crescendo Premium 05/2017

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AUSGABE 05/2017 SEPTEMBER – OKTOBER 2017

www.crescendo.de 7,90 EURO (D/A)

PREMIUM AUSGABE

CD

inkl.

KRYSTIAN ­ZIMERMAN Der geniale Pianist und Querkopf hat nach 25 Jahren wieder eine CD aufgenommen

SPIELPLAN Vom Kampf der Orchester und Opern um die besten Programme

Mariss Jansons „Musik sucht nach einem tieferen Sinn des Daseins!“ B47837 Jahrgang 20 / 05_2017

Mit Beihefter CLASS: aktuell und Sonderseiten der Deutschen Mozart-Gesellschaft

RAPHAELA GROMES Die junge Münchner Cellistin brennt für italienische Spätromantik


KlassiK Radio live in conceRt 2017

F i l m m u s i k 06.10.2017 – Nürnberg 21.10.2017 – Hamburg 26.10.2017 – Düsseldorf 29.10.2017 – München 05.11.2017 – Stuttgart

10.11.2017 – Hannover 14.11.2017 – Hamburg 18.11.2017 – Frankfurt 19.11.2017 – Berlin 08.12.2017 – Augsburg

Tickets unter:

www.klassikradio.de


P R O L O G

HEIKLES PLANSPIEL Liebe crescendo-Leser,

WINFRIED HANUSCHIK Herausgeber

die Sommerferien sind vorbei, und die neue Opern- und Konzertsaison nimmt Fahrt auf. Dicke Hochglanzbroschüren locken mit den musikalischen Dauerbrennern, Raritäten und Uraufführungen der nächsten Monate. So hübsch und anmutig dargeboten, übersieht man leicht, was hinter solchen Programmen steckt: jahrelange Vorausplanung, Durchforsten eines uferlos großen Repertoires, vertrackte Termin-Jonglage und zähe Verhandlungen mit Künstleragenturen und Musikern. Wir wollten von Vertretern unterschiedlicher Institutionen wissen – etwa von Staatstheatern, Gastspielhäusern, Festivals und der „freien Szene“ – was für sie ein idealer Spielplan ist und wie sie versuchen, ihn umzusetzen. So viel vorab: In diesem Punkt sind sich alle einig, es ist ein Kochen mit heiklen Zutaten!

In den letzten Wochen durften wir außerdem einigen prominenten Jubilaren gratulieren. Dirigenten-Legende Herbert Blomstedt wurde 90, Organist und Verleger Alfred Bolliger 80. Mit Ersterem sprachen wir über die Auswirkungen seiner streng religiösen Erziehung (S. 32), mit Letzterem über seine Erlebnisse mit philippinischen Bambusorgeln und seine Leidenschaft für besondere russische Hörbücher (S. 29). Die lettische Starsopranistin Marina Rebeka verriet uns, wie sie Stück für Stück der Musik Gioachino Rossinis verfiel (S. 22), und Dirigent Antonio Pappano sprach über seine Schwäche für Sitcoms und seinen Karrierebeginn als Barpianist (S. 26). Und schließlich schlenderten wir mit Jakub Hrůša, dem Chefdirigenten der Bamberger Symphoniker, durch Frankens idyllisches „Klein-Venedig“ und erfuhren dabei, was Bamberg alles mit seiner tschechischen Heimat gemeinsam hat: von Hoch- bis Braukultur (S. 94). Pünktlich zur Wahl führen wir die Mitbestimmung ein: Erstmals dürfen Sie, liebe crescendo-Leser, den Schwerpunkt unserer Weihnachtsausgabe bestimmen! Besuchen Sie dazu die Website www.crescendo.de/umfrage oder schreiben Sie uns (nähere Infos auf S. 48). Einen schönen Spätsommer wünscht

Ihr Winfried Hanuschik

F OTO S TITE L : P E TE R M E I S E L (B R); W I L D U N D L E I S E . D E

An dieser Stelle ist keine Abo-CD vorhanden? Sie sind Premium-Abonnent, aber die CD fehlt? Dann rufen Sie uns unter 089/85 85 35 48 an. Wir senden Ihnen Ihre Abo-CD gerne noch einmal zu.

ONLINE PREMIUM-SERVICES: TRETEN SIE EIN! Ihre Abo-CD In der Premium-Ausgabe finden Sie nicht nur doppelt so viel Inhalt: mehr Reportagen, Porträts, Interviews und ­ Hintergründe aus der Welt der Klassik – in einer besonders hochwertigen Ausstattung –, sondern auch unsere ­ crescendo Abo-CD. Sie ist eine exklusive Leistung unseres ­crescendo Premium-Abonnements. Premium-Abonnenten erhalten sechs Mal jährlich eine hochwertige CD mit Werken der in der aktuellen Ausgabe vorgestellten Künstler. Mittlerweile ist bereits die 67. CD in dieser crescendo Premium-Edition erschienen.

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September – Ok tober 2017

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P R O G R A M M

MODERATION

THOMAS GOTTSCHALK

TV-AUSSTRAHLUNG

29.10.2017 | 22:00 UHR | ZDF

26 ANTONIO PAPPANO Am besten kann der Stardirigent bei Sitcoms und Broadwayklassikern aus den 40ern abschalten.

42 VÉRONIQUE GENS Ausdrucksstark erweckt die Französin auf ihrem neuen Album exaltierte Frauen zum Leben.

STANDARDS

KÜNSTLER

HÖREN & SEHEN

03  PROLOG Der Herausgeber stellt die Ausgabe vor 06 BLICKFANG Mit den Pixeln tanzen 08  OUVERTÜRE Dr. Goeths Kuriosa … Schräge Komponistentode Ein Anruf bei … Andreas Wiedermann Ensemble: Mit unseren Autoren hinter den Kulissen Klassik in Zahlen Playlist: Camille Thomas 34 NEWS Philippe Jordan, Elisabeth Gutjahr, John Axelrod

#ECHOKLASSIK2017

NACHRUFE Wilhelm Killmayer, Ernst Ottensamer

37 IMPRESSUM 48 R ÄTSEL & ­KOMMENTARE 98 HOPE TRIFFT … Michael Bühler

14 EIN TEE MIT … Chick Corea 16 MARISS JANSONS Der große Dirigent hält die Gegenwart für überschätzt 18 ALEXANDRE DESPLAT Unzählige Blockbuster haben seine Musik 20 KRYSTIAN ZIMERMAN Der Pianist ist ein authentischer Querkopf

35 D IE WICHTIGSTEN EMPFEHLUNGEN DER REDAKTION 36 ATTILAS AUSWAHL Unser Chef-Rezensent präsentiert himmlische bis teuflische Alben 47 U NERHÖRTES & NEU ENTDECKTES Über das belgische Multitalent Robert Groslot

22 MARINA REBEKA Rossini hat die Sopranistin auf ihrem Weg regelrecht verfolgt 26 ANTONIO PAPPANO Das Dirigentenwunder startete als Korrepetitor und Barpianist 28 ALFRED BOLLIGER Er saß schon an den verrücktesten Orgeln der Welt 30 RAPHAELA GROMES Die junge Cellistin steckt voll italienischem Feuer 32 HERBERT BLOMSTEDT Von Kindesbeinen an hat ihn die Religion geprägt

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MOZART! Die Seiten der Deutschen Mozart-Gesellschaft Ein Beihefter mit eigenen Themen & Empfehlungen rund um den Komponisten. Ab Seite 49

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F OTO S : L AU R E N T P H I L I P P E; S H E I L A ROC K L I C E N S E D TO E M I C L A S S I C S ; S A N D R I N E E X P I L LY

29. OKTOBER 2017 ELBPHILHARMONIE

06 LICHTERTANZ Die vollkommene Synthese von Videoprojektion und Bewegung gelingt im Tanz­projekt Pixel.


72 KULTUR AM MEER Ostseeflair und Konzertgenuss vereint das geschichtsträchtige Kurhaus Heiligendamm.

77 SPIELPLAN Wie entstehen eigentlich Programme an Opernhäusern, bei Konzertveranstaltern, Festivals oder freien Projekten?

94 BAMBERG Dirigent Jakub Hrůša führt durch seine neue Heimat: das „Klein-Venedig“ Frankens und Epizentrum der Braukultur.

ERLEBEN

SCHWERPUNKT

LEBENSART

65 DIE WICHTIGSTEN TERMINE UND VERANSTALTUNGEN IM SOMMER 72 KULTUR AM MEER Musik im Edel-Kurhaus Heiligendamm

F OTO S : F R A N K B LO E D H O R N ; B A M B E RG TO U R I S M U S & KO N G R ES S S E RV I C E

74 DAS KRANZBACH Alte Gemäuer, neue „Füllung“ – Vier-SterneAlpen-Oase 76 OPER 4.0 AUF MALLORCA Mozarts Le nozze di Figaro neu gedacht

79 SPIELPLAN Von Freud und Leid der Programmgestaltung 80 KOMMENTAR Axel Brüggemann wünscht sich mehr Leichtigkeit bei der Programmplanung 82 SPIELPLAN IM NATIONAL SOZIALISMUS Musik zwischen Instrumentalisierung und Entertainment

93 WEINKOLUMNE John Axelrod über Wein, der so nationalitätenübergreifend wie Rossini ist

AlphA 288

94 REISE: BAMBERG Bier, Pracht und Natur mit dem Chefdirigenten der Bamberger Symphoniker

84 IDEALER ­ SPIELPLAN Persönlichkeiten aus ­ der Musikwelt über ihr perfektes Programm 91 W OHER ­KOMMT EIGENTLICH … … das Libretto zur Oper Hänsel und Gretel?

BUSCH TRIO MIgUel da SIlva Die zweite Folge der ˇ Dvorák-Gesamteinspielung mit dem BUSCH TRIO. Als besonderer Gast an der Bratsche: MIGUel DA SIlvA, Gründer des Ysaÿe Quartets’.

EXKLUSIV FÜR ABONNENTEN Hören Sie die Musik zu u­ nseren Texten auf der ­crescendo Abo-CD – exklusiv für Abonnenten. Infos auf den Seiten 3 & 92

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Note 1 Music gmbh Carl-Benz-Str. 1 - 69115 Heidelberg Tel 06221 / 720226 - Fax 06221 / 720381 info@note1-music.com - www.note1-music.com


O U V E R T Ü R E

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Tanz mit den Pixeln Sie wirbeln filigrane Lichterschweife auf, vermengen sich mit oszillierenden Leuchtwellen, streicheln über flackernde Glimmergewebe. Im Projekt Pixel der Tanzkompagnien von Mourad Merzouki mit den beiden Choreographen Adrien Mondot und Claire Bardainne ist die perfekte Verschmelzung von Videoprojektion und Tanz vollendet gelungen. Eine überirdisch schöne Interaktion zwischen Mensch und Technik. Dabei reagieren die Projektionen makellos auf die Bewegungen der Künstler, deren Stil sich zwischen Modern Dance, Hip Hop und Akrobatik bewegt und zur Musik des französischen Komponisten Armand Amar angelegt ist. P ­ ixel liegt nun auch als DVD vor (siehe S. 44).

F OTO S : L AU R E N T P H I L I P P E; PATR I C K B E RG E R

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O U V E R T Ü R E

Dr. Goeths Kuriosa

DIE SCHRÄGSTEN ­KOMPONISTENTODE Henry Purcell (1659–1695): Wieder kam der berühmte Barockkomponist volltrunken nach Hause. Seine Frau sperrte ihn aus und ließ ihn in der Kälte vor der Tür sitzen. Er starb an einer üblen Erkältung. Ludwig van Beethoven (1770–1827): Auch der große Wiener Klassiker war kein Trunkverächter. Zu seiner Zeit wurden Weine oft mit Blei versetzt. Beethoven zerstörte sich über viele Jahre damit seine Gesundheit und starb an einer Bleivergiftung. Anton Webern (1883–1945): Webern wurde versehentlich von einem US-amerikanischen Soldaten erschossen, als er vors Haus trat, um sich eine Zigarre anzuzünden. Eigentlich wollte der Schütze eine Razzia wegen Schwarzmarkthandels bei Weberns Schwiegersohn durchführen. Alban Berg (1885–1935): Aus Sparsamkeit schnitt Bergs Frau ein Furunkel selbst auf, statt einen Arzt zu konsultieren. Berg starb an Blutvergiftung. Robert Schumann (1810–1856) und Hugo Wolf (1860–1903): Die zwei großen Liedkomponisten wollten im Abstand eines halben Jahrhunderts beide erst freiwillig in den Tod gehen: Schumann stürzte sich in den Rhein, Wolf in den Traunsee. Beide landeten in Irrenanstalten, in denen sie schließlich starben.

ZITAT DER WOCHE „An meiner Einsamkeit berausche ich mich. Wie schön das Zusammenleben mit lieben Menschen auch sein mag, manchmal muss man doch allein sein. Ich führe [...] ein echtes, reiches Leben und genieße echtes Glück nur dann, wenn ich mit den Menschen nicht in Berührung komme, was mich übrigens nicht daran hindert, einige Vertreter des Menschengeschlechts mehr als mein eigenes Leben zu lieben.“ PETER ILJITSCH TSCHAIKOWSKY

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Jean-Baptiste Lully (1632–1687): Bei der monumentalen Aufführung seines Te Deum klopfte der Komponist den Takt mit einem Spazierstock. Diesen rammte er sich versehentlich in den Zeh und starb an Wundbrand. Ernest Chausson (1855–1899): Dem französischen Romantiker wurde sein Fahrrad zum Verhängnis: Er bekam am Ende eines Abhangs die Kurve nicht und fuhr gegen eine Steinmauer. Alexander Borodin (1833-1887): Ein theaterreifes Ende fand Komponist und Pianist Alexander Borodin: Er starb um Punkt 12 Uhr nachts auf einem Faschingsball – vermutlich an einem Herzanfall. Richard Wagner (1813–1883): In Venedig schrieb Wagner an einem Aufsatz Über das Weibliche im Menschlichen, als er wie Borodin an einem Herzanfall starb. Die letzte Notiz: „Liebe – Tragik“. Isadora Duncan (1877–1927): Sie war zwar keine Komponistin, doch der Tod der Tänzerin und Choreografin war ebenfalls sehr besonders: Mit langem roten Seidenschal machte sie es sich zu einer Spazierfahrt mit einem Luxus-Cabriolet bequem. Beim Anfahren verfing sich der Schal in den Speichen … und brach ihr das Genick.

HÄTTEN SIE’S GEWUSST?

Richard Wagner war zwar ein Bilderbuch-Exzentriker, doch dass wir ihn mit schwarzem Samt-Barett auf dem Kopf kennen, hat einen ganz trivialen Grund: Der Meister des Gesamtkunstwerks litt an Wollunverträglichkeit mit daraus resultierendem Hautausschlag, Gesichtsrose, Flechten und Hitzeblattern, was sich auch am Kopf äußerte. So zog er das Tragen eines Baretts dem von Hüten vor und gewandete sich gern in Samt und Seide.

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Aktuelle

NEUHEITEN bei Sony Music

Francesco Tristano Piano Circle Songs

Erhältlich ab 15.9.

Die einfache Schönheit der Melodie – Pianist, Komponist und Produzent Francesco Tristano veröffentlicht sein erstes Album bei Sony Classical mit eigenen Kompositionen für Klavier. Vier der Werke entstanden in Zusammenarbeit mit Chilly Gonzales, der ihn bei der Aufnahme dieser Werke auch begleitet.

Raphaela Gromes Serenata Italiana

Jonas Kaufmann | L’Opéra Jonas Kaufmann präsentiert mit dem Orchester der Bayerischen Staatsoper unter Bertrand de Billy großartige Arien aus Bizets Carmen, Gounods Roméo et Juliette, Massenets Werther und vielen mehr. Mit dem berühmten Perlenfischer-Duett und Sonya Yoncheva als Gast.

Die junge Münchner Cellistin Raphaela Gromes, von der sogar der große Cellist Yo-Yo Ma begeistert ist („mutige Neugier und Energie“), spielt auf ihrem neuen Album selten zu hörende spätromantische italienische Werke für Cello und Klavier, mitreißend und stimmungsvoll. Am Klavier: Julian Riem.

Leif Ove Andsnes | Sibelius Andsnes’ persönliche Hommage an den finnischen Komponisten und dessen bisher weitgehend unbekannte, aber faszinierende Klavierwerke. U.a. mit Sibelius’ eigener Bearbeitung des berühmten Valse triste sowie Auszügen aus den Zehn Stücken und den in der finnische Volksmusik verwurzelten Sechs Impromtus.

The Wave Quartet | Bach

Regula Mühlemann | Cleopatra Die für ihr Mozart-Debütalbum hochgelobte Sopranistin Regula Mühlemann hat aus über 80 Opern, die sich mit der ägyptischen Königin beschäftigen, von Vivaldi über Scarlatti bis Händel, die schönsten Arien ausgesucht und mit dem La Folia Barockorchester aufgenommen. „Hinreißender Gesang“ Fono Forum

www.sonyclassical.de

Die vier Marimba-Spieler des Wave Quartet haben gemeinsam mit dem L’Orfeo Barockorchester J. S. Bachs vier Cembalokonzerte in eigenen neuen Arrangements eingespielt. So erfrischend leicht und modern hat man diese populären Konzerte nie gehört.

www.facebook.com/sonyclassical


O U V E R T Ü R E

Oper in Hitlers Heizkraftwerk Oper im Zirkus, im Jugendstil-Schwimmbad, in einer ehemaligen Reithalle oder einem Uni-Hörsaal. crescendo im Gespräch mit Regisseur Andreas Wiedermann, der für seine ­Produktionen mit Opera Incognita gerne Räume mit sehr besonderer Patina wählt. crescendo: Herr Wiedermann, gerade erarbeiBühnenbauten. Glucks Armide spielten wir in ten Sie Carmen in Hitlers ehemaligem Münchder Münchner Reaktorhalle. Das Projekt lief so ner Heizkraftwerk. Warum? gut, dass wir das Provisorium zum Konzept erAndreas Wiedermann: Unsere erste Assoziatihoben haben: Seitdem suchen wir Räume, die on bei dieser Oper war eine Industriehalle. Ein eine Geschichte erzählen, Leben in sich berRaum, der eine gewisse Brutalität und Nacktheit gen, Spuren haben. Für Wagners selten gespielausstrahlt, in dem man die Figuren auch völlig ten, tabuisierten Rienzi haben wir zum Beispiel voneinander isolieren kann. Nach einigen Fehleinen Raum gesucht, der uns einen Bruch erversuchen sind wir auf diesen Raum gestoßen und laubt. Den fanden wir in einem Uni-Hörsaal. haben uns sofort verliebt: Er ist karg und doch leAbseitige Räume schön und gut, aber wie bendig, hat Chaosfaktor und Ruhe zugleich. sieht es dort mit der Akustik aus? Greifen Sie die nationalsozialistische VerganDie akustischen Schwierigkeiten muss man genheit des Raumes auf? einfach benutzen, sie spielen mit! In erster Linie fanden wir den Raum an sich richIhr Raum-Werk-Wunschtraum? tig und spannend. Bezug zu seiner NS-VerganVor einigen Jahren war ich in Indien. In Regisseur Andreas Wiedermann hat genheit schafft jedoch, dass wir eine Art Lager ­Orchha gab es einen völlig verwunschenen, ein Faible für außergewöhnliche behaupten: Unsere Carmen spielt in einem fikverfallenen Raja-Palast. Ich könnte mir wunKombinationen aus Werk und Ort. tiven und nicht näher verorteten Textil-Sweatderbar vorstellen, vor dem dortigen spirituelshop, aus der die Näherinnen nicht entfliehen len Hintergrund mitteleuropäische Oper mit können. Sie müssen dort leben, essen, schlafen und zu unmöglichen magischen Momenten aufzuführen, zum Beispiel Händels AlciZeiten und Konditonen arbeiten. Die Soldaten wurden zu paramili- na. Dort hat man einen ganz anderen, viel konkreteren Bezug zu tärischen Aufsehern umfunktioniert. Also eine Art Arbeitslager. Zauberei und Magie. Das wäre eine komplette Durchmischung der Wie treffen Sie allgemein Ihre Raumauswahl? Kulturen! Die Idee zu raumspezifischen Opernprojekten kam uns vor über „Carmen“ ist noch bis zum 16.9. im MMA München zu sehen. zehn Jahren aus der Not: Wir hatten zu wenig Budget für eigene www.opera-incognita.de

HINTER DER BÜHNE Die Welt von crescendo lebt von den Künstlern und Mitarbeitern, die sie mit Leben füllen. Deshalb der gewohnte Blick hinter die Kulissen der Produktion. RUTH RENÉE REIF Das „flüchtige Ereignis“ in crescendo anzukündigen, ist die Aufgabe von Ruth Renée Reif: Als Erleben-Redakteurin spürt sie mit detektivischem Eifer packende, hören- und sehenswerte Veranstaltungen für uns auf. Ruth Renée Reif studierte in Wien Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte und ist seit 1987 in München als freie Journalistin und Publizistin tätig. Zu ihren Veröffentlichungen zählen eine Biografie über die Sängerin Karan Armstrong, ein historisches Porträt der Stuttgarter Philharmoniker sowie zahlreiche Gespräche mit Musikern, Schriftstellern und Philosophen.

FRANK BLOEDHORN

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F OTO S : P R I VAT

Im „richtigen Leben“ ist Frank Bloedhorn Trompeter an der Bayerischen Staatsoper. ­Daneben ist er leidenschaftlicher Fotograf. In Kombination seiner Steckenpferde gelingen ihm bei Proben und hinter der Bühne mit Kollegen und Stars immer wieder unverwechselbare, wunderbar authentische, künstlerisch hochwertige Schnappschüsse mitten aus dem Geschehen. Eines seiner Bilder haben wir als Titel zu unserem ­Schwerpunkt „Spielplan“ gewählt (Seite 78). www.frankb.photography www.crescendo.de

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O U V E R T Ü R E

KLASSIK IN ZAHLEN

239.744

Zahl der Zuschauer, die in der Spielzeit 2015/16 in Deutschland Mozarts Zauberflöte gesehen haben. (Aus: „Wer spielte was? Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins. 2015/16“)

824

Anzahl von Klavieranschlägen pro Minute für den neuen Weltrekord.

(Im Juni aufgestellt vom portugiesisch-amerikanischen Pianisten Domingos-­Antonio Gomes.)

9,7

Zahl der Theatersitzplätze in Deutschland pro 1.000 Einwohner (Aus: Theaterstatistik 2014/15. Die wichtigsten Wirtschaftsdaten der Theater, Orchester und Festspiele.)

20

Anzahl der Kinder von Johann Sebastian Bach. Fünf Söhne und zwei Töchter stammten aus erster Ehe mit Maria Barbara Bach und sechs Söhne und sieben Töchter aus zweiter Ehe mit Anna Magdalena Bach.

NEWSTICKER Rekord-Musik: In den vergangenen Wochen konnten gleich zwei musikalische Guinnessbuch-Rekorde gebrochen werden: Der armenischjüdische Geiger Nikolay Madoyan ist mit 33 Stunden neuer Meister im Dauergeigen. Er spielte ein vielfältiges Repertoire. Die meisten Klavieranschläge pro Minute bewältigte Domingos-Antonio Gomes (siehe oben). Das Ergebnis klang hier allerdings eher nach Presslufthammer als nach Musik: Wiederholt wurde nur ein einziger Ton. +++ 900.000 Euro für zeitgenössische Musik: Der neue Fonds für zeitgenössische Musik hat erste Förderungen vergeben. Dabei wurden aus 459 Anträgen 86 Projekte ausgewählt und mit fast einer Million Euro unterstützt. +++ Trump gegen Trump: US-Präsident Donald Trump hat einen Rechtsstreit gegen den Ingenieur und Musiker Tom Scharfeld verloren, der die Trompeten-Lernsoftware „iTrump“ entwickelt hat. Nach langjährigem Streit konnte Scharfeld das Gericht davon überzeugen, dass „Trump“ im allgemeinen Sprachgebrauch als Abkürzung für „Trumpet“ gebraucht wird und damit kein eigenständiger Markenname ist. 12

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PLAYLIST Gerade hat Camille Thomas den ECHO KLASSIK in der ­Kategorie „Kammermusikeinspielung des Jahres“ gewonnen. Uns verrät die junge französische Cellistin, zu welcher Musik sie privat am besten joggen und abschalten kann – und ­welche sie zu Tränen rührt.

MAtthias Goerne © Marco Borggreve

1. Franz Schubert: Quintett op. 163, D 956 Ich bin mit 18 für mein Studium nach Berlin gezogen. Die erste CD, die ich mir dort gekauft habe, war dieses Quintett, gespielt von Isaac Stern, Alexander Schneider, Milton Katims, Pablo ­Casals und Paul Tortelier. Für mich ist das Stück das achte Weltwunder und diese Live-Aufnahme rührt mich zu Tränen.

F OTO: DA N C A R A B A S

2. Jacques Brel: La valse à mille temps Meine Eltern kommen aus Belgien, und wir haben in meiner Kindheit immer dieses Album von Brel im Auto gehört. Für mich ist Jacques Brel ein wunderbarer Künstler, seine Chansons sind so berührend. Er gibt alles und singt aus ganzem offenen Herzen.

HMM 902323

3. Rolando Villazón: Duets Damit verbinde ich meine frühe Jugend: Meine Mutter kaufte sich das Album von Rolando Villazón, und ich habe dazu in meinem Zimmer immer sehr laut gespielt, mitgesungen und von der großen Liebe geträumt. Das Duett aus den Pêcheurs de Perles war mein Lieblingsstück, ich habe es eine Million Mal gehört. So romantisch …

Johann Sebastian BACH Bass-Kantaten

4. Muse: Origine of Symmetry Ich reise sehr viel. Um fit zu bleiben, jogge ich gern. Ich liebe es, beim Laufen dieses Album zu hören. Die Musik ist schön und verrückt, sie gibt so viel Energie und Kraft und macht Lust, über die eigenen Grenzen hinauszugehen.

Freiburger Barockorchester Gottfried von der Goltz In seinen Kantaten für Solostimme verband Johann Sebastian Bach auf meisterhafte Weise zwei Elemente, die unvereinbar erscheinen mögen – strenge Andacht im Rahmen der allwöchentlichen lutherischen Gottesdienste und vokale Virtuosität, die mittels geschickter Hervorhebung der Stimme zu besonderer Geltung gebracht wird. Hieraus resultiert ein Stil, in dem die Ausdruckskraft des geistlichen Textes zu einem Gipfel an Intensität gesteigert wird – speziell wenn eine Stimme wie die von Matthias Goerne sich dieser beiden berühmten Solokantaten für Bass annimmt und ihnen den Glanz kostbarer Perlen verleiht!

5. Nina Simone: I Put a Spell on You Ich bin den ganzen Tag mit meiner Musik beschäftigt und brauche am Abend oft etwas ganz anderes. Nina Simone ist für mich ein Synonym für Entspannung. Wenn ich ihre Stimme höre, fühle ich mich sehr wohl. Camille Saint-Saëns und Jacques Offenbach, Camille Thomas, Orchestre National de Lille, Alexandre Bloch (Deutsche Grammophon)

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harmoniamundi.com


K Ü N S T L E R

Auf einen Tee mit …

CHICK COREA

F OTO: TH O M A S K R E B S

VON RALF DOMBROWSKI

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Armando Anthony „Chick“ Corea (*1941 in Chelsea, Massachusetts) ist Pianist und Komponist. Er ist einer der Gründerväter des Jazzrock und sprengt immer wieder die Grenzen zwischen Jazz, Klassik und anderen Musikgenres.

crescendo: Mister Corea, was würden Sie nach Ihrer unglaublichen Karriere immer noch genauso machen? Chick Corea: Ach, das wäre reine Spekulation! Ich würde tatsächlich niemals versuchen, die Vergangenheit zu wiederholen! Das echte Abenteuer besteht darin, sich immer wieder etwas Neues einfallen zu lassen. Sie scheinen also ein sehr neugieriger Mensch zu sein … Nur dadurch bleibt man am Leben! Ansonsten hören wir auf hinzuschauen und denken viel zu viel nach. Wie gesagt, die echte Herausforderung ist es, immer etwas Neues zu entdecken. Sonst langweilt man sich, und es geht sofort bergab. Von Ihrer Band Circle aus den 70er-Jahren zu Mozart oder auch umgekehrt ist es ein langer Weg. Werden Sie nicht manchmal wahnsinnig vor lauter Kulturkontrasten? Ich blühe durch die Vielfalt der Künste, die Vielfalt in der Interpretation und des Lebens im Allgemeinen erst richtig auf! Ich liebe es zu musizieren und dann zu erleben, wie verschiedene

„DIE PERFEKTE KUNST GIBT ES NICHT! FÜR MICH IST DER EFFEKT DAS ­ENTSCHEIDENDE KRITERIUM“ Ansätze sich unterschiedlich auswirken. Die perfekte Kunst gibt es nicht! Für mich ist die Qualität des Effekts auf den Hörer das entscheidende Kriterium. Ich möchte, dass die Zuhörer etwas Positives und hoffentlich Erhebendes mit nach Hause nehmen. Viele Musiker lieben Konzerte und hassen das Reisen … Reisen ist großartig! Leute treffen; schauen, wie es anderswo auf der Welt zugeht; schauen, was ich selbst für mich mitnehmen kann. Flughäfen und Fluggesellschaften sind allerdings nicht so mein Ding. Aber ich glaube, die mag ja keiner. Was kriegen Sie von den Städten, in denen Sie spielen, denn so mit? Nur die Konzertsäle? Meistens kriege ich weniger mit, als ich gerne würde. Aber manchmal ist noch Zeit für einen Spaziergang, und manchmal habe ich zwischen den Auftritten auch ein oder zwei Tage frei. Kann man als einer der bekanntesten Jazzmusiker der Welt noch in den Supermarkt gehen, ohne von einer Horde Fans verfolgt zu werden? Ich sehe keinen Grund dafür, inkognito zu bleiben. Manchmal erkennen mich die Leute, aber sie nehmen mich immer gut auf. Und mir macht’s Spaß, die Leute zu treffen, die meine Musik mögen. Heute hab ich einen Typen getroffen, der zu mir meinte: „Weißt du, dass du aussiehst wie Carlos Santana?“ Tatsächlich ist mir das schon ein paar Mal passiert … Vielreisende Musiker werden oft zu Zigarren-, Whiskey- oder Weinspezialisten – manchmal schon aus purer Langeweile. Oder sie entwickeln absurde Sammelleidenschaften. Was ist Ihr kleines, geheimes Laster? Ich habe mein Leben lang geraucht, damit aber vor zehn Jahren

aufgehört. Seit einigen Jahren bin ich Vegetarier. Deshalb führt mich ein guter Teller Pasta mit Käse, feinem Öl und gut gewürzter Soße echt in Versuchung. Meine Eltern waren beide Italiener der ersten Generation in Amerika. Deshalb bin ich mit der Liebe zur italienischen Küche groß geworden. Meine Mutter Anna war in dieser Hinsicht die Allergrößte! Aber auch heute Abend habe ich wundervolle Spaghetti arrabiata hier im italienischen Ferrara gegessen. Sie haben viel Inspiration aus den Büchern von L. Ron Hubbard* gezogen. Was würden Sie ihn fragen, wenn Sie ihn persönlich träfen? Ich hatte tatsächlich jahrelang einen angeregten Briefwechsel mit LRH. Seine Antworten waren immer warmherzig und für mich unglaublich praktisch und hilfreich. Heute würde ich ihn wahrscheinlich fragen, wie man mehr Menschlichkeit in die Welt bringen könnte. Ich schätze, seine Antwort wäre irgendeine neue und spontane Version seines Buches „Der Weg zum Glücklichsein“. Ich bin Fan von Fantasy und Science-Fiction. Und Sie? ­Lieblingsbuch? Tatsächlich gehören Science-Fiction und Fantasy auch zu meinen Lieblingsgenres und L. Ron Hubbard ist da mein Lieblingsautor. Ich habe sogar zwei Platten aufgenommen, die auf Tondichtungen nach seinen Erzählungen Zu den Sternen und Das letzte Abenteuer basieren. Ich bin aber auch ein Riesenfan von Robert Heinlein. Haben Sie schon mal daran gedacht, mit der Musik aufzuhören und etwas ganz anderes zu machen? Malen, fotografieren, kochen? Haha, aufzuhören, etwas zu schöpfen, ist der Tod! Es würde mir gefallen, jede der drei Künste, die Sie genannt haben, eine Lebenszeit lang auszuüben! Apropos kochen: Was war das beste Essen, das Sie je gegessen haben? Oh, es gab einfach viel zu viele „beste Essen“… zum Beispiel die Spaghetti arrabiata von heute Abend! Wenn eine nächste Voyager-Sonde mit dem kulturellen Erbe der Menschheit ins All geschickt würde, welches Ihrer Stücke empfehlen Sie dafür? Aus dem Stand würde ich sagen Sometime Ago/La Fiesta von dem ersten „Return To Forever“-Album bei ECM Records. Vor vielen Jahren haben Sie zusammen mit Friedrich Gulda gespielt. Was ist Ihnen davon in Erinnerung geblieben? Friedrich war ein großartiger Musiker, fantastischer Pianist und wichtiger Mentor für mich, der dann auch zu einem guten Freund wurde. Ihm verdanke ich meine ersten Erfahrungen mit Mozart: Ich durfte mit dem großen Dirigenten Nikolaus Harnoncourt und dem Concertgebouw Orchester spielen. Er war ein wilder Kerl – und sehr witzig! ■ *Anmerkung der Redaktion: Der 1986 verstorbene US-amerikanische Science-Fictionund Selbsthilfe-Autor L. Ron Hubbard ist Gründer der Sekte „Scientology“. Sowohl der Religionscharakter als auch die Methoden der Organisation sind äußerst umstritten. In Deutschland wird Scientology seit 1997 durch den Verfassungsschutz beobachtet. Chick Corea ist seit vielen Jahren bekennender Anhänger der Bewegung.

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K Ü N S T L E R

Mariss Jansons findet, der Wandel der eigenen Persönlichkeit ist viel einflussreicher auf das Musizieren als der Wandel der Welt.

UNENDLICHER ­KOSMOS ­ Mariss Jansons nimmt gerade die Sinfonien Gustav Mahlers auf. Hier spricht er über das Unaussprechliche, die Energie der Musik und die Mär, dass unsere Zeit die Interpretation bestimmt. VON AXEL BRÜGGEMANN

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F OTO: M E I S E L (B R); B R

H

err Jansons, gemeinsam mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nehmen Sie gerade einen Mahler-Zyklus auf. Mahlers Musik holt den Klang der Welt ins Orchester. Gleichzeitig verweist er auf etwas Größeres: die Liebe, den Tod, die Ewigkeit. Ist Mahler uns mit seinen Klängen zwischen Himmel und Hölle in dieser wirren Welt besonders nahe? Mariss Jansons: Ich bin kein Freund davon, Musik in Moden oder in der Kategorie von Aktualität zu messen. Der unendliche Kosmos, den Mahlers Musik eröffnet, ist, glaube ich, zu jeder Zeit aktuell. Er verweist auch weniger auf das Gegenwärtige als viel mehr auf etwas, das uns die Welt als komplexes Gebilde verstehen lässt. Mahler stellt sehr viele Fragen, und wenn man seine Musik anschaut, wird schnell deutlich, dass er viele Antworten selber nicht kannte. Die Musik ist oft gar nicht für das Konkrete bestimmt. Sie ist ein Mittel des Ausdrucks, an dessen Ende durchaus die Offenheit stehen darf. Das ist vielleicht ein Grund, warum jemand wie Mahler die Musik genutzt hat: Sie sucht jenseits der Worte und der Parallelen zum aktuellen Tagesgeschehen nach einem tieferen Sinn unseres Daseins. Wenn Sie glauben, dass Mahler auf viele Fragen keine Antworten hatte, dass das Unbewusste einen großen Anteil am Vorgang des Komponierens hat, ist es dann Ihre Aufgabe als Dirigent und Interpret dennoch, Antworten in dieser Musik zu finden? Ich glaube, dass es erst einmal darum geht, die Fragen eines

INSTINKT IST FÜR MICH DER SCHLÜSSEL ZUM MUSIZIEREN

Komponisten möglichst genau zu formulieren. Denn die sind ja schon sehr groß: Gibt es ein Leben nach dem Leben? In der Zweiten Sinfonie ist Mahlers Antwort da ziemlich eindeutig: Er lässt uns hören, dass es irgendwo einen Himmel gibt, in dem es wunderschön sein muss. Aber schauen Sie auf die Neunte Sinfonie, da sieht die Sache schon ganz anders aus. Dort beschreibt Mahler ziemlich klar, dass es so etwas wie den vollkommenen Tod durchaus geben könnte. Wenn wir das verstehen, wissen wir, dass ein Großteil der Musik selber eine Art Glaubensfrage ist. Die einen glauben an Gott und das ewige Leben, die anderen nicht. Allgemeingültige Antworten werden Sie nicht finden, mit viel Glück und Arbeit aber ein Gefühl des Verstehens. Es geht also nicht um die konkrete Antwort, sondern um das Gefühl? Was für ein Gefühl ist das, können Sie das beschreiben? Ich glaube, dass die Musik uns oft gar nicht auffordert, konkrete Antworten zu finden. Musik funktioniert nicht nach dem Prinzip der Sprache oder einer Matheaufgabe, an deren Ende ein unumstößliches Ergebnis steht. Wir kennen doch alle diese Gefühle, in denen wir meinen, die Welt oder die Liebe zu verstehen, oder in denen wir an beidem zweifeln. Aber wir können diesem Gefühl in dem Moment, in dem wir es spüren, oft keine konkreten Worte geben – was bleibt, ist eine unaussprechliche Atmosphäre. Und darum geht es vielleicht auch in der Musik. Wir müssen uns voll und ganz auf das einlassen, was vor uns liegt, darauf, dem Komponisten auf eine für uns ernsthafte Weise gerecht zu werden. Diese 17


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Herausforderung muss am Anfang aller Interpretation stehen. Dann geht es darum, einer Energie Lauf zu lassen, die bereits in den Noten angelegt ist. Dafür wiederum ist es wichtig, sich intensiv mit dem Komponisten, seinen Partituren und seinem Leben auseinanderzusetzen. Und wenn man all das getan hat, beantworten sich die Fragen, die ein Komponist wie Mahler oft intuitiv gestellt hat, innerhalb der Musik und ihrer Mittel vielleicht ebenfalls so intuitiv. Sie meinen, dass die Gegenwart, in der wir leben, keinen direkten Einfluss auf unsere Interpretationen hat? Meiner Meinung nach wird die Rolle unserer Zeit für die Interpretation von Musik gemeinhin überschätzt. Wie kommt es dann, dass Mahler unter Bruno Walter oder Leonard Bernstein ganz anders klang als bei Ihnen? Natürlich gibt es unterschiedliche Interpretationen. Aber ich glaube nicht, dass es viel mit der Gegenwart der jeweiligen Künstler und Musiker zu tun hat. Es geht eher darum, mit welchen individuellen Fragestellungen und mit welcher persönlichen Sicht man einem Werk begegnet. Der viel größere Wandel, der stattfindet, ist der Wandel der eigenen PersönlichICH WAR VOLLER keit – er ist viel einflussreicher ­KOMPLEXE, HABE MICH auf das Musizieren als der Wandel der Welt. FÜR ALLES ­GESCHÄMT, Kann man den Wandel der UND ES FIEL MIR SEHR Persönlichkeit vom Wandel der SCHWER, MEIN HERZ Welt trennen? Macht es einen Menschen nicht aus, wenn er ZU ÖFFNEN – so wie Sie – in einem Versteck zur Welt gebracht wurde, weil Ihr Vater und Ihr Onkel im Rigaer Ghetto umgekommen sind? Ich gebe Ihnen zum Teil recht: Natürlich hat die Zeit auch einen Einfluss auf unsere Empfindsamkeit und unsere Art, die Dinge zu sehen. Vielleicht unterschätzen wir diesen Einfluss zuweilen. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass ein Mensch seine Meinungen innerhalb eines Lebens nicht grundlegend ändert. Er entwickelt sich, er lernt, er mildert einiges ab, verschärft anderes – aber die äußeren Einflüsse sind nicht so groß, dass sie die innere Welt grundlegend verändern. Beim Musizieren kann es ja auch einfach darum gehen, als Individuum in die Musik an sich abzutauchen, in eine Welt, in der unsere reale Welt immer kleiner und das, was uns innerlich ausmacht, größer wird. Es ist ein Erlebnis, immer tiefer in diese Welt hinabzusteigen, um dem, was ein Komponist in seinen Partituren angelegt hat, nahezukommen. Als Individuum mitten in dieser Musik zu stehen und seine intuitiven Schlüsse aus ihr zu ziehen – das ist für mich die Herausforderung der Musik. Natürlich gibt es auch Musiker, die das anders sehen, die sich allein von der Gegenwart, von einer Mode oder vom Gedanken, etwas besonders neu oder revolutionär zu machen, leiten lassen. Aber ich glaube, dass diese Interpretationen nur selten ihre Zeit überdauern. Wenn Sie sagen, dass sich der Blick auf die Musik während eines Lebens ändert – wie würden Sie diese Änderungen bei sich beschreiben? Natürlich habe ich Mahler in den 1990er-Jahren anders interpretiert als heute. Es ist doch klar, dass man als junger Mann anders denkt, vielleicht mehr will, aber noch nicht wirklich so viel weiß. Viele sagen, Alter hätte den Vorteil, dass man entspannter wird. Das ist für mich ein unwesentlicher Faktor. Natürlich hat man mehr Erfahrungen gesammelt. Wirklich entscheidend ist für mich, dass der Instinkt weiter ausgebildet ist. Instinkt ist für mich der Schlüssel zum Musizieren. Sie können die Metronomangaben genauestens einhalten, Sie können die dynamischen Angaben genau befolgen, Sie können alle Noten richtig spielen – all das ist sicherlich hilfreich, aber daraus allein wird noch keine Musik. 18

Musik entsteht zwischen den Noten. Sie entsteht erst durch den Instinkt, eine Partitur zu ordnen, was oft genug im Moment und im Detail passiert. Dann geht es darum, richtig zu reagieren, ein Zeichen zu geben, eine Energie freizusetzen, die das Orchester versteht. Dieser Instinkt ist vielleicht im Alter besser ausgeprägt. Er ist nötig, um am Ende eine Atmosphäre aus Musik zu schaffen. Mit anderen Worten: Das Wissen ist wichtig, aber im Ernstfall geht es darum, es zu vergessen und intuitiv zu reagieren? So könnte man es sagen. Vielleicht hat all das etwas mit dem zu tun, was wir „Seele“ nennen. Sie funktioniert wie eine Blume oder ein Baum: Wenn die Pflanzen jung sind, sind sie betörend schön, strotzen vor Kraft, sind grün und wild – aber spannend werden sie besonders im Herbst oder im Alter, wenn sie knorriger werden, wenn sie eine Geschichte zu erzählen haben. Herr Jansons, Sie sind heute 74 Jahre alt. Wie unterscheidet sich der junge Mariss Jansons vom „alten Dirigenten-Baum“? Im Kern wohl wenig: Es sind dieselben Wurzeln, die gleiche DNA, vielleicht ist einiges in unerwartete Richtungen gewachsen. Aber ich empfinde mich noch immer als den gleichen Menschen. Auch wenn ich durchaus einige Dinge nennen könnte, die sich bei mir verändert haben … Spannen Sie uns nicht auf die Folter … Ich war als Jugendlicher sehr schüchtern, still und fand einfach nicht die Worte, um meiner inneren Welt Ausdruck zu verleihen. Ich war voller Komplexe, habe mich für alles geschämt, und es fiel mir sehr schwer, mein Herz zu öffnen. Inzwischen habe ich verstanden, dass der Ausdruck, die Expression, ein wesentlicher Bestandteil der Kommunikation und besonders des Musizierens darstellt. Es geht immer darum, dem Orchester und dem Publikum die nötige Energie bereitzustellen. Dafür ist ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein einfach nötig – und das habe ich mir angelernt. Was genau passiert, wenn Sie der Energie Lauf lassen? Am besten kann ich das mit einem Vergleich zwischen Literatur und Musik erklären. Grundsätzlich funktionieren beide Künste sehr ähnlich: Es gibt Buchstaben, aus denen sich Worte bilden. Worte werden zu einem Satz. Am Ende machen alle Buchstaben den Sinn des Satzes aus, der Satz gibt jedem Buchstaben seine Bedeutung im Ganzen. In der Musik ist das anders: Unsere Buchstaben sind die Noten, sie wachsen zu einem Motiv – und aus den Motiven entsteht ein Satz. Aber anders als der Satz in der Sprache ist der Satz in der Musik nicht unbedingt sofort zu verstehen. Er braucht eine Übersetzung. Und das ist, wofür wir Interpreten die Energie und die Intuition brauchen. Unsere Aufgabe ist es, bei unserer Interpretation des musikalischen Satzes so nahe am Komponisten wie möglich zu sein. Gleichzeitig müssen wir vom Orchester und vom Publikum verstanden werden. Es geht darum, durch Energie eine Brücke vom Komponisten zum Publikum zu schlagen. Übrigens gibt es dieses Phänomen in der Sprache auch: Wenn es darum geht, wie ein Schauspieler einen Satz sagt. In diesem Fall geht es um die Atmosphäre, die er erzeugt. Atmosphäre ist auch in der Musik von enormer Bedeutung. Macht es Ihnen Spaß, über Musik zu reden? Um ehrlich zu sein: Ich genieße solche Gespräche, aber es fällt mir sehr schwer, das, was ich in der Musik erfahre, in Worten auszudrücken. Meine Erfahrung ist, dass weder die eigentliche Arbeit eines Interpreten noch der Sinn eines Musikstückes sich in einer anderen Form als in Musik selbst vermitteln lassen. Ein bisschen kommt mir jedes Gespräch über die Geheimnisse der Musik vor wie ein Gespräch über die Frage, warum wir leben. Das sind Themen, die einfach zu groß für meine Möglichkeiten des Wortes sind. ■ Gustav Mahler: „Symphonie Nr. 5“, Symphonieorchester des ­Bayerischen Rundfunks, Mariss Jansons (BR Klassik) Termine: 12., 13.10. München, Herkulessaal www.crescendo.de

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DER FILMMUSIK-TITAN ­

F OTO: X AV I E R F O RC I O L I , U. S . E M B A S S Y F R A N C E P H OTO

Er komponierte die Musik zu Blogbustern wie Harry Potter, The King’s Speech oder Grand Budapest Hotel. Oscar-Preisträger Alexandre Desplat passt sich seiner U ­ mgebung an wie ein Chamäleon – und springt auch mal als Nebendarsteller bei seinem Kumpel George Clooney ein. V O N K A T H E R I N A K N E E S

Zuletzt hat Alexandre Desplat die Musik zum Film Valerian – Die Stadt der tausend Planeten fertiggestellt, der Ende Juli in die deutschen Kinos kam. Regie führte Luc Besson.

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ello, it’s Alexandre Desplat.“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung ist warm und weich. Eine mediterrane Brise rauscht im Hörer. Der französische Filmkomponist ist gerade in Griechenland, der Heimat seiner Mutter, und geht spazieren. Dort im sonnigen Süden hat Alexandre Desplat alles, was er braucht, um Inspiration für neue musikalische Ideen zu schöpfen. „Ein schöner Ausblick aus dem Fenster, ein Biomarkt in der Nähe, das reicht mir schon“, schmunzelt er. Zu Beginn seiner Karriere dachte Alexandre Desplat noch, dass er außerhalb seines eigenen Studios niemals die Ruhe zum Komponieren finden könnte, doch mittlerweile geht das überall und zu jeder Zeit und er passt sich seiner Umgebung an wie ein Chamäleon. Dann zieht er sich in seine innere Welt zurück, in der die Musik entsteht, mit der er in den letzten 15 Jahren so farbenreich und märchenhaft viele große internationale Filmproduktionen bereichert hat. Schon als Kind hatte Alexandre Desplat einen besonderen Bezug zu dieser inneren Welt. „Ich war ein zurückhaltender Junge mit zwei älteren Schwestern. Ich habe immer gerne in meinem Zimmer gesessen und gemalt, das war für mich wie Atmen. Und dann ist in mir die Liebe zur Musik gewachsen, die immer um mich herum war. Mit ihr konnte ich all dem, was in mir vorging, Ausdruck verleihen.“ Alexandre Desplats musikalische Handschrift transportiert bis heute unverkennbar seine fantasievolle Gabe, mit Klängen magische Stimmungen entstehen zu lassen. In sein Portfolio gehört unter anderem die Musik zu Der seltsame Fall des Benjamin Button, die Soundtracks zu den Harry-Potter-Verfilmungen, The King’s Speech, Der Gott des Gemetzels oder Florence Foster Jenkins. Zuletzt hat er die Musik für Valerian and The City of A Thousand Planets von Luc Besson geschrieben. „Mit Luc Besson zu arbeiten ist ein unvorstellbares Vergnügen. Seine leidenschaftliche Begeisterung für die Musik ist so inspirierend, er legt sein ganzes Herz ins Kino, das entspricht sehr der Art, wie ich arbeite.“

Von außen betrachtet wird oft die Filmmusik für Das Mädchen mit dem Perlenohrring als der Schlüsselmoment in seiner Karriere gesehen, der ihm 2003 den internationalen Durchbruch bescherte. Für Desplat ist es jedoch ein persönliches Ereignis, das ihn als Komponisten geprägt hat: „Als ich meine Frau Solrey Lemonnier kennengelernt habe, da hat sich für mich alles verändert. Sie ist seitdem immer mein „erstes Ohr“ und meine schonungsloseste Kritikerin. Als künstlerische Leiterin der Produktionen ist sie immer im Studio dabei und als Geigerin war sie Konzertmeisterin in den Aufnahmen mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France.“ In Paris fühlt der Komponist sich zu Hause, eine zweite Heimat ist aber mittlerweile auch Los Angeles, dort hat er Hollywood für sich erobert und im Laufe der Jahre alle internationalen Auszeichnungen von Rang und Namen eingesammelt: Golden Globe, British Academy Film Award, César, Grammy, BAFTA, Europäischer Filmpreis – für die Musik zu Grand Budapest Hotel wurde Alexandre Desplat 2015 nach acht Nominierungen ein Oscar verliehen. Sein Herz hängt jedoch besonders an einer Auszeichnung: an dem Silbernen Bären, seinem ersten Preis, den er 2005 bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin bekommen hat. „Der Bär steht auf meinem Klavier und schaut mir bei der Arbeit zu“, lacht er. „Und ich arbeite total viel, komponiere quasi Tag und Nacht, es ist einfach das, was ich am liebsten tue, und ich habe niemals das Gefühl, dass ein Stück perfekt ist, wenn ich es fertig habe.“ Für ein bisschen Abwechslung zum Komponieren sorgt zwischendurch höchstens mal ein Gastauftritt als Schauspieler in einem Film seines Freundes George Clooney, die ein oder andere Meisterklasse an der Pariser Sorbonne-Universität und dem Londoner Royal College of Music oder Engagements als Dirigent. „Aber das konkurriert dann nicht mit meiner Hingabe zum Komponieren. Wenn man sein Leben der Musik widmet, dann ist das nichts, was man selbst entscheiden kann. Es ist stärker, so als würde man von einem Strom mitgerissen.“ ■ 19


Krystian Zimerman liebt Komplexität, von Musikaufnahmen hält er dagegen nicht viel.

QUERKOPF MIT ­STEINWAY-FLÜGEL ­ Den üblichen Regeln des Musikbetriebs will sich Pianist Krystian Zimerman partout nicht anpassen. Nur 50 Konzerte gibt er pro Jahr. Im Jetset-Tempo Auftritte rund um den Globus abzuhecheln ist seine Sache nicht. VO N C H R I S TA H A S S E L H O R S T

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rystian Zimerman ist ein konsequenter Abweichler stadt und besuchte Haydns Grab, zu Fuß! 70 Kilometer!“, rechnet vom Klassik-Mainstream. So ist er stets mit eige- Zimerman geradezu triumphierend vor. nem Flügel unterwegs. Das ist seit 25 Jahren ein Steinway, „aber Eingespielt wurden die Sonaten in der japanischen Stadt warum wollen Sie die Marke wissen? Ist das wichtig, ein Label?“, Ka­shiwazaki. In der 2007 von einem Erdbeben erschütterten Stadt rebelliert er prompt gegen die Frage. Dass der gebürtige Pole 1975 gab Zimerman ein Gratiskonzert. Als er hörte, dass der Konzertals jüngster Teilnehmer mit 18 Jahren beim renommierten Cho- saal wieder aufgebaut worden war, noch dazu von einem Schüler pin-Wettbewerb in Warschau den ersten Preis gewann, quittiert er des weltweit gefragten Akustikers Yasuhisa Toyota (Elbphilharheute mit Achselzucken, „Ach, das ist doch schon so lange her!“ Er monie Hamburg, Pierre-Boulez-Saal Berlin), wollte er dort Schumusizierte mit Herbert von Karajan, Leonard Bernstein und lang- bert aufnehmen. Alles klappte, bis auf das Wetter. „Es gab einen jährig mit den Berliner Philharmonikern und Sir Simon Rattle. irren Schneesturm, wir waren eingeschneit, mussten uns aus dem Mit ihm verwirklichte er vor zwei Jahren einen lang gehegten Konzertsaal fast heraushacken“, erinnert er sich lachend; dank des Wunsch, die Einspielung von Lutosławskis grandiosen Einsatzes aller Mitarbeiter sei Zweitem Klavierkonzert und der Zweiten man aber bestens versorgt worden. „EigentSinfonie, aufgenommen während eines lich hätte ich unter diesen Umständen die DER VERANSTALTER Live-Konzertes in der Berliner PhilharmoWinterreise aufnehmen sollen.“ nie. Schubert ist dem Weltklassemusiker FRAGT: Doch es ist auch 25 Jahre her, dass Zimerman sehr nahe, auch wenn zwei JahrWAS SPIELST DU? Zimerman seine letzte Solo-Einspielung hunderte zwischen den Künstlern liegen. machte. Danach Pause, ein VierteljahrhunDie Zeiten haben sich in manchem nicht ICH ANTWORTE: dert! Jetzt also, im Alter von 60, hat er endgeändert. „Schubert war gegen das Militär. WEISS ICH NICHT ! lich Franz Schuberts letzte zwei Sonaten Wenn er Militärmusik schrieb, dann war aufgenommen: die mächtige Sonate Nr. 20 das sarkastisch“, sagt er, „das ist mir sehr A-Dur D 959 und die Sonate Nr. 21 B-Dur sympathisch.“ Er habe sich nie in die vorgeD 960, die als Schuberts instrumentaler gebenen Wiener „Kästchen“ eingefügt. Das Schwanengesang gilt. Die zwei – so die Einschätzung der Nachwelt scheint auch für den im besten Sinne eigensinnigen Zimerman zu – reifsten Werke, komponiert in seinen letzten Lebensmonaten gelten. „Die Phonographie ist genauso ein Denkfehler wie die zwischen Frühjahr und Herbst 1828. Gründung von Nationen“, sagt der Pole – „eigentlich bin ich SchleMusste der gefeierte Zimerman erst 60 werden, um sich an sier“ –, der seit über 20 Jahren im schweizerischen Basel lehrt und diese wichtigen Stücke, die als „harter Kern“ des Klavierreper- lebt, aber von sich sagt: „Ich bin in keinem Land zu Hause, ich bin toires gelten, zu wagen? „Oh nein“, stellt er lebhaft klar, „ich nahm Weltbürger und lebe auf drei Kontinenten gleichzeitig.“ sie bereits 1990 auf. Aber ich fand sie einfach nicht genug, ich Die Vereinigten Staaten stehen momentan nicht auf dem wollte nur eine weitere Aufnahme auf den Markt bringen, wenn sie Tourneeplan. Nein, nicht wegen der Flügelaffäre, betont er. Im Jahr meinen Ansprüchen genügt“. Der Perfektionist ist auch ein Ver- 2001, kurz nach den Anschlägen vom 11. September, hatte man seifechter des Live-Auftritts: „Ich bin generell kein Fan der Phono- nen Flügel in den USA wegen Terrorverdacht zeitweise beschlaggraphie“ – er benutzt absichtlich diesen Begriff – „denn Musik live nahmt und untersucht. „Ich bekam von der Post einen riesigen kann so powerful sein, das ist Emotion, in Zeit organisiert! Musik Sack mit Tasten zurück“, bemerkt er mit buddhahafter Gelassenist Zeit“, erklärt er. Im 19. Jahrhundert habe das Publikum den heit. „Es wurden in respektablen Medien falsche Informationen Künstler live gesehen, seine Glaubwürdigkeit erleben können, über mich verbreitet und bis heute nicht rechtlich geklärt. Somit „dann kamen diese Geräte …“, schüttelt der Pianist den Kopf. Und sind für mich die Voraussetzungen für Konzertreisen in die USA warum konserviert der Mensch Musik? „Weil er es kann“, sagt derzeit nicht gegeben.“ Sein letztes Konzert in Amerika war 2009, Zimerman achselzuckend. wo er mit einer Bemerkung gegen die US-Stationierung in Polen Nun kann – und will – auch der Klaviervirtuose mal wieder. für einen Eklat sorgte. „Ich bin kein Anti-Amerikaner, ich mache Schuberts zwei letzte Sonaten sind geradezu geheimnisumwittert, nur meine Klappe auf“, betont er. „Mir ist Komplexität sehr wichExperten und Kritiker interpretierten vielfältig in dieses Ver- tig. Die Welt ist eben nicht nur schwarz-weiß! Und komplexe Dinge mächtnis des allzu früh Verstorbenen. Sind die Stücke tatsächlich mit nur vier Wörtern erklären zu wollen – das ist eine Tragödie!“ so düster, melancholisch, endzeitlich, wie es die Nachwelt oft verEin Nonkonformist ist Zimerman auch bei der Gestaltung des mutet – und müssen sie auch so gespielt werden? Die zweiten, lang- Programms für seine Konzerte. Oft gibt es nämlich keines. „Der samen Sätze seien die traurigste Musik, die er kenne, so Zimerman Veranstalter fragt: Was spielst du? Ich antworte: Weiß ich nicht!“, im Booklet zum Album. Aber beide Scherzos seien voll Humor. lacht er. „Ich habe ein fantastisches Publikum! Die kommen einfach Und im Interview ergänzt er: „Ich sah Schubert als kranken Mann, trotzdem, vertrauen mir. Das geht seit Jahren bis der seinen Tod voraussieht, wollte deshalb das Scherzo in der heute so – wunderbar!“ ■ Sonate Nr. 20 auch nicht lustig spielen. Das war falsch“, habe er Franz Schubert: „Piano Sonatas D 959 & D 960“, Krystian Zimerman jedoch erkannt. Denn eigentlich sei Schubert durch mangelnde (Deutsche Grammophon) Hygiene gestorben, also nichts von trauerumwölkter Todesahnung: „Immerhin ging er kurz vorher noch von Wien nach Eisen21


Schon mit 13 wusste Marina Rebeka, dass für sie nur eine Gesangs­ karriere infrage kommt.

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„ROSSINI IST MEIN SCHICKSAL!“ ­ Partien bei Verdi und Massenet katapultierten sie an die Spitze des internationalen ­Opernbetriebs. Rossini aber entdeckte Marina Rebeka in Raten. Inzwischen gilt sie als eine seiner ­renommiertesten Interpretinnen. Die lettische Sopranistin über ihre Leidenschaft für Partiturmanuskripte, dramatische Koloraturen und starke Frauen.

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VON BARBARA SCHULZ

rau Rebeka, wann haben Sie zum ersten Mal gespürt, dass Sie etwas haben, was andere nicht haben? Marina Rebeka: Ich war 13 und mein Großvater hat gesagt: „Du bist groß genug – wir können Oper hören.“ Ich wusste gar nicht, was das ist. Er meinte, wir gehen da einfach mal hin, und dann wirst du schon sehen. Ich habe das erste Intervall gehört und zu meinem Opa gesagt: „Ich werde das singen!“ Natürlich war das so eine verrückte Mädchenidee. Es konnte ja gar nicht funktionieren: Ich war nicht in der Musikschule, hatte keine Ahnung von der Theorie, konnte nur Klavier spielen und war im Chor. Aber ich war so begeistert – einfach sprachlos. Ich wollte es unbedingt! Es war Liebe auf den ersten Klang! Normalerweise bringt in diesem Alter die Pubertät Jugendliche mehr durcheinander als Opern … Ich weiß, aber ich war einfach total geflasht! Zunächst hab ich meiner Familie gar nichts davon erzählt. Aber: Eine neue, halb private Musikschule hatte eröffnet, die auch Kinder ohne musikalische Vorbildung aufnahm. Natürlich bin ich da hin – unglaublich aufgeregt. Das erste, was sie mir sagten, war, dass ich zu jung sei. „Ja“, sagte ich, „aber Sie müssen mich anhören!“ Und tatsächlich wurde ich zur Prüfung zugelassen! Gern erinnere ich mich an die erste Solfeggio-Prüfung, als der Lehrer mir sagte, jetzt käme ein Diktat. Ich schaute ihn an und fragte, was das denn sei. Da wusste er, dass ich von Theorie überhaupt keine Ahnung habe. Es war für mich ein Mysterium, wie das gehen sollte, Musik, die ich höre, einfach aufzuschreiben. Kurz und gut: Es war einfach furchtbar. Ich bin dann jeden Samstag und Sonntag zu einer Musiklehrerin gegangen, habe Solfeggio und Harmonielehre studiert. Um aufs Konservatorium gehen zu können, habe ich die siebenjährige Musikschule in drei Jahren gemacht und bin dann mit 17 zurAufnahmeprüfung am Konservatorium angetreten. Natürlich wieder unvorstellbar nervös. Nachdem ich gesungen hatte, sagte man mir: „Nein, Sie haben kein Talent, Sie sind keine Sängerin!“ Ich bin nach Hause und hab mit meiner Mutter die ganze Nacht durchgeweint. Sollte alles umsonst gewesen sein? Ich hatte alles getan, um Opernsängerin zu werden, und plötzlich war alles kaputt! Offensichtlich haben Sie die Scherben zusammengekehrt … Schon am nächsten Morgen hat meine Mutter in einem Musik­ kolleg angerufen, einen Tag später war ich da. Ich hab die Aufnahmeprüfung gemacht und wurde sofort genommen. Aber um richtig Gesang zu studieren, wollte ich natürlich nie zurück auf das Konservatorium, an dem man mir gesagt hatte, ich hätte kein Talent! Also plante ich, nach Italien zu gehen. Ich habe die Sprache gelernt, meine Eltern wollten mich finanziell unterstützen. So kam

ich nach Parma. Später wechselte ich nach Rom und durfte sowohl am Conservatorio Santa Cecilia als auch an der Accademia Internazionale delle Arti studieren. Dort hatte ich auch die Möglichkeit, mit Orchester zu singen. Und Rom hat mehr zu bieten … Ja, Rom ist eine Stadt mit internationalem Flair und unendlich vielen Möglichkeiten – allein das Konzertangebot ist riesig. Ich habe versucht, an vielen Wettbewerben teilzunehmen. Und bereits während meines letzten Jahres an der Santa Cecilia probte ich für die Traviata in Erfurt, wo ich einen Monat vor meinem Abschluss mit der Violetta debütierte. Ein anstrengender Sommer! Drei Tage nach meinem Examen im Mai habe ich an der Accademia Rossiniana in Pesaro angefangen. Kurz darauf die Traviata an der Volksoper in Wien, und dann begannen schon die Proben für Teseo von Händel an der Komischen Oper Berlin. Ein ambitionierter Stundenplan! Und wie! Aber wenn man am Anfang steht, muss man viel Präsenz zeigen, viele Wettbewerbe machen. Selbst, wenn sie oft frustrierend sind. Schon vor Erfurt hatte ich häufig an Vorsingen teilgenommen, aber wenn man als Nummer 50 oder 60 an der Reihe ist, sind alle längst müde, und keiner traut sich, dich irgendwo singen zu lassen, so ganz ohne Erfahrung. Alle wollen Erfahrung! Als Anfänger bist du ein Risiko. Umso dankbarer bin ich bis heute Guy Montavon, dem Intendanten von Erfurt, dass er mir die Chance gegeben hat, die Traviata zu singen, denn das war mein Durchbruch. Das ist eine große Rolle und für ein Debüt nicht leicht. Die Violetta haben Sie inzwischen oft gesungen: Ist La Traviata Ihre Lieblingsoper? Sie ist auf alle Fälle eine davon. Gerade aber auch Norma, Thaïs, Roméo et Juliette. Gibt es eine Partie, vor der Sie Angst haben? Rossini! Das ist eine echte stimmliche Herausforderung! Und trotzdem immer wieder Rossini?! Ja, er ist mein Schicksalskomponist. Als ich zum ersten Mal sein Il Viaggio a Reims mit Montserrat Caballé gehört habe, war meine erste Reaktion, dass ich das niemals machen würde – niemals! All diese Rezitative lernen, sich gründlich mit dem Stil auseinandersetzen, selbst die Variationen in den Da-capo-Arien schreiben … Solche Koloraturen zu schreiben ist ein ungemein komplexer Vorgang: Sie sollen die Möglichkeiten der eigenen Stimme abbilden, ihr technisch angepasst werden, sie müssen zeigen, wie man die Rolle emotional interpretiert, und natürlich müssen sie im Stil von Rossini sein – den man entsprechend gut kennen muss. Dieses Selbstschreiben macht zum Co-Komponisten. Kurz und 23


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gut: viel zu viel Arbeit, viel zu viel zu lernen – nein, ich wollte definitiv niemals Rossini-Sängerin werden. Keine Entscheidung fürs Leben! Was ist passiert? Meine erste Rolle auf der Bühne war tatsächlich die Rosina im Barbier von Sevilla in einer Version für Kinder – ein kleines Projekt zwischen dem Konservatorium von Parma und dem Teatro Regio von Parma. Das war aber noch nicht der Durchbruch. Dann kam eine sehr lange, anstrengende Zeit: viel Unterricht, ein heißer Sommer, und ich musste mich gleichzeitig auf Il Viaggio a Reims vorbereiten – es war furchtbar. Aber in solchen Phasen lernt man, wie man effizient arbeitet: Jeder hilft jedem! Um den Stil zu verstehen, die Variationen zu schreiben. Aber erst, als ich für das große Rossini Opera Festival engagiert wurde, ist es passiert: Da habe ich zum ersten Mal den dramatischen Rossini entdeckt. Bis dahin hatte ich, wie viele andere auch, gedacht: MANCHE OPERN Ach, Rossini, das ist diese leichte SAUGEN DICH EIN. Musik, Cenerentola, Il Barbiere und so fort. Bis ich zum ersten Mal Maometto DIE PERSÖNLICHKEIT, II gehört habe – mein Gott! So DIE HANDLUNG – dramatisch! So viele Koloraturen! Aber eben nicht nur fröhliche Koloraturen, DU VERGISST ALLES sondern es lag so viel Dramatik, so viel ANDERE Spannung darin. Das war etwas komplett anderes. Mit der Rolle der Anna Erisso in Maometto II wurde ich 2008 dann auch entdeckt. Es war unglaublich! Also Liebe auf den zweiten Klang? Oder auf den dritten oder vierten. Aber es ging so weiter: Danach habe ich für Salzburg vorgesungen. Und was sagt Muti? Okay, wir machen – Rossini! Wieder eine dramatische Oper von ihm: Moïse et Pharaon, ich war die Anaï. Und das war’s dann – es hatte mich erwischt: Diesen dramatischen Rossini, den mochte ich. Das war 2009, und es war mein ganz, ganz großes Debüt, auf das so viele Angebote folgten. Viele große Opern- und Theaterleute haben mich gehört – aus Antwerpen, aus Amsterdam, von der Metropolitan Opera … Wo sie mit Guillaume Tell aufgetreten sind. Das muss man sich vorstellen: Die Oper war seit 82 Jahren nicht an der Met aufgeführt worden. Das Publikum war begeistert: Wow, das ist Rossini! So dramatisch, so stark in der Orchestrierung. Das war genau das, was ich wollte: allen zeigen, dass Rossini auch so sein kann! Deshalb also jetzt ein reines Rossini-Album? Ja, auch die Idee für diese Aufnahme mit dem Münchner Rundfunkorchester geht auf mein Interesse für den dramatischen Rossini zurück. In diesem Album stecken all mein Wissen und meine Erfahrung, auch all meine Gefühle. Und natürlich wünsche ich mir, dass die Leute es mögen, auch wenn sie viele Arien gar nicht kennen. Semiramide, La Donna del Lago, Otello und Guillaume Tell – diese leichten Opern sind geläufig, weswegen die Leute das Album hoffentlich kaufen werden. Wie schön wäre es, wenn sie darüber all die andere fantastische Musik kennenlernen. Und hören, wie sehr Rossini viele andere beeinflusst hat – Bellini, Donizetti, Verdi … Hören Sie sich einmal das Inflammatus aus Rossinis Stabat Mater an – das ist Verdi! Und die erste Reaktion der Leute: Das ist doch nicht Rossini! Doch, das ist Rossini, aber eben der andere, den sie gar nicht kennen. Auch Ihr erstes Album war … Ja, klar, Rossini: die Petite Messe Solennelle mit Antonio Pappano. Damals habe ich zum ersten Mal den musikalischen Unterschied zwischen der Originalhandschrift und einer kritischen Ausgabe verstanden. Das war hochinteressant! Wir hatten eine Kopie vom Manuskript und mir ist aufgefallen, dass Text, Punktierung, Akzente, dass alles etwas anders war, als ich es kannte. Natürlich interpretiert man das Stück entsprechend anders. Irgendjemand hat 24

damals auch geschrieben, ich würde Rossini nicht so singen, wie es sein soll. Natürlich nicht! Schließlich hatte ich ja nach Manuskript gesungen und nicht nach der kritischen Ausgabe. Da war mein Interesse für Manuskripte geweckt. Was in Ihre neue Rossini-CD „Amor fatale“ miteingeflossen ist … In den letzten beiden Jahren habe ich mich intensiv mit den Partiturhandschriften fast aller Arien beschäftigt. Leider nur fast aller Arien, weil die Manuskripte nicht alle an einem Ort archiviert sind. Also war ich in Pesaro, habe mit dem Musikwissenschaftler und Rossini-Experten Philip Gossett gesprochen, ein Manuskript kam aus Venedig – ich habe alles auf meinem Smartphone, damit ich immer damit arbeiten kann. Ich wollte nicht einfach singen, nicht einfach mit meiner tollen Stimme beeindrucken, ich wollte etwas ganz Besonderes machen. Es war eine ausgesprochen interessante Arbeit. Anschließend habe ich meine eigene kritische Ausgabe gemacht – am Computer, mit allen Anmerkungen und Zeichen und meinen eigenen Variationen zu den Koloraturen. Ich wollte so nah wie möglich an Rossini sein. Und doch ist es meine eigene „Ausgabe“ von Rossini. Durch die ausgewählten Arien zeigen Sie auch Rossinis ­Frauenbild. Ja, bei Rossini ist es ganz häufig so, dass die Sopranrolle die Frau verkörpert, die sich entscheiden muss – zwischen Liebe oder Pflicht, Liebe oder Heimat, Liebe oder Vater … Und sie entscheidet sich immer gegen die Liebe. Die Liebe ist immer fatal, Rossinis Frauen leiden stets an ihr. Nur in La donna del lago ist es anders, aber auch da kommt die Wendung erst im letzten Moment. In Maometto II bringt sich Anna in der originalen Fassung um, erst die zweite Fassung nimmt ein gutes Ende. Otello – sie stirbt. Armida – sie stirbt, weil mit Rinaldo auch die Liebe geht. In Guillaume Tell kommen sie zunächst zusammen, aber dann diese beiden Arien: In der ersten versichert Mathilde ihrem Arnold noch ihre Liebe, in der zweiten aber sagt sie „Adieu pour toujours“! Sie muss von ihm lassen, damit er am Leben bleibt. Letztlich entscheidet also immer die Vernunft … Die Frauen sind niemals einfach zusammen mit den Männern, die sie lieben. In Moïse et Pharaon wird ein immenser Druck auf die Protagonistin ausgeübt, und sie muss entscheiden. Sie beschließt, dass die Hebräer weggehen. Diese Arie ist der Drehpunkt der Oper. Sie liebt ihn, schickt ihn aber weg. Diese Frauen sind unglaublich stark. ES IST MEIN Und oft hart zu sich selbst. ­ALPTRAUM, DASS Finden Sie sich in diesen Frauen ICH AUF DER BÜHNE wieder? Ich würde mich immer für die STEHE UND NICHT Liebe entscheiden statt für Pflicht oder Vernunft. Aber ja, auch ich MEHR WEISS, WAS bin sehr kritisch, vor allem mir ICH MACHEN SOLL selbst gegenüber, sehr diszipliniert und pflichtbewusst. Ich bin im Sternzeichen Jungfrau geboren, also muss alles sehr ordentlich und sehr perfekt sein. Deswegen spreche ich zum Beispiel in der Öffentlichkeit auch kein Deutsch, obwohl man mich gut verstehen könnte. Aber „der“, „den“, „dem“ etc. – ich kann nicht kontrollieren, welcher Artikel der richtige ist. Man muss es fühlen oder wissen. Also die klassische Perfektionistin? Ja, ganz sicher. Aber perfektionistisch zu sein bedeutet für mich, dass alles, was ich mache, von guter Qualität sein muss. Und zwar in erster Linie für mich. Ich muss einfach wissen, dass ich alles versucht habe. Die Leute können das mögen oder nicht, aber ich habe in jedem Fall mein Maximum gegeben. Spontan auf die Bühne gehen und singen? Ich kann das nicht. Es gibt Kollegen, die sollen etwas singen, und www.crescendo.de

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dann singen sie. Ich fühle mich immer wie ein Schüler, der schlecht vorbereitet ist und Angst hat, an die Tafel gerufen zu werden. Es ist mein Alptraum, dass ich auf der Bühne stehe und nicht mehr weiß, was ich machen soll, dass ich den Text vergesse. Eine echte Jungfrau eben. Bin ich aber gut vorbereitet, dann habe ich den Raum zu spielen, Raum für Psychologie, Emotionen. Nur wenn ich sicher bin, kann ich das. Und wie sieht es mit Drama aus? Ich bin auf alle Fälle keine Drama Queen! Das hasse ich. Auch ich bin nicht immer ausgeglichen und ruhig. Aber es ist schwierig, mich aus der Fassung zu bringen. Man kann mir nachsagen, dass ich schwierig bin. Doch liegt das nicht an meinem Charakter, sondern daran, dass ich immer versuche, mein Bestes zu geben. Das ist normal. Für eine Aufnahme gilt das ganz besonders. Sie sind eine sehr lebhafte Frau. Manchmal auch ungeduldig mit Musikern oder dem Dirigenten? Nein, überhaupt nicht! Natürlich spreche ich mit dem Dirigenten alles durch, wenn ich ein Solokonzert mache. Aber es ist immer ein Dialog. Würde jemand sagen, das wird so oder so gemacht, weil ich es so will, würde das mit mir nicht funktionieren. Ich bin eine Persönlichkeit, es ist meine Stimme, es sind meine Emotionen. Ich kann nichts machen, was ich so nicht spüre. Und ich bin keine Maschine, mit der man spielt. Ich spiele selbst. Ich muss es verstehen, ich muss es fühlen. Auch das Publikum würde merken, wenn es nicht aus dem Herzen käme. Beim Vorsingen waren Sie immer sehr aufgeregt. Haben Sie heute noch Lampenfieber? Nur manchmal. Interessant ist, dass ich es nicht unmittelbar bevor ich auf die Bühne komme habe, sondern ein oder zwei Tage vorher. Der Körper bereitet sich auf diesen Stress vor. Wenn die Situation da ist, wird es leichter. Das kann man nicht mit dem Kopf steuern. Und wie geht es Ihnen unmittelbar, bevor Sie auf die Bühne gehen? Ich denke daran, was ich alles machen muss – das ist unglaublich viel. Vor allem muss man sich immer vor Augen halten: Du kannst Caruso in deiner Garderobe sein. Aber wenn du auf die Bühne gehst, ist alles anders: die Akustik, das Gefühl, da gibt es Publikum, da gibt es Kollegen, ein Orchester. Und manchmal ist beim Einsingen alles perfekt, und du kommst auf die Bühne, und irgendetwas ist nicht perfekt. Aber du weißt nicht, was es ist. Das muss man akzeptieren. Es sind nicht alle Vorstellungen super. Das ist normal. Man kann das nicht vorbereiten. Und dann gibt es Opern wie Norma oder La Traviata: Du fängst an und sie saugt dich ein. Die Persönlichkeit, die Handlung – du vergisst alles andere. Du bist nur noch diese Person. Du musst da sein. An nichts anderes denken. In diesem Moment, an diesem Platz. Sie haben ein straffes Programm – auch gute Strategien, zur Ruhe zu kommen? Ich koche nicht so gerne. Wenn ich in der Küche bin, dann denke ich zu viel. Aber ich esse gern. Alle essen gerne. Und ich bin gern im Garten. Außerdem gehe ich gern spazieren, bin mit meiner Tochter zusammen und tanze leidenschaftlich! Ich habe eine Meisterklasse in Tanzen gemacht: Wiener Walzer, Standard, Latino, argentinischer Tango – das ist ein psychologischer Thriller. Der Mann lenkt und du musst fühlen, was er will und was er denkt. Da wird der Kopf frei. Sie singen täglich? Wenn es irgendwie geht, singe ich nicht. Manchmal suche ich einfach nur stille Plätze und die Natur. Keine Kunst. Zwischendurch muss man einfach mal aussteigen. ■ „Amor fatale. Rossini Arias“, Marina Rebeka, Münchner Rundfunk­ orchester, Marco Armiliato (BR-Klassik) Termine: 24.09. München, Prinzregententheater lten onnent er ha Als neuer Ab (siehe S. 92) Sie diese CD

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Er spielte alles von Barpiano bis Kirchenorgel. Heute ist Antonio Pappano ein Star unter den Operndirigenten.

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MANCHE SAGEN, ICH SEI EIN WORKAHOLIC

KLASSIKSUPERMAN Schon als Kind konnte der Brite Antonio Pappano ganze Opern auswendig. Heute gehört er zu den gefeiertsten Operndirigenten der Welt und wird mancherorts bereits unter der Hand als Nachfolger Kirill Petrenkos an der Bayerischen Staatsoper gehandelt. VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL

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reunde nennen Sie Tony, die Kritiker ein „AllroundGenie“, „Classical Music’s Superman“. Wie sehen Sie sich? Antonio Pappano: Ich bin ein Sohn von Migranten. Die Arbeit stand in der Familie immer im Vordergrund. Sie war das Wichtigste im Leben. Manche sagen, ich sei ein Workaholic. Aber ich mache das, was ich liebe, und setze mich mit großer Leidenschaft dafür ein. Musik braucht sehr viel Energie, sehr viel Kopf und sehr viel Herz. Ich führe das Orchester der Royal Opera in London und ein Orchester in Rom, die Accademia Nazionale di Santa Cecilia. Beides braucht viel Kraft, mental, physisch und seelisch. Ob ich deshalb ein Superman bin? Ihr Vater, ein begabter Tenor, kam mit fünf Pfund in der Tasche und einem Koffer aus der Nähe von Neapel nach Epping nördlich von London, wo Sie geboren wurden … Ja, das ist wahr. Das war in den 1950er-Jahren. Wie wäre das heute? Das können Sie sich bei den heutigen Nachrichten ja vorstellen. Ich bin der größte Fan meiner Eltern, sie haben damals so viel riskiert! Ich glaube, ich habe solchen Mut nicht. Aber die beiden hatten ihn. Sie wollten ein besseres Leben. Sie hatten insofern Hilfe, als es hier in England auch weitere Italiener und Angehörige gab. Sie waren ein Vorbild für mich, ein Team, das immer zusammenhielt. Ihre Eltern gingen dann in die USA, nach Bridgetown, ­Connecticut, als Sie 13 waren. Meine Eltern waren rastlos. Meine Mutter hatte einen Schicksalsschlag in England erlebt, war deprimiert und wollte weg. Ihre Eltern lebten bereits in den USA und deshalb zogen sie dorthin. Was haben Sie von den unterschiedlichen Ländern mitgenommen? Ich musste mich immer anpassen. Britisch an mir ist vielleicht ein gewisser Pragmatismus. Und italienisch natürlich das Temperament. Aber meine Energie habe ich wohl aus Amerika, dieses typische Migranten-Arbeits-Ethos. Ich fand als Jugendlicher eine

Klavierprofessorin, die sehr wichtig für mich wurde. In der Schule arbeitete ich mit einem Chor, einer Madrigalgruppe. Mit meinem Vater, der sein Geld unter anderem als Gesangslehrer verdiente, waren wir ein Team. Ein regelrechtes „family business“. Ich begleitete ihn und seine Schüler. Die Schule ging bis zwei Uhr. Dann ging es nach Hause, ein kurzes Mittagessen, und wir gaben bis fast neun Uhr abends Unterricht. Das war sehr hart, aber es war lebendig. Damals hat meine innige Beziehung zu den Sängern begonnen. Von einem Magazin wurden Sie zum „Sängerflüsterer“ gekürt. Ja. Ich bin mit angehenden Sängern aufgewachsen. Ich kannte jede Opernpartitur, konnte fast jede Rolle nachsingen. Damals wusste ich nicht, wie wichtig das für mich werden würde. Heute weiß ich es, wenn ich jedes Wort von La Bohème kenne oder von Madama Butterfly. Es ist kompliziert, eine Kombination von verschiedenen Dingen, die eng miteinander zusammenhängen: Stimme, Atem, die Stimmtechnik des Belcanto und das Wort. Man muss ebenfalls eine Leidenschaft für den Text haben. Jede Sprache hat ihren eigenen und inneren Rhythmus, Deutsch, Russisch, Italienisch. Es kommt auf den natürlichen Fluss einer Sprache an. Die Sprache bringt den Dirigenten näher an den Sänger. Der Sänger hat Wörter. Der Instrumentalist nur Töne. Über Herbert von Karajan haben mir Sänger erzählt, dass er sehr fasziniert war von schönen Stimmen, sie in Rollen besetzte ohne Rücksicht allerdings darauf, ob der Sänger technisch und mental dem Repertoire gewachsen war. Inwiefern kann oder muss ein Dirigent die Sänger schützen? Das ist ein schweres Sujet. Opernhäuser brauchen natürlich das große Repertoire, und man ist immer auf der Suche nach frischen neuen Stimmen. Man „benutzt“ diese Stimmen und wundert sich dann später, warum dieser Sänger nach einer gewissen Zeit so „abgesungen“ klingt. Die Sänger haben an erster Stelle die Verantwortung. Viele Sänger haben einen großen Ehrgeiz, wollen schnell berühmt werden. Und sie stehen auch unter großem Druck. Die 27


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Stimmbänder sind fragil und auch der Kopf, die Seele ist fragil. Das ist nicht einfach. Es gibt so viele Informationen und man weiß nicht, welche dieser Informationen soll man nehmen, welche soll man weglassen. Technisch und mental müssen Sänger ein stabiles Repertoire aufbauen. Das braucht Zeit. Und heutzutage gibt es sehr viel Ungeduld, alles muss schnell, schnell gehen. Das aber ist gegen die Natur der Stimmbänder, der Physis und der Seele. Sie selbst haben als Barpianist angefangen. Ich habe wirklich alles gemacht! Alles. Ich spielte in der Kirche Orgel mit meinem Vater. Begleitete verschiedene Chöre und Solisten. Dann in der Bar ... Was lernt man als Barpianist vom Publikum? Man bekommt ein Gefühl für Stimmung, für Atmosphäre, die richtige Atmosphäre, die falsche. Ich habe damals immer die Popmusik verfolgt, mich sozusagen upgedatet, um all die Showtunes zu beherrschen. Ich bin übrigens immer noch nostalgisch. Ich liebe die Musical- und Broadwayklassiker aus den 40ern. … und die alten Sitcoms … Ja. „’Allo ’Allo!“, Benny Hill, ich liebe sie! Wenn man mit der Oper zu tun hat, dann gibt es wenig Komödie. Es gibt eine Tragödie nach der anderen. Ich möchte einfach mehr lachen. Das Fernsehen hilft da sehr. Was ist musikalisch schwieriger, die Tragödie oder die Komödie? Sagen wir so: Die Komödie ist für einen Regisseur sehr schwer. Es ist wirklich schwer, Menschen zum Lachen zu bringen. Und auch

MAN DARF NICHT VERGESSEN, EIN KIND ZU SEIN! musikalisch. Wenn es spritzig nach Champagner „klingen“ soll, dann muss alles sehr präzise und sehr brillant sein. Bei der Tragödie muss der Kontrast stimmen. Bei Shakespeare kann man das lernen. Wenn die Dinge zu dunkel werden, bringt er eine komische Szene mit hinein als Übergang für den nächsten tragischen Moment. Es darf auch bei der Tragödie nicht nur Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit geben, der Kontrast ist sehr wichtig. Den muss man immer in der Musik finden. Ein einzigartiges Kabinettstück musikalischen Humors ist Der Karneval der Tiere von Camille Saint-Saëns, das Sie jetzt mit seiner 3. Symphonie auf Ihrem neuen Album präsentieren. Das Klischee des Interpreten von klassischer Musik ist ja, dass alles ganz ernst ist. Das stimmt zwar einerseits, aber klassische Musik kann auch Freude bringen. Einerseits gibt es den Ernst Beethovens und seiner humanistischen Botschaft. Es gibt aber auch kindliche Musik, die gar nicht so einfach zu spielen ist. Man darf nicht vergessen, ein Kind zu sein. Passiert das mit Martha Argerich, die Ihre Partnerin auf der Aufnahme ist? Das war für mich eine ganz große Herausforderung. Ich habe nie mit ihr Klavier gespielt. Und sie geht wie der Wind, sie ist unglaublich schnell. Ich musste ihr hinterherrennen. Und dennoch war alles so easy und so natürlich. Auch wenn ich nicht jeden Tag Klavier spiele und sie einer der größten Pianisten der Gegenwart ist. Das war eine fantastische Zeit für mich. Ich habe viel über Selbstvertrauen gelernt. Man darf sich nicht immer fragen: Werde ich das alles schaffen? Einfach nur: machen und shut up. Wir haben uns prima verstanden. Ich habe ja meine Debüts der Klavierkonzerte von Tschaikowsky, Schumann, Prokofjew Nr. 3 und Liszt mit ihr gemacht. Und das nie vergessen. Sie arbeiten in Italien, in England und in Deutschland. Vor dem Brexit hatte die konservative Regierung Simon Rattle, der jetzt 28

das London Symphony Orchestra übernimmt, einen Konzertsaal versprochen. Jetzt heißt es, das Projekt sei unrentabel. Ich denke, er wird dennoch kommen. Die City of London muss das finanzieren. Ein Konzertsaal ist sehr wichtig, weil London keinen wirklich guten Saal für das große sinfonische Repertoire hat. Man braucht Zeit, diese Sachen zu realisieren. Das wird Jahre brauchen. Simon ist sehr stark, er schafft das. Wenn Sie den Musikbetrieb der unterschiedlichen Länder vergleichen … Das klassische Musikpublikum in Deutschland ist ein Wunder. Dieses kulturelle Interesse, diese Intensität des Hörens! Die Engländer lieben die Musik auch sowie das Theater, die Oper, die Musicals. In Italien ist es ein bisschen komplizierter. Ich habe dort ein sinfonisches Orchester, doch dort spielt die Oper eine größere Rolle. Dabei hat unser Orchester eine große Tradition. Wir müssen sehr kämpfen. Die Regierung sieht oft nicht die Bedeutung der Kultur für den Menschen. Wir haben keine Planungs­sicherheit, keine Stabilität. Das Publikum in Rom ist sehr konservativ, man muss alles sehr gut ausbalancieren. Dafür spielen wir in Italien jedes Programm dreimal. So etwas passiert in London sehr selten. Und im Hinblick auf die Oper? Italien hat den Stagione-Betrieb. Deutschland eher das Repertoiresystem. England ein Semistagione-Prinzip. Sie alle mit ihren Vor- und Nachteilen. Im deutschen Opernorchester gibt es zudem das Rotationsprinzip, man hat immer wieder andere Musiker vor sich. Das gibt es in England nicht. Es ist keine Kritik, es ist nur ein anderes System. Ich komme mit beiden Systemen zurecht. Die Welt nennt Sie den „Tony Soprano des Klassikgeschäfts“, weil Sie medial auf allen Kanälen präsent sind. Sie sprechen die Kinoübertragungen der Opern an. Es ist toll, wenn viele Menschen die Oper jetzt für wenig Geld, von vielen Orten der Welt aus, erleben können. Bei einem Klang von sehr hoher Qualität. Das kann eine sehr berührende Erfahrung sein. Ein großer visueller Impact, der allerdings die Magie, das Live-Gefühl im Zuschauerraum nicht ersetzen kann. Im Kino sieht das Publikum durch die Close-ups und Details aber auch, wie kompliziert der Beruf der Sänger ist. Sänger müssen also nicht nur bessere Schauspieler sein, sondern auch besser aussehen? Ja, wenn man ehrlich ist. Trotzdem finde ich: Es gibt Rollen und Rollen. Jede Situation ist anders. Es gibt keine Regeln. Was bedeutet denn schön? Die Kamera läuft also immer. Hat das Ihre Arbeitsweise verändert? Es gibt mehr zu tun. Die zusätzlichen Dokumentationen, Interviews, Worksessions und Making-ofs. Das ganze DVD-Package lenkt oft vom Eigentlichen ab. Das nervt mich manchmal. Man will nur an die Musik, die Arbeit mit den Sängern denken und nicht an die Kameras und daran, dass alles dokumentiert wird. Ich habe mich zwar daran gewöhnt, bin aber nicht immer begeistert. Können Sie noch einen Ausblick auf die Kinoproduktionen der Saison 2017/18 geben? Die Saison beginnen wir mit einer neuen La Bohème. Weiter im Programm: Zauberflöte, Carmen, Rigoletto, Tosca und Macbeth mit Netrebko im April. Letzte Frage an Superman: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie morgens aufstehen und wie, wenn Sie abends ins Bett gehen? Bei beidem wie ein 80-Jähriger! Sobald ich gefrühstückt habe, aber wie neu geboren! ■ Camille Saint-Saëns: „Carnival of the Animals“, Martha Argerich, Antonio Pappano (Warner)

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BAMBUSORGEL UND SCHWALBENNEST­ Jahrzehntelang spielte er an den bedeutendsten und kuriosesten Orgeln der Welt. Im Juli feierte der Schweizer Organist und Verleger Albert Bolliger seinen 80. Geburtstag.

crescendo: Herr Bolliger, Sie saßen in der Basilique de Valère oberhalb von Sion an der ältesten spielbaren Orgel. Wie war es, darauf zu spielen? Albert Bolliger: Wunderbar, obwohl es sich nur um eine ganz kleine und nur bedingt um die älteste spielbare Orgel handelt. Als eine „Schwalbennestorgel“ ist sie hoch oben an der Mauer aufgehängt. Das älteste Register geht zurück auf etwa 1450. Was ist das Besondere an historischen Orgeln? Ihre Einmaligkeit. Bevor im 19. Jahrhundert eine Orgelbauindustrie entstand, war jede Orgel ein Unikat und jedes Land hatte seinen eigenen Orgeltypus. Die iberischen Orgeln etwa zeichnen sich unter anderem durch horizontal herausragende Pfeifen aus, die sogenannten „spanischen Trompeten“. In Frankreich wirkten im 18. Jahrhundert große Orgelbauer. Ohne Aristide Cavaillé-Colls Neuerungen hätte César Franck seine Stücke nicht so schreiben können. Großartig war die Orgelbautradition in Norddeutschland. Unter Ihren Aufnahmen findet sich auch eine auf einer Bambusorgel. Wo war das? In Las Piñas, einem Vorort von Manila, auf den Philippinen. Der spanische Missionar Diego Cera baute Anfang des 19. Jahrhunderts diese Orgel, die mit Ausnahme der „spanischen Trompeten“ ausschließlich aus Bambuspfeifen besteht. 1973 reiste sie, baufällig geworden und von Insekten befallen, nach Deutschland. In Bonn wurde sie in einem Raum, der tropisches Klima simulierte, von Orgelbau Klais wieder in Stand gesetzt. Nach Taiwan wurden Sie sogar als Artist in Residence eingeladen … Das war eine großartige Erfahrung. Ich bewohnte ein eigenes Häuschen am Yangmingshan. Es gab zwar noch wenige Orgeln auf der Insel. Aber das erlaubte eine vielseitigere Tätigkeit. Und es wurde gerade die große Orgel im Konzerthaus Taipeh gebaut. Sie waren als Organist in der ganzen Welt

unterwegs. Wo befanden sich die Orgeln, an denen Sie spielten? Im Wesentlichen in Kirchen, aber auch in Konzertsälen wie in Seoul, im Auditorium von Mexico City oder in Barcelona im Palau de la Música, einem wunderbaren

Albert Bolliger: von den Orgeln der Welt zu extravaganten russischen Hörbüchern

Palast mit einer herrlichen Glaskuppel. In Moskau durfte ich im Tschaikowsky-Saal spielen und in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, in der Philharmonie. Auch in der Ukraine, in Moldawien und im Baltikum trat ich auf. Leider wurde nach dem politischen Wechsel die Orgelkultur vom Staat nicht mehr gefördert. Welche der vielen Orgeln ist Ihr Lieblingsinstrument? Ich hatte das Glück, an einigen der schönsten Orgeln der Welt zu spielen. Die letzte, noch unveröffentlichte Aufnahme durfte ich an der prachtvollen Chororgel der Kathedrale von Segovia machen. 1990 gründeten Sie den Sinus-Verlag, in dem seither Ihre Orgelaufnahmen erscheinen. Was veranlasste Sie dazu? Meine erste Aufnahme erschien bei Teldec. Dann kam ich zu Ex Libris. Nach ein paar Jahren beschloss ich, die Veröffentlichung meiner Aufnahmen selbst in die Hand zu

nehmen. Ich begann mit vier CDs. Dass ­ es mal 40 sein würden, hätte ich nicht gedacht. Nun haben Sie aber nicht nur Orgel, sondern auch Russistik studiert. Woher kam diese Begeisterung für die russische Sprache? Sprachen und Literatur interessierten mich schon sehr früh. Sie verschönten mir später die Konzertreisen. Russisch studierte ich fünf Jahre im Nebenfach. Dieses Interesse schlug sich auch in Ihrem Verlagsprogramm nieder. Ab 2005 nahmen Sie Hörbücher ins Programm und brachten Aufnahmen russischer Literatur heraus … Till Hagen las für uns die großartigen Erzählungen Der Herr aus San Francisco von Iwan Bunin und Nikolaj Leskows Die Lady Macbeth aus dem Landkreis Mzensk, nach der Schostakowitsch seine Oper schrieb. Mit der Aufnahme von Michail Bulgakows Satire Das hündische Herz, gelesen von Ulrich Matthes, erreichten wir Platz eins der hr2-Hörbuchbestenliste, ebenso mit Fjodor Dostojewskis von mir neu übersetztem Poem Der Großinquisitor. Wollen Sie den Verlag zukünftig ganz auf Hörbücher ausrichten? Fast ganz. Mittlerweile gibt es kaum noch Musikläden, die CDs verkaufen. Die Buchhandlungen liegen zwar ebenfalls in der Agonie. Doch ich halte mich an Schillers Bonmot, man solle die Köpfe wägen und nicht zählen. Unsere Hörbücher sind insofern einzigartig, als wir den Lesetext mitdrucken und kommentieren. Welche weiteren Veröffentlichungen planen Sie? Wir setzen die Conrad-Ferdinand-MeyerGesamtedition fort. Gerade erschien Angela Borgia, gelesen von Eva Mattes. Es folgt die Versnovelle Engelberg, die dialogisch von 15 der besten Sprecher gelesen wird. Ulrich Matthes, Christian Brückner, Frank Arnold und Eva Mattes sind dabei. Mit den Gedichten bringen wir die Edition zum Abschluss. ■ 29

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VON RUTH RENÉE REIF


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Newcomer

MIT HINGABE ­ Sie wuchs als Baby quasi unter dem Flügel ihrer beiden Musikereltern auf. Heute bildet die junge Cellistin Raphaela Gromes zusammen mit Pianist Julian Riem ein flammendes Duo, das unter anderem für die italienische Spätromantik brennt. VON MARIA GOETH

crescendo: Frau Gromes, wie fing alles an mit Ihnen und der Musik? Raphaela Gromes: Unter dem Flügel! Ich komme ja aus einer Cellistenfamilie, aber meine Mutter spielt auch Klavier. Es gab bei uns ein „Flügelzimmer“, in dem meine Eltern unterrichtet und auch geprobt haben. Von 8 Uhr morgens bis 10 Uhr abends waren sie in diesem Raum. Als Baby wurde ich in einem wunderschönen Körbchen unter den Flügel gelegt und habe dort geschlafen oder die Musik genossen. Heute bin ich sehr lärmempfindlich und kann nicht schlafen, wenn es laut ist, aber damals war ich angeblich am ruhigsten, wenn meine Eltern geprobt haben. Außerdem bin ich 30

immer auf die Konzertreisen meiner Eltern mitgefahren. Ich bin Einzelkind, da ging das. So war ich von klein auf viel unterwegs, auch auf Urlaubsreisen, denn meine Eltern sind große Kulturfans: Italien, Griechenland, Frankreich … War es klar, dass Sie das Cello-Erbe der Familie antreten würden? Im Gegenteil! Meine Eltern sagten: „Du kannst auf keinen Fall Cello lernen! Das wäre total langweilig! Dann haben wir drei Cellisten in der Familie.“ Da meine Mutter eben auch Klavier spielte, wollten sie, dass ich Geige lerne, dann hätten wir ein Klaviertrio. Aber als Kind will man auch immer das, was man www.crescendo.de

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kennt. Ich kannte all diese Cellostücke, konnte sie mitsingen. Ich zu ihm und sagte: „Es war so toll! Ich schreibe Ihnen ein Cellokonhatte meine Eltern immer auf der Bühne gesehen und wollte genau zert!“ Romberg entgegnete: „Ich spiele nur Romberg!“ Deshalb gibt diese Stücke, von denen ich Ohrwürmer hatte, später selber auf der es angeblich kein Cellokonzert von Beethoven, und ich würde es Bühne spielen. Man will spielen, was man liebt! Schließlich konnte nicht nur für mich, sondern für die ganze Cellowelt wünschen, ich meine Eltern überreden, doch Cello zu lernen. dass dieser wohl genialste Komponist das Werk geschrieben hätte. Und der Schlüsselmoment, an dem Sie wussten, Sie werden Seit fünf Jahren musizieren Sie nun mit Klavierpartner Julian wirklich Musikerin? Riem zusammen, der ebenfalls bei uns ist. Herr Riem, wie kam Mit zwölf Jahren habe ich das Rondo von Dvořák mit Orchester es zu der Partnerschaft? gespielt und mit 14 Jahren das Cellokonzert von Gulda mit Julian Riem: Ich war offizieller Begleiter des Richard Strauss Blasorchester. Das waren beides Schlüsselmomente, bei denen ich Wettbewerbs in München. Die meisten Teilnehmer kommen an, große Begeisterung beim Musizieren auf der Bühne empfunden sind ganz auf 180 und erzählen dann, was sie alles wollen: „Hier habe und wusste, dass ich das zum Beruf machen will. Mit 15 sollst du so spielen! Hier brauch ich viel Zeit! Hier ist eine Jahren bin ich dann Jungstudentin bei Peter Bruns geworden und schwierige Stelle, nimm da Rücksicht!“ und so fort. Raphaela kam, bin bis zum Abitur zum Cellounterricht nach Leipzig gependelt. hat überhaupt nichts gesagt, sondern einfach gespielt, und es hat Sie sind gebürtige Münchnerin, aber der Name „Gromes“ klingt sofort gepasst. Es war die kürzeste und einfachste Probe von allen. eher nicht deutsch … Raphaela gewann den Wettbewerb, und wir spielten das PreisträEr ist aber auch nicht spanisch oder italiegerkonzert zusammen, das live mitgenisch, wo man oft meine Heimat vermutet. schnitten und als unser erstes Album bei Der Name kommt aus Böhmen/Mähren. Farao classics veröffentlicht wurde. RAPHAELA GROMES AUF TOURNEE Meine Großeltern sind Sudetendeutsche, Dadurch ergaben sich wie von selbst viele also dort aufgewachsen und nach Deutschweitere Konzerte. 10.09. Wolfegg St. Ulrich land vertrieben worden. Angeblich habe ich Gab es nie Streit? 16.09. Ottobeuren Kaisersaal aber eine Ur-Ur-Großmutter mütterlicherJulian Riem: Künstlerisch nie. Höchstens 23.09. Donzdorf Roter Saal seits, die mit einem Italiener zusammen mal über Organisatorisches, aber auch da 01.10. Planegg Kupferhaus war. Vielleicht habe ich deshalb immer eine kamen wir schnell zu gemeinsamen 13.10. Wasserburg Rathaussaal große Sehnsucht nach Italien empfunden … Lösungen. Auf Ihrem neuen Album „Serenata Raphaela Gromes: Wir haben beide das Italiana“ mit Duo-Partner Julian Riem dreht sich denn auch Interesse, die Aussage des Komponisten zu verstehen und das alles um italienische Spätromantiker. Was war die Inspiration Werk so zu gestalten, dass diese Aussage vom Publikum verstandazu? den werden kann. Wir sehen uns als Vermittler zwischen Werk Vor zwei Jahren haben wir bei einem Projekt über italienische und Publikum. Sich der Komponistenintention anzunähern ist ein Kammermusik mitgewirkt, allerdings keine Cello-Klavier-Duos, langer Prozess. Da hat jeder andere Ansätze und Vorschläge, aber sondern größere Besetzungen. Da stand das Quintett von Giuseppe letztlich muss man die Antworten im Werk suchen, es entsteht eine Martucci auf dem Programm. Wir kannten diesen Komponisten Art hermeneutischer Zirkel, ein kreisender Erkenntnisprozess. nicht, aber er hat uns vom ersten Blattlesen regelrecht angesprunUnd selbst wenn wir uns geeinigt haben, kann im Konzert gen: Wir hatten noch Monate später Ohrwürmer und waren plötzlich eine neue Stimmung aufkommen und zu neuen Wegen absolut begeistert von seiner Tonsprache. Wir schauten gleich, was inspirieren. Dabei können wir beide darauf vertrauen, dass der Herr Martucci – südlich der Alpen als der „Brahms Italiens“ Partner mitgeht. So können magische Momente entstehen, die gefeiert – sonst noch geschrieben hat und stießen auf seine auch das Publikum spürt und die das Live-Erlebnis so besonders Cello-Sonate. Um diese Sonate herum haben wir dann ein Konzert- machen. programm mit Licht auf die italienischen Spätromantiker aufgeFrau Gromes, die Urlaubszeit ist gerade vorbei. Geht es auch baut, das nun auch auf dem Album zu hören ist. Die Spätromantik mal ohne Cello? ist definitiv unsere Herzensepoche. Es ist für mich tatsächlich wichtig, auch mal ein paar Tage ganz Gibt es sowas wie „das Italienische“ in der Musik? abzuschalten. Ich brauche viel Energie und Kreativität, um die Natürlich hat jeder Komponist seine individuelle Tonsprache, unglaublichen Werke einerseits entschlüsseln, andererseits auf der deshalb ist das schwer zu sagen. Aber Leone Sinigaglia zum Bühne rüberbringen zu können. Wenn ich gar keine Pause mache, Beispiel, dessen Romanze und Humoreske wir spielen, hat viel mit gehen diese Energie und Kreativität verloren. Für mich ist es piemontesischen Volksliedern gearbeitet, hat einen großen essenziell, gelegentlich die Seele baumeln zu lassen, „Mensch zu Sammelband herausgegeben. Alle Komponisten werden von ihrer sein“ außerhalb der Musik in dem Sinne, dass ich Natur und Kultur Muttersprache beeinflusst, vorallem wenn sie viel für Gesang – also genieße, zum Beispiel beim Schwimmen, Schnorcheln, Lesen und Opern oder Lied – schreiben. Denn dabei werden ja Worte und Wandern, und dadurch neue Energie und Inspiration bekomme. Melodie vereint. Die deutsche Sprache ist natürlich ganz anders als Ihr Wunschtraum? die italienische. So hört man auch in der Instrumentalmusik einen Das klingt jetzt vielleicht seltsam: Aber ich wünsche mir, öfter anderen Sprachduktus – irgendwie überschwänglicher und durch ohne Zweifel glücklich zu sein! Mich frei zu machen vom Perfektiihren Vokalreichtum melodiöser. onszwang und loslassen zu können. Sowohl im Privaten als auch in Schon einige Komponisten wie Dominik Giesriegl, Valentin der Musik, wo es ja letztlich darum geht, sich dem musikalischen Bachmann oder Mario Bürki haben für Sie geschrieben. Von Fluss hinzugeben, das Werk als Ganzes zu welchem lebenden oder toten Künstler würden Sie sich ein Werk begreifen und seine Zusammenhänge zu spüren. wünschen? Dieses Loslassen klappt nicht immer, aber es ist Beethoven! Bei ihm ist ja das große Drama, dass er nie ein wundervoll, wenn es auf der Bühne gelingt! ■ Cellokonzert geschrieben hat. Damals gab es den virtuosen „Serenata Italiana“, Raphaela Gromes, Julian Riem (Sony) Cellisten Bernhard Romberg. Nach einem Konzert kam Beethoven 31


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GLANZVOLLER ­AUSSENSEITER ­ Im Juli feierte der weltbekannte Dirigent Herbert Blomstedt seinen 90. Geburtstag. crescendo sprach mit ihm über die Vorzüge einer strengen Erziehung, ­Außenseitertum und morgendlich schwirrende Gedanken. VON CORINA KOLBE

In den USA geboren, als Schwede in Finnland aufgewachsen, in der ehemaligen DDR die ersten großen Karriereschritte: Herbert Blomstedt

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err Blomstedt, Sie dirigieren ungefähr 80 Konzerte im Jahr. Kommen Sie überhaupt dazu, über Ihr Alter nachzudenken? Herbert Blomstedt: Ich mache mir über so manches Gedanken, vor allem frühmorgens. Da schwirren die Ideen nur so in meinem Kopf umher. Für mich ist das die kreativste Zeit. Ich bin seit jeher ein Morgenmensch und brauche mittlerweile immer weniger Schlaf. Ihr Dirigentendebüt mit den Stockholmer Philharmonikern liegt inzwischen mehr als 60 Jahre zurück. Hätten Sie sich damals eine so lange Laufbahn vorstellen können? Ich habe mich immer nur auf das Stück konzentriert, das ich gerade einstudierte. In solchen Momenten hat man das Gefühl, einen Berg zu besteigen. Was dahinter liegen könnte, kommt einem gar nicht in den Sinn. Als Sohn schwedischer Einwanderer wurden Sie im US-Bundesstaat Massachusetts geboren. Ihre Kindheit verbrachten Sie in Schweden und Finnland. Wie haben Sie diese häufigen Ortswechsel erlebt?

und holte eine theologische Fachzeitschrift hervor. Offensichtlich war das nicht der richtige Ort für seinen Sohn. Wie haben Sie Ihren Weg zum Dirigentenpult gefunden? Erst sieben Jahre nach meinem Diplom konnte ich zum ersten Mal ein Orchester dirigieren. Mein Lehrer Tor Mann, ein enger Freund von Sibelius und Carl Nielsen, hielt mich für talentiert und verschaffte mir ein Probedirigat. Seine Musiker weigerten sich aber, unter einem Schüler von ihm zu spielen. Solchen Widerstand zu spüren, war für mich auch eine wertvolle Erfahrung. Von 1975 bis 1985 waren Sie in der damaligen DDR Chef der Dresdner Staatskapelle, die sich inzwischen Sächsische Staats­ kapelle Dresden nennt. Wie war es, als westlicher Ausländer mitten im Kalten Krieg dieses Amt auszuüben? Eigentlich war ich schon ab 1970 der „geheime“ Chefdirigent des Orchesters. Meinen Vertrag unterschrieb ich allerdings erst fünf Jahre später, weil ich Bedenkzeit brauchte. Es war mir nicht geheuer, eine so große Aufgabe in einem totalitären Staat zu übernehmen. In jenen Jahren war ich außerdem fest in Kopenhagen und später in Stockholm engagiert. Ich hätte ansonsten im Ausland kein Geld zum Leben gehabt. Denn in Dresden wurde ich in der MEIN VATER WAR SEHR STRENG, ER WOLLTE SEINE KINDER Währung der DDR bezahlt, die ich nicht ZU MORALISCHEN VORBILDERN ERZIEHEN ausführen durfte. Was zeichnet dieses Orchester aus, dem Sie heute als Ehrendirigent verbunden sind? Das war eine gute Erfahrung, weil ich als Dirigent später auch viel Die Staatskapelle ist immer sehr stolz auf ihre lange Tradition gereist bin. An die USA habe ich allerdings keine Erinnerungen gewesen. Die Musiker taten unter meiner Leitung alles, um das mehr, denn ich bin schon mit zwei Jahren nach Europa gekommen. Beste zu erreichen. Ihre enorme Selbstdisziplin hat mir imponiert. Mein Vater war dann als Pastor der Freikirche der Sieben-TagsBei einer Probe bemerkte ich, dass das Orchester auf einmal leiser Adventisten in Gemeinden in Schweden und Finnland tätig. spielte, ohne dass ich ein entsprechendes Zeichen gegeben hätte. In dem kürzlich erschienen Buch „Mission Musik“ sagen Sie im Der Konzertmeister Rudolf Ulbrich hatte eine kleine Bewegung Gespräch mit der Musikkritikerin Julia Spinola, dass Sie sich in mit der Schulter gemacht, und alle reagierten sofort darauf. Das Ihrer Jugend in zweifacher Hinsicht als Außenseiter fühlten – war sicherlich kein Ausdruck von Gehorsam in einem totalitären als Schwede in Finnland und als Mitglied einer Kirche mit Staat. Denn auf die Musik nahm die Politik kaum Einfluss. strengen Prinzipien. Nach zahlreichen Verpflichtungen in den USA – unter anderem In Finnland waren wir nicht sonderlich beliebt. Das Land war erst waren Sie zehn Jahre Musikdirektor der San Francisco Sym15 Jahre vorher von Schweden unabhängig geworden. In den phony – wirkten Sie von 1998 bis 2005 als GewandhauskapellStädten sprachen alle Menschen schwedisch, doch sie mochten die meister in Leipzig. Was haben Ihnen diese Jahre bedeutet? Sprache nicht. Dabei hatte sogar der Nationalkomponist Jean Das Orchester, dessen Ehrendirigent ich heute bin, kenne ich Sibelius kaum Finnisch verstanden. Vor den finnischen Kindern schon seit 1970. Es hat eine fantastische Tradition. Allein die hatte ich Angst. Sie hatten Messer bei sich, und sobald sie meinen Spuren, die Bach in Leipzig hinterlassen hat, waren für mich Akzent hörten, pöbelten sie mich an. Grund genug, den Posten zu übernehmen. Mein Vorgänger Kurt Wie stark haben die Glaubensregeln der Adventisten Ihr Leben Masur war eine Kraftnatur, er hatte eine enorme Willenskraft. Ihm bestimmt? Sie trinken keinen Alkohol, verzichten auf Fleisch ist der Bau des neuen Gewandhauses zu verdanken. und dürfen, ebenso wie Juden, an Samstagen nicht arbeiten. Wie haben Sie Ihren Geburtstag gefeiert? Ich bin in einer glücklichen Familie aufgewachsen. Unser Glaube Am 11. Juli war ich noch mit der Sächsischen Staatskapelle auf hat mich sehr geprägt. Mein Vater war sehr streng, er wollte seine Tournee. Die eigentliche Geburtstagsfeier fand dann im August in Kinder zu moralischen Vorbildern erziehen. Vor dem Frühstück einem Barockschloss in der Nähe von Stockholm statt. 200 Gäste wurde jeden Tag aus der Bibel vorgelesen und gebetet. Für uns war waren eingeladen, gute Freunde aus aller Welt. In der Woche das der normale Alltag. Meine Mitschüler fanden es jedoch darauf gab ich bei den Salzburger Festspielen zwei Konzerte mit merkwürdig, dass ich samstags nie zum Unterricht kam. Und ich den Wiener Philharmonikern. Im Oktober folgt eine lange Tournee interessierte mich auch nicht für Schlager, sondern für Haydn, mit dem Gewandhausorchester, die von London über Paris, Wien Mozart und Beethoven. und weitere Städte bis nach Japan und Taiwan führt. Das InteresIhre Eltern liebten beide Musik. Ihre Mutter war sogar Pianissante ist, dass alle Werke unserer drei Programme, darunter die tin. Allerdings wollte Ihr Vater nie Konzerte besuchen. Warum? Große C-Dur-Sinfonie von Schubert und die Er war enorm pflichtbewusst und in allen wachen Stunden für Siebte von Bruckner, vom Gewandhausorchester seine Gemeinde da. Konzerte waren für ihn keine Sünde, doch er uraufgeführt wurden. ■ wollte dafür keine Zeit opfern. Ab und zu gelang es mir trotzdem, Ludwig van Beethoven: „The Complete Symphonies“, ihn in ein Konzert zu locken. Einmal saßen wir ausgerechnet Herbert Blomstedt, Gewandhausorchester (Accentus) neben einer Dame mit tiefem Dekolleté. Mein Vater seufzte tief auf 33


P E R S O N A L I E N

M ELDU NGEN Philippe Jordan Elisabeth ­Gutjahr

John Axelrod

Philippe Jordan wird ab 2020 Musik­ direktor der Wiener Staatsoper. Derzeit ist der 42 Jahre alte Schweizer Chefdirigent der Wiener Symphoniker und musikalischer Leiter der Opéra national de Paris. Bogdan RoščiĆ, designierter Staatsoperndirektor, kommentierte die Entscheidung wie folgt: „Philippe Jordan zählt heute zu den wenigen bedeutenden Dirigenten, die sich vom Beginn ihres künstlerischen Weges an der Oper zugewandt und noch bewusst den klassischen Weg des Kapellmeisters beschritten haben. Damit steht er in der Tradition der bedeutendsten Musiker, die dieses Haus geprägt haben. Das Wissen und die Erfahrung aus diesem Werdegang werden dem Haus entscheidend zugutekommen.“

im Beirat der Musikfreunde Donau­ eschingen. Seit der Verurteilung von Siegfried Mauser wegen sexueller Nötigung hatte die Besetzung des Salzburger Postens unter keinem guten Stern gestanden, so hatte der zunächst designierte Rektor Reiner Schuhenn wegen eines Streits über die Besetzung des Vizerektorpostens im Juli seinen Rücktritt verkündet.

Schon seit 2014 ist der amerikanische Dirigent und crescendo-Kolumnist John Axelrod Generalmusikdirektor des Real Orquesta Sinfónica de Sevilla (ROSS). Nun übernimmt Axelrod zusätzlich die Funktion des Geschäftsführers bei diesem Orchester. Erstmals liegen damit nun künstlerische Leitung und Geschäftsleitung in einer Hand. Sowohl die Musiker als auch die Stadt Sevilla befürworten diese Entscheidung.

G E S TO R B E N

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Ernst Ottensamer

Wilhelm Killmayer

Mit großer Anteilnahme hat die Musikwelt auf den völlig unerwarteten Tod des Klarinettisten Ernst Ottensamer reagiert. Er verstarb am 22. Juli im Alter von nur 61 Jahren an einem Herzinfarkt. Der 1955 in Oberösterreich geborene Ottensamer studierte Klarinette in Wien. 1979 wurde er Klarinettist bei den Wiener Philharmonikern, die ihn 1983 zu ihrem Soloklarinettisten beriefen. Neben seiner Orchestertätigkeit war Ottensamer als Hochschulprofessor an der Universität für Musik in Wien tätig und pflegte eine rege Kammermusiktätigkeit. Er gründete Ensembles wie die Wiener Virtuosen, das Wiener Bläserensemble und das Wiener Solisten Trio. Seine Söhne Daniel und Andreas sind beide ebenfalls überaus erfolgreiche Musiker – Ersterer als Soloklarinettist bei den Wienern, Letzterer in gleicher Position bei den Berliner Philharmonikern. Zu dritt traten sie regelmäßig als The Clarinotts auf.

„Höre nicht auf die anderen Leute“, soll sein Lehrer Carl Orff zu ihm gesagt haben. Diesen Rat hat der Komponist Wilhelm Killmayer sein Leben lang beherzigt. Eigenwillig und gegen alle Avantgarde-Strömungen realisierte er seinen vollkommen individuellen Stil zwischen Romantik und Moderne: „Meine Musik lebt in der Vergangenheit und in der Zukunft und ist vielleicht gerade deshalb gegenwärtig“, charakterisierte er seine Kunst. Killmayers umfangreiches Oeuvre reicht von Opern, Sinfonien und Chorwerken bis hin zu Balletten – von 1961 bis 1964 arbeitete Killmayer auch als Ballettdirigent an der Bayerischen Staatsoper –, Kammermusik und über 200  Liedern, darunter seine drei großen Hölderlin-Zyklen. Von 1973 bis 1992 war Killmayer außerdem Professor für Komposition an der Münchner Musikhochschule. Er starb einen Tag vor seinem 90. Geburtstag in seiner Heimatstadt München.

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F OTO S : J O H A N N ES I F KOV IT S ; SC H OT T P RO M OTI O N / S TE FA N F O R S TE R ; W I E N E R S TA AT S O P E R ; U N I V E R S ITÄT M OZ A RTEU M ; P R I VAT

Neue Rektorin der Universität Mozarteum Salzburg wird Elisabeth Gutjahr, die seit 2006 in gleicher Position an der Musikhochschule Trossingen tätig ist. Außerdem arbeitet Gutjahr als Librettistin und ist Stellvertretende Vorsitzende im Ausschuss für Musikalische Bildung des Deutschen Musikrats sowie Mitglied


HÖREN & SEHEN Die besten CDs, DVDs & Vinylplatten des Monats von Oper über Jazz bis Tanz Attila Csampais Auswahl (Seite 36)

crescendo-Empfehlungen lesen und direkt kostenlos dabei anhören? Kein Problem: Ab sofort finden Sie auf www.crescendo.de unsere Rezensionen mit direktem Link zum Anhören!

Lizz Wright

Südstaatenmix

F OTO: J ES S E K IT T

Oft sind Coveralben wenig kreativ – ganz anders ist das bei Lizz Wrights „Grace“. Das Album beinhaltet neun Songs, die Wright von Größen wie Bob Dylan, Rose Cousins oder Nina Simone adaptiert hat, plus ein neues, mit Maia Sharp zusammen komponiertes Lied. Die Motive Gnade und Menschlichkeit ziehen sich wie Leitmotive durch die Werke. Mit ihrer unverwechselbaren Altstimme vereint Wright die heterogenen Musiktraditionen des US-amerikanischen Südens in ihren Songs: von Gospel über Country zu Soul, garniert mit einer swingenden Portion Jazz. „Grace“ präsentiert sich damit als ein vielschichtiges und gefühlvolles Album. Es überzeugt mit reichem Klangspektrum und großer stilistischer Vielfalt. PD

Lizz Wright: „Grace“ (Concord)

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H Ö R E N & S E H E N

Die Empfehlungen von Attila Csampai

VON ENGELSGESANG BIS HORRORTRIP … erstreckt sich Attila Csampais September-Auswahl. Energieschüben herausholt, ohne dabei die objektive Ebene des Materiell-Faktischen, also des strukturellen Kontexts, zu verlassen, Thomas Albertus Irnberger, Royal Philharmonic das verleiht diesen Heiligtümern eine völlig neue innere Logik ­Orchestra, James Judd, David Geringas, und Sogkraft: Selten klangen Beethovens Sinfonien so stringent, Michael Korstick (Gramola) so druckvoll fließend und so spannungsgeladen, wobei Blomstedt Trotz seines Bekanntheitsgrades umgibt Beet- sein Ego ganz zurücknimmt und Beethovens ganz speziellen hovens Violinkonzert noch immer eine Aura Kompositionsprozess, also die große Gedankenlinie in den Mitdes Geheimnisvollen, die vor allem von den fünf einleitenden telpunkt rückt: Und so fügen sich hier auch die prominenten Paukenschlägen ausgeht: Sie künden ganz leise etwas Besonderes Schlüsselwerke wie die Eroica oder die Fünfte ganz nahtlos ein in an, das dann durch die ständigen Höhenflüge der Solovioline einen organischen Entwicklungsprozess, der auf alles übertrieeine übernatürliche, fast himmlische Schönheit gewinnt. Thomas bene Pathos, auf allen Titanismus, aber eben auch jeglichen Effekt Albertus Irnberger, der das Konzert jetzt in einer exzellenten verzichtet und aus wissender Überlegenheit sich eine letzte Spur Neueinspielung vorgelegt hat, vertritt die hochinteressante These, von emotionaler Distanz bewahrt: So schärft Blomstedt den Blick dass es sich bei dem am 23. Dezember 1806 uraufgeführten Werk auf das Wesentliche, auf das, was Beethovens eigentliche Größe tatsächlich um eine Art Weihnachtskonzert handeln könnte, das ausmacht. Ein Zyklus mit Referenzqualität. auf einem schlesischen Weihnachtslied basiert und das dem Solisten die Rolle des Engels zuweist, der den Menschen die frohe „CHOPIN-RECITAL 3“ Janina Fialkowska (Atma Classique) Botschaft verkündet. Die eigentliche Überraschung ist aber, dass er diese neue, christlich-humanistische Sicht auch in seiner Artur Rubinstein, der Janina Fialkowska 1974 Interpretation konsequent umsetzt und seinen Part als großen, zum ersten Mal hörte, nannte sie spontan überirdisch schönen Menschheitsappell begreift, bei dem sich „eine geborene Chopin-Interpretin“. MittlerNoblesse, Intensität, Empfindsamkeit und Klarheit die Waage weile hat die 1951 geborene Kanadierin halten, und sich so auf eine fast altmodische Art charismatische die ganze Welt mit ihrem hochintelligenten Kräfte entfalten. Damit trotzt Irnberger mutig aller heute übli- Chopin- und Liszt-Spiel erobert. Das hochkomplexe Spätwerk chen virtuosen Egomanie, setzt sich aber auch klar ab von aller Chopins bildet mit der experimentellen Polonaise-Fantaisie, dem „historisch orientierten“ Sprödigkeit. Auf einer zweiten SACD vierten Scherzo und der vierten Ballade das thematische Grundgibt es noch das Tripelkonzert, als dramatische Konversation mit gerüst ihres dritten „Chopin-Recitals“, und sie werden durch illustren Mitspielern. kleinere Formen wie Nocturnes, Walzer und Preludes zu einer poetischen Traumreise verbunden, ja durch Fialkowskas charisBEETHOVEN: „THE COMPLETE SYMPHONIES“ matische Erzählkraft sogar zu einem Seelen-Seismogramm ChoGewandhausorchester, Herbert Blomstedt pins verdichtet. Bravour, Pathos und Parfüm sind ihr dabei völlig (Accentus Music) fremd, sie zielt rigoros auf die menschlichen Wahrheiten hinter Mit 90 Jahren ist Herbert Blomstedt der Nestor allem Glanz, auf die Inseln tiefer Melancholie und die kleinen der internationalen Dirigentenszene: Sein oder großen Ausbrüche von Verzweiflung, die sie dann mit neuer Beethoven-Zyklus mit dem Leipziger bestürzender Geradlinigkeit herausmodelliert. Am meisten aber Gewandhausorchester, das er nach 1998 ent- beeindruckt die schlichte, natürliche, geradezu nackte Poesie scheidend formte und neu ausrichtete, aber klingt wie ein Mani- ihres Tons, der auf wundersame Weise Wärme mit Klarheit, fest jugendlicher Frische und Spannkraft. Was er da aus diesen Gefühl mit Intellekt, Atem mit schnörkelloser Kontur verbindet: noch immer munter brodelnden Vulkanen an dramatischen Ein Album, das einen nicht mehr loslässt. BEETHOVEN: „VIOLINKONZERT, ­TRIPELKONZERT, ROMANZEN“

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IMPRESSUM VERLAG Port Media GmbH, Rindermarkt 6, 80331 München Telefon: +49-(0)89-74 15 09-0, Fax: -11 info@crescendo.de, www.crescendo.de Port Media ist Mitglied im Verband Deutscher Zeitschriftenverleger und im AKS Arbeitskreis Kultursponsoring

HERAUSGEBER Winfried Hanuschik | hanuschik@crescendo.de

VERLAGSLEITUNG

DVOŘÁK: „DIE GEISTERBRAUT“ Simona Šaturová, Pavol Breslik, Adam Plachetka, ORF Vienna Radio Symphony Orchestra, Cornelius Meister (Capriccio) Track 9 auf der crescendo Abo-CD: Pěkná noc, jasná, v tu dobu

Antonin Dvořáks Kantate Die Geisterbraut von 1885 ist außerhalb Tschechiens kaum bekannt. Sie basiert auf einer Ballade des Lyrikers Karel J. Erben, dessen Schauermärchen Dvořák auch zu seinen späten sinfonischen Dichtungen inspirierten. Ein lange vermisster Liebhaber kehrt als Zombie zu seiner Braut zurück und entführt sie auf einen nächtlichen Horrortrip, bei dem sie fast in einem Grab landet. Die hochdramatische Handlung kommentieren ein Chor und ein baritonaler Erzähler, während das bizarre Brautpaar in vier Liebesduetten und zwei großen Arien für lyrische Kontrapunkte sorgt. Die enorme Suggestivität der neuen Aufnahme des ORF Symphonieorchesters unter Cornelius Meister verdankt sich aber nicht nur der großen idiomatischen Sicherheit des 37-jährigen Dirigenten und seiner „kakanisch“ geprägten Wiener Musiker, sondern auch dem punktgenauen, lebendigen Einsatz der bestens eingestellten Wiener Singakademie, die neben den exzellenten tschechischen Vokalsolisten als vierter dramatischer Akteur die Handlung vorantreibt. Simona Šaturová gestaltet mit feinem, lyrischem Timbre die zärtliche Naivität des Mädchens, während Pavol Breslik seine Dämonie hinter verführerischem Schmelz verbirgt. In diesem Konzertmitschnitt stimmt einfach alles, und man fragt sich, warum ein solches Juwel so selten gespielt wird. RACHMANINOV: „KLAVIERKONZERT NR. 2, PAGANINI-RHAPSODIE“ Anna Vinnitskaya, NDR Elbphilharmonie ­Orchestra, Krzysztof Urbański (Alpha)

Bei Evergreens wie dem zweiten Rachmaninow-Konzert scheint es fast unmöglich, substanziell Neues aus dem abgespielten Notentext herauszuholen. Die 34-jährige Russin Anna Vinnitskaya unterzieht das strapazierte Opus dennoch einer faszinierenden Verjüngungskur, unterstützt von dem jungen polnischen Dirigenten Krzysztof Urbański und dem erstaunlich „russisch“ klingenden NDR Elbphilharmonie Orchester. Dabei unternimmt sie nicht den Versuch, die tief romantische Seele des c-Moll-Konzerts – und ebensowenig den überschäumenden Spielwitz der Paganini-Rhapsodie – etwa einzudämmen oder brachial aufzudonnern, sondern die tief russische, noble Empfindsamkeit Rachmaninows mit geradezu magischer Klangsinnlichkeit wieder aufblühen zu lassen: Anna Vinnitskaya hat es nicht nötig, mit virtuosen Mätzchen zu glänzen, ihre mühelose technische Perfektion verschwindet fast hinter der großen melodischen Linie, die den Solopart organisch in den großen Klangstrom des Orchesters einbindet und wellenartig die Stimmungen und Farben wechselt. Ähnlich feinsinnig, nobel-intelligent und ­ punktgenau-präzis meistert sie dann auch die kecken PaganiniVariationen.

Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de

ART DIRECTOR Stefan Steitz

LEITUNG REDAKTION Dr. Maria Goeth (MG)

REDAKTION „ERLEBEN“ Ruth Renée Reif

SCHLUSSREDAKTION Maike Zürcher

KOLUMNISTEN John Axelrod, Axel Brüggemann, Attila Csampai (AC), Daniel Hope, Christoph Schlüren (CS), Stefan Sell (SELL)

MITARBEITER DIESER AUSGABE Philipp Dingeldey (PD), Roland H. Dippel (DIP), Ralf Dombrowski (RD), Antonia Emde (AE), Alexander Fischerauer (AF), Jasmin Goll (JG), Malve Gradinger (GRA), Ute Elena Hamm (UH), Christa Hasselhorst (CH), Sina Kleinedler (SK), Katherina Knees (KK), Corina Kolbe (CK), Guido Krawinkel (GK), Jens Laurson (JL), Anna Mareis (AM), Teresa Pieschacón Raphael (TPR), Michaela Schabel (SCHA), Antoinette Schmelter-Kaiser (ASK), Barbara Schulz (BS), Uta Swora (US), Mario Vogt (MV), Dorothea Walchshäusl (DW)

VERLAGSREPRÄSENTANTEN Tonträger: Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de Kulturbetriebe: Gabriele Drexler | drexler@crescendo.de Touristik & Marke: Heinz Mannsdorff | mannsdorff@crescendo.de Verlage: Hanspeter Reiter | reiter@crescendo.de

AUFTRAGSMANAGEMENT Michaela Bendomir | bendomir@portmedia.de

GÜLTIGE ANZEIGENPREISLISTE Nr. 20 vom 09.09.2016

DRUCK Westermann Druck, Georg-Westermann-Allee 66, 38104 Braunschweig

VERTRIEB Axel Springer Vertriebsservice GmbH, Süderstr. 77, 20097 Hamburg www.as-vertriebsservice.de

ERSCHEINUNGSWEISE crescendo ist im Zeitschriftenhandel, bei Opern- und Konzert­häusern, im Kartenvorkauf und im Hifi- und Tonträgerhandel erhältlich. Copyright für alle Bei­träge bei Port Media GmbH. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des Verfassers, nicht unbedingt die der Redaktion wieder. Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos wird keine Gewähr übernommen.

ABONNEMENT Das crescendo Premium-Abo umfasst sieben Ausgaben inklusive­„crescendo Festspiel-Guide“ und zusätzlich sechs exklusive heftbegleitende Premium-CDs und kostet EUR 55,- pro Jahr inkl. MwSt. und Versand (Stand: 01.01.2017). Versand ins europ. Ausland: zzgl. EUR 3,- je Ausgabe Bank-/Portospesen. Zahlung per Rechnung: zzgl. EUR 4,90 Bearbeitungsgebühr. Kündigung: nach Ablauf des ersten Bezugsjahres jederzeit fristlos. Abo-Service crescendo, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen Telefon: +49-89-85 85-35 48, Fax: -36 24 52, abo@crescendo.de Verbreitete Auflage: 76.295 (lt. IVW-Meldung 1I/2017) ISSN: 1436-5529 geprüfte Auflage

(TEIL-)BEILAGEN/BEIHEFTER: Deutsche Mozartgesellschaft CLASS: aktuell

DAS NÄCHSTE CRESCENDO ERSCHEINT AM 13. OKTOBER.

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H Ö R E N & S E H E N

SOLO

Matthias Kirschnereit

In den Klaviersonaten des jungen Brahms trifft jugendliches Feuer auf höchste technische und musikalische Perfektion. Matthias Kirschnereit zeigt sich den Herausforderungen der f-Moll Sonate op. 5 mehr als gewachsen: Die Klang­ palette reicht von feinfühlig bis energiegeladen, führt über jugendliche Schwärmerei bis hin zu einsamer Melancholie. Im lyrischen Andante espressivo überzeugt er mit besonders weichen Klangnuancen, während er in den Ecksätzen souverän durch den komplexen Formbau zu führen weiß. Die Fähigkeit zur Ausgestaltung großer Spannungsbögen zeigt sich auch im stürmischen Scherzo der sogenannten FAE-Sonate für Violine und Klavier, wobei Geigerin Lena Neudauer mehr durch gepflegte Klangschönheit als durch rhythmische Akzente überzeugt. Neben dem angenehm fülligen Klaviersound nimmt sich die Violine etwas dünn aus. Für die Interpretation des Klavierquintetts op. 34 bildet das AmaryllisQuartett mit dem Pianisten eine inspirierende Symbiose. Gemeinsam bieten sie ein fulminantes Klangfeuerwerk, das bis zum Schluss mit Spannung unterhält. AF

F OTO: B A S TI A N F I SC H E R

Spannung bis zum Schluss

Johannes Brahms: „Frei aber einsam“, Matthias Kirschnereit (Berlin Classics)

Track 4 auf der crescendo Abo-CD: Andante, un poco adagio. Aus: Klavierquintett f-Moll op. 34

ALTE ­M USIK

KAMMERMUSIK

Ann Hallenberg

MythenEnsembleOrchestral

Venezianische Zeitreise

Mahler im Taschenformat

Ann Hallenberg ist eine Meisterin der Programmzusammenstellung. Mit ihrer neuen Doppel-CD nimmt sie uns rund zwei Stunden mit auf eine Zeitreise ins Venedig des 18. Jahrhunderts, genauer: zum Karneval im Jahr 1729. Schon damals war der venezianische Karneval ein Touristenmagnet und die Festlichkeiten ohne Musik undenkbar. Mehrere Opernhäuser konkurrierten um die Gunst des Publikums. Es wurden die neuesten Opern von den renommiertesten Komponisten aufgeführt, die berühmtesten Sänger traten auf, kurz: Das Beste vom Besten wurde präsentiert. Alle Arien auf diesen zwei Alben wurden tatsächlich damals aufgeführt, und so ist die Qualität des Programms geradezu garantiert. Übrigens auch der Neuigkeitswert, denn nahezu alle Arien liegen überhaupt zum ersten Mal als Aufnahme vor – und diese ist mit der Mezzosopranis­ tin Ann Hallenberg und dem Ensemble il pomo d’oro gelungen und unbedingt hörenswert! UH

Von allen Mahler-Sinfonien kommt die Vierte der Kammermusik am nächsten. In einer auf wenige Instrumente reduzierten Fassung von Erwin Stein wurde das Werk 1921 zuerst im Wiener Kreis von Arnold Schönberg aufgeführt. Für die Einspielung mit dem MythenEnsembleOrchestral und der Sopranistin Rachel Harnisch verwendet die Schweizer Dirigentin Graziella Contratto Klaus Simons 2007 entstandene Version, an der auch Horn und Fagott beteiligt sind. Die beim Label Claves erschienene Aufnahme ist absolut hörenswert. In den ersten beiden Sätzen des Stücks arbeiten Contratto und die 14 Musiker die ironisch-grotesken Züge von Mahlers Humoreske besonders plastisch heraus. Von großer Eindringlichkeit sind das lyrische Adagio und der Schlusssatz, in dem Rachel Harnisch mit ihrem warmen, wunderbar dunkel getönten Sopran das Himmlische Leben besingt. Viel Gefühl schwingt auch in Arthur Schnabels spätromantischen Klavierliedern mit, die Contratto selbst für Kammerensemble bearbeitet hat. CK

Giacomelli, Orlandini, Vinci u. a.: „Carnevale 1729“, Ann Hallenberg, il pomo d’oro, Stefano Montanari (Pentatone) Track 6 auf der crescendo Abo-CD: Mi par sentir la bella. Aus: Gianguir von Geminiano Giacomelli 38

Gustav Mahler: „Symphony No. 4. Chamber Version by Klaus Simon“, Rachel Harnisch, MythenEnsembleOrchestral (Claves)

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KONZERT

Simon Trpčeski

Geniestreiche Der 1979 in Skopje geborene Simon Trpčeski ist der bekannteste Klassikkünstler Mazedoniens: Seine Karriere aber machte er in Großbritannien, wo er 2001 in der Londoner Wigmore Hall ein sensationelles Debüt gab. Mit dem russischen Dirigenten Vasily Petrenko kooperiert er schon seit Jahren sehr erfolgreich: Nach den Konzerten Tschaikowskys und Rachmaninows haben die beiden jetzt auch das Erste und Dritte Klavierkonzert Sergej Prokofjews mit dem Liverpool Philharmonic aufgenommen und sie glänzen erneut mit einer ungemein frischen, rasanten und quicklebendigen Deutung, die neben aller virtuosen Brillanz auch die Empfindsamkeit, den ätherischen Klangzauber und den subversiven Humor des jun-

María Savastano

Mythische ­ rauenfiguren F

GESANG

40 Jahre lang stand Giovanni Alberto Ristori (1692–1753) im Dienste des sächsisch-polnischen Hofes und hatte das Glück, dass die Gattin des Kronprinzen, die bayerische Prinzessin Maria Antonia, nicht nur eine begabte Dichterin, sondern auch eine ebenso begabte Sängerin war und seine anspruchsvollen Arien zu singen verstand. Inspiriert von drei Frauenschicksalen aus der römischgriechischen Mythologie schuf sie den Text zu den Kantaten Lavinia a Turno, Didone abbandonata und Nice a Tirsi, die alle um 1748 vermutlich in Schloss Pillnitz in Dresden uraufgeführt wurden. Mit silbrig-glasklarem Sopran verleiht die argentinische Sopranistin María Savastano den Affekten ihrer Figuren Ausdruck: als verlassene Dido, die sich in die Flammen stürzt, als träumende halluzinierende Nice, die den abwesenden Geliebten besingt, und als klagende Lavinia, die nicht den geliebten Mann heiraten darf. Ristoris Oboenkonzert in Es-Dur rundet das schöne Programm ab. Ein Kompliment auch an den Autor des Booklet-Texts. TPR

gen Prokofjew souverän und leichtfüßig ausformuliert. Wer in diesen beiden Geniestreichen des 19- bzw. 32-jährigen Prokofjew nur den stählernen Martellato-Donner der sowjetischen Tradition im Ohr hat, wird hier beschwingt und mit entfesseltem Spielwitz eines Besseren belehrt: So „befreit“ dargeboten wirken diese 100 Jahre alten Schlüsselwerke der klassischen Moderne heute frischer und zeitgemäßer als je zuvor und trotzen, gerade in ihrem Bekenntnis zur Tonalität, jedem Alterungsprozess. AC

„Prokofiev: Piano Concertos 1&3“ Simon Trpčeski, Royal Liverpool Philharmonic, Vasily Petrenko (Onyx)

Netherlands Radio Choir

CHOR

Schönberg 4.0 Adorno sagt, dass Schönbergs atonale Musik als schwer zugänglich gilt, da sie unbequeme soziale Dissonanzen spiegelt. Ähnliches trifft auf die Werke des ungarischen Komponisten Györgi Kurtág zu. Kurtág ist ein brillanter Künstler, dessen Musik unglaublich komprimiert, auf ihre Essenz konzentriert ist. Nun hat der Dirigent Reinbert de Leeuw mit dem Netherlands Radio Choir dessen Werke für Ensemble und Chor eingespielt. Die versammelten kurzen, enorm verdichteten Stücke beinhalten Abstraktionen von Gefühlen und sozialen Widersprüchen. Die Musik ist voller dramatischer Impulse, zwischen ästhetischer Anteilnahme am subjektiven Leid und monströser Unerbittlichkeit in einer gebrochenen Welt. Angereichert werden die Werke mit experimentellen Gesängen, die absurd bis beklemmend wirken. Die Verse sind inspiriert von den Werken Hölderlins, Dostojewskis, Achmatowas und Kafkas. Freunde der Neuen Musik werden von de Leeuws nuancierter und einfühlsamer Interpretation von Kurtágs Werk begeistert sein. PD

György Kurtág: „Complete Works for Ensemble and Choir“, Reinbert de Leeuw, Asko|Schönberg Ensemble, Netherlands Radio Choir (ECM)

Track 7 auf der crescendo Abo-CD: Contra di te sdegnati. Aus: Didone abbandonata.

F OTO: G E R R IT SC H R EU R S

Giovanni Alberto Ristori: „Cantatas for Soprano, Oboe Concerto“, María Savastano, Ensemble Diderot, Johannes Pramsohler, Jon Olaberria (Audax)

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H Ö R E N & S E H E N

F OTO: M I C H I Y U K I O H B A

SOLO

Kuniko

Voll Klangsinn

Es gibt wohl kaum einen Komponisten, dessen Werke so häufig auf Instrumenten aufgeführt wurden, für die sie ursprünglich nicht geschrieben worden waren, wie Bach. Er selbst war der erste Bearbeiter seiner Werke, transkribierte etwa zwei Violinkonzerte fürs Cembalo. In der heutigen Zeit geht man noch einen Schritt weiter und spielt Bachs Musik auch mal mit einem Saxofon-Ensemble wie das Alliage Quintett, auf dem Moog-Synthesizer wie Wendy Carlos oder – wie die Japanerin Kuniko auf ihrem neuen Album – auf der Marimba. Kuniko gehört zu den führenden Perkussionistinnen unserer Zeit und hat für ihr Album Bearbeitungen der Cello-Suiten und der Solo-Sonaten für Violine zusammengestellt. Wer nun befürchtet, dass hier vor allem schnelle Sätze effektvoll runtergeklöppelt werden, liegt absolut falsch. Kuniko interpretiert Bachs Werke mit hohem Klangsinn und tiefem Verständnis für die polyfonen Strukturen. Das ganze wurde auch noch exzellent aufgenommen. Hörenswert! MV

J. S. Bach: „Solo Works for Marimba“, Kuniko (Linn Records) Track 3 auf der crescendo Abo-CD: Präludium Nr. 1 C-Dur. Aus: Das wohltemperierte Klavier

Portland State Chamber Choir

Yaara Tal

Moderne Religiosität

Anmutige Jugendwerke

Der Lette Ēriks Ešenvalds gehört zu den besten Komponisten zeitgenössischer religiöser Musik. Seine Choräle, oft für 8 bis 16 Stimmen angelegt, sind überwältigend und kraftvoll. Immer wieder oszilliert Ešenvalds zwischen „Chaos“ und religiöser Katharsis. Der Dirigent Ethan Sperry hat nun mit dem Portland State Chamber Choir Ešenvalds Werke der vergangenen zehn Jahre auf dem Album „The Doors of Heaven“ eingespielt. Darauf werden mythische Indianergesänge mit der Geschichte von Maria Magdalena vereint, wobei Letztere mit dem vierteiligen Werk Passion and Resurrection das halbe Album einnimmt. Sperrys Interpretation ist ergreifend und abwechslungsreich. Fast glaubt man, den Soundtrack eines Blockbusters zu hören, so plastisch, dramatisch und bombastisch wirken die Stücke. Gleichzeitig gelingt der Hybrid, religiöse Musik einer wirkmächtigen Modernisierung zu unterziehen. PD

Wenn Kinder von Genies sich im selben Metier betätigen wie ihre Eltern, wird ihre Leistung oft nicht ausreichend gewürdigt. Ein solcher Fall ist der Komponist Franz Xaver Mozart (1791–1844), der jüngste Sohn von Wolfgang Amadeus. Seine Musik ist mittlerweile – völlig zu Unrecht – nahezu in Vergessenheit geraten. Ein Glück, dass es da Interpreten gibt wie Yaara Tal (die weibliche Hälfte des Klavierduos Tal & Groethuysen), die sich gerne jenseits der ausgetretenen Repertoirepfade bewegen. Sie kombiniert F. X. Mozarts Polonaises mélancoliques mit den frühen Polonaisen von Chopin, was absolut sinnvoll ist, denn in ihrer bisweilen an Schubert erinnernden Melodik weisen die Mozart-Polonaisen bereits auf den romantischen Stil hin, stehen jedoch noch mit einem Bein in der Klassik. Diese Jugendwerke sind schöne und anmutige Stücke, die von Yaara Tal mit hoher klanglicher Sensibilität und packendem tänzerischen Schwung dargeboten werden. MV

CHOR

Ēriks Ešenvalds: „The Doors of Heaven“, Ethan Sperry, Portland State Chamber Choir (Naxos)

F. X. Mozart, Chopin: „Polonaise“, Yaara Tal (Sony)

Trio Alba

IZ AJ F OTO : M A R I J A K A N

KAMMERMUSIK

Schuberts „Eigenthümlichstes“ Er wollte es niemandem widmen, „außer jenen, die Gefallen daran finden“, wie Schubert 1827 seinem Verleger Probst schreibt, der damals schon ahnt, dass ihm die Publikation des Trio D 929 keinen Profit bringen wird. 1827 ist das Jahr der Winterreise. Schubert verzweifelt an seiner Krankheit, an der er ein Jahr später sterben wird. Und dennoch gelingt ihm dieses tiefe und gewaltige Werk. Fast eine Stunde dauert es, annähernd so lang wie die „Große“ C-Dur-Sinfonie, der Schumann die vielzitierte „himmlische Länge“ attestierte. Das Trio Alba schwelgt nicht dahin und lässt sich dennoch Zeit, die Melodien liebevoll auszuspielen, die Affekte tief auszuloten, etwa im zweiten Satz, dem Andante con moto, dem „Seufzer, der sich bis zur Herzensangst steigern möchte“, wie es Schumann mit wunderbaren Worten umschrieb. Souverän weichen die Musiker jeder Gefühlsduselei aus, jedem abgedroschenen Auftrumpfen, verlieren nie die Selbstbeherrschung und wirken deshalb so eindringlich. Bravo! TPR

Franz Schubert: „Piano Trio D 929, Nocturne“, Trio Alba (MDG) Track 5 auf der crescendo Abo-CD: Adagio Es-Dur D 897 „Notturno“ 40

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September – Ok tober 2017


NEUE WELTEN

FILM

GESANG

Christoph Sietzen

John Williams

Vienna Vocal Consort

Die Attraktion

Grazile Hörbilder ­ohne Film

Kerniger Sound

Pressestimmen feiern den jungen Multiperkussionisten Christoph Sietzen schon seit Beginn seiner Karriere als Jahrhunderttalent und Ausnahmemusiker. Wer seine erste Solo-CD hört, die 2017 bei Genuin Classics erschienen ist, kann sich davon überzeugen, dass die Medien nicht zu viel versprochen haben. Das Album „Attraction“ macht seinem Namen alle Ehre. Jedes einzelne Werk wird mit so viel technischer Brillanz, Feinheit im musikalischen Ausdruck, Liebe zum Detail, Virtuosität und vor allem einer solch immensen Spielfreude präsentiert, dass der Hörer oft aus dem Staunen nicht herauskommt. Sietzen beeindruckt sowohl durch atemberaubende Geschwindigkeit als auch durch bewusste Zurückhaltung, sodass der Hörer sich einerseits von den Rhythmen mitreißen, andererseits aber auch zu den Melodien meditieren und sich von den Klängen tragen lassen kann. Eine Attraktion im besten Sinn des Wortes. US

Séjourné, Xenakis, Pärt u. a.: „Attraction“, Christoph Sietzen (Genuin)

„Was immer Oper am Ende des 19. Jahrhunderts bedeutet hat, der Film war es zum Ausklang des 20. Jahrhunderts“, so John Williams, der heute 85-jährige Komponist. Seine Musik hat die Filmgeschichte geprägt. Er verlieh Blockbustern von Star Wars bis Harry Potter seine Klänge. Entliehen hat er mitunter bei Holst, Tschaikowsky und Korngold. Nach zahlreichen Oscars und Grammys erfährt er nun eine Ehrung anderer Art: Der italienische Pianist Simone Pedroni, selbst Preisträger vieler Auszeichnungen, hat nicht wenige der pompösen Orchesterstücke mit Hingabe transkribiert und mit Enthusiasmus in der Basilika seiner Heimatstadt Novara im Piemont aufgenommen. Denn Pedroni ist absoluter Fan der Musik von John Williams. Schon als Jugendlicher begeisterte er sich so für dessen Sound, dass er die Rückkehr der Jedi-Ritter gleich dreimal hintereinander sah. Herausgekommen sind grazile Hörbilder ohne Film. SELL

John Williams: „Themes and Transcriptions for Piano“, Simone Pedroni (Varèse Sarabande)

Die Mär vom finsteren Mittelalter spukt immer noch hier und da durch die Geistesgeschichte, dabei werden die epochalen Entwicklungen dieser Zeit oft vernachlässigt: die gotischen Kathedralen etwa oder auf musikalischem Gebiet die Weiterentwicklung der Mehrstimmigkeit. Die Folgen dieser musikalischen Emanzipation sind auf dieser CD zu hören: Das fünfköpfige Vienna Vocal Consort hat die Messe de Nostre Dame von Guillaume Machaut aufgenommen und ihr Werke nachfolgender Komponistengenerationen bis hin zum Frühbarock gegenübergestellt. Der Sound ist kernig, die Interpretation von dem stetigen Anspruch geprägt, stilistische Entwicklungslinien offenzulegen. Dies wird hier genauso offensichtlich wie die musikalische Sprengkraft mancher heutzutage nur allzu leicht als archaisch abgetaner Floskeln. Eine hochinteressante und aufschlussreiche Einspielung, nicht nur für Mittelalter-Nerds! GK

Gallus, Palestrina, Desprez u. a.: „Nostre Dame“, Vienna Vocal Consort „Nostre Dame“ (Klanglogo) Track 2 auf der crescendo Abo-CD: Ave maris stella von Guillaume Dufay

Bestbesetzung Mehr als 80 Engelmusikanten mit ihren legendären elf weißen Punkten auf grünen Flügeln gehören zum weltberühmten Grünhainichener Orchester. Kult seit 1923. Zum Sammeln und Verschenken. Damit das Konzerterlebnis nie zu Ende geht. Erhältlich über autorisierte Fachhändler auf dem Online-Marktplatz von Wendt & Kühn unter

W W W.W E N D T- K U E H N . D E Wendt & Kühn KG Chemnitzer Str. 40 · 09579 Grünhainichen Telefon (037294) 86 286


H Ö R E N & S E H E N

Ana-Marija Markovina

Tönender Damast Ein Leben zwischen Genie und Bürgerlichkeit: Anton Urspruch (1850– 1907) studierte in Frankfurt bei Joachim Raff und war ein Protegé von Franz Liszt. Der Pianist, Dirigent und Komponist gehörte auch durch seine Heirat mit der Tochter des Musikverlegers Crantz zur Elite der virtuosen Salonund Konzertkultur des reifen 19. Jahrhunderts. Die Pianistin Ana-Marija Markovina schwebt und schwelgt im klanglichen Raffinement von Urspruchs melodischen Reizen: Sie haucht in den Cinq Marceaux über die Tastatur und zeigt damit Urspruchs heimliche Neigung für Chopin. Die Fünf Fantasie­ stücke weisen den Komponisten als Klangromantiker aus, der sich in Schönheitstrunkenheit nach der Veredelung des musikalischen Gedankens verzehrt. Ana-Marija Markovina zeigt das mit einem eindrucksvollen Gestaltungswillen. Und in Urspruchs Miniaturen der Deutschen Tänze legt sie die betörend süße Sehnsucht nach der verlorenen Einfachheit. Ein empathisches Credo für den fast Vergessenen. DIP

Anton Urspruch: „Works for Piano solo“, Ana-Marija Markovina (Hänssler Classic) Track 10 auf der crescendo Abo-CD: Romance. Aus: Cinq morceaux pour le piano, op. 19 F OTO: M A R I O N KO E L L

Alexei Lubimov

Kraft, Saft und Gefühl

Der janusköpfige Alexei Lubimov ist einerseits ein moderner „Vollblutkonzertflügelpianist“, der mit geschmeidig-kraftvollen Interpretationen vom Repertoire des 20. Jahrhunderts aufwartet („Messe Noire“, ECM), andererseits auch ein „Fortepianopionier“, der schon vor drei Jahrzehnten einen bahnbrechenden Mozart-Sonaten-Zyklus einspielte (Erato). Und jetzt wieder etwas anderes: Carl Philipp Emanuel Bach – auf dem Tangentenklavier, einem Mischling zwischen Clavichord, Cembalo und Hammerkla-

Carl Philipp Emanuel Bach: „Tangere“, Alexei Lubimov (ECM)

vier. Die Musik des einst so einflussreichen C.P.E. – Maßstab für Haydn, Mozart, Beethoven, dann lange vergessen – erwacht langsam wieder zum Leben. Jüngste Gesamteinspielungen der Tastenmusik legten den Grundstein dazu. Aufnahmen wie diese aber geben das Feuer dazu. Gleich die einleitende späte Fantasie in fis-Moll fördert das reiche Klanguniversum des Instruments zu Tage. Lubimov produziert dabei kein zartes, galantes Spiel, sondern bietet Kraft, Saft und Einfühlungsvermögen. JL

SOLO

Véronique Gens

Visionen, Halluzinationen

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F OT O: S A NDRIN

Bruneau, Franck, Bizet u. a.: „Visions“, Véronique Gens, Münchner Rundfunkorchester, Hervé Niquet (Alpha) Track 8 auf der crescendo Abo-CD: Ah! … quel songe affreux! Aus: Stradella von Louis Niedermeyer

E E X P I L LY

Komponisten der französischen Romantik hatten offenbar eine Schwäche für exaltierte Frauen. Die Sopranistin Véronique Gens widmet sich auf ihrem neuen Album weiblichen Gestalten mit mystischen Jenseitsvisionen. Die Jungfrau Maria träumt vom Aufstieg ins Paradies. Auch Geneviève will sich für Gott opfern, während Gismonda im Kloster erst noch gegen irdische Wollust ankämpfen muss. Begleitet von dem Münchner Rundfunkorchester unter Hervé Niquet interpretiert Gens mit ausdrucksstarkem Timbre Partien aus teils selten aufgeführten Opern, Oratorien und Kantaten von Jules Massenet, Alfred Bruneau, Henry Février, Fromental Halévy, César Franck und anderen. Die Sopranistin singt in einer für die französische Romantik typischen Stimmlage, mit der die Operndiva Cornélie Falcon berühmt wurde. Die CD entstand in Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane in Venedig, einem Zentrum für französische Musik des 19. Jahrhunderts, das vergessenes Repertoire aus der Versenkung holen will. CK

w w w . cwr ew swc .ec nr de os c. de en d o—. d eJuni – Juli – August — September – Ok 2017 tober 2017


KAMMERMUSIK

The Clarinotts

Klarinette pur

F OTO: N A N C Y H O ROW IT Z

Ein Klarinettentrio ist eine seltene, aber auch eine besonders hörenswerte Spezies. Dabei kommen die verschiedenen und besonderen Klangqualitäten des Instruments zur Geltung. Hinter The Clarinotts verbergen sich drei erfolgreiche Klarinettisten. Es ist ein Familien-Ensemble aus Vater und zwei Söhnen: Ernst, Andreas und Daniel Ottensamer. Sie spielen Bearbeitungen von Mozart (Divertimento Don Giovanni) und Johann Strauss (Federmaus-Trio), aber auch jüngere Originalwerke für diese Besetzung – ein Potpourri, das Laune macht. Die Aufnahme der Ottensamers ist in allen Punkten präzis – und „pur“. Man hört Luft und Atem, das Klappern der Klappen an den Instrumenten. Das macht die Musik nahbar und das Ensemble sympathisch, man ist quasi per du. Tragischerweise ist dies die letzte Aufnahme des Trios in dieser Formation. Ernst Ottensamer ist im Juli überraschend verstorben. UH

Mozart, Rossini, Doppler u. a.: „The Clarinotts“, Andreas, Daniel & Ernst Ottensamer (DG) Track 11 auf der crescendo Abo-CD: Trio für drei Klarinetten von Joseph Friedrich Hummel

SOLO

FILM

VINYL

Dmitri Hvorostovsky

Les Contes d’Hoffmann

Jean Rondeau

Mit voller Wucht

Aufgefrischt

Manchmal sind Werk und Künstler wie füreinander geschaffen. Wenn man den Klang der russischen Seele kennenlernen möchte, kann man sich getrost dem Bariton Dmitri Hvorostovsky anvertrauen, der auf dem Album „Russia Cast Adrift“ eine Atmosphäre von außergewöhnlicher Schönheit und Intensität kreiert. Die Aufnahme präsentiert die erste Orchesterfassung von zwölf Liedern des russischen Komponisten Georgy Sviridov, mit dem den Sänger in den letzten Lebensjahren des Komponisten eine besondere Künstlerfreundschaft verbunden hat. Mit hörbarer Begeisterung hat sich Dmitri Hvorostovsky 2016 gemeinsam mit dem St. Petersburg State Symphony Orches­ tra und dem Ensemble Style of Five unter der Leitung von Constantine Orbelian erneut Sviridovs Liederzyklus gewidmet und kann in der hinreißend stimmigen Aufnahme des vielfarbigen Arrangements aus der Feder von Evgeny Stetsyuk alle Schattierungen seiner großen Stimme zur Geltung bringen. KK

John Schlesingers Inszenierung von Offenbachs Les Contes d’Hoffmann aus dem Jahr 1980 gilt als Publikumsliebling, weshalb sie 1981 schon einmal aufgezeichnet wurde. Nun hat Daniel Donner den Klassiker wiedereinstudiert, was von Sony auf DVD gebannt wurde: Nach gut 35  Jahren ist nicht nur das Bild schärfer geworden und unschöner Sängerschweiß durch HD-Make-up verschwunden, auch die neue Besetzung tut der Inszenierung gut. Verglichen mit der damaligen Olympia scheint Sofia Fomina vollständig verwachsen mit ihrer Puppenhülle. Unaufhörlich klimpert sie mit den Augendeckeln und bewegt Kopf und Fächer mechanisch zur Musik. Thomas Hampson verlässt für die Partien der Bösewichte den lyrischen Ton und wagt sich farbenreich ins Charakterfach vor. Schlesinger, eigentlich Filmregisseur, kreierte mit der detailverliebten Ausstattung eine fantastische, surreale Welt, die Hoffmann-Darsteller Vittorio Grigolo mit pathetischen Operngesten jedoch hin und wieder bricht. JG

Georgy Sviridov: „Russia Cast Adrift“, Dmitri Hvoros­ tovsky (Delos)

Jacques Offenbach: „Les Contes d’Hoffmann“, Orchestra of the ­Royal Opera House, Evelino Pidò (Sony Classical)

Vater und Sohn – ­ unter Strom In Frankreichs Barockszene sorgt Jean Rondeau für frischen Wind: Nach seinem Bach-Soloalbum hat der 26-jährige Cembalist jetzt eine LP mit dem Titel „Dynastie“ herausgebracht, das das bekannte erste d-Moll-Konzert Johann Sebastian Bachs mit dem kaum bekannten f-Moll-Konzert seines Sohnes Johann Chris­tian koppelt – einem Manifest des „Sturm und Drang“. Rondeau spielt auf einem modernen, dunkel-voluminös tönenden Cembalo und wird von nur fünf Mitspielern unterstützt, was dem Ganzen einen intimen, kammermusikalisch-haptischen Charakter verleiht und dank körpernaher Mikrofonierung in ungewöhnlich dunkel-sinnlicher Farbenpracht erklingt, sodass beide ­Konzerte profunde Basskraft und rustikale Bodenständigkeit verströmen. Durch seine freie, entfesselte Agogik verdichtet er den improvisatorischen Gestus seines Soloparts und verleiht so den historischen Strukturen eine völlig neue, geradezu wilde und motorisch-drängende Aktualität: Hier werden musikalische Götter vom Kopf auf die Füße gestellt. AC

Bach: „Dynastie“, Jean Rondeau (Erato), auch als CD erhältlich 43


H Ö R E N & S E H E N

Matthias Well

Trauern international

KAMMERMUSIK

F OTO: DO M I N I K O D E N K I RC H E N

Die Trauermusik aus verschiedenen Kulturen führt Matthias Well unter dem originellen Titel „Funeralissimo“ zusammen, ein beeindruckendes Konzept, wofür er mit dem „Fanny Mendelssohn Förderpreis 2017“ ausgezeichnet wurde. Gemeinsam mit Violoncellistin Maria Well und dem Akkordeonisten Zdravko Živkovič gelingt ein facettenreiches, vielschichtiges Album mit internationalen Trauerharmonien von 17 verschiedenen Komponisten, teilweise von Matthias Well bearbeitet oder eigens für das Album komponiert. Heimatnah wird mit einem sehr gefühlvollen Allerseelen Jodler begonnen. Es folgen rasante Zigeunerweisen, klassische Kompositionen, irische, schottische Volkslieder, exotisch aufgemischt mit indischer Spiritualität, indonesischen Rhythmen und einem westafrikanischen Totentanz. Am Ende steht Piazzollas sehnsuchtsvolles Oblivion. Das ist in der Tat „Funeralissimo“, eine gefühlvolle, exzellent interpretierte Kaleidoskop­ansicht dessen, was alles beim Abschied möglich sein kann. SCHA

Bach, Piazzolla, Seress u. a.: „Funeralissimo“, Matthias Well, Maria Well, Zdravko Živkovič (Genuin) Track 1 auf der crescendo Abo-CD: Bonnie at morn (schottisches Volkslied) Royal Swedish Ballet

Sommernacht in Schweden

Tänzer in großer Gruppe, die durch rhythmisches Schaufeln und Schwingen der Arme Heu in sprühenden Bögen und Fontänen aufwirbeln lassen – das ist so eine bildmächtige Gymnopaedie, wie man sie von dem erfolgreichen schwedischen Tanzschöpfer Alexander Ekman kennt. Sein Midsummer Night’s Dream (2015) für das Königlich Schwedische Ballett entspinnt sich, weitab von Shakespeare, in zeitgenössisch freier Fantasie um den schwedischen Brauch der Mittsommernacht. Und in Mikael Karlssons mysteriös nächtlichem Klangraum von rhythmisch drängenden Streichern, Schlagwerk, verlorenen Pianoklängen und dem Gesang einer blonden Sirene driftet die getanzte Erinnerung an althergebrachte Maibaumreigen und ausgelassenes Tafeln an langen Tischen hinüber in das Eigenleben des Schlafes. Dorthin, wo die Alogik des Traumes volkstümliches Tanzen zu surrealen Körper-Plastiken und postmoderner Neoklassik wandelt. GRA

„Midsummer Night’s Dream“, Royal Swedish Ballet, Alexander Ekman, Mikael Karlsson (BelAir)

TANZ

Mourad Merzouki

Lichtertanz Videoprojektionen als den Tanz schmückendes, im besten Fall künstlerisch ergänzendes Mittel sind heute ganz selbstverständlich. Noch näher am Puls des digitalen Zeitalters ist „Pixel“ (2014), eine Zusammenarbeit der Kompanien von Mourad Merzouki und dem medientechnisch versierten Choreografen-Duo Adrien Mondot/Claire Bardainne. Deren Lichtpunktformationen verändern sich im illusionistischen Kontakt mit den Tänzern: Gerasterte Lichtteppiche öffnen sich unter Fußberührung zu schwarzen Löchern. Flirrend flockige Schwaden folgen wie magisch kreisenden Armen. Eine Tänzerin verfängt sich wie eine Meerjungfrau in einem großmaschigen Lichtnetz. Durchgehend in dieser virtuellen Partnerschaft bewegen sich zehn Tänzer auf Armand Amars klangsattem, antreibendem Soundtrack durch 13 Szenen: schwebeleicht alle Grenzen zwischen zeitgenössischem Tanz, Streetdance, Rollerskating und Akrobatik auflösend. Hervorragend auch die Bildregie, erhellend der Bonusteil. GRA

„Pixel“, Mourad Merzouki, Adrien M & Claire B Company, ­Compagnie Käfig, Armand Amar (Naxos) 44

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September – Ok tober 2017


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JAZZ

FORUM UNTERSCHLEISSHEIM

Don Ellis Orchestra

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Musikalische Arithmetik

KulturNah

DIE GROSSE WELT FÜR WENIG GELD

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Unter den Ikonen der Big-Band-Ära war Don Ellis der innovativste und experimentellste: Der Meister der unregelmäßigen Metren und komplexen Rhythmen und ein Top-Trompeter, der das VierteltonVentil erfand. Mit seinem 22-köpfigen, mit Streichern und anderen Instrumenten verstärktem Don Ellis Orchestra drang er in völlig neue Bereiche vor, strebte eine Synthese an aus Jazz, Klassik, Neuer Musik, ost- und außereuropäischen Traditionen. Eines seiner spektakulärsten Alben, das er 1973 unter dem Titel „Soaring“ für MPS produzierte, gibt es jetzt wieder auf Vinyl und CD, und man fragt sich, warum eine solche total abgedrehte, vor neuen Klangvisionen, subversivem Humor und infernalischer Spielfreude geradezu überquellende Musik heute kaum mehr bekannt ist: Sie zeigt, welch unglaubliche kreative Power in diesem viel zu früh verstorbenen Berserker eines weltoffenen Jazz steckte und wie er die besten Musiker seiner Zeit dazu brachte, die unmöglichsten Taktmuster wie etwa 3-3-2-2-2-1-2-2-2 zum Swingen und Grooven zu bringen: eine faszinierende, wahrlich elektrisierende Lehrstunde in musikalischer Chronometrie. AC

I

Don Ellis Orchestra: „Soaring“ (MPS)

Leif Ove Andsnes

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Finnische Juwelen

Z

SOLO Freitag, 22. September 2017, 20 Uhr | Rathausplatz

„Sibelius“, Leif Ove Andsnes (Sony) 45

E

Samstag, 23. September 2017, 20 Uhr | Bürgerhaus

I P

CANADIAN BRASS

Freitag, 27. Oktober 2017, 20 Uhr | Bürgerhaus

DER TROUBADOUR

Oper von Giuseppe Verdi mit der Moldawischen Nationaloper

Sonntag, 05. November 2017, 19 Uhr | Bürgerhaus

ELIAS

Oratorium von Felix Mendelssohn Bartholdy

Samstag, 23. Dezember 2017, 17 Uhr | Bürgerhaus

HÄNSEL UND GRETEL

Zauberhafte Märchenoper für die ganze Familie zur Weihnachtszeit

KARTEN UND GUTSCHEINE

Ticket Shop Unterschleißheim, Di-Fr 10-18, Sa 9-12 Uhr Rathausplatz 1, 089/310 09-200 oder 089/54 81 81 81, ticketshop@ush.bayern.de www.forum-unterschleissheim.de, www.muenchenticket.de Bürgerhaus Unterschleißheim Rathausplatz Unterschleißheim Rathausplatz 1 [direkt an der S1 Haltestelle Unterschleißheim]

Marlene Kern Design

Nach „The Beethoven Journey“ begibt sich der norwegische Pianist Leif Ove Andsnes erneut auf die Spuren eines großen Komponisten und präsentiert Musik, die bisher kaum bekannt ist: die Klavierwerke von Jean Sibelius. Der finnische Komponist wird in erster Linie mit Tondichtungen oder seinem Violinkonzert in Verbindung gebracht. Dass Sibelius, der selbst kein Pianist war, auch rund 150 Klavierwerke schrieb, ist kaum bekannt. Sie verschwanden im Schatten der Orchestermusik und im riesigen Repertoire der Pianisten. Nach Glenn Gould ist es nun Leif Ove Andsnes, der die Stücke wieder auf die Bühne und zu neuem Ansehen bringen möchte. Sibelius sagte einmal, dass das Klavier ihn eigentlich nicht interessiere, denn: „Es kann nicht singen!“ Mit seinen Werken widerlegt er diese Behauptung. In Andsnes feinfühligem Spiel zeigen sich alle lyrischen Qualitäten des Instruments – und das in der für Sibelius typischen mystischen Klangsprache. Diese Musik muss gehört werden! SK

Ein szenischer Liederabend Bei schlechtem Wetter im Bürgerhaus Unterschleißheim

The world‘s most famous brass group

S

F OTO: G R EG O R H O H E N B E RG / S O N Y C L A S S I C A L

L

SCHUBERTS LIEBE – FEUER UND WASSER


H Ö R E N & S E H E N

Thomas Mann

Die Amouren des Thomas Mann

HÖRBUCH

Menschen aus seinem Umfeld verwandelte Thomas Mann häufig in literarischen Figuren. Zwar ist unbekannt, wer das reale Vorbild der blonden Inge aus Tonio Kröger war, doch wer und wie sie gewesen sein könnte, beschreibt Heinz Sommer in seiner Hörspielbearbeitung der 1903 erschienenen Novelle. Dr. Ingeborg Lüdersen erinnert sich anlässlich des Besuchs einer Lesung von Thomas Mann, die als Originalaufnahme kapitelweise eingespielt wird, an ihre gemeinsame Jugend in Lübeck, Manns literarische Anfänge sowie seine ersten Amouren. In ihrem Rückblick wird „Tommi“ allmählich menschlicher und sein persönlicher Konflikt klarer: Einerseits wollte er wie Tonio Kröger zum Lübecker Bürgertum gehören, sich andererseits als Künstler von ihm abheben. Geschickt verschränkt Sommer, der überdies einzelne Szenen atmosphärisch dicht nachspielen und -sprechen lässt, drei unterschiedliche Erzählebenen. Ideal besetzt sind dabei Senta Berger, die die betagte Inge mit samtweicher Stimme spricht, und Axel Milberg in der Rolle ihres Bewunderers. Verbindendes Element ist die eigens eingespielte Musik mit Werken von Kreisler über Lumbye bis zu Schostakowitsch. ASK

Thomas Mann: „Tonio Kröger“, Senta Berger, Axel Milberg, Ueli Jäggi, Sabin Tambera u. a. (Der Hörverlag)

BUCH Man Ray

Surrealistischer ­Bildvirtuose „Ist es nicht eine ewige Nachahmungsmanie, die den Menschen daran hindert, Gott zu sein?“ Der 1890 in Philadelphia geborene Man Ray war Fotograf, Maler, Regisseur und Objektkünstler zugleich. Er experimentierte, arrangierte, collagierte und entwickelte mittels Mehrfach- und Überbelichtung völlig eigene Techniken. Das Ergebnis waren unverkennbare, verrückte, erotische, aber immer von eigentümlicher Ästhetik geprägte Schwarz-Weiß-Bilder, die ihn im Paris der 1920er- und 30er-Jahre zum Liebling der Dadaisten und Surrealisten und zu einem Vorreiter der modernen kreativen Fotografie machten. Seine zuweilen verstörenden Bildwelten haben bis heute nicht an Kraft verloren. Der Taschen Verlag hat nun eine umfangreiche, erschwingliche Monografie mit einer Auswahl von Man Rays Werken herausgebracht – inklusive Textporträt von Surrealismus-Kollege André Breton und Essays auf Deutsch, Englisch und Französisch. Betrachtenswert! MG

Manfred Heiting (Hrsg.): „Man Ray. 1890–1976“ (Taschen) Musikalische Kuriositäten

Kunstkuriosa de luxe! Was zur Hölle macht Bruckners Brillenglas in Beet­ hovens Sarg? Kann man wegen Trunkenheit am Taktstock zwangspensioniert werden? Warum sollte man nicht in einer Achterbahn musizieren? Und wer war eigentlich Elise? In einem dicken Schmöker (1.168 Seiten) haben Kulturredakteur Rainer Schmitz und „Sammler vergessener Noten“ Benno Ure verblüffende, irritierende, urkomische und wunderbar abseitige Fakten, Spekulationen und Mythen aus der Welt der Musik zusammengetragen. Das Buch ist in Form eines Lexikons mit zahlreichen Querverweisen gehalten – vom Ton „A“, der Robert

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Schumann in seinen Wahnvorstellungen malträtierte, bis zu „Zyklon B“, das tragischerweise in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten zur Massenvernichtung eingesetzt wurde, das heute jedoch zur Konservierung von Büchern und Noten eingesetzt wird – auch der damals verfolgten Komponisten. Die Autoren haben die Fakten jahrelang leidenschaftlich zusammengetragen und hervorragend recherchiert – ein Leseschmaus für alle Musikbegeisterten! MG

Rainer Schmitz, Benno Ure: „Tasten, Töne und Tumulte. Alles, was Sie über Musik nicht wissen“ (Siedler) www.crescendo.de

September – Ok tober 2017


H Ö R E N & S E H E N

Unerhörtes & neu Entdecktes von Christoph Schlüren

ELEKTRISIERENDE LEICHTIGKEIT UND SCHWINDELERREGENDE VIRTUOSITÄT Mit drei Jahren bekam Robert Groslot ein Spielzeugakkordeon geschenkt. Nun zählt das heute 68 Jahre alte belgische Multitalent zu den spannendsten Komponisten unserer Zeit.

E

igentlich verkörpert der 1951 geborene Belgier Robert Groslot genau das, was sich die Strategen des „Klassikmarkts“ wünschen müssten: Er ist nicht nur ein fulminanter Pianist, vorzüglicher Dirigent und begnadeter Komponist, sondern setzt mit seinem Schaffen und Wirken auch jede Grenzziehung zwischen ambitioniert und unterhaltend, zwischen ernst und heiter außer Kraft. Seine Musik ist lebenssprühend, in der filigranen Komplexität stets fasslich auch für den unvorbereiteten Hörer, von elektrisierender Verve, feinsinniger Zärtlichkeit und schwindelerregender, rhythmisch vertrackter Virtuosität. Er möchte darin ein Erbe fortsetzen, das von Beethoven über Liszt, Debussy und Bartók zu Lutosławski und Ligeti reicht – wobei er vom Charakter klassischer, im Melodisch-Harmonischen graziöser ist als Letztere. In den Jahren 2009 bis 2013 schrieb Groslot 16 Solokonzerte, allesamt für den Solisten höchst dankbar, und wenn man beispielsweise das Konzert für Piccoloflöte hört, darf man sowohl über die herrlichen Einfälle und das schelmisch funkelnde Wechselspiel staunen, das den gesamten Apparat in dynamischer Interaktion hält, als auch über eine Orchestration, die mit Effizienz, Magie und unorthodoxer Durchsichtigkeit besticht und vom Fragilen bis zur wilden Aufgipfelung in allen Momenten überraschende Nuancen hervorkehrt. Man wundert sich dann doch, dass dieser Komponist immer noch ein Geheimtipp ist. Nirgends herrscht hier Stillstand, auch in den nächtlich atmosphärischen Passagen wirkt die Spannkraft der zusammenhängenden Formung. Diese Musik strahlt lebensbejahende Offenheit aus und ist bei aller Durchlässigkeit von ganz persönlicher Ausdruckskraft. Robert Groslot bekam als Dreijähriger ein Spielzeugakkordeon geschenkt, lernte dann Geige und Klavier. Als Pianist zählt er zu den Besten und Kultiviertesten seines Fachs, seine Aufnahmen von Debussys Préludes oder George Crumbs Makrokosmos sind maßstabsetzend. 1991 gründete er das Orchester Novecento, mit dem er wundersam spielerische Bearbeitungen von Klavierstücken Domenico Scarlattis,

Bachs und Tschaikowskys aufnahm. Schon ab den 1980er-Jahren war er als Komponist großer Orchesterwerke hervorgetreten – eine Entwicklung, deren Initialzündung das Studium von Strawinskys Sacre du printemps gewesen war. Er entwickelte eine Vorliebe für die große einsätzige, zyklische Form, wie sie erstmals erfolgreich in Franz Liszts h-Moll Sonate vorgelegt wurde (auch seine Solokonzerte entfesseln ihren ganzen Kontrastreichtum innerhalb eines Satzes). Groslot fordert die Musiker technisch extrem heraus, schreibt ihnen die Musik zugleich aber auch idiomatisch auf den Leib, tut dies jedoch mit originellen, individuellen Lösungen, die immer aufs Neue verblüffen. Seine Musik hat einen fröhlichen Grundzug, der bei aller quecksilbrigen Mobilität nicht ins Oberflächliche abgleitet, denn man spürt das Bezwingende des inneren Zusammenhangs. Hier komponiert einer, der nicht nur der Welt „ein Lächeln schenken möchte“, sondern bei aller Freude am Effekt nie den Faden verliert. Der führende belgische Dirigent Daniel Gazon hat mich vor einigen Jahren auf Groslots Musik aufmerksam gemacht, und nun ist endlich eine neue CD erschienen, die auch hierzulande erhältlich ist: Beim Label Tyxart haben die Cellisten Ilya Yourivich Laporev und Ilya Laporev jr. sowie die Pianistin Dasha Moroz in hinreißender Weise drei Werke eingespielt, die ein weites Spektrum von Groslots Schaffen offenbaren und viele weitere Musiker inspirieren sollten: das einsätzige Conundrum für Cello und Klavier, die Cello-Solosonate und fünf Duo-Miniaturen für zwei Celli, die als Unclouded Conversations betitelt sind. Besonders letztere Stücke sind eine Sensation. Mehr kann man aus dieser Besetzung nicht herausholen, und Groslot erweist sich nicht nur als Großmeister des Kontrapunkts, der keine Fugen braucht, um sein Können zu zeigen: Bis ins kleinste Detail wirkt hier ein frischer Erfindergeist, der den Hörer mit Sauerstoff und Lebensfreude versorgt. n Robert Groslot: „Works for Cello and Piano“, Ilya Yourivich Laporev, Ilya ­Laporev jr., Dasha Moroz (TYXart) 47


R Ä T S E L & U M F R A G E

GEW I N NSPI EL

F OTO: W I K I P E D I A /G E M E I N F R E I

Was verbirgt sich hinter diesem Text?

Auch im Hitchcock-Klassiker Spellbound (hier eine Szene mit Gregory Peck und Ingrid Bergman) darf ich „mitspielen“

Ich bin ein musikalischer Pionier. Mein Erfinder, ein verrückter russischer Physikprofessor, hat schon immer gerne herumgetüftelt. Instrumente mit Licht, Farbe und Geruch gebaut und natürlich mich. Anfangs waren alle begeistert. Ich war die Zukunft, der Fortschritt der Musik. Reiste als Botschafter des Sozialismus durch Europa und Amerika und löste auf der ganzen Welt Wellen der Begeisterung aus. Optisch spektakulär, mit einem unnatürlichen, sphärenhaften Ton. Mein Klang erinnert an eine gänsehauterregende Geisterstimme oder eine fragile Frauenstimme, die Musikern, Komponisten und meinem Publikum unter die Haut geht. Aber dann wurde alles anders. Die Wirtschaft brach zusammen, der Zweite Weltkrieg tobte, mein Erfinder verschwand fast 30 Jahre in einem sowjetischen Lager, und Nazi-Deutschland verschmähte mich als „jüdisches Instrument“. Der anfängliche Enthusiasmus verflog, man verlor das Interesse, und ich geriet in Vergessenheit. Meine Renaissance kam erst viele Jahre später, und meine Antennen wurden wieder berührungslos gestreichelt. Mich zu spielen verlangt nach wie vor hohe Virtuosität, ein feines Gehör und äußerste Präzision. Obwohl man mich bei John Cage, den Beach Boys, Sting, Zaz und Philipp Poisel hören konnte, ich Auftritte bei American Horror Story, The Big Bang Theory und den Simpsons hatte, konnte ich mich nie wirklich durchsetzen. Meine unheimlich klingende Melodiestimme „aus der Luft“ wird mir aber immer eine Aura des Außerweltlichen geben. ■

RÄTSEL LÖSEN UND MICHAEL GIELEN GEWINNEN! Was ist hier gesucht? Wenn ­S ie die Antwort kennen, dann schreiben Sie Ihre Lösung unter dem Stichwort „Alltags-Rätsel“ an die crescendo-­Redaktion, Rindermarkt 6, 80331 ­M ünchen oder per E-Mail an ­ gewinnspiel@crescendo.de. Unter den richtigen ­Einsendungen verlosen­wir die CD-Box „Michael ­Gielen – Mahler, Complete Symphonies“ (SWR music). ­Einsendeschluss ist der 25.09.2017. Die Gewinnerin unseres letzten Alltagsrätsels ist Lena ­Demant, Flensburg. Die Lösung war „Luciano Pavarotti“.

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WÄ HLEN SIE DAS THEM A U NSER ER W EIH NACHTS ­ AUSGA BE! Liebe crescendo-Leser, in jeder Ausgabe bieten wir Ihnen einen Themenschwerpunkt mit spannenden Artikeln unserer Autoren und geladener Experten. In diesem Heft ist es das Thema „Spielplan“, in vergangenen Heften waren es zum Beispiel „Musik und Humor“, „Musik und G ­ ender“ oder „Skandale“. Jetzt entscheiden Sie! Den Schwerpunkt unserer Weihnachtsausgabe können Sie aus unten stehenden Vorschlägen wählen oder uns eigene Vorschläge machen. Teilnehmen können Sie auf drei Wegen: STIMMEN 1. unter www.crescendo.de/Umfrage SIE AB UND 2. per E-Mail an redaktion@crescendo.de GEWINNEN 3. per Post an crescendo-­Redaktion, SIE Rindermarkt 6, 80331 M ­ ünchen Unter allen Einsendungen verlosen wir ­einen tolino vision 3 HD sowie dreimal das Buch „Nikolaus Harnoncourt: ‚… es ging immer um Musik‘“. Eine Rückschau in Gesprächen (Residenz Verlag) Einsendeschluss ist der 25.09.2017 Welches Thema wünschen Sie sich für die crescendo-Weihnachtsausgabe 2017? • Musik in Afrika • Archive und Bibliotheken • Musik und Bildende Kunst • Familienbande: Angehörige der Stars • Fans und Freaks • Filmmusik • Kammermusik • Komponisten • Musik in Krisengebieten • Musik im Islam • Musik im Judentum • Musik für Kinder und Jugendliche • Laienmusik • Online-Klassikwelt • Operette • Politische Musik • Musik und Technik • Rhythmus • Stimme • Tanz • Musik und Wissenschaft • ODER EIN ANDERES THEMA? Schreiben Sie uns! Danke fürs Mitmachen und viel Glück bei der V   erlosung! Ihre crescendo-Redaktion

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April – Mai 2017


ERLEBEN Die wichtigsten Termine und Veranstaltungen im September und Oktober im Überblick (ab Seite 66). Kultur am Meer, Konzerte im Grand Hotel Heiligendamm (Seite 72) | Das Kranzbach (Seite 74)

6. November, Hamburg

SEELENDRAMA kauft, erkennt in einer älteren Kundin das einstige Mädchen. Die Frau beschuldigt den Mann, damals aus Rache gehandelt zu haben. Ihr ganzes Leben sei danach aus dem Gleis geraten. Der Mann versucht, sich mit den Umständen des Krieges zu rechtfertigen. Aber die Frau akzeptiert keine Rechtfertigung. Am Ende fordert sie den Mann auf, mit ihr ins nächstgelegene Hotel zu gehen, um miteinander zu schlafen. Und wir befinden uns in Herzog Blaubarts Burg. Gregory Vajda leitet die beiden von Dmitri Tcherniakov durchgehend inszenierten Dramen. Es singen Angela Denoke, Sergei Leiferkus, Claudia Mahnke und Bálint Szabó. Hamburg, Staatsoper, 6. (Prem.), 9., 15., 19., 23., 26. und 30.11. www.staatsoper-hamburg.de

F OTO: M O N I K A R IT TE R S H AU S

Péter Eötvös hat eine psychoanalytische Deutung zu Béla Bartóks Seelendrama Herzog Blaubarts Burg komponiert. Seine Oper Senza sangue nach der Novelle von Alessandro Baricco führt gezielt zum Einakter seines Landsmanns hin und ist auch musikalisch mit diesem verkoppelt. Die Vorgeschichte ereignet sich in Kriegszeiten. Ein 19-jähriger Junge dringt als Angehöriger einer Partisanengruppe in ein Haus ein. Die ganze Familie wird ermordet. Da entdeckt der Junge im Keller ein zwölfjähriges Mädchen, das sich versteckt hatte. Sie blickt ihm erschrocken in die Augen, und er verschont sie. Der kurze Blickkontakt verfolgt die beiden ihr Leben lang, bis sie einander nach vielen Jahren wiederbegegnen. Da setzt Eötvös’ Oper ein. Ein alter Mann, der Lotterielose ver-

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E R L E B E N

September / Oktober 2017

DIE WICHTIGSTEN VERANSTALTUNGEN AUF EINEN BLICK Ihr persönlicher Navigator für Premieren, Konzerte und Festivals 6. bis 15. Oktober, Bad Köstritz, Weißenfels u. a.

08.09. MEININGEN STAATSTHEATER Tosca / G. Puccini 08.09. LUZERN (CH) ­T HEATER Le Grand Macabre / G. Ligeti 09.09. KASSEL STAATSTHEATER Andrea Chénier / U. Giordano 09.09. LÜBECK THEATER Carmina / C. Monteverdi 10.09. BREMEN THEATER Lady Macbeth von Mzensk / D. Schostakowitsch 10.09. BRAUNSCHWEIG ­STAATSTHEATER, Tosca/ G. Puccini 10.09. FRANKFURT OPER Il Trovatore / G. Verdi 10.09. WIEN (AT) VOLKSOPER Gypsy / J. Styne 14.09. BASEL (CH) THEATER Lucio Silla / W. A. Mozart 15.09. HALLE OPER Fidelio / L. v. Beethoven 15.09. PFORZHEIM THEATER Die Zauberflöte / W. A. Mozart 16.09. DESSAU ANHALTISCHES ­T HEATER DESSAU Otello / G. Verdi 16.09. FRANKFURT OPER Rinaldo / G. F. Händel 16.09. GIESSEN STADTTHEATER Don Giovanni / W. A. Mozart 16.09. HAMBURG STAATSOPER ­Parsifal / R. Wagner 16.09. KAISERSLAUTERN ­PFALZTHEATER Lucia di Lammermoor / G. Donizetti 16.09. KOBLENZ THEATER KOBLENZ La Bohème / G. Puccini 16.09. LINZ (AT) LANDESTHEATER La Rosinda / F. Cavalli 16.09. LÜNEBURG THEATER LÜNEBURG Die Hochzeit des Figaro / W. A. Mozart 16.09. WIESBADEN HESSISCHES STAATSTHEATER Schönerland / Søren Nils Eichberg 17.09. WIEN (AT) THEATER AN DER WIEN Die Zauberflöte / W. A. Mozart 21.09. BONN THEATER Sunset Boulevard / A. L. Webber 22.09. HOF THEATER Der Fliegende Holländer / R. Wagner 23.09. KAISERSLAUTERN ­PFALZTHEATER Anatevka / J. Bock

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HEILIGE BRÜCKEN

Hille Perl

F OTO: F O P P E

PREMIEREN

„Die Umstände, in denen wir jetzt leben, sind durchaus vergleichbar mit dem 17. Jahrhundert … wohin man auch sieht, tobt Krieg“, stellt die Gambistin Hille Perl fest. Als Artist in Residence des Heinrich Schütz Musikfests gestaltet sie mit der Sopranistin Dorothee Mields, dem Altus David Erler, dem Tenor Georg Poplutz, dem Bassisten Peter Kooij und weiteren Instrumentalisten das Eröffnungskonzert sowie zwei Festkonzerte. 37 Veranstaltungen in Bad Köstritz, Weißenfels, Dresden, Gera und Zeitz setzen sich mit den Worten, die Luthers Thesen einleiteten, auseinander: „Aus Liebe zur Wahrheit“. Im Abschlusskonzert schlägt Perl mit jüdischen, christlichen und islamischen Psalmvertonungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert „Sacred Bridges“. Sie betont damit die gemeinsamen Wurzeln von Juden, Christen und Muslimen und lässt die Psalmen als Quelle der Spiritualität und Menschen zueinanderführenden Weg erleben. Mit ihr musizieren die Gambisten Hannah Kilian, Adela Czaplewska, Sarah Small und Matthias Bergmann, das Ensemble Sarband unter Vladimir Ivanoff und der Leipziger Synagogenchor unter Ludwig Böhme. Metin Erkuş und Cem Kağıtcı geben Einblick in das Zeremoniell der Tanzenden Derwische Mevlevi, das von dem Mystiker Rumi ins Leben gerufen wurde und aus dem sich die türkische Kunstmusik entwickelte. Bad Köstritz, Weißenfels u. a., verschiedene Spielorte, www.heinrich-schuetz-musikfest.de

23.09. REGENSBURG ­ THEATER Der Fliegende Holländer / R. Wagner 23.09. SALZBURG (AT) SALZBURGER LANDESTHEATER Hoffmanns Erzählungen / J. Offenbach 24.09. AACHEN THEATER L’incoronazione di Poppea / Monteverdi 24.09. DORTMUND THEATER ­Arabella / R. Strauss 24.09. GIESSEN STADTTHEATER Peter und der Wolf / S. Prokofjew 24.09. ZÜRICH (CH) OPERNHAUS ­ZÜRICH, Jewgeni Onegin / P. Tschaikowsky 25.09. KÖLN OPER Die Spanische Stunde / M. Ravel 25.09. KÖLN OPER Das Kind und der Zauberspuk / M. Ravel 28.09. BASEL (CH) THEATER Die Blume von Hawaii / P. Abraham 28.09. LÜNEBURG THEATER Hänsel und Gretel / E. Humperdinck 29.09. GERA BÜHNEN DER STADT Menschen im Hotel / V. Baum 29.09. HANNOVER STAATSOPER West Side Story / L. Bernstein 29.09. MEININGEN STAATSTHEATER Le Grand Macabre / G. Ligeti 30.09. CHEMNITZ THEATER Der Rosenkavalier / R. Strauss 30.09. DARMSTADT ­STAATSTHEATER Footloose / T. Snow 30.09. LEIPZIG OPER Don Carlo / G. Verdi 30.09. LINZ (AT) LANDESTHEATER Die Frau ohne Schatten / R. Strauss 30.09. OSNABRÜCK THEATER ­Rigoletto / G. Verdi 30.09. COBURG LANDESTHEATER Tosca / G. Puccini 30.09. GRAZ (AT) OPER Il Trovatore / G. Verdi 01.10. AUSGBURG THEATER Der Freischütz / C. M. v. Weber 03.10. DUISBURG OPER AM RHEIN Gullivers Reisen / G. Resch 04.10. DRESDEN SEMPEROPER Salome / R. Strauss 07.10. MÜNSTER THEATER Don Carlo / G. Verdi 08.10. BERLIN DEUTSCHE OPER L’invisible / A. Reimann

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September – Ok tober 2017


F OTO S : B E E TH OV E N F ES T; J E N S SC H L I C HTI N G ; M A N U E L A G I U S TO; S TE FA N W I L D H I RT; K A I RO S F I L M ; M A RCO B O RGG R E V E; L EU P H A N A U N I V E R S ITÄT; C A RO L I N E B IT TE N CO U RT; M U S I C A V I VA ; K L A A S SC H I P P E R S ; TH E ATE R- B O N N ; S A N D R A TH E N ; H E R M A N N - SC H E RC H E N - A RC H I V

8. September bis 1. Oktober BONN BEETHOVENFEST

„Mein Engel, mein Alles, mein Ich“, schrieb ­Beethoven in einem leidenschaftlichen Liebesbrief. Um wen es sich bei der Adressatin handelt, ist trotz intensiver Nachforschungen ein Rätsel. Die Komponistin Karin Haußmann und die Sopranistin Irene Kurka lassen sich von dem Brief zu einem Programm über die Liebe inspirieren. Sie verarbeiten Zeilen aus dem Brief, Liebeslieder Beethovens und Texte zeitgenössischer Autoren. Zentrales Werk des Beethovenfestes, das ihm auch sein Motto gibt, ist der Liederzyklus An eine ferne Geliebte, den Beethoven 1816 komponierte. „Offenbar war dieser Zyklus populär genug, um ständig benutzt, zitiert und weiterverarbeitet zu werden, und daran halten wir uns“, erläutert Intendantin Nike Wagner. Er erklingt gesungen, transkribiert für Klaviersolo, in Orchesterfassung und als Zitat. Bonn, verschiedene Spielorte, www.beethovenfest.de

13. September bis 2. Oktober

DÜSSELDORF DÜSSELDORF FESTIVAL! Der barocke Geist erfreute sich an Regelwidrigkeiten und schockierenden Seltsamkeiten. Der Choreograf Emiliano Pellisari und seine No Gravity Dance Company aus Rom agieren ganz aus dieser Haltung. Mit ihrem schwebenden Kunstwerk Aria durchbrechen sie die Regeln der Schwerkraft und der Proportionen. Zu Musik von Monteverdi, Vivaldi und Pergolesi beeindrucken sie ihr Publikum mit bizarrer, dissonanter und atemberaubender Tanzakrobatik. Die beiden Flötisten Christiane Oxenfort und Andreas Dahmen, die einander über die Musik kennenlernten, bringen jeden Herbst ungewöhnliche Produktionen aus der ganzen Welt nach Düsseldorf. Das Publikum bekommt überraschende Darbietungen zu sehen, in denen musikalische, theatralische, zirzensische und tänzerische Elemente großartige neue Verbindungen eingehen. Düsseldorf, verschiedene Spielorte, www.duesseldorf-festival.de

15. September bis 1. Oktober

LUDWIGSHAFEN U. A. MODERN TIMES Unter dem Motto „Poème de l’Extase“ lädt das Metropolregion Sommer-Musikfest der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Karl-Heinz Steffens ein, sich von der Musik des 20. Jahrhunderts begeistern zu lassen. Eine eindrucksvolle Vorstellung des Mottos bietet der Tenor Ian Bostridge mit Benjamin Brittens Liedzyklus Les Illuminations. Als facettenreicher Erzähler ist er der ideale ­Interpret für Brittens außergewöhnliche Textvorlagen. Les Illuminations, komponiert nach Arthur Rimbaud, die in rasendem Tempo Bilder aufblitzen lassen, nennt er eines seiner Lieblingsstücke. Es zeige Brittens Radikalität als junger Mann und schlage die Brücke von seinem wilden Frühstil zu dem, was er hernach in England komponierte. Ludwigshafen, Mannheim, Heidelberg und Weinheim, verschiedene Spielorte, www.staatsphilharmonie.de

15. September bis 7. Januar ESSEN PLURIVERSUM

„Ich möchte Konstellationen darstellen, die sich bewegen wie Sternsysteme“, erläutert Alexan­ der Kluge im Gespräch sein künstlerisches Credo. „Dieses gravitative Erzählen, das Magnetisieren von Tatsachen, pausenloses Transformieren und Oszillieren, das fesselt mich. Einzelheiten müssen die Kraft haben, sich zu bewegen, gegen andere Einzelheiten anzugehen und mit ihnen zusam-

Freundschaft und Liebe

30.9.–7.10.2017 herbstliche-musiktage.de, Telefon 07125 156 571

BRUCKNER4 PLUS Dienstag, 3. Oktober 2017, 20.00 Uhr München, Prinzregententheater Symphonieorchester der Bayerischen Philharmonie Mark Mast Dirigent

www.bayerische-philharmonie.de Karten: 59 / 49 / 39 / 32 / 24 €, ermäßigt 50 % für Schüler und Studenten | Bayerische Philharmonie Telefon +49 89 120 220 320 | info@bayerische-philharmonie.de | www.muenchenticket.de

MOZART−REQUIEM Samstag, 21. Oktober 2017, 20.00 Uhr München, Herkulessaal der Residenz Solisten, Chor und Symphonieorchester der Bayerischen Philharmonie Mark Mast Dirigent Lawrence Golan Gastdirigent, Violine

www.bayerische-philharmonie.de Karten: 59 / 49 / 39 / 32 / 24 €, ermäßigt 50 % für Schüler und Studenten | Bayerische Philharmonie Telefon +49 89 120 220 320 | info@bayerische-philharmonie.de | www.muenchenticket.de

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E R L E B E N

MARISS JANSONS 12., 13.10. München, Herkulessaal

SIMONE KERMES 15.9. Bernau, Musikfestival 17.9. Helmstedt, Festival 19.9. Dresden, Musikfestspiele

MATTHIAS KIRSCHNEREIT

ANA-MARIJA MARKOVINA 19., 20.9. Paderborn, Audienzsaal 23.9. Augsburg, Zeughaus 29.9. Chemnitz, Villa Esche 30.9. Kreischa, Vereinshaus 8.10. Berlin, Reichstagskuppel 8.10. Altensteig, Bürgerhaus

REGULA MÜHLEMANN 13., 17.9. Genf (CH), Grand Theatre 19.9. Hannover, Niedersächsische ­Musiktage 21.9. Harsefeld, Niedersächsische ­Musiktage 22.9. Wilhelmshaven, Niedersächsische Musiktage 23.9. Cuxhaven, Niedersächsische Musiktage 25.9. Genf (CH), Grand Theatre 29.9.2017 Duderstadt, Niedersächsische Musiktage 13., 14.10. Dresden, Staatliche Kunstsammlungen

DANIEL OTTENSAMER 30.9. Wien (AT), Wiener Konzerthaus 12.10. Baden (AT), Casino Baden

SOPHIE PACINI

LEIF OVE ANDSNES

OLGA PERETYATKO

IVETA APKALNA 10.10. Hamburg, Elbphilharmonie 11.10. Köln, Philharmonie

GABOR BOLDOCZKI 30.9., 1.10. Dresden, Philharmonie 4., 5., 6.10. Wien (AT), Musikverein

DIANA DAMRAU 15.9. Essen, Philharmonie

MORITZ EGGERT 9.9. Luzern (CH), KKL Foyer 19.9. Itzehoe, Theater Studio 21.9. Braunschweig, Roter Saal 24.9. Freising, Europ. Künstlerhaus

VILDE FRANG 25.9. Köln, Philharmonie

SOL GABETTA 28.9. Bamberg, Konzerthalle 30.9. Frankfurt, Alte Oper 1.10. Bonn, Beethovenhalle

RAPHAELA GROMES 10.9. Wolfegg, St. Ulrich 16.9. Ottobeuren, Kaisersaal 23.9. Donzdorf, Roter Saal 1.10. Planegg, Kupferhaus 13.10. Wasserburg, Rathaussaal

ANN HALLENBERG 24.9. Wien, Theater an der Wien

RACHEL HARNISCH 8.10. Berlin, Deutsche Oper

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REALITÄTS- VIRTUALITÄTSKONTINUUM

28.9. Leer, Kreismusikschule 29.9. Bremen, Sendesaal 12.10. Hamburg, Brahms-Gesellschaft 13.10. Kühlungsborn, Kunsthalle

KÜNSTLER 21., 22.9. München, Herkulessaal

11. bis 15. Oktober, Ludwigshafen

15., 16.10. Braunschweig, Stadthalle 9.9. Berlin, Deutsche Oper 24., 27., 29.9., 2.10. Wien (AT), ­Staatsoper 13., 15., 18.10. München, Staatsoper

CHRISTINA PLUHAR 12.9. Köln, Philharmonie 14.9. Graz (AT), Stefaniensaal 14.10. Linz (AT), Landestheater

Brigitta Muntendorf

F OTO: M A N U TH EO B A L D

8.10. BERLIN STAATSOPER Rivale / L. Ronchetti 08.10. FRANKFURT OPER Peter Grimes / B. Britten 08.10. NÜRNBERG STAATSTHEATER Die Trojaner / H. Berlioz 11.10. HALLE OPER Spiel im Sand / L. Zhang 13.10. SCHWERIN ­MECKLENBURGISCHES ­STAATSTHEATER Otello / G. Verdi 14.10. BREMEN THEATER Candide / L. Bernstein 14.10. BERN (CH) KONZERTTHEATER Don Giovanni / W. A. Mozart 14.10. ESSEN AALTO-MUSIKTHEATER Die verkaufte Braut / B. Smetana 14.10. LEIPZIG OPER Die große Sünderin / E. Künneke 14.10. MANNHEIM NATIONAL­ THEATER Norma / V. Bellini 14.10. WIEN (AT) VOLKSOPER Die Räuber / G. Verdi 15.10. BERLIN KOMISCHE OPER ­Pelléas et Mélisande / C. Debussy 15.10. KARLSRUHE STAATSTHEATER Götterdämmerung / R. Wagner 15.10. KIEL THEATER Wilhelm Tell / G. Rossini 16.10. WIEN (AT) STAATSOPER Armide / C.W. Gluck 19.10. MÜNCHEN GÄRTNERPLATZTHEATER Die lustige Witwe / F. Léhar 26.10. MÜNCHEN BAYERISCHE STAATSOPER Die Hochzeit des Figaro / W. A. Mozart

„Zehn Musiker. Zehn schwarze Boxen. Eine Schauspielerin. Auch in einer Box. Abgeschottet.“ So sieht die Bühnenlandschaft von Brigitta Muntendorfs Social Media Opera iScreen, YouScream! aus. Die Komponistin greift das „Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum“ des kanadischen Ingenieurs Paul Milgram auf, das eine kontinuierliche Skala aller möglichen Übergänge von der Virtualität bis zur Realität umfasst. Innerhalb dieser Skala untersucht Muntendorf Modelle der Kommunikation und stellt Fragen nach Individuum und Gemeinschaft: Wie kommunizieren die zehn Musiker und die Schauspielerin miteinander? Vermittelt werden soll eine Ahnung davon, „wie wir als voneinander isolierte Individuen mit unseren digitalen Abbildern und Stellvertretern Gemeinschaften bauen“. Wie stillen Menschen in ihren Boxen ihr Bedürfnis nach Nähe, Liebe und Anerkennung? ­Zu erleben ist iScreen, YouScream! im Porträt-Festival zum Auftakt des BASF-Kulturprogramms. Über 60 Veranstaltungen aus unterschiedlichen Bereichen umfasst das Programm 2017/2018. Hélène Grimaud verbindet Klaviermusik und die Naturaufnahmen von Mat Hennek zu einer multimedialen Fotoinstallation. Und der Klarinettist Matthias Schorn bringt mit dem Armida Quartett ein von Kit Armstrong ergänztes Mozart-Fragment zur Uraufführung. Ludwigshafen, verschiedene Spielorte, www.basf.de/kultur

JOHANNES PRAMSOHLER 17.9. Frankfurt, Karmeliterkloster

MARINA REBEKA 24.9. München, Prinzregententheater

FAZIL SAY 8.9. Porrentruy(CH), Collège Thurmann 22.9. Fischen, Fiskina 23.9.Bad Wörishofen, Kursaal 3.10. Kronberg i. T., Johanniskirche 5.10. Zug (CH), Theater Casino Zug 8.10. Freiburg (CH), Konzerthaus

CHRISTOPH SIETZEN 16.9. Linz (AT), Brucknerhaus 22.9. Feldkirch (AT), Montforthaus 23.9. Bregenz (AT), Festspielhaus

ROLANDO VILLAZÓN 22.9. Hannover, Kuppelsaal im HCC 27.9. Graz (AT), Musikverein für ­Steiermark 30.9. Düsseldorf, Tonhalle

MATTHIAS WELL 14.10. Dachau, Schloss

menzustoßen. Dazu brauche ich Wolken an Unterscheidungsvermögen.“ Anlässlich Kluges 85. Geburtstag zeigt die Ausstellung „Pluriversum“ neue Filme sowie Filmsequenzen aus Kluges Archiv. Begleitet wird sie von einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm. Essen, Museum Folkwang, www.museum-folkwang.de

23. September

BERLIN SYMPHONIC MOB Dem Orchester nicht nur zuhören, sondern mit ihm spielen und gemeinsam auftreten! Diesen Wunsch erfüllt das Deutsche Symphonie Orches­ter Berlin unter seinem neuen Chefdirigenten Robin Ticciati. Die Teilnahme ist kostenlos. 2014 veranstaltete das Orchester erstmals einen Symphonic Mob. Der Erfolg war überwältigend. 2016 dirigierte Kent Nagano bereits 1.000 Musikenthusiasten. ­Mittlerweile folgen auch Orchester in anderen Städten dem Berliner Vorbild wie das Göttinger Symphonieorchester, das Brandenburgische Staatsorchester oder die Mecklenburgische Staatskapelle. Eine OnlinePlattform informiert über nächste Termine und stellt zu den Original­ noten auch vereinfachte Stimmen zum Download und Proben bereit. Berlin, Leipziger Platz, www.symphonic-mob.de www.crescendo.de

September – Ok tober 2017


F OTO S : B E E TH OV E N F ES T; J E N S SC H L I C HTI N G ; M A N U E L A G I U S TO; S TE FA N W I L D H I RT; K A I RO S F I L M ; M A RCO B O RGG R E V E; L EU P H A N A U N I V E R S ITÄT; C A RO L I N E B IT TE N CO U RT; M U S I C A V I VA ; K L A A S SC H I P P E R S ; TH E ATE R- B O N N ; S A N D R A TH E N ; H E R M A N N - SC H E RC H E N - A RC H I V

22. bis 24. September sowie 6. bis 8. und 13. bis 15. Oktober

BAYREUTH, HIRSCHBERG, MÜNCHEN SCHNUPPERKURS KLAVIER Wenn du Klavier unterrichten willst, könnte man in Abwandlung von Saint-Exupéry sagen, dann lehre die Sehnsucht nach der weiten, endlosen Freude an Musik. Auf dieser Weisheit beruhen die didaktischen Konzepte, die Jens Schlichting aufgrund eigener Erfahrungen entwirft. „Endlich Klavier spielen“ lautet das Motto seiner Kurse für Erwachsene. Der Unterricht erfolgt in Gruppen. Denn Schlichting ist überzeugt, es potenziere den Lerneffekt, mit Gleichgesinnten zusammenzutreffen, die die Begeisterung teilen und einander inspirieren. Es sei wichtig, betont Schlichting, „dass man sich, schon bevor man etwas kann, vorstellen kann, dass man es kann“. In diesem Sinne verspricht er die schönste Form des Lernens: „Lernen, ohne zu merken, dass man gerade lernt.“ Bayreuth, Hirschberg, München, verschiedene Kursorte, www.klavier-kurs.de

23. September

LÜNEBURG WANDELKONZERT NEUE RÄUME

BASF-KULTURPROGRAMM 2017/2018 Höhepunkte

Martha Argerich & Sergei Babayan 30. Sep 17 · 20.00 Uhr · BASF-Feierabendhaus, LU Hélène Grimaud & Mat Hennek 23. Okt 17 · 20.00 Uhr · BASF-Feierabendhaus, LU Julia Fischer Quartett 30. Jan 18 · 20.00 Uhr · BASF-Feierabendhaus, LU Annette Dasch 02./03. Feb 18 · 20.00 Uhr · BASF-Feierabendhaus, LU Xavier de Maistre · Lucero Tena 28. Feb 18 · 20.00 Uhr · BASF-Feierabendhaus, LU Denis Matsuev · Kammerorchester Wien – Berlin 20. Apr 18 · 20.00 Uhr · BASF-Feierabendhaus, LU

Als „Brutkasten für neue Ideen, Innovation, Valer Sabadus · Céline Scheen · L’Arpeggiata Forschung und Entdeckung“ sieht der Architekt Christina Pluhar Daniel Libeskind das Zentralgebäude der Leu27. Apr 18 · 20.00 Uhr · BASF-Feierabendhaus, LU phana Universität Lüneburg. Wie ein „Zackengebirge“ erhebt es sich und setzt einen KontraInformationen und Tickets erhalten Sie unter punkt zur Backsteinarchitektur des einstigen Tel. 0621 60-99911, an allen eventim-VVK-Stellen, unter Kasernengeländes. Verborgen scheinen zuwww.basf.de/kultur oder auf www.facebook.de/BASF.Kultur. nächst die Bezüge zwischen der Außenansicht und dem inneren Raum­ erlebnis. Die muss der Besucher sich erst erarbeiten. Gelegenheit dazu bietet das Wandelkonzert der 31. Niedersächsischen Musiktage unter dem Motto „Raum“. Die Violinistin Antje Weithaas, die Akkordeonisten Krisztián Palágyi und Maciej Frąckiewicz sowie der Kammerchor St.BASF_AZ_2017_90x126_CRESCENDO.indd Mi1 chaelis Lüneburg geleiten die Besucher mit Musik und Gesang durch die Räume. Am Ende empfängt sie das Avishai Cohen Trio im Großen Saal mit fantasievoll interpretierter Musik. Lüneburg, Leuphana Universität, www.musiktage.de

10.07.17 15:29

28. September bis 1. Oktober BERLIN KONTAKTE ’17

Als großes Experimentallabor präsentiert sich die Biennale für Elektroakustische Musik und Klangkunst. Historischer Bezugspunkt ist das Experimentalstudio, das der Dirigent Hermann Scherchen 1954 im schweizerischen Gravesano einrichtete (Bild links von 1964). In einem Matineekonzert kommen all jene zu Gehör, die damals in dem Studio arbeiteten: Vladimir Ussachevski, der Pionier der amerikanischen Tonbandmusik, führte Experimente durch. Luc Ferrari komponierte Tautologos I und François-Bernard Mâche Soleil rugueux. ­Iannis Xenakis erstellte in monatelanger Montagearbeit sein Analogique B, das Scherchen mit einer Klangwand aus 20 Lautsprechersystemen zur Uraufführung brachte. Scherchen stand der elektroakustischen Musik skeptisch gegenüber. Er beklagte „die mittelalterliche Schwerfälligkeit“ ihrer Arbeitsmethoden. Dennoch setzte er sich für sie ein. Von Xenakis ließ er sich zur Entwicklung des Kugellautsprechers inspirieren, den er mit Ultraviolettstrahlen anleuchtete. Die Reflexionen filmte er und synchronisierte die Bewegungsmuster mit Xenakis’ Musik. Zum Einsatz kommt die rotierende Lautsprecherkugel im Konzert „Licht-Allegorien“ des Ensembles ascolta sowie dem Konzert „Widerspiel“ mit den Neuen Vocalsolisten Stuttgart. Materialien von Scherchen zeigt Johanna Diehls Installation „Das imaginäre Studio“. Berlin, Akademie der Künste, www.adk.de/kontakte17

2017/18 THE ROYAL OPERA

THE ROYAL BALLET

DIE ZAUBERFLÖTE ALICE IM WOLFGANG AMADEUS MOZART WUNDERLAND MITTWOCH, 20.09.2017 CHRISTOPHER WHEELDON

THE ROYAL OPERA

LA BOHÈME GIACOMO PUCCINI

DIENSTAG, 03.10.2017

MONTAG, 23.10.2017 THE ROYAL BALLET

DER NUSSKNACKER PETER WRIGHT NACH LEW IWANOW

DIENSTAG, 05.12.2017 THE ROYAL OPERA

RIGOLETTO GIUSEPPE VERDI

DIENSTAG, 16.01.2018

Die neue Royal Opera House-Saison live auf der großen Kinoleinwand Die ersten Termine der Saison 2017/18 Alle Termine, Infos und Tickets unter uci-events.de

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E R L E B E N

23. September bis 14. Oktober

27. Oktober

Das Festival in Mecklenburg-Vorpommern feiert Dänemark. Das Danish String Quartet und der NDR Chor eröffnen mit sakralen Gesängen von Bent Sørensen und Per Nørgård, dessen Musik geprägt ist durch seine mystische Erfahrung „von der Unendlichkeit der Melodie“. Das ­Ensemble MidtVest spielt dänische Serenaden. In Świnoujście an der polnischen Küste feiern der Violinist Piotr Pławner und der Pianist Piotr Sałajczyk die 150. Wiederkehr des Geburtstages von Fini Henriques, dem Sonnenschein der dänischen Musik. ­ 40 ­Veranstaltungen bringen Verträumtes aus der nordischen Klangwelt. Die Pianistin Christina Bjørkøe „spielt“ dänische Aquarelle des Romantikers und Stimmungsmalers Niels Wilhelm Gade. Und Romantischem widmet sich auch das Danish Piano Trio. Nicht fehlen darf Die kleine Meerjungfrau. Ulrich Noethen liest Andersens Märchen, begleitet von ­Hideyo ­Harada am Klavier. Seebad Heringsdorf, Seebad Ahlbeck u. a., verschiedene Spielorte, www.usedomer-musikfestival.de

Aus gegebenem Anlass – möchte man sagen: Der Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui inszeniert Philip Glass’ Oper Satyagraha. Sie basiert auf Gandhis Konzept des gewaltlosen Widerstands und seiner Schrift „Festhalten an der Wahrheit“. Die Handlung erstreckt sich von Gandhis Ankunft in Südafrika 1893 bis zum Demonstrationszug indischer Einwanderer gegen rassistische Gesetze 1914. Als Zeuge des Geschehens begleitet in stummen Rollen jeweils eine historische Persönlichkeit die drei Akte: Leo Tolstoi, mit dem Gandhi im Briefwechsel stand, Rabindranath Tagore, mit dem er befreundet war, und Martin Luther King jr. In der mythologischen Einführung, in der Prinz Arjuna und Lord Krishna über den Wert von Handeln und Nichthandeln streiten, führt Glass eine Melodiefolge ein, die er im Lauf der Oper mit wechselnder rhythmisch-melodischer Ausgestaltung variiert. Am Pult steht Jonathan Stockhammer. Stefan Cifolelli übernimmt die Rolle von Gandhi. Berlin, Komische Oper, 27. (Premiere) und 31.10. sowie 2., 5. und 10.11. www.komische-oper-berlin.de

30. September bis 3. Oktober

1. bis 15. Oktober

SEEBAD HERINGSDORF & AHLBECK U. A. 24. USEDOMER MUSIKFESTIVAL

SCHLOSS HOMBURG MUSIZIEREN AUF H ­ ISTORISCHEN KLAVIEREN

BERLIN SATYAGRAHA

MÜNCHEN 9. INTERNATIONALES ORGELFESTIVAL

Der Klarinettist Martin Kratzsch spielt im Alten Forsthaus Germerode mit Holzbläsern Kammermusik. Die Twiolins Marie-Luise und Chris­ toph Dingler vermitteln im Landhaus Arnoth Streichern Anregungen und spieltechnische ­Unterstützungen für das Duo-Spiel. Der Reiseveranstalter Musica Viva richtet seine Musik­ ferien-Angebote auch an erwachsene Laienmusiker, die bereits eine fortgeschrittene Spielpraxis besitzen. Kursleiter mit langjähriger künstlerischer Erfahrung und pädagogischer Praxis versprechen kompetenten Unterricht. Die Kurshäuser in abgeschiedener Lage laden dazu ein, sich ausschließlich der Musik hinzugeben. Ein besonderes Angebot ist der Workshop zum Musizieren auf historischen Tafelklavieren und Hammerflügeln bei dem Cembalisten und Instrumentensammler Michael Günther auf Schloss Homburg am Main. Schloss Homburg, www.musica-viva.de

Mit romantischer französischer Orgelmusik beginnt in der Stadt an der Isar der Orgelherbst. Die Orgel erfuhr im 19. Jahrhundert in Paris ­eine besondere Pflege. César Franck und Charles-Marie Widor verschafften der französischen Orgelkunst Weltgeltung. Ben van Oosten spielt an der Rieger-Orgel der Jesuitenkirche St. Michael Werke der beiden und anderer französischer Komponisten. Das Publikum kann seinen Klängen nicht nur lauschen, sondern ihm auch beim Spielen zuschauen. Was auf der Orgelempore geschieht, wird auf eine große Leinwand im Kirchenschiff übertragen. Peter Kofler, der künstlerische Leiter des Festivals, ist mit Bach, Liszt und Julius ­Reubke zu hören. Im Schlusskonzert stellt sich der neue Titularorganist von Notre-Dame de Paris Vincent Dubois vor. München, St. Michael, www.muenchner-orgelherbst.de

14. und 18. Oktober, Essen, Wien

Countertenor Lawrence Zazzo

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F OTO: E R I C R I C H M O N D

HÖFISCHE INTRIGEN Der Cembalist Ottavio Dantone besitzt eine Leidenschaft für sinnlich volltönende Barockmusik. Seine Interpretationen warten mit Frische und überraschenden Momenten auf. In der Auseinandersetzung mit einem Werk taucht er tief in die musikhistorische Forschung ein. Seit 1996 leitet er die Accademia ­Bizantina in Ravenna. Das Ensemble widmet sich der Wiederentdeckung und Aufführung von Barockopern auf Originalklanginstrumenten. Auf ihrer Gastspielreise bringen sie Giulio Cesare in ­Egitto konzertant zur Aufführung. Händel stellte seine Oper nach dem Libretto von Nicola Francesco Haym über ­höfische Intrigen und Liebeskonflikte um den römischen Imperator und die ägyp-

tische Königin Kleopatra 1724 am Haymarket Theatre in London vor. Sie wurde zu ­einer seiner erfolgreichsten. In den parallel laufenden und einander überkreuzenden Handlungssträngen agieren nicht nur die Sänger. Auch die Instrumente sind in die Dramaturgie eingebunden. Dantone versteht es meisterhaft, dieses Wechselspiel zwischen Sängern und Instrumentalisten ebenso ausdrucksstark zu gestalten wie zwischen Sängern, Soloinstrumentalisten und Orchester. Die Partie Giulio ­Cesares übernimmt der Countertenor Lawrence Zazzo. Kleopatra singt die Sopranistin Emőke Baráth. Philharmonie Essen und Theater an der Wien, www.philharmonie-essen.de und www.theater-wien.at

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PIONIERIN DER MODERNE

Anita Rée: Selbstbildnis 1930

F OTO: H A M B U RG E R KU N S TH A L L E / B P K / E L K E WA L F O R D

F OTO S : B E E TH OV E N F ES T; J E N S SC H L I C HTI N G ; M A N U E L A G I U S TO; S TE FA N W I L D H I RT; K A I RO S F I L M ; M A RCO B O RGG R E V E; L EU P H A N A U N I V E R S ITÄT; C A RO L I N E B IT TE N CO U RT; M U S I C A V I VA ; K L A A S SC H I P P E R S ; TH E ATE R- B O N N ; S A N D R A TH E N ; H E R M A N N - SC H E RC H E N - A RC H I V

3. Oktober bis 4. Februar, Hamburg

Internationales Orgelfestival 1. bis 15. Oktober 2017

Ben van Oosten, Blockflötenensemble „Flautando Köln“, Jean-Christophe Geiser, Collegium Monacense, Barockorchester „La Banda“, Frank Höndgen, Hille Perl, Vincent Dubois und Peter Kofler

Mit fragender Miene blickt sie auf ihrem Selbstbildnis aus dem Jahr www.muenchner-orgelherbst.de 1930 dem Betrachter entgegen. Anita Rée gehörte zu den fasziniewww.facebook.com/muenchner.orgelherbst rendsten und rätselhaftesten Künstlerinnen ihrer Zeit. „Weitum im Lande sind die Kenner darin einig, dass in Anita Rée vielleicht die Jesuitenkirche St. Michael bedeutendste lebende Malerin zu ehren ist“, schrieb ein zeitgenösNeuhauser Straße 6 | 80331 München sischer Kritiker. 1885 wurde sie als Tochter eines wohlhabenden ­jüdischen Kaufmanns und seiner aus Venezuela stammenden Frau geboren. Entgegen den Gepflogenheiten der damaligen Zeit konnte sie ihre künstlerische Begabung weiterbilden. Sie studierte in Paris bei Fernand Léger, gehörte 1919 zu den Gründungsmitgliedern derWerbungCrescendo_2017_V02.indd 1 Hamburgischen Sezession und arbeitete in Italien. Ihre Selbstzweifel und der Nationalsozialismus zerstörten sie jedoch. 1933 zog sie sich nach Kampen auf Sylt zurück und nahm sich das Leben. Danach geriet ihr Werk für lange Zeit in Vergessenheit, bis man sie als wichtige Pionierin der Moderne wiederentdeckte. „Ihre Bedeutung reicht weit über Hamburg hinaus“, ist Ausstellungskuratorin Karin Schick überzeugt. Für die erste umfassende Retrospektive hat sie rund 200 teilweise noch unbekannte Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und gestaltete Objekte aus allen Schaffensphasen zusammengetragen. Im Verlauf der Ausstellung soll auch das 1986 erschienene Werkverzeichnis überarbeitet und erweitert werden. Hamburg, Hamburger Kunsthalle, www.hamburger-kunsthalle.de

22.06.17 10:15

15. Oktober

BONN PENTHESILEA Historische Werte will Peter Konwitschny mit ­seinen Inszenierungen vermitteln. Dirigent Dirk Kaftan (Bild) strebt an, dass sich Beethovens Vision von ­„ Alle Menschen werden Brüder“ in seinen Programmen widerspiegelt. ­Gemeinsam bringen sie die dunkle Liebestragödie der Amazonenkönigin Penthesilea des Schweizer Komponisten Othmar Schoeck auf die Bühne. Konwitschny inszeniert das nach Kleist gestaltete Werk in einer Arena. Das Publikum kann unmittelbar Anteil nehmen am ­gnadenlos blutigen Lebenskampf der Heroen. Dirk Kaftan stellt sich mit Schoecks e­ kstatischer Tonsprache dem Bonner Publikum als neuer Generalmusikdirektor des Beethovenorchesters und der Oper vor. Penthesilea verkörpert D ­ shamilja Kaiser. Die Partie des Achilles übernimmt Christian Miedl. Bonn, Oper, 15. (Premiere), 20. und 29.10. sowie 12. und 19.11. www.theater-bonn.de

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E R L E B E N

Matthias Kirschnereit

MUSIK-HOCHGENUSS MIT OSTSEEBRISE Schon Rainer Maria Rilke und Felix Mendelssohn Bartholdy schnupperten zur Entspannung und Inspiration frische Ostseeluft in Heiligendamm. Seit 200 Jahren überrascht sein elegantes Kurhotel mit Kammermusik-Leckerbissen von renommierten Solisten. VON ANTONIA EMDE

Dass der Genuss von Kunst und Natur sich gut ergänzen, erkannte man in Heiligendamm schon früh: Nur wenige Jahre nach der Gründung des ersten deutschen Seebades durch den damaligen Großherzog von Mecklenburg bekam der kleine Ort an der Ostsee ein eigenes Kurhaus. Im Jahr 1817 wurde das elegante Gebäude eingeweiht, und so nahm vor genau 200 Jahren eine Tradition ihren Anfang, die bis heute in Heiligendamm fortlebt: Neben gesunden Bädern in der Ostsee – die schon damals gegen „sehr viele Schwachheiten und Kränklichkeiten des Körpers“ helfen sollten – und Spaziergängen durch die umliegenden Wälder konnten die Gäste abends im Kurhaus stilvoll speisen, Konzerte besuchen oder an Tanzabenden und Gesellschaften teilnehmen. 72

Dass diese Kombination nicht zuletzt bei den Künstlerinnen und Künstlern selbst gut ankam, zeigen die prominenten Besucher von Heiligendamm: Neben Rainer Maria Rilke verbrachte zuvor auch schon der junge Felix Mendelssohn Bartholdy einen Sommer im benachbarten Bad Doberan und komponierte dort eines seiner Frühwerke. Eben diese Tradition greift das Grand Hotel Heiligendamm mit seiner Veranstaltungsreihe „Kultur am Meer“ auf und organisiert seit einigen Jahren ein abwechslungsreiches Kulturprogramm mit Veranstaltungen aus unterschiedlichen Kunstsparten. Das Kurhaus bietet für diese Veranstaltungen eine stilvolle Kulisse: Es ist einer von mehreren klassizistischen Bauten, die der www.crescendo.de

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F OTO S : M A I K E H E L B I G ; H A R A L D H O F F M A N N / DG ; - M O N I K A L AW R E N Z ; G R A N D H OTE L H E I L I G E N DA M M

Liv Migdal

Avi Avital

Grand Hotel Heiligendamm

Architekt Carl Theodor Severin in den ersten Jahrzehnten des 19. stattfindet, wird in diesem Herbst von dem Pianisten Matthias Jahrhunderts in und um Heiligendamm errichtete. Mit seiner Kirschnereit mitgestaltet. Susan Franke: „Matthias Kirschnereit strahlend weißen Säulenfassade und den tiefblau gefärbten Reli- ist seit vielen Jahren ein Wegbegleiter und Freund des Hotels, er efs trägt es nicht umsonst den Beinamen „Tempel am Meer“. hat zahlreiche Konzerte hier in Heiligendamm und Bad Doberan Gerade für Konzerte in kleiner Besetzung bieten der historische gegeben. Zusammen haben wir 2013 zum 220. Geburtstag des Ballsaal und der Musiksalon ideale Bedingungen – kein Wunder Seebads das Programm ,Tanzende See‘ mit Werken und Briefen also, dass die Kammermusik einen Schwerpunkt des Veranstal- von Felix Mendelssohn und seiner Schwester Fanny konzipiert. tungsprogramms bildet. Wir sind daher sehr glücklich über Matthias Kirschnereits Zusage Auch in der kommenden Saison werden renommierte Künst- für das Kammermusikwochenende!“ Am 1. Oktober findet in lerinnen und Künstler in Heiligendamm erwartet: In der Reihe der Heiligendamm zudem ein Jubiläumsball statt: Anlässlich des „Freitagskonzerte am Heiligen Damm“ werden unter anderem Liv 200-jährigen Bestehens des Kurhauses entführt das Grand Hotel Migdal (Violine) und Jie Zhang (Klavier) im Kurhaus auftreten seine Gäste in die frühen Jahre des ersten deutschen Seebades – ebenso wie Andrej Bielow (Violine), der im Trio mit Felix Klieser historisches Schauspiel und Tanzmusik inklusive. (Horn) und Matthias Kirschnereit (Klavier) zu hören sein wird. Einen würdigen Abschluss findet das Jubiläumsjahr 2017 Einen weiteren Konzertabend gestaltet im Herbst das Klavierduo schließlich mit dem traditionellen Neujahrskonzert in HeiligenHans-Peter und Volker Stenzl. Fortgeführt wird neben den „Frei- damm: Am 6. Januar begleiten Martina Gedeck, Avi Avital (Mantagskonzerten“ auch die Konzertreihe „Carte blanche für die hmt“: doline) und Dávid Adorján (Violoncello), „Artists in Residence“ In diesem Rahmen besuchen junge Künstlerinnen und Künstler am Grand Hotel, das Publikum ins neue Jahr. In einem Wortvon der Hochschule für Musik und Theater Rostock das Grand Musik-Programm kombinieren sie Texte von Else Lasker-Schüler Hotel. „Für mich ist diese Kooperation ein Brückenschlag in die mit Werken von Ravel, Widmann, Honegger und anderen KomRegion und darüber hinaus in die Welt, denn die Absolventen ponisten. Die zweite Konzerthälfte gestaltet Avital dagegen beginnen nach ihrem Studium ihre Laufbahn als Musiker oder gemeinsam mit dem Pianisten und Komponisten Ohad Ben-Ari Schauspieler und gastieren in der ganzen rein musikalisch. Das Neujahrskonzert ist KULTUR AM MEER Welt. Das sind die besten Botschafter für das zugleich der Startschuss für den nächsten Informationen und Kartenservice: Land und das Hotel“, erklärt Susan Franke, runden „Geburtstag“ in Heiligendamm: Tel.: +49-(0)38203-74 00 Kulturdirektorin im Grand Hotel. 2018 jährt sich die Gründung des Seebades Fax: +49-(0)38203-740-74 74 Das Chamber Music Fest am Meer, das zum 225. Mal. n info@grandhotel-heiligendamm.de www.grandhotel-heiligendamm.de/kultur seit 2015 zweimal jährlich in Heiligendamm 73


E R L E B E N

Mitten in der Natur gelegen: Das Kranzbach

TIEFENENTSPANNUNG UND BERGPANORAMA Schon über 100 Jahre hat das legendäre Alpen-Wellnesshotel Das Kranzbach auf dem Buckel. Doch so ehrwürdig seine Außenfassaden, gerade hat es ein schickes neues Innendesign verpasst bekommen – plus japanischen Heißwasserpool. VON ANTOINETTE SCHMELTER-K AISER

Oberhalb von Garmisch-Partenkirchen wellen sich sanfte Buckel- großem Stil umgestaltet. 250 Handwerker arbeiteten drei Wochen wiesen, auf denen Kühe und Pferde weiden. Ab dem Dörfchen unter Leitung von Direktor Klaus King fast Tag und Nacht, um von Klais führt eine kurvige Mautstraße durch dichten Nadelwald. den Eichenböden über neue Treppen und Zwischenwände bis zu Am Ende einer Abzweigung erhebt sich hinter einer weiten Grün- verschiedenfarbigen Anstrichen und aufwendigen Vertäfelungen fläche mit hoch aufschießendem Springbrunnen ein schlossartiges alle Veränderungen termingerecht fertigzustellen. Gebäude mit gezackten Treppengiebeln, das wie MiniaturausgaNach dem Vorbild der Kräutergartenlobby, die die britische ben zwei Torhäuser flankieren. Rundherum ragt die Gipfelkette Star-Designerin Ilse Crawford zuletzt 2015 im Übergang zwischen von Karwendel bis hin zur Zugspitze empor. Auf den ersten Blick Haupthaus und Gartenflügel geschaffen hatte, sind sämtliche Möwirkt Das Kranzbach unverändert, das vor genau zehn Jahren als belstücke, Teppiche, Vorhänge, Leuchten und Accessoires in den Vier-Sterne-Superior-Hotel & Wellness-Refugium in einem stillen Salons ausgetauscht worden. Als Eingang für ankommende Gäste Hochtal auf 1.030 Metern eröffnet wurde. fungiert nun das Hauptportal im Mary Portman DAS KRANZBACH Hinter der altehrwürdigen Fassade des LandHouse, das Steinmetze in aufwendiger Handarbeit 82493 Kranzbach/Klais sitzes, den sich die britische Adelige Mary Isabel abgebürstet haben. Gleich gegenüber der Treppe Tel. +49-(0)08823-92 80 00 www.daskranzbach.de Portman bis 1915 bauen ließ, wurde es im Mai in stimmen zwei rostbraune Ohrensessel vor einem 74

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F OTO S : DA S K R A N ZB AC H

Von links oben: Der neue, japanisch inspirierte Onsen-Pool; Ausblick von der Baumwipfelsauna; Greenhouse-Restaurant; Neue Kaminstube

weißen Retro-Regal und drei große Hängelampen darüber auf heimelige Wohnzimmeratmosphäre ein. Wie ein roter Faden zieht diese sich durch alle öffentlichen Räume im Erdgeschoss – angefangen bei der verlagerten Rezeption mit einem maßgeschreinerten Tresen aus hellem Holz über den separaten Bereich für Gesellschaftsspiele wie Schach oder Backgammon bis zu den drei Räumen rund um die halbrunde, glänzend blau geflieste Bar. Passend zum aktuellen Hygge-Trend gruppieren sich vor offenen Kaminen überall unterschiedliche Stühle, Sessel und Sofas wie Inseln rund um kleine Tische. Möbelstoffe, die eigens für Das Kranzbach produziert wurden und zum Teil aus Kaschmir gefertigt sind, setzen von hellen Creme- und Grautönen über sanftes Lila, Altrosa und Senfgelb bis hin zu Dunkelgrün und Schwarz Farbakzente. Langhaarige Schaffelle und gleichmäßig verteilte Lichtquellen intensivieren genauso wie bereitliegende Bücher das ZuhauseGefühl. Im Übergangsbereich zum modernen Gartentrakt entstanden außerdem im ehemaligen Eingangsbereich 40 Sitzplätze in der gemütlich-gediegenen Kaminstube – entweder auf schwarzen Thonetklassikern, die Sonderanfertigungen sind, oder hellgrau melierten Eck-Polsterbänken. Aufgrund dieses Neuzugangs ist die Anordnung der Tische, vor denen zum Teil zierliche Stühle aus japanischem Zedernholz stehen, im Hauptrestaurant nun luftiger und lockerer. Vertikale Holz-Lamellen an den Wänden dämpfen die Geräusche. Zahlreiche Zimmerpflanzen und kleine Gewächshäuser ziehen den Blick auf sich und leiten ihn über die waldgrünen Bezüge der Polsterbänke nach draußen, wo hinter bodentiefen Pano­ramafenstern hohe Nadelbäume am Rand einer 130.000 Quadratmeter großen hoteleigenen Bergwiese wachsen.

In diese eingebettet liegt eine weitere Innovation, in die Das Kranzbach im Frühsommer eine Million Euro von insgesamt 4,5 Millionen investiert hat: ein 50 Quadratmeter großes Becken aus Nero Assoluto genanntem schwarzen Granit. Nach dem Vorbild eines japanischen Onsen ist es mit 40 °C warmem Quellwasser gefüllt und wirkt aufgrund der hohen Temperatur so tiefenentspannend, dass Badende nach 10 bis 15 Minuten eine längere Erholungsphase brauchen. Je nach Wetter können sie diese auf bequemen (Schaukel-)Liegen unter freiem Himmel mit Blick auf die Zugspitze oder in den Ruheräumen des Badehauses vor flackernden Kaminfeuern genießen. „Manche Gäste verbringen den ganzen Tag ausschließlich damit, beim Ausruhen in die Landschaft zu schauen“, weiß Klaus King, der als Gastgeber regelmäßig das Gespräch sucht. „Andere nutzen nach dem großen Frühstücksbuffet unser Angebot an Aktivitäten von Yoga über geführte Wanderungen bis zu Ausflügen mit Leih-Mountainbikes. Oder sie lassen sich nach dem Motto ‚Nichts müssen, alles können‘ im Vitalspa verwöhnen.“ Spätestens zum Abendessen, bei dem er alle Gäste persönlich begrüßt, sind sie aber wieder zurück. Denn zu dieser Mahlzeit serviert das Küchenteam täglich wechselnde, mehrgängige Menüs mit regionalen Besonderheiten wie Werdenfelser Rind, frischem Fisch aus der Leutasch oder Wild, das in der Umgebung gejagt wurde. Als i-Tüpfelchen kredenzt ein Chocolatier Kostproben seines Könnens. Mehr Gäste als früher gehen mit dieser süßen Wegzehrung nicht direkt in ihre Zimmer. Seit dem Umbau frequentieren sie die Salons im Mary ­Portman House – auch tagsüber – noch lieber und ausgiebiger als zuvor. n 75


Auditorium de Palma de Mallorca

F OTO S : AU D ITO R I U M D E PA L M A D E M A L LO RC A ; J . ESC H E R P H OTOG R A P H Y

E R L E B E N

Dirigentin Giuliana Retali

OPER 4.0 AUF MALLORCA Oper einmal radikal vom Text her denken und damit eine ganz eigene Musikrevolution schaffen. VON GUIDO KR AWINKEL Muss die Geschichte der Oper neu geschrieben werden? Kommt einer neuen, vermutlich von seiner wahren Seite. Noch nie hat eine Sensation, die die Grundfesten der Opernwelt erschüttern mich eine Mozart-Interpretation so beeindruckt!“ Das schrieb kann? Klingt vermessen, aber nichts anderes hat sich die italieni- mit Grammy-Preisträger Arend Prohmann, ehemals Produsche Dirigentin Giuliana Retali vorgenommen. Sie will die Oper zent bei der Deutschen Grammophon und bei Decca, immerhin verändern, und zwar grundlegend. jemand, der es wissen sollte. Das ist in diesem Zusammenhang durchaus wörtlich zu nehWas aber ist nun das Besondere an Opera 4.0? „Das Orchesmen: Retali geht ganz auf den Urgrund, die Urschicht der Oper ter soll im Einklang mit den Sängern die individuelle und besonzurück, ihren Text. „Alles begann nach meinem Studium an der dere Wiedergabe der Texte unterstützen und nicht nur begleiten“, Schola Cantorum in Basel, als ich die musikalische Leitung der so Giuliana Retali. Sie geht nicht nur vom Wort aus, sie setzt es Opernklasse übernahm und nicht verstehen konnte, warum der auch in Beziehung zum Orchester, lässt dieses den rhetorischen Gesang im Musiktheater nicht zu verstehen ist.“ Diese Beobach- Fluss und die gestische Dramaturgie unterstreichen. Das Ergebtung ließ sie nicht ruhen. Retali forschte, probierte, experimen- nis soll nicht nur eine bessere Textverständlichkeit sein, auch der tierte, immer ausgehend von den symbiotischen Beziehungen, die Sinngehalt des Textes soll sich dem Publikum besser offenbaren. Verse und Musik seit den frühesten Operntagen eingegangen sind. „So erreicht die Botschaft das Publikum, die Menschen spüren das“, Als Expertin in Sachen Alte Musik war das Studium historischer ist Retali überzeugt. Quellen dabei genauso wichtig wie die Arbeit am Objekt, den Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Le nozze di Figaro ist – Opern von Caccini, Peri und Monteverdi bis hin zu Rossini. in einer Inszenierung der Regisseurin Deda Cristina Colonna Nach ihren umfangreichen Arbeiten ist Retali mittler- – nun der erste abendfüllende Versuch, das Konzept von Opera weile sicher: „Das große Geheimnis, den Code um die gesun- 4.0 umzusetzen. Am 23. September ist es so weit, dann erlebt das genen Worte der Oper, habe ich gelüftet und kann ihn endlich Projekt im Auditorium der mallorquinischen Hauptstadt Palma dem Publikum verständlich machen.“ Hehre Worte, an Selbst- seine Premiere. Auf der Insel haben Retali und ihr Partner, der bewusstsein mangelt es der ebenso temperamentvollen wie sym- Berliner Cembalobauer Matthias Kramer, eine Finca, dort haben pathischen Italienerin offenbar nicht. Beim Interview am Tele- sie die Unterstützung der Behörden und ein eigens für ihre Profon quillt sie denn auch über vor Mitteilungsbedürfnis, vertritt jekte zusammengestelltes Orchester. Erwartet das Publikum auf ihr Anliegen ebenso wortreich wie eloquent. In konzertantem Mallorca mit Opera 4.0 nun wirklich eine Revolution? Man wird Rahmen hat sie ihre Thesen schon getestet, das Echo war her- sehen. Ein wenig frischer Wind kann dem Genre Oper auf jeden vorragend. „Ihre Interpretation setzte neue Fall nicht schaden. Und musikalisch – so viel LE NOZZE DI FIGARO Maßstäbe und eröffnet eine aus meiner Sicht zeigen schon erste Mitschnitte – darf man Premiere am 23.9. in Palma de Mallorca noch nie gehörte Präsenz – es ist, als würgetreu dem Motto Retalis durchaus einen Informationen und Kartenservice: den die Instrumente mitsprechen. Die darspannenden Abend erwarten: „Revolution, info@oper4-0.com aus resultierende Kraft zeigt uns Mozart von Leidenschaft, Emotion“. ■ www.opera4-0.com 76

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SCHWERPUNKT SPIELPLAN Was ist ein idealer Spielplan? Wir sprachen mit Persönlichkeiten verschiedener Institutionen (Seite 84) Spielplangestaltung im Dritten Reich: Zwischen Ideologie und Zerstereuung (Seite 82)

Die drei aktuell meistgespielten Opern Deutschlands Zauberflöte

Hänsel & Gretel

Carmen

Bei den Bregenzer Festspielen 2013 fiel die Königin der Nacht samt Tochter Pamina und Sarastro wortwörtlich ins Wasser. Eine technische Panne machte ihrer idyllischen Bootsfahrt auf dem Bodensee ein jähes, aber glückliches Ende, denn wachsame Helfer brachten die Hi­ nabgetauchten sicher ans Land. Eine halbe Stunde später ging es weiter.

Eigentlich sollte die Uraufführung am 14. Dezember 1893 in München stattfinden. Humperdinck hatte seine „letzten ersparten Groschen“ zusammengekratzt und war eigens angereist, um bei dieser Sternstunde dabei zu sein. Eine Grippewelle ließ die Premiere jedoch sprichwörtlich ins Wasser fallen.

Düstere Gewitterwolken, aus denen es unerlässlich schüttete, begleitet von Donnern und Blitzen, hätten Aufführende wie Zuschauer bei der diesjährigen Festspiel-Premiere in Bregenz baden gehen lassen, wenn sie nicht der Oper zu Liebe den Wassern bis zum Schluss getrotzt hätten. Dennoch: Carmen wurde hier nicht erstochen, sondern ertränkt.

Top oder Flop

Nach der Premiere verkündete Mozart seiner Frau: „Liebstes, bestes Weibchen! Eben komme ich von der Oper; Sie war eben so voll wie allzeit. Das Duetto Mann und Weib etc. und das GlöckchenSpiel im ersten Akt wurde wie gewöhnlich wiederhollet – auch im zweiten Akt das Knaben-Terzett, man sieht recht wie sehr und immer mehr diese Oper steigt.“

Auch wenn Richard Strauss die Oper in Weimar ohne Ouvertüre uraufführte, da die Noten auf der Post liegen geblieben waren, war die Oper von Anfang an ein Hit. Schon im ersten Jahr wurde sie auf 50 verschiedenen Bühnen gespielt, bevor sie weltweit ihren Siegeszug antrat. Humperdinck: „Mir ist zumute wie Moses, da er das gelobte Land von Ferne sah.“

In Bizets Urfassung floppte die Uraufführung. Zunächst fand man Gefallen an der Heiterkeit dieser Opéra comique, doch je mehr die neuen Töne, Schatten und dramatischen Elemente diese Heiterkeit verdunkelten, desto größer wurde der Unmut des Publikums. Bizet hatte den – nach eigenen Worten – endgültigen und hoffnungslosen Reinfall befürchtet.

Oper mal anders

Die Berliner Verkehrsbetriebe nehmen sich in ihrem Werbeclip „Keine Liebe ohne Drama“ selbst auf den Arm. Schauspielerdoubles der Opernsänger präsentieren Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen als Parodie. Mozarts Zauberflöten-Hit muss dabei für Beschwerden aller Art herhalten: Die Wagen der BVG seien „zu schmutzig, zu voll, zu spät, zu laut …“

Als Humperdinck seine Oper in Engelberg aufführen ließ, hieß sie Hänsel und Fränzel. In dem Schweizer Benediktinerkloster hatten Frauen keinen Zutritt. Von dieser Regel wurde auch keine Ausnahme gemacht, wenn eine Oper gespielt wurde. So kam es am 25. Juni 1900 dazu, dass Hänsel statt mit seiner Schwester die Szenerie mit seinem Bruder Fränzel betrat.

Gurgelnd, giggelnd, quietschend, schrill, schräg wie witzig präsentierte 1949 Spike Jones, amerikanischer Pionier der Musikcomedy, zwischen Schreibmaschinen­ geklapper, Kuhmuhen und Kuhglocken, Autohupen und Pistolenschüssen eine fantastisch instrumentierte wie arrangierte 13-minütige Kurzversion der Oper: ­Carmen murdered! (Spike Jones Suspected)

Ins Wasser gefallen

F OTO S : B R EG E N ZE R F ES T S P I E L E; G E M E I N F R E I

VON STEFAN SELL

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F OTO: F R A N K B LO E D H O R N

S P I E L P L A N

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SPIELPLAN Barock-Häppchen an Mozart-Tatar mit Uraufführungs-Béchamel. Oft wird Spielplangestaltung mit Kochen verglichen. In Wirklichkeit geht es um eine Mischung aus flirrender Fantasie, bodenständiger Pragmatik und knallhartem Kalkül.

E

in Seiltanz, ein Balanceakt oder einfach nur die Kunst einer clever zusammengesetzten Speise? Alljährlich flattern im Sommer die Saisonvorschauen der Opern-, Theater- und Konzerthäuser, der Festivals und freien Projekte herein. Vor lauter Hochglanz und Sonderfarben vergisst man leicht, was für ein langwieriger, schweißtreibender, kompromissreicher Prozess es ist, ein überzeugendes, kreatives, aber auch verkäufliches Programm zusammenzustellen. Nehmen wir zum Beispiel die Konzertdramaturgie: Da wären auf der einen Seite die kreativen Werkideen des Dramaturgen und/ oder Dirigenten, die Neuentdeckungen, Preziosen, Überraschungen an den Hörer zu bringen trachten. Da wären andererseits die Wünsche des Publikums, das dann doch erst einmal bereitwilliger ein Ticket für Mozart oder Beethoven erwirbt als für das unbekannte Konzert für zehn Kontrabässe und Maultrommel eines slawischen Komponisten-Newcomers. Da wären zum Dritten die Fähigkeiten des Klangkörpers selbst, der vielleicht eine Ausgrabung der Barockmusik, nicht aber eine Uraufführung zu bewältigen weiß. Und da wären all die kleinen und großen Sachzwänge von Bühnen- und Orchestergrabengrößen über Dienstpläne, WerkTantiemen bis hin zum Gesamtbudget für Gäste und Aushilfen: ein Werk mit zwei Schlagzeugern ja, aber doch bitte nicht mit dreien! Und dann erst beginnt der eigentliche Akt der Spielplangestaltung: die Termin-Jonglage mit den Agenturen der Gastsolisten und Gastdirigenten – wer kann wann und ist bereit für welches Repertoire? – oft Jahre im Voraus, sodass wild prognostiziert werden muss. Da wird zuweilen geschachert wie an der Wursttheke: Darf es zum Superstar noch ein interessantes junges Talent sein? Idealerweise soll sich dann auch noch ein schlüssiger, gerne gesellschaftsrelevanter Bogen über die ganze Spielzeit oder wenigstens jede Aboreihe ­spannen … Wir haben Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Institutionen gefragt, was für sie ein idealer Spielplan ist und wie sie versuchen, diesen in ihren Projekten zu realisieren. Die Antworten finden Sie ab Seite 84. 79


S P I E L P L A N

Der Axel-Brüggemann-Kommentar

MEHR SPIEL, WENIGER PLAN! Oft sollen Worte einem Spielplan Sinn geben. Auf PressekonferenWie man seinen Spielplan anlegt und erklärt, ist zur Gretchenzen erklären Intendanten, Dramaturgen und Konzertplaner den frage des Opern- und Konzertbetriebs geworden. Dabei geht es oft Bogen von Aida zu Zarewitsch. Am besten mit einem breit gefass- darum, sich als Intendant mit Visionen zu behaupten: Manche nutten Spielzeitmotto wie „Flucht“, „Suche“, „Ankommen“ oder „Hei- zen dafür ein möglichst zeitgeistiges Motto, andere den Gala-Abend, mat“. Dann wird erklärt, dass Aida ihre nationale und innere Hei- wieder andere stellen bewusst unbekannte Opern oder Urauffühmat sucht, ebenso wie Peter Grimes, dass Siegmund auf der Flucht rungen auf den Spielplan. Einige Häuser operieren bodenständiist und Otello auch, dass es sowohl in Mahlers Achter als auch in ger und versuchen möglichst unterschiedliche Publikumsschichten Beethovens Neunter irgendwie ums „Ankommen“ geht. Mit ande- zwischen Fledermaus und Meistersinger anzusprechen. All das sagt ren Worten: Motti sind in der Regel beliebig. In Wahrheit folgt der in Wahrheit aber nur wenig über die Qualität eines Hauses aus. Spielplan ganz anderen Dingen: der Auslastung, dem eigenen Image Am Ende ist es weitgehend egal, wie ein Theater sein Programm oder den Möglichkeiten des jeweiligen verkauft, wie es versucht, Ordnung in den Ensembles. eigenen Spielplan zu bringen, wie es sich Nikolaus Bachler von der Münchdurch die einzelnen Opern, die Besetzunner Oper ist ein Experte in Sachen Mottogen oder die Konzerte positioniert. All WIE MAN SEINEN SPIELPLAN Theater. Seine neue Saison bewirbt er das sind nur Überschriften. Eine Spiel­ANLEGT UND ERKLÄRT, in der Jahresbroschüre mit den Worzeit steht und fällt aber mit dem Kleingeten: „Zeig mir Deine Wunde“. Das passt druckten, das allabendlich auf die Bühne IST ZUR GRETCHENFRAGE DES natürlich zu ziemlich jeder Oper, da es gebracht wird. Was bei aller MarktschreiOPERN- UND KONZERTBETRIEBS erei oft vergessen wird, ist, dass Theaimmer um irgendeine äußere oder seelische Wunde geht. Das Münchner Motto ter und Konzert in der Regel nicht allein GEWORDEN ist aber hauptsächlich Anspielung auf das durch das dramaturgische Korsett, wie es Saisonhighlight, die Opernfestspiel-Prein den Jahresbroschüren zu lesen ist, defimiere von Parsifal mit Jonas Kaufmann, niert wird, sondern durch etwas, das mit Christian Gerhaher, René Pape und Kirill Petrenko. Dieser Auffüh- dem eigentlichen Spielplan nur bedingt zu tun hat: den Geist, der rung wird das gesamte Jahresprogramm untergeordnet. an einem Haus herrscht, die Kunst, eine transparente Form zu finBachler ist fraglos einer der sichersten Programmplaner, der den, sich alten Stoffen aus dem Jetzt zu nähern, einen Ensembleneben dem Motto auch die Star-Erwartungen seines Publikums und geist zu formen, eine Handschrift, die das Publikum versteht und der Feuilletons bedient. Er weiß, dass Münchens Parsifal der Kon- sinnlich erfahren kann. Die Kunst also, Opern und Konzerte nicht kurrenzveranstaltung in Hamburg mit Kent Nagano am Pult und als Legitimation von intellektuellen Egos zu verstehen, sondern als Achim Freyers Regie schon vor Saisonbeginn den Small-Talk-Rang Möglichkeit, den Intellekt sinnlich erfahrbar werden zu lassen. Am ablaufen wird. Das Besondere ist seit jeher ein wesentlicher Bestand- Anfang sollte nicht das „Was“, sondern das „Wie“ stehen, nicht der teil der Spielplanmacherei: Für Hamburg ist es dieses Jahr die sze- Komponist oder sein Werk, sondern das grundlegende Verständnis, nische Umsetzung von Verdis Messa da Requiem durch Calixto wie man mit Werk und Wirkung umgeht. Bieito, in Leipzig Katharina Wagners Inszenierung des Tannhäuser, Auch von diesem Konzept ist in den aktuellen Jahresbroschüin Dresden wird Christian Thielemann den Ring dirigieren, an der ren zu lesen. Aber es grenzt schon an Frechheit, wenn der Intendant Deutschen Oper in Berlin nimmt sich Olivier Py Le Prophète vor, der Staatsoper Hamburg, Georges Delnon, seinem Jahresprogramm und an der Staatsoper in Berlin ist allein die Wiedereröffnung des ein Zitat von Gerard Mortier voranstellt. Kaum ein anderer Intenalten Hauses Highlight an sich. All diese Aufführungen garantieren dant steht so intensiv für das konzeptionelle Innenleben einer Oper – abgesehen vom Rest des Spielplans – zunächst einmal nationale, wie Mortier. Das hat er sowohl in Brüssel als auch später in Salzwenn nicht gar internationale Aufmerksamkeit. burg und bei der Ruhrtriennale gezeigt. Jede Aufführung war für 80

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ZE I C H N U N G : S T E FA N S TE IT Z

Spielzeitmotto oder große Gala-Aufführung? Viel wesentlicher bei der Programmplanung ist ein sinnlicher Geist, der das Publikum berührt.


ihn eine dauernde Auseinandersetzung mit dem Stoff, den Künst- spiele für diese Herangehensweise gibt es besonders in der Verganlern, dem Publikum. Oper und Konzert waren für Mortier – egal, genheit. ob Barock mit Wernicke, Romantik mit Marthaler oder Operette Wir haben bereits über Gerard Mortier geredet: Er hat es in mit Neuenfels – zunächst einmal Abenteuerreisen. Möglichkeiten Salzburg geschafft, das Unerwartbare zum Programm zu erheben, einer emotionalen Vergegenwärtigung der Kunst im Jetzt. Von all das Skandalöse immer wieder neu – und durchaus substanzvoll – dem ist weder im aktuellen Programm von Delnon etwas zu sehen, zu definieren, die Oper an die Grenze zu führen, dorthin, wo das noch hat er sich in der Vergangenheit als einer jener Intendanten Publikum staunt, sich aufregt, emotionalisiert wird – dafür wurde positioniert, dem die Schuhe von Gerard Mortier auch nur annä- er zunächst angefeindet und am Ende geliebt. Wie schwer es ist, diehernd passen würden. sen Grat zu erreichen, hat die erste Salzburg-Spielzeit von Markus Aber Denlon ist mit seiner dramaturgischen Spielplan-Ver- Hinterhäuser gezeigt. Er ist einer der wenigen Programmplaner, kaufe nicht allein. Es ist ein Trend, besonders an kleineren Stadt­ die jenseits der eigentlichen Programme einen Geist auf die Beine theatern, dass hier noch immer ein moralisches „Von-oben-herab“- stellen können. Das hat er bereits bei den Wiener Festwochen und Verständnis des Theaters herrscht. Künstals Verantwortlicher für das Musikproler verstehen sich als Welterklärer und ihr gramm der Salzburger Festspiele gezeigt. Theater noch immer – wie in den 60erDennoch war auch seine erste Salzburg-­ Jahren – als „moralische Anstalt“. Ein Saison ein Spagat zwischen PublikumserSTATT DES GLAUBENS Vorzeigebeispiel dafür ist das Theater Brewartungen, eigenem Stil und erwartbaren AN DIE SINNLICHKEIT men. Das neue Spielzeitheft kommt in der Konzept-Provokationen. Bei HinterhäuOBSIEGT DER Anmutung von Toilettenpapier daher, die ser spürt man, wohin die innere Reise der einzelnen Aufführungen werden durchFestspiele gehen könnte – und es bleibt GLAUBE AN DIE EIGENE exerziert, und das Ensemble muss sich in spannend zu sehen, wo sie ankommen WELTVERBESSERUNGSlitfaßsäulenhaften Schwarz-Weiß-Fotograwird. fien abbilden lassen. Ich habe in der letzEine andere, ebenfalls von innen THEORIE ten Spielzeit allerhand Repertoire-Aufgedachte Programmplanung hat einst die führungen des Hauses besucht und war Oper in Stuttgart ausgemacht: Unter dem schockiert: Selten saßen in einer Operndamals agilen Klaus Zehelein herrschte aufführung mehr als 100 Zuschauer – das Haus ist immerhin für die Philosophie, dass jeder, der am Theater gearbeitet hat, in den 800 Besucher ausgelegt. Auslastungszahlen werden seit Langem Produktions- und Interpretationsprozess einbezogen wurde – geschönt, indem die Ränge geschlossen und damit die Besucher- Regisseure, Interpreten, Dramaturgen, aber auch Bühnenarbeiter quote hochgeschraubt wird. Außenwirkung und Innensicht des und Garderobiere. Sie alle wussten, worum es ging, sie alle konnTheaters sind schon lange nicht mehr kongruent. ten die Ideen und Konzepte dem oft aufgebrachten Publikum verWenn man nun das Vorwort von Intendant Michael Börger- mitteln. In dieser Zeit war es nicht wirklich entscheidend, was auf ding liest, spürt man, dass es ihm weniger darum geht, sein Publi- dem Spielplan stand, sondern alles, was gezeigt wurde, wurde dieser kum zu erreichen als darum, das eigene Kunstverständnis zu dozie- Hauskultur untergeordnet. ren. Börgerding zitiert seinen Dramaturgen-Kollegen, den Autor Versuche, eine derartige Kultur zu etablieren, gibt es auch Jonas Lüscher (eine Vetternwirtschaft, die ebenfalls symptomatisch heute noch. Jossi Wieler hat in den letzten Jahren kontinuierlich für viele Häuser ist). Dabei geht es um die verquaste Frage: „Warum die alte Stuttgarter Philosophie modernisiert und aufleben lassen alles, was ist, gut ist, und warum wir es dennoch verbessern kön- – dafür wurde sein Haus zum Opernhaus des Jahres gewählt. Und nen.“ Mit einem verqueren Streifzug durch das Silicon Valley landet auch im Konzertwesen ist es durchaus möglich, diesen Geist zu etaBremens Intendant schließlich bei Leibniz’ „Wir leben in der bes- blieren. Während die Elbphilharmonie weitgehend auf den beliebiten aller möglichen Welten“, um dann über Voltaire und Bernstein gen Klassikzirkus und einige Crossover-Programme setzt und ledigund bei den Bremer Stadtmusikanten und irgendwelchen „intellek- lich die Architektur ihres Hauses vermarktet, ist gerade in kleineren tuellen Vordenkern der Linken“ zu landen. Am Ende stellt er mit Orchestern oft der Versuch zu erkennen, eine Bindung zwischen tagesaktuellem Bogen fest: Während die Deutschen sich entkapita- Musikern und Publikum herzustellen. Ich habe mich neulich mit lisieren, entkolonialisieren, entgentrifizieren und entprivatisieren, dem Dirigenten Dirk Kaftan unterhalten, der in der kommenden gefiele es den Flüchtlingen bei uns doch ganz gut – kann also alles Saison das Beethoven Orchester in Bonn übernimmt. Klar, auch er nicht so schlimm sein. wird die großen Klassiker interpretieren. Gleichzeitig will er versuVorworte wie diese zeigen, dass Theater – egal, wie sie ihre chen, die Stadt mit dem Orchester zusammenzuführen, sucht neue Spielpläne aufstellen – oft nur noch Projektionsflächen ihrer Prota- Spielorte, neue Partner, will Uraufführungen als „Normalität“ etabgonisten sind, Bühnen für das eigene Intellektuellen-Ego, Orte des lieren, Gesprächskonzerte veranstalten. Er will die klassische Konkleindenkenden Diskurses, dem das Publikum irgendwie zu blöde zertform bedienen, sie aber gleichzeitig hinterfragen. Auch das ist und die Kunst irgendwie zu kitschig erscheint. Statt des Glaubens zunächst einmal nur ein Gedankenkonzept, und es wird spannend an die Sinnlichkeit obsiegt der Glaube an die eigene Weltverbesse- zu sehen, ob die Idee sich am Ende sinnlich vermitteln lässt. rungstheorie. Denn das ist letztlich das Ausschlaggebende bei jeder ProEs ist selten geworden, dass Theater oder Orchester es schaffen, grammplanung: Ideen, Visionen, Überzeugungen und die andausich eine Philosophie zu geben, die über dem eigentlichen Spielplan ernden Befragungen der Musik als Mittel sinnlicher Erkenntnis. steht, eine Geisteshaltung, die den Spielplan von sich aus definiert, Das kann mit einem „ABC-Programm“ aus Aida, Bohème und Careine Herangehensweise an die Frage, wie man der Oper und dem men ebenso funktionieren wie mit konzeptionellen und ausgefalKonzert in unserer Zeit begegnet, was sie zu erzählen haben, welche lenen Programmplanungen. Nicht die Titel der Werke, die auf der Paradigmen sich in unserer Wirklichkeit geändert haben und wie Bühne stehen, sind entscheidend, nicht das aufgestülpte Motto, wir darauf reagieren können, welche Rolle die theatrale Inszenie- nicht die eine große Gala-Aufführung. Viel wichtiger ist das Selbstrung in einer durch und durch inszenierten Welt noch spielt. Bei- verständnis, das ein Theater oder ein Orchester ausstrahlt. ■ 81


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PROPAGANDA, ­WILLKÜR UND DAS „­ SCHWARZWALDMÄDEL“ Im Nationalsozialismus war Spielplangestaltung nicht nur ein Balanceakt ­ zwischen künstlerischen und wirtschaftlichen Interessen – das Ergebnis musste auch ­ ideologischen Anschauungen gerecht werden. VON JASMIN GOLL

Die Operette Lauf ins Glück

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er verliebte Wauwau, Liebe in der Lerchengasse oder Lauf ins Glück. Was nach seichtem Vorabendprogramm klingt, füllte dem Nürnberger Stadttheater einst die Kassen. Heute findet man diese Operetten auf keinem Spielplan mehr. Als Neukompositionen aus der Zeit des Nationalsozialismus, die regelmäßig und mit Erfolg aufgeführt wurden, verlieren sie ihre Harmlosigkeit und scheinen ideologisch belastet. Was auf den deutschen Bühnen in den 1930er- und 40er-Jahren gespielt wurde, war eben nicht nur Wagner. Am Nürnberger Stadttheater zum Beispiel war es eben vor allem die Operette, die die Bürger regelmäßig ins Theater zog und eine andere Funktion als die Oper erfüllte: das Bedürfnis nach Amüsement zu stillen und dadurch die Säle zu füllen. Eigentlich waren die Spielregeln genau abgesteckt: Die Spielplanpolitik folgte – wie auch Personalpolitik und Bühnenästhetik – in den 1930er- und 40er-Jahren den ideologischen Anschauungen der Nationalsozialisten. In den „Richtlinien für eine lebendige deutsche Spielplangestaltung“, die das dramaturgische Büro des Kampfbundes für Deutsche Kultur 1933 aufstellte, wurde gefordert, dass die dargebotenen Werke „in ihrer geistigen Haltung, in ihren Menschen und deren Schicksalen deutschem Empfinden, deutschen Anschauungen, deutschem Wollen und Sehnen, deutschem Lebensernst und deutschem Humor entsprechen“. Was das bedeu82

ten sollte, wurde erst konkreter, als die Spielpläne in der Spielzeit 1934/35 erstmals überwacht wurden. Die Theaterabteilung des Propagandaministeriums mit dem Reichsdramaturgen Rainer Schlösser an der Spitze hatte nun ein Auge darauf, was auf den deutschen Bühnen gezeigt wurde. Für die „deutsche“ Spielplangestaltung bedeutete das, wie Schlösser festlegte: Werke jüdischer Musiker und Librettisten waren von den Bühnen zu verbannen und maximal 20 Prozent eines Spielplans durften aus Werken ausländischer Komponisten bestehen. Zur Orientierung verschickte er auch einen beispielhaften Spielplan an alle Opernhäuser, der ausschließlich Werke deutscher und österreichischer Komponisten vorsah. So die Marschrichtung. Jedoch war die Vorgehensweise nur vordergründig systematisch und konsequent. Einige Einzelfälle und Ausnahmeregelungen lassen dieses Bild brüchig werden. Insbesondere in den Operettenspielplan ließ sich nicht ohne Weiteres eingreifen. Schlösser musste zugeben, dass die beliebtesten Operetten von jüdischen Komponisten oder Librettisten stammten. Sie kurzerhand aus dem Spielplan zu nehmen, hätte die Umsätze der Theater ruiniert. Man verdrehte also Tatsachen und nahm es hie und da nicht so genau. Obwohl zum Beispiel Johann Strauss (Sohn) gemäß Rassengesetzen Vierteljude war, wurde er durch Urkundenfälschung im Handumdrehen zum Arier und weiterhin auf die Spielpläne gesetzt. Gefiel einem NSDAP-Funktionär ein www.crescendo.de

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Wochen-­Spielplan von Januar 1935

Das Land des Lächelns von Franz Lehár. Lehárs Werke gefielen Hitler so sehr, dass er ihn auf die Gottbegnadeten-Liste setzte

Stück, das ausgerechnet ein „jüdisches“ Werk war, ging nicht selten Krieges noch annähernd aufrechterhalten werden konnten, machdie individuelle Vorliebe vor. Léon Jessels Schwarzwaldmädel war ten sich die Auswirkungen zunehmend bemerkbar. 1943/44 konnte solch ein Fall. 6.000 Mal war die Operette zwischen 1917 und 1933 man nur noch acht Operetten – dennoch bei insgesamt 152 Aufauf den deutschen Bühnen zu sehen gewesen, und 1935 sollte auf führungen – und 25 Opern (178 Aufführungen) zeigen. Schließlich einmal Schluss damit sein, weil Jessel Jude war – nicht so in Nürn- flossen noch mehr Gelder in die Rüstungsindustrie. berg. Adolf Hitler und Julius Streicher, Herausgeber der antisemiDie Umgestaltung der Opernspielpläne verlief reibungsloser – tischen Hetzschrift „Der Stürmer“, mochten das Stück so sehr, dass auch weil diejenigen Intendanten, die nach 1933 ihre Posten nicht eine Sondergenehmigung für Nürnberg eingeholt wurde. Strei- aufgrund „politischer Unzuverlässigkeit“ verloren hatten, häufig cher wünsche, dass „im Interesse einer interessanten Spielplange- den Ansprüchen der neuen Machthaber gerecht wurden. So auch staltung in der Operette die Arierfrage nicht nachgeprüft werden beim Intendanten Johannes Maurach, der von 1922 bis 1939 das solle, da sonst ein das Publikum interessierender Spielplan nicht Nürnberger Haus leitete. Eine Spielplanstatistik dieser Jahre zeigt, recht möglich sei“, so hieß es in einem Begründungsschreiben an wie die Musiktheaterwerke hierin in nationale Schubladen gesteckt die Reichsdramaturgie. Aber wenn einer darf, wollen die anderen wurden: „deutsche Oper“, „italienische Oper“, „andere ausländische auch … Doch die Anfragen anderer Theater, das Werk aufführen Opern“ und – ganz ohne nationale Unterscheidung – „Operetten“. zu dürfen, wurden abgewehrt. Nürnberg verfügte über das allei- Zu den deutschen Opern rechnete man nicht nur Wagner, Weber, nige Aufführungsrecht, bis das Stück auch dort 1937 gänzlich von Lortzing und Flotow, sondern auch ins Deutsche übersetzte Werke den Spielplänen verschwand. von Mozart oder Rossini. Als „ausländisch“ galt alles andere. Hier Ein weiteres Kriterium waren die Handlung und die Musik­ war Bizets Carmen die meistgespielte Oper. Werke sowjetischer ästhetik. Beispielsweise waren prominente oder historische Per- Komponisten wurden gestrichen. Maurachs Spielpläne waren eher sönlichkeiten auf der Theaterbühne nicht wenig wagemutig. In der Saison 1935/36 erwünscht. Franz Lehárs Operette Friespielte man zum Beispiel 15 „deutsche INFORMATION derike wurde in Nürnberg verboten, da Opern“, darunter drei Werke von WagDas Forschungsinstitut für Musiktheater der – so Hitlers eigene Begründung – Goethe ner, rein zahlenmäßig angeführt von den Universität ­B ayreuth (fimt) forscht derzeit in darin auftrat. Die entstehenden Lücken Meistersingern von Nürnberg, sechs „italiKooperation mit dem Staats­theater Nürnauf den Spielplänen wurden mit Überenische Opern“, davon drei Verdi-Opern berg und dem Dokumentationszentrum arbeitungen von bestehenden Stücken und zwei „ausländische Opern“, nämlich Reichsparteitagsgelände zu „Inszenierung oder Neukompositionen gefüllt, was dem Bizets Carmen und Gounods Margarethe, von Macht und Unterhaltung – Propaganda Genre einen neuen Anstrich verpasste. eher bekannt als Faust. Uraufführungen und Musiktheater in Nürnberg 1920–1950“. Weniger erotisch, weniger verjazzt, weniwaren in der Opernsparte in Nürnberg Am 14. Juni 2018 wird eine Ausstellung im ger aufrührerisch, dafür volkstümlicher rar gesät, wobei diese dann auch mehr Dokumen­tationszentrum eröffnet. und anständiger sollten sie sein. Aufmerksamkeit erlangten als OperetWeitere Infos unter Die Operettensparte in Nürnberg tenuraufführungen. Blickt man einmal www.musikpropaganda.uni-bayreuth.de war in der Anzahl der Aufführungen mit auf die großen Opernhäuser des Landes, ­sowie www.fimt.uni-bayreuth.de der Oper gleich auf. Die Opernsparte bot so ergibt sich ein ähnliches Bild: An der allerdings mehr Vielfalt. Schließlich war Bayerischen Staatsoper waren beispielsdem Theater der Auftrag gegeben, das Publikum mit einer großen weise Wagner, Verdi, Puccini, Strauss und Mozart nach wie vor 1933 Bandbreite an deutscher Kunst vertraut zu machen. Das Pensum die meistgespielten Komponisten. scheint aus heutiger Sicht unvorstellbar: In der Saison 1933/34 stanEinen konsequenten Bruch gab es 1933 also nicht. Einen den 20 Operetten mit insgesamt 166 Aufführungen und 32 Opern „nazifizierten“ Spielplan gab es in dem Sinne nicht, da man zum Teil mit 172 Aufführungen auf dem Spielplan. Zum Teil wurden am Tag nicht eben mit Vorherigem brach, stattdessen aber immer wieder zwei Stücke gegeben. Obwohl diese Zahlen selbst zu Beginn des mit den eigenen ideologischen Zielen. ■ 83


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EIN SPIELPLAN MUSS WIE ­MAULTASCHEN SEIN  ! VIKTOR SCHONER ist Künstlerischer Betriebsdirektor an der Bayerischen Staatsoper und wird ab der S­ pielzeit 2018/19 Intendant der Staatsoper Stuttgart. Er ist außerdem Jurymitglied bei Fedora (siehe Box).

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ass ein rein kulinarisches Verständnis des von Beginn an der Repräsentation verpflichteten Genres „Oper“ zu dessen Ende führt, können wir derzeit leidvoll sehen, wenn wir die Entwicklungen von einst legendären Operninstitutionen etwa in New York oder in Italien verfolgen: Nur wenn wir ständig und diszipliniert darauf achten, die Werke bei aller Freude an der historisch verbürgten Qualität aus einer heutigen Per­spektive zu erleben, gibt es für das heutige Publikum und die heutige Öffentlichkeit und für die heutigen Künstler einen Grund, sich überhaupt mit ihm zu beschäftigen. Und doch: Weist die Erarbeitung und Gestaltung des Spielplans durch ein künstlerisches Leitungsteam nicht doch Parallelen auf zur Arbeit eines Restaurantchefs, wenn er sein Menü zusammenstellt? Abwechslungsreich soll es sein und doch einen roten Faden haben. Lokal koloriert und doch auf internationalem Standard. Jedes einzelne Element muss perfekt sein und doch Platz lassen für den nächsten Gang. Als Festival­macher könnte man sich konzentrieren auf ein Land oder eine – gern auch exotische

– Küche. Als Haus, das für alle da ist, muss das Angebot breit gefächert sein, ohne beliebig zu wirken. Und die Mitarbeiter vom Chefkoch zum Kellner sollen sich auch unbedingt identifizieren mit dem Ganzen. Viele Gänge sind en vogue und doch muss das Budget stimmen, für den Erfinder wie für den Gast. Nach Jahren als Künstlerischer Betriebsdirektor in Paris, das neben den exquisiten Läden auch grenzwertige Küche im Bistro um die Ecke pflegt, und in München, wo das angenehm Offensichtliche nicht nur in der Küche den Ton angibt, freue ich mich nun auf kulinarische Jahre à la Schwabenland – die „Herrgottsbescheißerle“, anderswo genannt Maultaschen, sind Klischee und Wahrheit zugleich: Erfunden wurden sie von Mönchen, um das exklusive Fleisch vor den strengen Augen des gütigen Herrgotts zu verstecken. Ist das nicht die schönste Inspiration für künstlerische Arbeit und damit auch für einen der ersten Gänge bei der Spielplangestaltung: etwas geheimnisvoll, eigentlich voller Sünde, mit lokalem Bezug und gleichzeitiger internationaler Ausstrahlung, nahrhaft mit Subs­tanz, verführerisch – einfach gut.

WAS IST FEDORA?

Die 2014 gegründete, in Paris ansässige Organisation The European Circle of Philanthropists of Opera and Ballet, kurz „Fedora“, hat es sich zu Ehren des berühmten Operndirektors Rolf Liebermann zur Aufgabe gemacht, Innovation und Kreativität im Bereich der darstellenden Künste in Europa zu fördern. Fedora leistet Anschubfinanzierung für neue Opern- und Ballett­ koproduktionen und hat bereits ein weitgespanntes Netzwerk aus Mäzenen und bemerkenswerten 79 Opernhäusern, Festivals und Ballettkompagnien in 20 Ländern geschaffen. Mit über 200 Aufführungen, die von 50 kulturellen Organisationen in 14 Ländern koproduziert wurden, hat Fedora bereits einiges bewegt. Auch 100.000 Kinder waren unter den Zuschauern. Weitere Infos unter www.fedora-circle.com

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NEUGIER, KONSEQUENZ UND ZWEIFEL! OLAF A. SCHMITT ist künstlerischer Leiter der K ­ asseler Musiktage und Chefdramaturg der Bregenzer Festspiele.

Neugierig Künstlern ihre Leidenschaften entlocken, eigene Ideen konsequent und zugleich zweifelnd verfolgen, den Ort und seine Menschen erspüren, Musiker und Publikum zu Wagnissen verführen – daraus kann ein guter Spielplan für ein Festival entstehen. Die konzentrierte Zeit ermöglicht Konzentration und Fülle in einem, erlaubt unsere Sinne zu schärfen und sie außergewöhnlichen Erfahrungen auszusetzen.

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F OTO S : F R A N K N AG E L ; P R I VAT

MEHR NEUE OPERNUND ­BALLETT­PRODUKTIONEN!


Zu den Gästen im Sadler’s Wells zählt die brandneue Kompagnie Acosta Danza.

IN INNOVATIVE KÜNSTLER INVESTIEREN ALISTAIR SPALDING, mit dem Verdienstorden „Commander of the British Empire“ geehrt, ist künstlerischer Leiter und Geschäftsführer des Sadler’s Wells Theatre, Londons führender Bühne für Ballett und modernes Tanztheater.

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ein idealer Spielplan hat zwei zentrale Ziele: Er soll Tanz und Tänzer fördern und ein hochwertiges, genussvolles Erlebnis mit inspirierenden neuen Perspektiven für das Publikum schaffen. Meines Erachtens ist der beste Weg, um diese Ziele zu erreichen, die Investition in innovative Künstler, deren Reise man über Jahre verfolgt und die man bei der Realisierung ihrer kreativen Ideen unterstützt. Die Programmplanung des Sadler’s Wells steht deshalb in enger Verbindung zu seinen 16 sogenannten „Associate Artists“ sowie drei lokalen und vier weiteren KooperationsKompagnien. Die Arbeiten dieser Künstler machen etwa 55

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ZUSAMMEN EIN GOURMET-MENÜ ZAUBERN PETER ­SPUHLER ist Intendant des Badischen ­Staatstheaters ­Karlsruhe

Prozent unseres Programms aus. Dann gibt es noch eine Reihe von Programmen, die Künstler in unterschiedlichen Karrierestadien unterstützen, mit dem Fokus auf junge Leute und neue choreografische Stimmen. Insgesamt sind also ungefähr 60 Prozent unseres Jahresprogramms eigene Auftragsarbeiten, Produktionen und Koproduktionen. Die restlichen 40 Prozent sind sehr vielfältig. Einerseits bieten wir britischen Tournee-Kompag­nien eine Plattform, andererseits regionalen Gruppierungen, die sich so ihren eigenen Publikumsstamm aufbauen können. Und schließlich laden wir he­rausragende Ensembles aus der ganzen Welt ein.

Der perfekte Spielplan ist für mich wie ein hervorragendes Menü, dessen Gesamtkomposition eine Kunst ist. Luxuriöse Zutaten helfen, aber am wichtigsten ist die Fantasie bei der Zusammenstellung der Zutaten und eine leichte Hand bei der Zubereitung. Es soll eine Überraschung sowohl für den Genießer, den Experten wie aber auch für denjenigen sein, der einfach nur etwas zu sich nehmen will. Dabei helfen frische, natürliche, handverlesene Zutaten, ungewöhnliche Kombinationen und hoch motivierte Küchenteams. Am schönsten ist es, wenn dieses Menü Staunen verursacht, Emotionen weckt,

zum Darüberreden anregt, Menschen verbindet und in unvergesslicher Erinnerung bleibt. Das gleiche Zaubern also, wie herausragende Küchenchefs es können. Erfahrung, Handwerk und Regeln sind wunderbar und helfen, können aber auch den Blick verstellen und das Finden von Neuem behindern. Es kommt auf Vielfalt und die richtige Portionierung an und darauf, ob man es mit einem Spezialrestaurant oder einem für alle zu tun hat. Am besten ist es, wenn mehrere zaubern, denn nicht jeder kann Vorspeise, Zwischengang, Haupt­gericht und Nachspeise gleich gut. 85


S P I E L P L A N

ÜBERLEBEN IN DER PROVINZ RALPH BOLLMANN ist Journalist und Publizist. Für sein Buch „Walküre in Detmold“ besuchte er in einem Zeitraum von zwölf Jahren alle Opernhäuser Deutschlands mit eigenem Ensemble.

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angsam begann ich, das Kalkül der Intendanten zu durchschauen. Karlsruhe zum Beispiel hat ein großes Ensemble und ein opulentes Programm, schließlich will die badische Hauptstadt hinter den Schwaben in Stuttgart nicht zurückstehen. Füllen lassen sich die vielen Vorstellungen nur, wenn die Operninteressierten entsprechend oft ins Theater gehen. Das bedeutet eine hohe Schlagzahl an Premieren und damit viele Raritäten auf dem Spielplan. Für den Operntouristen ist das gut. Das sehr viel kleinere Theater im sächsischen Freiberg verfolgte jahrelang eine andere Strategie: Man holte vergessene deutsche Spielopern aus dem frühen 19. Jahrhundert ins Programm – Rolands Knappen von Albert Lortzing zum Beispiel oder Stücke von unbekannten Komponisten wie Victor Ernst Nessler und Conradin Kreutzer. Das war ein genialer Kniff. Die Stücke sind hinreichend exotisch für überregionale Aufmerksamkeit, überschaubar für ein kleines Orchester und eingängig fürs Stammpublikum.

Im Ganzen ähnelt sich das Strickmuster, gerade an Kleinstadtbühnen, die oft nur zwei oder drei große Opern pro Saison neu herausbringen. Die Säule des Repertoires sind die immer gleichen Stücke, neben Zauberflöte und Traviata vielleicht noch Puccinis Bohème und Bizets Carmen. Dazwischen werden weniger bekannte Stücke populärer Komponisten gemischt oder bekannte Stoffe in modernem Gewand, wobei es das Zeitgenössische noch schwerer hat als die Raritäten von einst. Ich habe aber auch Intendanten erlebt, die für den populären Samstagabend stets Aufführungen mit der Gattin in der Hauptrolle ansetzten. Oder Konzertdirigenten, die keine Lust mehr auf Operndienste hatten, sperriges Repertoire auf den Montag vor Weihnachten legten – und damit einkalkulierten, dass die Vorstellung mangels Nachfrage ausfallen würde. Mehr zu Ralph Bollmanns Opernreise auf www.crescendo.de/spielplan

RESISTENT GEGEN AKTUELLES

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uch in der kommenden Spielzeit werden die Premieren von Opern, die nicht älter als 50 Jahre sind, eindeutig in der Minderheit sein gegenüber Premieren von Stücken aus den letzten zwei bis drei Jahrhunderten. Hierzu kann man stehen, wie man will: Man kann entweder die erfolgreiche Hartnäckigkeit und Resistenz des heutigen Opernbetriebs gegenüber der Musik unserer Zeit bewundern und sich darüber freuen, dass man vor allem Musik hören darf, die mindestens 150 Jahre alt ist – wenn auch meist in mehr oder weniger erfolgreich auf modern getrimmten Inszenierungen lebender Regisseure. Oder man kann sich – wie ich – darüber ärgern, dass diese talentierten Regisseure nicht an Wiederaufführungen der zahlreichen ebenso guten und vor allem lebendigen Stücke mitwirken, die lei86

MORITZ EGGERT ist Komponist und crescendoKolumnist. Mit seinem Artikel „Opernhäuser – die schwarze Liste der ewig Gestrigen“ hatte er auf der crescendo-­Website und der crescendo-FacebookSeite für hitzige Diskussionen gesorgt.

der heutzutage nach ihrer Uraufführung fast immer in der Versenkung verschwinden, übrigens egal, wie erfolgreich sie waren. Denn statt einer Zweitaufführung einer guten heutigen Oper führt man lieber zum 5.000sten Mal ein altes Stück auf. Ich hätte gerne für dieses Heft eine Analyse des Opernspielplans 2017/18 erstellt, leider gibt es noch keine Gesamtübersicht über alle Premieren die mir eine profunde Sicht auf die Aufführungsverhältnisse Alt versus Neu in diesem Jahr erlaubt hätten, was ich hiermit zu entschuldigen bitte. Ein dementsprechender Artikel wird demnächst bei crescendo erscheinen. Moritz Eggerts Artikel zur vergangenen Spielzeit ­finden Sie auf www.crescendo.de/spielplan

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F OTO: C H R I S TI A N H A RT L M E I E R ; TH E ATE R D E T M O L D

Moritz Eggert hält viele Spielpläne für gestrig.


Miroslav Srnkas Oper South Pole an der Bayerischen Staatsoper 2016

DIE MACHT DES ZUFALLS

F OTO: W I L F R I E D H Ö S L

MIROSLAV SRNKA ist zeitgenössischer Komponist und hat es als einer der wenigen geschafft, seine Musiktheaterwerke in den Spielplänen – auch der ganz großen Häuser – zu verankern.

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o unwahrscheinlich es klingt: Bei meinen bisherigen – insgesamt sieben – Opernproduktionen habe ich nie den allerersten Schritt gemacht. Es waren Anfragen, Angebote, Möglichkeiten oder Aktivitäten anderer Menschen und Institutionen. Vielleicht, weil mich Herausforderungen begeistern. Zum Musiktheater hatte ich zunächst eher eine reservierte Haltung. Andere glaubten da mehr an mich. Vor allem mein Verleger Leonhard Scheuch von Bärenreiter. Er vermittelte die erste Opernszene Wall für die Staatsoper Unter den Linden. Überrascht, wie marginal der Einfluss eines Komponisten auf die Inszenierung und Ausdeutung seines eigenen Werkes sein kann, habe ich mir geschworen, nie wieder ein Opernhaus als Komponist zu betreten. Doch der Zufall wollte, dass die ganz junge Anna Prohaska damals meine Sopranpartie sang, was doch noch Hoffnungen in mir weckte. In einem letzten Versuch, doch noch für Stimme zu schreiben, wurde ich auf ein Programm in Aldeburgh aufmerksam, mit dessen Unterstützung dann die Kammeroper Make No Noise entstand.

Für die ersten beiden Produktionen in München und in Bregenz war die Aktivität von Dramaturg Olaf Schmitt zentral, mit dem ich einmal zufällig gemeinsam im Zug aus Salzburg saß und von der Aldeburgh-Erfahrung erzählte. Und das Angebot für ein großes Werk für die Bayerische Staatsoper – damals noch ganz allgemein, ohne Thema – kam direkt von Intendant Nikolaus Bachler, wörtlich auf dem kurzen Weg zwischen Café Brenner und dem Künstlereingang, gleich nach der Generalprobe von Make No Noise. Nach fast zwei Jahren Ringen um ein Thema (und die Rechte) und drei Jahren Schreiben entstand dann South Pole. Im Vertragsvorschlag hieß die mir frei zur Verfügung gestellte Wahl der Mittel: etwa bis zur Größe einer „Elektra-Besetzung“. Die zweite Produktion von South Pole hat tatsächlich das Internet vermittelt: Zur Zeit der Uraufführung waren sowohl die Partitur als auch die eine Live-Übertragung bei Arte online – die haben Darmstadt überzeugt!

WAS IST INTHEGA? TANZ AUF DEM VULKAN „Kulturelle Grundversorgung gibt es auch für Menschen in der – nennen wir es doch ruhig beim Namen – Provinz“, so Christian Kreppel, Leiter des Theaters Schweinfurt. Kreppel ist gleichzeitig auch Präsident der INTHEGA, der Interessensgemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen e. V., in der knapp 400 Kommunen organisiert sind, die kein eigenes Theaterensemble haben. „Wie bei den produzierenden Ensembletheatern steht und fällt der Erfolg der Gastspielhäuser mit dem Spielplan, der angeboten werden kann“, so Kreppel. Ein Lehrbuch für die perfekte Spielplangestaltung lässt sich nicht

schreiben, aber wichtige Ingredienzien laut Kreppel sind „Erfahrung und Wissen, Branchenkenntnis und immer wieder Neugier, gute und verlässliche Partner, verrückte und enthusiastische Künstler, Theaterschaffende und ,Macher‘“. Natürlich auch Mut, mit der Theater­ arbeit Identität gegen alle etwaigen Widerständ stiften zu wollen. Es sei eine wunderbare, anspruchsvolle, aufreibende Arbeit und gefühlt irgendwie immer ein „Tanz auf dem Vulkan“. Mehr von Christian Kreppel und zur INTHEGA finden Sie auf www. crescendo.de/spielplan und www.inthega.de

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FESTIVALS SIND EIN ­GESAMTERLEBNIS KULTUR HERMANN LEWEN ist Gründer und Leiter des Mosel Musikfestivals.

HOCHKLASSIGES FIXENSEMBLE ARNE BEEKER ist Dramaturg und Produktionsleiter Musical am ­ Landestheater Linz. Linz ist eines der wenigen Theaterhäuser, die über eine eigene Musicalsparte verfügen.

In Linz ist 2013 ganz ohne großes ­Aufhebens ein späktakulärer Theaterneubau für Oper, Musical und Tanz entstanden.

Ein Festivalprogramm braucht „andere“ Konzerte beziehungsweise Konzertformate als das, „was man so kennt“. Hier geht es um ein Gesamterlebnis Kultur! Es gilt, einen Mix zu kreieren, aus Klassik, Traditionellem, Weltmusik und Neuer Musik! Dies alles in außergewöhnlichen, architektonischen, geschichtsträchtigen und erlebnisorientierten Konzertorten und Gebäuden. Eine Verbindung zwischen einem musikalischen Erlebnis, einem möglichst begleitenden kulinarischen Angebot und vor allem Zeit und Raum für die Begegnung zwischen den Konzertbesuchern und Künstlern, vor und nach den Konzerten zu schaffen. Unter dieser Prämisse habe ich einige Formate entwickelt wie: „Bach am Bach“, „Nachts in der Basilika“, „Bach im Liegestuhl“, die „SneakPreview“, bei der man vorher nicht weiß, wer was spielt, „Orgelwanderungen“ und die Reihe der „Weinklang-Konzerte“ auf renommierten Weingütern entlang der gesamten Mosel.

Das Musical als Genre ernst zu nehmen und seine Vielfalt zu zeigen, war und ist das Ziel in Linz. Voraussetzung dafür ist ein hochklassiges, flexibles und mit Bedacht zusammengestelltes Fixensemble, die Optimierung technischer Bedingungen wie Sound- und Lichtdesign und die von gegenseitigem Respekt geprägte Zusammenarbeit mit den anderen Sparten und dem Bruckner Orchester. An Ideen für die künftige Fortentwicklung des Musicals in Linz mangelt es nicht. So sind beispielsweise mehrere Uraufführungen in Planung. Mehr von Arne Beeker, auch zum besonderen Theaterbau in Linz, finden Sie auf www.crescendo.de/spielplan

MUTIGE THEATERMACHER ENTWICKELN FORMATE FÜR JUNGES PUBLIKUM Vielfältig sind sie geworden, die Spielpläne im Bereich des zeitgenössischen Musiktheaters für junges Publikum! Vorbei sind die Zeiten, in denen die Theater und Opernhäuser einmal im Jahr eine Kinderoper produzierten, um junges Publikum heranzuführen, zu begeistern und zu zukünftigen Opernbesuchern zu machen. Theaterarbeit mit und für Kinder meint heute mehr: nämlich Begegnungen zu schaffen mit Musik und Theater und darüber Erfahrungsräume für eine Begegnung mit dem Noch-nicht-Gesehenen und Noch-nicht-Gehörten zu ermöglichen. Eine unermüdlich forschende Schar mutiger Theatermacher konnte, unterstützt durch die Inten88

danten, die Politik und weitblickende Sponsoren, seit den letzten 20 Jahren Erfahrungen sammeln, die sich mittlerweile deutlich in den Spielplänen abzeichnen: So finden sich neben werkhaft geschlossenen Produktionen zahlreiche Stückentwicklungen von und mit Kindern, denen meist auch das Forschen nach neuen musikdramatischen Erzähl- und Ausdrucksformen eingeschrieben ist. Beinahe wie ein Motto lässt sich die Spielzeit 2017/18 dabei mit „Fremdheitserfahrung“ überschreiben. Mehr von Christiane Plank-Baldauf zu den Musiktheaterprojekten für junges Publikum in der Spielzeit 2017/18 auf www.crescendo.de/spielplan

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DR. CHRISTIANE PLANK-BALDAUF ist unter anderem Dozentin an der Theaterakademie August Everding in München sowie an der LMU München. Ihr Schwerpunkt ist Musiktheater für Kinder und Jugendliche.


crescendo hat eine eigene facebook-Seite. DrĂźcken Sie und bleiben Sie informiert. www.facebook.com/crescendomagazin


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DER KAMPF DER FREIEN Beim Thema „Spielplan“ denken wir an die großen Institutionen, an Staats- und Stadttheater, vielleicht an große Festivals. Aber wie schlägt sich eigentlich die sogenannte „freie Szene“ durch mit ihren unabhängigen, innovativen, aber stets aufs Neue zu finanzierenden Projekten?

Die Musiktheaterinstallation Winter der freien Theaterszene

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ls Dramaturgin betreue ich freie Musiktheaterproduktionen in München. Neulich hatte ich einen verzweifelten Pressevertreter am Telefon. Er meinte, er könne unmöglich zur kommenden Uraufführung von Cornelia Meliáns Micro Oper kommen: Da fände doch am selben Tag eine Premiere an der Bayerischen Staatsoper statt! Außerdem brächten die Kollegen vom Staats­t heater am Gärtnerplatz zeitgleich ein Musical heraus, das besprochen werden müsse. Ob wir Theatermacherinnen in München denn alle zu deppert wären, unsere Spielpläne untereinander abzustimmen? „Sind wir das wirklich?“ Kühn malte ich mir schon aus, wie ich bei Nikolaus Bachler und Josef E. Köpplinger durchklingeln würde, um über mögliche Premierentermine in den kommenden Spielzeiten zu verhandeln. Sobald wir drei uns einig wären, wären dann im nächsten Schwung die Kammerspiele, das Resi, die Schauburg und das Volkstheater dran oder besser vorher noch die circa 70 anderen „Freien“, die wie wir in München produzieren. Es gibt ja nicht die eine „freie Szene“. Nichts Einheitliches ist an diesem Begriff. Die künstlerischen Profile derer, die unter freien Bedingungen arbeiten, sind so individuell, dass man an das Einrichten eines gemeinsamen Google-Kalenders erst gar nicht zu denken braucht. Die künstlerische Freiheit besteht auch darin, nicht zu wissen, was man in 12, 24 oder 36 Monaten produziert. Dabei wissen in der freien Szene schon viele ziemlich genau, was sie produzieren wollen. Nur sind sie gezwungenermaßen oft sehr lange im Ungewissen darüber, ob sie das auch finanzieren können. 90

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VON K ATRIN DOLLING ER

„Spielplangestaltung“ setzt neben einem künstlerischen Plan noch wesentlich andere Gestaltungsmöglichkeiten voraus. Ganz konkret: Geld für Menschen und Räume. Wem eines davon fehlt, muss Kompromisse eingehen. Gerade in der freien Szene. Einmal im Jahr können Künstlerinnen, Künstler und Gruppen Projektanträge bei der Stadt München einreichen. Eine Jury bestimmt dann drei Monate später, ob die benötigten Mittel bewilligt werden. „Im Grunde macht unseren Spielplan die Theaterjury“, sagt Ute Gröbel aus dem künstlerischen Leitungsteam des HochX. Ihre Spielstätte ist eine „infrastrukturelle Maßnahme“ für die freie Szene der Stadt. Freie Gruppen können hier zu vergleichsweise günstigen Konditionen Räume anmieten und ihre Stücke zeigen. Zehn Prozent der beantragten Projekte werden bewilligt. Und wenn eine der geplanten Produktionen bei der Jurysitzung leer ausgeht? Dann findet etwas anderes statt. Und wenn zwei Projekte zur selben Zeit rauskommen wollen? Schwierig. Das HochX muss die ganze Bandbreite der Szene bedienen. Spielplangestaltung in der freien Szene hat sehr viel mit Flexibilität zu tun. Ein wenig aber auch mit dem Selbstverständnis ihrer Akteurinnen und Akteure, die sich speziell für ein Projekt zusammenfinden. Auslastungszahlen und Einnahmen, die anderswo als kulturpolitische Druckmittel missbraucht werden, sind ihnen erst mal egal. Was zählt, ist die sogenannte „Selbstbeauftragung“, das Projekt und das künstlerische Anliegen dahinter. Das ist per se erst mal: nicht pädagogisch, nicht didaktisch, nicht zweckorientiert. Da­raus kann von Fall zu Fall tatsächlich ein Freiraum entstehen. ■ www.crescendo.de

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WOHER KOMMT EIGENTLICH … … das Libretto zur Oper Hänsel und Gretel? VON STEFAN SELL

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evor ihm der große Wurf gelang, eine „unendliche Melodie“ zu schaffen war es eine harte Zeit für Engelund schließlich aus dem „Abendsegen“ bert. In einem Brief an seinen gar ein Leitmotiv zu kreieren. Den Text Jugendfreund Hermann Wette, zum „Abendsegen“ hatte Adelheid in den Mann seiner Schwester, fragte er „Des Knaben Wunderhorn“ gefunden. sich 1884: „Lebe ich noch? Ja, ich lebe, „Abends wenn ich schlafen geh“ hieß aber wieder einen Tag näher der Auflödas alte Volkslied, und Humperdinck sung – das klingt besser.“ Eine Woche versah es, bewusst oder unbewusst, später klagt er: „Was soll schließlich aus mit einem kleinen, feinen Anklang an mir werden?“ Luthers Weihnachtslied „Vom Himmel Als zweiter Kapellmeister am Stadthoch, da komm ich her“. Weitere Lieder theater Köln entließ man ihn gleich nach fanden Eingang, bis hin zu „Brüderchen, dem Probemonat „wegen allzu großer komm tanz mit mir“, das ein eigenes Gewissenhaftigkeit und zeitraubender Volkslied, ganz im Stile der verwendeten Gründlichkeit“. 1885 wurde er musikaLieder, wurde. lischer Gesellschafter bei Alfred Krupp. Adelheid Wette machte sich weiDas hieß: viel Geld, wenig Erfüllung. Aus ter Schritt für Schritt an den Stoff. Die Barcelona kam der Ruf, am KonservatoMärchenvorlage fand sich 1847 in Bechrium zu unterrichten, allerdings in Italiesteins „Deutschem Märchenbuch“, zuvor nisch, einer Sprache, die er nicht konnte, aber 1812 schon als Nummer 15 in den und, wie sich bald herausstellte, die Stu„Kinder- und Hausmärchen“ der BrüDas Märchen von Hänsel und Gretel kennt denten ebenso wenig. Sein Wissen über der Grimm. Schon im 17. Jahrhunwörtlich jedes Kind die Kunst der Fuge und das Wesen einer dert erzählte der Franzose Perrault von Beethoven-Sinfonie stieß dort auf kein großes Interesse, zudem Eltern, die gleich all ihre sieben Kinder in den Wald schickten, aus führten Streitigkeiten mit der Hochschule nur noch zu einem einzi- lauter Sorge, sie nicht mehr ernähren zu können, und bei dem Neagen Wunsch: „Jeden Morgen, wenn ich erwache, tritt der Versucher politaner Giambattista Basile sind es ein Jahrhundert früher Ninan mich heran: ,Pack ein, brenn’ durch, brich’ Kontrakt.‘“ So reiste nillo und Nennella, die hungernd im Wald herumirren. Die Vorläuer ein halbes Jahr später wieder ab. fer der mündlichen Überlieferung sind unzählig. 1890 schickte Humperdincks Schwester, die Schriftstellerin So war zwar nicht erstaunlich, dass auch Adelheid Wette einiAdelheid Wette, ihm ein paar Texte zur Vertonung, eine erste Vor- ges änderte. Aber auch ihr Mann brachte seine Ideen ein, ebenso lage für Hänsel und Gretel: „Hilf, hilf bitte, und mach mir etwas wie Vater Gustav Humperdinck, ehemaliger Schuldirektor, und alsrecht Hübsches, Volkstümliches! Es ist dies mein wohlgelungens- bald Humperdincks baldige Frau Hedwig Taxer. Sie alle schrieben tes Werkchen und so recht mein Lieblingskindchen. Zweistim- mit und Humperdinck nannte das so entstandene Libretto scherzmig. Aber es darf nicht zu hoch sein …“ Nach zwei Stunden hatte haft das „Familienübel“, denn mit ihm waren sie unversehens eine er alles in Musik gesetzt. „Fast mit wendender Post, sende ich Dir Fünferbande geworden, die am Gelingen des außergewöhnlichen die gewünschte Musik und hoffe, dass sie Dir ebenso gefällt wie mir Werkes feilten. Deine Verse.“ Trotz aller Anregungen aus dem Märchenstoff, der Musik Seine Schwester ließ mit ihrem Mann, ebenfalls einem Schrift- Wagners und der Verwendung der Volkslieder – Humperdinck steller, das Werk im kleinsten Familienkreis aufführen. Die Reso- war etwas bis dahin Unerhörtes gelungen. Richard Strauss, der die nanz war so groß, dass sie Humperdinck ermutigten, mehr aus dem Uraufführung am 23. Dezember 1893 in Weimar leitete, schwärmte: zu machen, was er witzelnd „Kinderstubenweihespiel“ genannt „Welch herzerfrischender Humor, welch köstlich naive Melodik, hatte. Es begann die Arbeit an einem Singspiel. Das hätte gehei- welch Kunst und Freiheit in der Behandlung des Orchesters, welche ßen, Musik und gesprochener Text würden im Wechsel vorzutragen Vollendung in der Gestaltung des Ganzen, welch blühende Erfinsein. Jedoch nach seiner intensiven Zusammenarbeit mit Wagner dung, welch prachtvolle Polyfonie – und alles originell, neu!“ ■ hatte er den Wunsch, das Werk durchzukomponieren, ja, ebenfalls 91


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(BR-Klassik)


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John Axelrods Weinkolumne

SUPERNATIONAL

ZE I C H N U N G : S TE FA N S TE IT Z

Weine wie Komponisten werden gerne nach Regionen klassifiziert. Das ist Schwachsinn, findet unser Kolumnist und hat die Kosmopoliten unter den Rebensäften und Tonkünstlern für uns aufgespürt. Die Sommersonne hört auf zu glühen, der Herbst ist da, und die Weintrauben wollen gepflückt werden! Mit dem Wechsel der Jahreszeiten von Sommer zu Herbst wechseln auch die Spielpläne. Zwischen dem Programm eines Orchesters oder Opernhauses und den Weinen, die ein Winzer auswählt, gibt es Parallelen: Damit Publikum und Musiker davon profitieren können, muss man als Programmplaner die Werke und die Charakteristika der Komponisten verstehen, genau so, wie man als Winzer die Charakteristika der Trauben und der aus ihnen resultierenden Weine verstehen sollte. In Europa wird Wein in erster Linie aufgrund seiner geografischen Lage klassifiziert – genauso wie Komponisten. Kulturelle Identität wird oft mit dem Namen eines Komponisten in Verbindung gebracht. So ist musikalische Bildung in Deutschland nicht ohne die drei großen „B“ – Bach, Beethoven und Brahms – denkbar. Ravel wird im Rahmen einer „Französischen Musiknacht“ gegeben – mit französischen Dirigenten. Tschaikowsky und Rachmaninow bilden den Kern eines russischen Programms mit russischen Solisten. Als Amerikaner werde ich ebenfalls kategorisiert und viel häufiger dazu eingeladen, Bernstein und Gershwin zu dirigieren als andere Komponisten. Aber genauso wenig, wie Künstler auf ihre Nationalität redu-

ziert, sollten Weine nur nach ihrer Region berühmte Rossini schrieb stark an den klasvoneinander abgegrenzt werden. Bordeaux sischen Stil Mozarts angelehnt, weshalb er wird heute von Kalifornien bis Chile ange- oft „der italienische Mozart“ oder „Il Tedesbaut. Viele Künstler sind nicht auf das chino“, also „der kleine Deutsche“ genannt Repertoire ihres Landes begrenzt: Russen wurde. Rossini war ein Italiener, der in können genauso gut Bach spielen wie Ame- Bologna aufwuchs, in deutschem Stil komrikaner Brahms. Wir sollten das ganze ponierte und inoffizieller LebensmittelkritiRepertoire kennen – nicht nur das, was sich ker in Frankreich wurde. In seinen frühen aufgrund unserer Herkunft in unserer DNA komischen Opern wie dem Barbier von befindet! Leider sind Orchester immer wie- Sevilla kann man den Lambrusco sprudeln der versucht, ihre Programmplanung nach hören. In seinen Tragödien wie La Donna solchen Kriterien, darüber del Lago klingt die Intenhinaus noch nach sität des Sangiovese, und Geschlecht oder Jugendin Guillaume Tell ist die WIR SOLLTEN DAS wahn zusammenzustellen, innere Größe des CaberGANZE REPERTOIRE weil sich das nach außen net zu hören. gut verpacken und verRossini war ein KENNEN, NICHT kaufen lässt. ProKomponist ohne GrenNUR DAS, WAS SICH zen, ein Supermann, der grammplanung sollte aber auf Qualität und in Bezug auf Wein am IN UNSERER DNA nicht auf Nationalität, besten mit einem sogeBEFINDET! Alter oder Geschlecht nannten „Supertoskaner“ beruhen! In unserer verglichen werden kann: globalisierten, Darin mischen sich auf gleichberechtigten Gesellschaft unvergleichliche Art Trauben aus Italien, sind Orchester genauso eine nämlich Sangiovese, mit solchen aus Mischung von Nationalitäten wie Frankreich, nämlich Cabernet Sauvignon Weine eine Mischung von Trauben. und Cabernet Franc. Die Preise dafür könDie Region ist unwichtig. Qualität nen astronomisch sein. Aber wenn Sie ist das einzige Kriterium! Der ulti- auch nur den preisgünstigsten der Supermative Test ist, wie es klingt, bezie- toskaner probieren, den Antinori Tignahungsweise wie es schmeckt! nello, dessen Geschmack auf Ihrer Zunge Ich habe einen Wein und tanzt wie Rosinas Arie Una voce poco fa, einen Komponisten gefunden, die werden Sie durch Wein wie durch Melodie beide nicht kategorisiert werden einfach nur beglückt sein! ■ können: Der für seine Opern

John Axelrod ist Generalmusikdirektor und Geschäftsführer des Real Orquesta Sinfónica de Sevilla und erster Gastdirigent des Orchestra Sinfonica di Milano „Giuseppe Verdi“. Nebenbei schreibt er Bücher und sorgt sich um das Wohl des crescendo-Lesergaumens. Seit Kurzem hat er einen neuen englischsprachigen Blog zum Thema Wein und Musik begonnen: www.IamBacchus.com. Den Wein „Antinori Tignanello“ können Sie im Wein-Versandhandel bestellen oder direkt unter: www.antinori.it. 93


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1) Im Kaiserdom 2) Die Bamberger Symphoniker 3) „Klein-Venedig“ 4) Abendlicher Blick über Bamberg 5) Bamberger Reiter 6) Im Herzen der Braukultur 7) Kaisersaal der Neuen Residenz 8) Um Bamberg: Schloss Weißenstein in Pommersfelden 9) Lorscher Arzneibuch

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„DAS IST EINFACH WUNDERSCHÖN!“

Bamberg Bier, Kunst und Idylle! In den Probenpausen lauscht Jakub Hrůša, Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, auch gerne mal dem Entenschnattern an der Regnitz. Uns führt er durch das urige „Klein-Venedig“ Frankens. VON DOROTHEA WALCHSHÄUSL

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er den großen Reiz der kleinen Stadt gerade im einzigartigen Miteinander aus familiärer Bamberg erleben möchte, beginnt Überschaubarkeit und Kunst und Kultur von Weltrang. seinen Spaziergang am besten im Sind die Bamberger Symphoniker auf Tournee, präpochenden Herzen der Altstadt und sentieren sie mal in Asien, mal in Amerika, mal in verweilt auf der Brücke zum Alten Rathaus. Unter Europa Musik auf Spitzenniveau. Sind sie zu Hause, einem rauscht die Regnitz, Kanufahrer ziehen ihre fahren sie mit dem Fahrrad zur Arbeit und lauschen Jakub Hrůša, Bahnen, am Berg thront der Dom und in verwinkelin den Probenpausen am Ufer der Regnitz dem Chefdirigent der ten Gässchen treffen sich Studenten und Einheimi- Bamberger Symphoniker Schnattern der Enten. sche zum Kaffee, während am Grünen Markt lautZwischen Jakub Hrůša und den Symphonikern stark frisches Gemüse aus der Region angepriesen wird. Geht man war es eine Liebe auf den ersten Ton. „Es hat von Beginn an funktiein paar Meter weiter entlang des Flusses, öffnet sich die bunte oniert“, sagt Hrůša, und die Orchestermitglieder seien sehr reflekKulisse alter Fischerhäuser, die sich im Wasser spiegeln. „Klein- tiert, sehr ernsthaft und diszipliniert, wenn es um das Erreichen des Venedig“ heißt das Ambiente im Volksmund, ein Geschenk für bestmöglichen Ergebnisses ginge. Spricht Hrůša über den besondejeden Hobbymaler. ren Klang dieses außergewöhnlichen Ensembles, gerät er schnell ins „Das ist einfach wunderschön, oder?“, sagt Jakub Hrůša an Schwärmen. „Weich, warm und reich, voller Farben in den Geigen einem Tag Ende April, bleibt andächtig stehen und breitet die Arme und von einer großen Einheit in den Bläsern“ sei der Zusammenaus. Seit Herbst 2016 ist der Tscheche der neue Chefdirigent der klang der Symphoniker. „Das Orchester spielt hochsensibel und Bamberger Symphoniker und längst hat er in dem fränkischen Idyll intelligent, ist stolz auf seine lange Tradition und gleichzeitig sehr eine zweite Heimat gefunden. Ob es das genussvolle Savoir-vivre ist, offen, auch immer wieder etwas Neues auszuprobieren“, so Hrůša. die Brauereitradition oder die hohe Wertschätzung der kulturellen Seit ihrer Gründung 1946 sind die Symphoniker in Bamberg Tradition – „es gibt hier viele Ähnlichkeiten, was die Kultur und die beheimatet und tragen wesentlich dazu bei, dass die kleine Stadt Lebensart anbelangt“, so Hrůša. unweit der fränkischen Schweiz mit ihren malerischen StraßenzüVom Trubel der Altstadt sind es nur ein paar Minuten bis zur gen und lauschigen Plätzen zugleich ein pulsierendes Zentrum der Heimat der Symphoniker. Direkt am Fluss gelegen prangt mit run- klassischen Hochkultur ist. Bamberg, das auf sieben Hügeln erbaut dem gläsernen Vorbau die Konzerthalle, in deren akustisch gelun- wurde und deshalb auch manchmal als „fränkisches Rom“ bezeichnet genen Joseph-Keilberth-Saal regelmäßig erstklassige Konzerte statt- wird, geizt dabei wahrlich nicht mit seinen Reizen und zieht Kulturfinden. Während international anerkannte A-Orchester zumeist in fans, Freunde schmackhaft bodenständiger Küche und Naturliebhaweitläufigen Großstädten zu Hause sind, liegt der Reiz in Bamberg ber gleichermaßen in seinen Bann. Nicht ohne Grund wurde die im 95


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Krieg kaum zerstörte Altstadt 1993 in die UNESCO-Welterbe-Liste „Leidenschaft“ lautet und packende Werke aus vier Jahrhunderten aufgenommen: Eindrucksvolle Gebäude erzählen von barocker und auf dem Programm stehen. Seine eigene Passion hat der sensible mittelalterlicher Baukunst, unzählige Sehenswürdigkeiten liegen Künstler mit dem konzentrierten Blick schon früh für sich entdeckt, nur wenige Minuten fußläufig voneinander entfernt. und das Dirigieren vergleicht er mit einem geheimnisvollen Tanz, Jakub Hrůša hat die fränkische Kleinstadt nach und nach zwi- einer bestimmten Choreografie. „Als Dirigent arbeitet man mit der schen den Probenphasen für sich entdeckt Energie der Musik. Es geht um Sprache, um und auf zahlreichen Spaziergängen in sein Gestik, um Gedanken und Gefühle, und im Herz geschlossen. Nun läuft der 36-jährige besten Falle bleibt immer noch etwas sehr Dirigent mit schnellen Schritten durch die Spielerisches bei aller Perfektion.“ Dieses Spiel Fußgängerzone. In einem Gummibärchenmit den Kräften hat sich für ihn immer „absoLaden kauft er ein paar süße Mitbringsel für lut richtig“ angefühlt. „Es war ein geradliniger seine Familie, dann geht es weiter ins RestauWeg, der bis heute andauert“, stellt Hrůša fest rant Eckerts, das gleich einem Boot vor Anker – geführt hat er ihn nun in jenes zauberhafte direkt im Wasser zu liegen scheint. Hrůša Kleinod in Oberfranken. Hier findet er Ruhe, nippt am Latte macchiato, bestellt einen EisKonzentration und Schönheit, und von hier becher mit Früchten und blickt nachdenklich aus trägt er mit seinem Orchester die Kunst auf das rauschende Wasser der Regnitz. Dann hinaus in die Welt. sagt er: „Als Dirigent hat man eine große „Ich fühle mich hier sehr zu Hause“, sagt Macht, um die Musik zu gestalten, man kann Hrůša, nimmt einen letzten Schluck Kaffee aber auch viel zerstören. Daraus resultiert eine und taucht wieder hinein in das quirlige Leben immense Verantwortung.“ Hrůša ist sich dieder Altstadt. Vorbei am alteingesessenen Gastser bewusst und agiert am Dirigentenpult als haus Schlenkerla, aus dem es nach Rauchbier E. T. A.-Hoffmann-Skulptur am feinsinniger und fokussierter Gestalter, der und Bratwürsten duftet, vorüber an gemütligleichnamigen Platz weniger Chef der Orchestermitglieder, denn chen Straßencafés und urigen Kneipen, zurück Musikerkollege und freundschaftlicher Partner ist. „Ich glaube, es an den Fluss, auf dem die Schwäne der imposanten Konzerthalle geht im Leben darum, so aktiv wie möglich zu leben, intensiv zu entgegentreiben. „Das ist wunderschön, oder?“, fragt Hrůša und fühlen, sich zu spüren, Beziehungen zu leben, sich zu berühren und grinst. „Einfach wunderschön.“ aktiv zu gestalten“, sagt Hrůša und lächelt. Da verwundert es kaum, Dann folgt er den Schwänen und macht sich auf den Weg zur dass das Motto der Saison 2017/18 der Bamberger Symphoniker Arbeit. ■

Tipps, Infos & Adressen

Musik & Kunst

Essen & Trinken

Übernachten

Musikalisches Aushängeschild der fränkischen Kleinstadt sind die Bamberger Symphoniker, die in der Konzerthalle direkt an der Regnitz gelegen bei bester Akustik ein reiches Konzert­ programm präsentieren. Weitere lohnenswerte Kulturstätten sind unter anderem das E. T. A.Hoffmann-Theater sowie eine Vielzahl von Museen, die interessante Einblicke in die Stadt­ geschichte und spannende künstlerische Perspektivenwechsel garantieren.

Bamberg ist eine Hochburg der Brauereikultur, und so finden sich zahlreiche gemütliche Wirtshausstuben, in denen verschiedenste Biersorten sowie Leckerbissen der bodenständig fränkischen Küche genossen werden können. Ein Klassiker ist das Schlenkerla, lohnenswert ist auch ein Besuch im Hofbräu. Leckere Flammkuchen und einen einzigartigen Blick auf den Fluss gibt es im Restaurant Eckerts direkt über der Regnitz gelegen; nach einem Konzert empfiehlt sich eine Einkehr im Restaurant Franceso am Michaelsberg, in dem auch Jakub Hrůša regelmäßig zu Gast ist.

Eine Vielzahl von Hotels, Frühstückspensionen und Ferienwohnungen bietet in Bamberg etwas für jeden Geschmack. Ideal für einen Kultururlaub eignet sich das nur fünf Minuten von der Konzerthalle entfernte Welcome Residenzschloss Hotel an, von dem aus ein idyllischer Fußweg am Fluss entlang in die Altstadt führt. Zimmer mit Aussicht im Herzen der Altstadt gibt es im Hotel Nepomuk; zahlreiche weitere Unterkünfte findet man über die Touristeninformation Bamberg.

Weitere Informationen unter: www.bamberger-symphoniker.de www.theater.bamberg.de www.museum.bamberg.de

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www.welcome-hotels.com www.hotel-nepomuk.de

www.schlenkerla.de, www.das-eckerts.de www.hofbraeu-bamberg.de www.francesco-bamberg.de www.crescendo.de

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F OTO S : B A M B E RG TO U R I S M U S & KO N G R ES S S E RV I C E

Reiseinformationen rund um einen Besuch in Bamberg.


HOTELTIPP

Termine

FÜR GLOBETROTTER Ab ins Baltikum! Vilnius

Parkhotel Zum Engel Vier-Sterne-Oase zwischen Österreich und Italien

F OTO: PA R K H OTE L Z U M E N G E L

Im Opernhaus der Hauptstadt Litauens, einer Perle des Barock und bekannt für ihr rebellisches Künstlerviertel, ist am 20.9. und 17.11. Čiurlionis, ein Ballett über den gleichnamigen Malerkomponisten und größten Künstler des Landes, zu sehen. Im westlich von Vilnius gelegenen Kaunas findet vom 5. bis 8.10. ein internationales Tanzfestival statt. Infos unter www.opera.lt, www.ciurlionis.lt, www.aura.lt

Tartu Im schief stehenden Kunstmuseum von Tartu, der geistigen Hauptstadt Estlands, ist ab 29.9. Museum Choreography zu sehen. Gezeigt wird das Museum als Ort, den Menschen mit ihrer Gegenwart, ihrem kulturellen Hintergrund und ihrem Verhalten schaffen. Zu den mitwirkenden Choreografen zählen die estnischen Performance-Künstlerinnen kadrinoormets und Maarja Tõnisson sowie Maria Hassabi und William Forsythe. Infos unter www.tartmus.ee

Riga Im Opernhaus der Hauptstadt Lettlands mit ihrem europaweit größten Ensemble an Jugendstilbauten hat am 28.9. Zigmars Liepiņš’ Oper Die Rose von Turaida Premiere. Sie erzählt die tragische Legende des Mädchens Maija Roze, deren symbolisches Grab am Fuß der mittelalterlichen Burg Turaida in Sigulda bis heute das Ziel verliebter Paare ist. Am 5.10. beginnt ein landesweites Kammermusikfestival, u. a. mit Baiba und Lauma Skride in ihrer Geburtsstadt, und im November ein vom Komponisten Pēteris Vasks initiiertes Festival für zeitgenössische Musik. Infos unter www.opera.lv, www.kamermuzika.lv, www.arenafest.lv

Sterzing kennen viele Menschen nur als Mautstelle der Brennerautobahn. Setzen Sie die Scheuklappen ab und erkunden Sie den besonderen Alpenzauber der mittelalterlichen Fuggerstadt. Danach kann im Parkhotel Engel residiert werden: Besitzerin Fini Schafer verwandelte den einstigen Bauernhof in ein individuell geführtes Vier-Sterne-Hotel in idyllisch grüner Oase. Mit zwölf neuen, luxuriösen Fugger-Suiten und dem hochwertigen, liebevoll gestalteten Wellnessbereich ist das Engel in Sterzing das erste Haus am Platz. Information und Reservierung unter www.zum-engel.it, Tel: +39-0472-76 51 32

LE NOZZE NOZZE DI DI LE

FIGARO


H O P E

T R I F F T

Die Daniel-Hope-Kolumne

AGILITÄT UND NUGGI-KONZERT

Daniel Hope: Grüezi, Michael! Die Schweiz hat Deutschland in einer aktuellen Umfrage als weltbestes Land abgelöst. Es gibt 1.142 Museen, 13 Profiorchester, und 27 Berufstheater. Gibt es einen KulturBoom unter den Eidgenossen? Michael Bühler: Ich weiß nicht, ob man von einem Boom sprechen kann, aber in der Stadt und dem Kanton Zürich hat man bereits vor einigen Jahren erkannt, dass hohe Lebensqualität auch von einem attraktiven Freizeit- und Kultur-Angebot abhängt. Und die Rechnung, dass auch die Regierung hinter einem starken Kulturangebot steht, geht tatsächlich auf. Mit Beginn der Saison 2008/09 bist Du Direktor des Zürcher Kammerorchesters (ZKO). Das Orchester erlebt einen unglaublichen Aufschwung, dabei kämpfen viele Kammerorchester um ihre Existenz. Wie siehst Du die Zukunft für Kammerorchester? Ich bin überzeugt, dass Kammerorchester gegenüber großen Sinfonieorchestern entscheidenden Vorteile besitzen, die ich seit meinem Amtsantritt umzusetzen versuchte, um im Strudel der starken Konkurrenz und des rasanten Wandels in der Klassik-Indus-trie zu überleben. Damit meine ich zum Beispiel die Möglichkeit, auf Grund der geringen Betriebsgröße rasch und flexibel auf Veränderungen im Markt, also die Erwartungen des Publikums, reagieren zu können. Beim Erfolg des ZKO steht primär die künstlerische Entwicklung der letzten Jahre im Zentrum. Es hat sich aber auch gezeigt, dass der Wandel eines anonymen Klangkörpers zu einem 82

Daniel Hope mit Michael Bühler, Direktor des Zürcher Kammerorchesters

sympathischen, nahbaren Ensemble den Brückenschlag zum Publikum erleichterte und damit eine entspannte Konzertatmosphäre entstand, in welcher sich Publikum und Künstler gleichsam wohl fühlen, was bei klassischen Konzerten leider nach wie vor nicht selbstverständlich ist. Das ZKO ist seit Jahren federführend in seinen Konzerten für Kinder, genannt „Nuggi-, Krabbel- und Purzelkonzerte“. Wie bist Du auf diese Idee gekommen ? Wie viele Intendanten setzte ich mich intensiv mit der Frage auseinander, wie wir ein breiteres und jüngeres Publikum gewinnen könnten. Als dann einige junge Eltern zu mir kamen und mit Bedauern mitteilten, dass sie nicht mehr zu unseren Konzerten kommen können, da sie gerade Nachwuchs bekommen hätten, wusste ich, dass wir reagieren müssen. Aus zwei im Nu ausverkauften Pilot-Nuggi-Konzerten für junge Familien mit Babys zwischen 0 und 1, nahm das Angebot jährlich zu, sodass wir heute fast 40 Konzerte für Familien mit Kindern bis 7 Jahren anbieten, die alle

meist bis auf den letzten Platz ausverkauft sind. Früher glaubte man, dass Menschen mit zunehmendem Alter irgendwann wie von Geisterhand gesteuert auf die Idee kommen, zu einem klassischen Konzert zu gehen. Heute weiß man, dass man viel eher zu seinen musikalischen Wurzeln zurückkehrt. Es ist also elementar, dass wir junge Leute zu klassischer Musik führen – und zwar so früh wie möglich –, um zumindest die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass sie mit zunehmendem Alter zurückkommen. Zürich durchlebt eine interessante Zeit. Die Tonhalle wird renoviert, ein neuer Saal wird bald eröffnet. Wie sehen die Herausforderungen für die Stadt in den nächsten Jahren aus? Leider fehlten der Stadt Zürich gute Alternativen zum weltberühmten TonhalleSaal, sodass in kurzer Zeit ein Provisorium in einem anderen Stadtviertel gebaut werden musste. Die große Herausforderung besteht nun darin, das bestehende Publikum von diesem Ortswechsel zu überzeugen. Das ZKO hat sich entschieden, einen Teil seiner Konzerte dennoch im Herzen der Stadt zu geben und hat mit der zentralsten Pfauenbühne des Schauspielhauses eine sehr attraktive Alternative gefunden, die uns sowohl von der Lage, den akustischen Gegebenheiten, als auch von der Tatsache, dass sich Orchester und Publikum hier sogar noch direkter begegnen können, überzeugt hat. Ich bin glücklich und dankbar, dass uns die Direktion des Schauspielhauses in dieser Notsituation vorübergehend ein musikalisches Zuhause angeboten hat. n www.crescendo.de

Juni – Juli – Augus t 2017

F OTO: TH O M A S E N T ZE ROTH

Flexibilität, Wohlfühlatmosphäre und Konzerte für die Allerkleinsten. Michael Bühler, Direktor des Zürcher Kammerorchesters, verrät das Erfolgsrezept seines Klangkörpers.



A N N A N E T R E B KO & Y U S I F E Y VA Z O V

Die schönste Sache auf Erden ist zu lieben und geliebt zu werden DAS NEUE ALBUM „ROMANZA“ AB 01.09.

#RO M A N Z A M U S I C

MEHR INFOS UNTER: W W W. A N N A N E T R E B K O . C O M

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