimlich verabreichen lassen. Eine Schande, finden Sie nicht? Dass man einen Arzt zu so etwas nötigt! Ich musste den Assistenzarzt anweisen, ihm diese Pillen zu füttern. Es gehe um eine Doppelblindstudie, machte ich ihm weis. Und bläute ihm ein, weder Patient noch Oberarzt dürften erfahren, was verabreicht werde. Er war ein Anfänger, er hielt dicht. Wissen Sie, mir fällt es nicht schwer, auf die Lorbeeren des Therapieerfolgs zu verzichten, wenn es für einen guten Zweck ist. (Sich mokierend:) Soll der Hundt den schönen Knaben mmeinetwegen festhalten, dachte ich mir. Soll er ihn ruhig an sich drücken. Soll er sich später einbilden, er habe dem Kleinen geholfen. Da fällt mir kein Stein aus der Krone. Hauptsache, das Bürschchen wird ein therapeutischer Erfolg. Und so wäre es auch umge…, äh, herausgekommen, wenn … Klopfen an der Tür. Verflucht! Jetzt haben wir ein Problem. Erneutes Klopfen, stärker. Ich öffne einfach nicht. (Verschreckt:) Oder? Habe ich zugeschlossen? 116
Und wenn er einfach wieder hereinplatzt? Hämmern an der Tür. Um Gottes Willen, das kann böse enden! Ich stelle mich ihm besser in den Weg. Sessel quietscht. Soll ich die Waffe nehmen? Schublade wird aufgezogen. (Nervös:) Nein! Doch! Schublade wird zugeknallt. (Äusserst erregt:) Halt! Sie sind ja schutzlos. Nehmen Sie sie. Doch, hier. Rasch! Nehmen Sie. Für den Notfall. Zur Selbstverteidigung, falls er mich überrennt. Ich seh jetzt nach, was er will. (Weiter entfernt:) Na, so was: niemand da. Tür fällt ins Schloss. Erneutes Hämmern. Ach so: die andere Tür. (AusDistanz:) Frau Mantel! Haben Sie mich erschreckt! Wo brennt’s? – So, habe ich? – Nein, nein, nichts ist passiert. Alles in Ordnung. – Doch, gehen Sie ruhig. – Ja, ja, Ihnen auch. Schönen Abend. – Ach, Frau Mantel: Wissen Sie, ob Herr Hundt noch im Haus ist? – Schon weg? – Nein, nein. Lassen Sie nur. Danke. Gute Nacht. Sessel quietscht. Tatsächlich: Ich habe den Hörer nicht richtig aufgelegt. Hörer wird aufgelegt. Das nennt man einen Fehlal-alarm! Meine Güte, war das ein Schreck! Ich weiss gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Aber jetzt können wir Ent-Entwarnung geben. Entspannen Sie sich. Ich glaube, es ist noch etwas Tee da. Tee wird eingeschenkt und umgerührt. Einen Asbach, zur Beruhigung? 117
Nein? Aber ich. Und zwar pur. Mir ist das Herz in die Hose gerutscht, muss ich ganz ehrlich sagen. Es wird eingeschenkt und geschlürft. Aah, schon besser. Jetzt müssen wir den Faden wieder aufnehmen. Wo waren wir? Bei Hundt? Nein, den haben wir erledigt. Bei Rotkäppchen? Oder bei der Katz? Gut, ein offenes Wort über die Katz: Sie war zweifellos ein kompetenter Kliniker. Hundt konnte ihr nicht das Wasser reichen. Als Chefarzt hatte sie ihre Macken, aber lassen wir das, die habe ich wahrscheinlich auch. Nur, was sie sich bei Rock…, bei Rockäppchen erlaubt hatte – diese Heimlichtuerei, dieses eifersüchtige Abschirmen vor den Kollegen, sogar vor mir, das ging zu weit. So etwas tut ein Arzt nicht. Das … Wie? Was ist? Weil ich Arzt sagte? Und nicht Ärztin? (Barsch:) Da muss ich Sie enttäuschen: Diese Macke habe ich nicht. (Sich mokierend:) Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, heute beginnt die Frühjahrssession der eidgenössischen Nationalrätinnen und eidgenössischen Nationalräte. Wir bitten die Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer am Gotthard um Geduld. Die Stadtzüricherinnen und Stadtzüricher haben anders gewählt als die Züricher Unterländerinnen und Züricher Unterländer. (Enerviert:) So was von geschraubt! Absolut affig. Mir geht diese helvetische Liebedienerei gewaltig auf die Nerven. Sie als Journalist … oder erwarten Sie etwa, dass ich Journalistin sage? Tut mir leid: Mir ist der Schnabel anders gewachsen. So wie meiner Mutter: Die war Lehrer von Beruf, und als solchen bezeichnete sie sich auch. Als Lehrer. Meine Cousine ist Anwalt geworden, und heute ist sie Oberrichter. Oberrichter, nicht (äffend:) O-ber-rich-ter-in. Das gibt’s 118
nicht. Alles was recht ist. Ich sage Ihnen was: Wenn in Deutschland je eine Frau zum Bundeskanzler gewählt würde, so wäre sie genau das – Bundeskanzler. Sollte jemand auf die Idee kommen, sie Bundeskanzlerin zu nennen, es gäbe einen Aufstand. Jedenfalls bei den Sprachbewussten. Das wäre das Unwort des Jahrhunderts. Schnauben. Verzeihung. Sie wissen ja, ich gerate l-leicht in Rage. Immer, wenn es um solche Dinge geht. Atem geht ruhiger. So. Der Anfall ist vorbei. Nein, was ich sagen wollte: Die Heimlichtuerei der Katz um dieses Jüngelchen war ein schlimmer Fehler gewesen. Fatal. Mit … (hustet), mit tödlichen Folgen, um es deutsch und deutlich zu sagen. M-man sagte mir ja nichts. Man gab mir kaum Akteneinsicht, nichts. M-man liess mich im Dunkeln tappen. Wie konnte ich da wissen, dass er … (hustet), dass er Asth… (keucht), Asthmatiker war? Die Katz hatte es bestimmt gewusst, aber gesagt hat sie mir nichts. Sagen Sie selbst, wie konnte ich da wissen, dass eine Kontraindikation g-gegen Benzofluoxan vorlag? (Laut:) Ich konnte es nicht wissen! (Fast schreiend:) Verstehen Sie? Ich konnte nicht ahnen, dass er einen Asthmaanfall produzieren würde. Sonst hätte ich ihm doch kein Benzofluoxan gegeben! (Hilflos:) Nicht die volle Dosis. (Weinerlich, dem Schluchzen nahe:) Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen. Das Ganze war nämlich eine extrem belastende Erfahrung, das können Sie mir glauben. Ein Trauma, selbst für mich als Arzt. Ich leide heute noch darunter. Schneuzt sich die Nase. (Wie in Trance, zu sich selbst sprechend:) Ich hatte Mäntelchen zu einem Glas Sekt eingeladen. Plötzlich findet sie, 119
sie brauche einen Kaffee und geht, ein wenig angesäuselt, nach oben, um sich eine Tasse zu holen. Kommt heruntergerannt und berichtet, was sie durch den Einwegspiegel gesehen hat. Wir rennen nach oben. Ich stehe im Beobachtungsraum und bin Zeuge der Szene im Therapiezimmer. Sh-Sheas Husten und Keuchen gehen mir durch Mark und Bein. M-mir wird sch-schlagartig klar, dass er ein Asth… (hustet), ein Asthmapatient ist. Das ist ein Schock für mich, ich muss einen kippen. Im Schränkchen neben der Kaffeemaschine steht ein Flasche Jägermeister. Ich muss einen kippen, oder zwei oder drei, vielleicht leere ich auch die Flasche, denn mir ist klar, was seinen Asthmaanfall auslöste: das Benzofluoxan, das ich ihm hatte verabreichen lassen. Hundt, dieser unbedarfte Psychosomatiker, glaubt, die Atemnot mit seiner Entspannungstherapie beheben zu können. So ein Witz! Ein durch Benzofluoxan provozierter Asthmaanfall ist ein absoluter Notfall. Da hilft nur Theophyllin und eine Kortisonspritze. Klar, Hundt wusste nicht, dass der Junge Benzofluoxan intus hatte. Aber trotzdem. Ich sehe die Bescherung und weiss sofort: Meine Benzofluoxanstudie steht auf dem Spiel. Ein l-lebensgefährlicher Ss-Swischenfall wird uns um Jahre zurückwerfen. Ein tödlicher für immer. Das heisst: Natürlich nur, wenn bekannt wird, dass der Exitus dem Benzofluoxan zuzuschreiben ist. Niemand ausser mir und dem tumben Assistenzarzt weiss, dass der asthmakranke Knabe Benzofluoxan bekommen hatte. Oder doch? Könnte er selber ausplaudern, dass ihm etwas gefüttert wurde? Ich habe eigentlich nichts gegen das Muttersöhnchen, aber in diesem Augenblick hasse ich den Knaben. Nein, ich muss bei der Wahrheit bleiben: In diesem Augenblick hoffe ich, dass er stirbt. Tod durch Körperpsychotherapie, geht es mir durch den Kopf, das 120
könnte unsere Klinik gerade noch v-v-verkraften. Aber ein Benzofluoxanzwischenfall würde einen irreversiblen Schaden anrichten: Cox, Rich & Nightingale würde die Benzofluoxanproduktion einstellen, ich könnte mir den Medical Consultant, die Kongresse, meine Sendung und alles Übrige ans Bein streichen. Als Chefarzt würde ich entlassen. Unehrenhaft entlassen, ich wäre ruiniert. Ich sehe, dass Hundt aus dem Behandlungszimmer eilt. Er geht Hilfe holen. Ich schicke Mäntelchen weg, schliesse die Tür zum Mitteltrakt auf, ich habe den Schlüssel ja immer bei mir, und trete ins Therapiezimmer. Da liegt der Knabe, blau im Gesicht und wie tot. Ich beuge mich über ihn. Ich bin mir nicht sicher, ob er noch lebt. (Wie in Panik:) Da kommt es über mich. Etwas in meinem Innern sagt: Leg dich auf ihn, jetzt, sofort, mit deinem ganzen Gewicht. Nicht lange, nur drei, vier Minuten, dann ist alles vorbei. Mehr weiss ich nicht. Filmriss. Blackout. Vielleicht habe ich es getan, vielleicht auch nicht. Ich weiss es wirklich nicht. Aber gleich darauf muss ich in meinen Kliniktrakt zurückgegangen und in die Eingangshalle hinuntergelaufen sein, denn das weiss ich wieder, dass ich mit Hundt und dem Internisten zusammen die Treppen hochlaufe und ins Therapiezimmer eile. Der Junge liegt auf der Matratze. Tot, jetzt gibt es keinen Zweifel mehr. Erstickt. Er sieht aus wie ein Verschütteter. (Schluchzt:) Ein Albtraum! Der Anblick sucht mich heute noch heim. (Hustet.) Es ist ein echtes Trauma. Was glauben Sie, woher ich meinen Husten habe? Immer wenn ich an die Agonie des Jungen denke, überfällt er mich. Ich kann nichts dagegen tun. Es ist eine Qual, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Schneuzt sich die Nase. Verzeihung, ich bin emotional geworden. 121
Schneuzt nochmals. Tut mir leid. Nein! Ich brauche mich nicht zu entschuldigen, nicht wahr? Vor Ihnen brauche ich mich nicht zu schämen. Auch Starke dürfen einmal schwach sein. Auch Grosse und Dicke dürfen Gefühle zeigen. Ich weiss, dass Sie sie mir nicht übel nehmen. Schneuzt noch einmal. Oh! Sie stehen ja schon. Wir müssen Schl-Schluss machen, nicht wahr? Was ist los? Sie sehen seltsam aus. So unentschlossen, irgendwie. So wie Sie da stehen, die Hände in den Manteltaschen. Als ob Sie nicht wüssten, ob Sie gehen oder bleiben oder sonst etwas tun sollen. Möchten Sie nicht doch Ihren Mantel ablegen? Sessel quietscht. Nein? Nun gut. Ich kann Sie nicht aufhalten. Gute Nacht. Auf Wiedersehen. Moment noch, fast hätte ich’s vergessen: Hören Sie sich die Aufnahmen an. V-vielleicht gibt’s noch Fragen. Oder habe ich das schon gesagt? Einerlei. Sie wissen ja, dass Sie jederzeit wiederkönnen kommen. Schon morgen, wenn Sie möchten. Ich bin samstags ab zehn Uhr sowieso immer hier. Büroarbeiten, wissen Sie, da ist man ungestört. Frau Mantel kommt manchmal auch, aber erst um elf. Ach, was schwatze ich, ich weiss, Sie wollen gehen. Gute Nacht. Türe fällt ins Schloss.
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10 So eine Überraschung: An einem Samstag! Und so früh am Morgen! Bitte, treten Sie ein. Ich freue mich ja so. Türe fällt ins Schloss. Darf ich Ihnen aus dem Mantel helfen? Sie wollen nicht ablegen? Aber so kalt ist es heute doch gar nicht mehr. Ich finde es eigentlich recht angenehm, Sie nicht? Ach Gott, Sie sind ja ganz weiss im Gesicht. Ist Ihnen so kalt? Selbst an den Händen? Oh, Sie haben Ihr Gerätchen immer noch dabei? Ja, können Sie es denn überhaupt bedienen, in Handschuhen? Kommen Sie, nehmen Sie Platz. Apart sehen Sie aus, so eingepackt in Mantel und Schal. Richtig kuschlig. Darf ich Tee machen? Später vielleicht? Sessel quietscht. Entspanntes Ausatmen. Wie schön, dass Sie da sind. Ich wusste ja gar nicht, ob Sie je wieder kommen würden. Natürlich hoffteich es. Es blieb mir nichts anderes übrig, als abzuwarten. Ob Sie mir böse sein würden oder nicht. Wenn Sie kämen, sagte ich mir, hätten Sie wahrscheinlich keinen Grund, mir böse zu sein. Wenn Sie nicht kämen, dann wäre gestern wohl etwas vorgefallen. Etwas Peinliches. Glauben Sie mir, das wäre schlimm gewesen für mich. Sehr schlimm. Aber jetzt sind Sie ja da. 123
(Vertraulich:) Wir führten ein sehr offenherziges Gespräch, nicht wahr? Sehr ehrlich. Über Musik, über Gefühle und Beweggründe. So viel weiss ich noch. Schweigen. Nur eines weiss ich leider nicht mehr, und das ist mir etwas unangenehm: Brachten wir das Interview eigentlich zu Ende oder nicht? Ich habe leider keine vollständige Erinnerung an unser gestriges Gespräch. An den Anfang schon. Aber der Rest: ein schwarzes Loch. Das muss der Asbach gewesen sein. Vermutlich habe ich viel zu viel gequasselt. Ich hoffe bloss, dass ich Ihnen nicht zu nahe getreten bin. Und dass ich Sie nicht mit Informationen eingedeckt habe, die Sie für Ihren Artikel gar nicht brauchen können. Haben Sie den Entwurf mitgebracht? Nein? Nun, das macht nichts. Vielleicht haben Sie sich dafür die Gespräche noch einmal angehört. Ja? Wirklich? Das ist gut. Sind noch irgendwelche Fragen aufgetaucht? Keine? Dann ist also alles klar? Das freut mich. Oh, möchten Sie doch ablegen? Warten Sie, ich … Sessel quietscht. Um Gottes Willen! Schweres Plumpsen. Sessel quietscht. (Hysterisch lachend:) Ich bitte Sie, jagen Sie mir doch keinen solchen Schreck ein! (Panisch:) Ich habe mich noch gefragt, wo das Ding geblieben ist, danke, dass Sie es zurückbringen, hab überall danach gesucht, hier … Schublade wird aufgezogen und zugeschoben. … und hier … Rumoren auf dem Schreibtisch. … und überall. Vorsicht! Passen Sie auf! Das ist kein Spielzeug! 124
Geben Sie her! Sicherungshebel knackt. Was tun Sie? Um Gottes Willen, nein! Sie sind krank! Ich weiss es: liebeskrank! Geben Sie her! Hören Sie: es gibt keinen Grund. Ich weise Sie doch gar nicht zurück! Die Gefühle sind gegenseitig! Ich begehre Sie auch! Ich liebe Sie! Schuss fällt.
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Epilog
»Gibt Salome Rothcap (39) ihr Comeback? Hat sie die Sprache wieder gefunden? M ETRO-Leser erinnern sich an unseren Exklusivbericht: Nur zehn Monate nach dem tödlichen Flugzeugcrash ihres Ehemanns, des Architekten Keith Rothcap (50), hatte sie letztes Jahr innert weniger Wochen alle übrigen Angehörigen verloren. Sie trauerte noch um den Vater, den sie in Israel bis zu seinem Tod gepflegt hatte, da kam ihr Sohn (17) auf tragische Weise ums Leben; wenig später beging ihre einzige Schwester, Chefärztin Miriam Katz (46), Selbstmord. Unter dem Schock der Ereignisse verlor die begnadete Interviewerin über Nacht die Stimme. Sie liess sich in einer Nervenklinik behandeln. Insider wollen wissen, dass die prominente Patientin vor einigen Wochen aus der Klinik am Schlossberg entlassen wurde. Wir sind gespannt, wann die ›Reporterin mit den magischen Augen‹ wieder in der Öffentlichkeit auftaucht.« (METRO vom 15. Juni 2004, Rubrik Boulevard)
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»Der gewaltsame Tod von Seeblick-Chefarzt Dr. List (NTZ vom 14. Juni 2004) ist weitgehend aufgeklärt. Laut Bezirksanwaltschaft steht fest, dass List durch einen Schuss aus nächster Nähe getötet wurde. Die in seinem Sprechzimmer sichergestellte Pistole konnte als Tatwaffe identifiziert werden. Auf dieser wurden einzig die Fingerabdrücke des Toten gefunden. Die Ermittlungen sind noch nicht vollständig abgeschlossen, doch sprechen die bisherigen Untersuchungsergebnisse mit hoher Wahrscheinlichkeit für einen Suizid.« (NEUE TAGESZEITUNG vom 22. Juni 2004, Lokales)
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»Liebe Leserinnen und Leser Vor einigen Wochen kündigten wir Ihnen an dieser Stelle unsere neue Sommerserie an: ›Wenn Liebe krank macht‹, Gespräche mit Fachleuten, geführt von Salome Rothcap-Katz. Nun müssen wir diese Publikation leider auf unbestimmte Zeit zurückstellen. Die Autorin – vielen Leserinnen und Leser mit ihren ›Interviews mit Liebenden‹ in Erinnerung –, musste sich aus gesundheitlichen Gründen erneut beurlauben lassen. Wir bitten Sie um Verständnis und Geduld. Frau Rothcap-Katz wünschen wir einen erholsamen Urlaub. ›Wenn Liebe krank macht‹ wird zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Blatt erscheinen.« (WOCHENMAGAZIN vom 24. Juni 2004, Editorial)