Class aktuell 2 15

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CLASS : aktuell Association of Classical Independents in Germany

„Memories“ Kirill Troussov und Alexandra Troussova

Views from Ararat Armenische und türkische Klassik | Gipfeltreffen der Königinnen! Christoph Schoener registriert Bachs Orgel-Toccaten mit allen vier Orgeln von St. Michaelis Hamburg |

30 Jahre Philharmonia Quartett Berlin Ein besonderes Jubiläum | Musik von

W.A. Mozart & Antonio Salieri Sen Guo, Kenneth Tarver und das Musikkollegium Winterthur


AR ABELL A STEINBACHER Violinkonzerte von Mendelssohn und Tschaikowsky S UE NE BUM L A

„ … so zart und rein, und trotzdem so ausdrucksstark, dass man fast den Atem anhalten möchte, um nur ja keine Nuance zu verpassen.“ kulturradio.de

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CLASS : aktuell Class: aktuell 2 / 2015 Inhalt 5 Memories Kirill Troussov und Alexandra Troussova 6 Geheime Botschaften Robert Schumanns Myrten op. 25 mit Damrau, Paley und Lademann

Vor einigen Jahren hat man damit begonnen, die Nationalhymne bei großen Sportereignissen von Opernsängern singen zu lassen. Joseph Haydn, dem Komponisten unserer Hymne, hätte so etwas vielleicht auch gefallen. Eines jedoch hätte ihn sehr gewundert: „Was fällt den Preußen ein! Dass die meine Kaisermelodie angreifen! Da möcht’ ich mich doch gleich an meiner Eierspeis’ verkutzen! Infames Pack!“ Dazu muss man wissen: Haydn konnte manchmal etwas gallig werden.

8 Views from Ararat Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan spielen armenische und türkische Klassik

Nationale Wirren

9 Ernst Rudorff – Naturfreund, Philosoph, Genießer entdeckt vom Berolina Ensemble

Haydns Reaktion ist aber verständlich. Immerhin komponierte er seine Melodie 1797 im Auftrag des kaiserlichen Hofs in Wien. Der Lyriker L.L. Haschka hatte den Text geschrieben, den Haydn vertonen sollte: „Gott erhalte Franz, den Kaiser, unsern guten Kaiser Franz!“ Eine Hymne tat damals not, Napoleons Heere bedrohten das Heilige Römische Reich. Doch nicht alle folgenden österreichischen Kaiser trugen den Namen Franz, daher musste der Text später mehrfach geändert werden. Erst 1854 entstand eine namensneutrale Version: „Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land!“ Dass ausgerechnet die Melodie der österreichischen Kaiserhymne zur Melodie der bundesdeutschen Demokratiehymne wurde, gehört zu den besten Treppenwitzen der politischen Geschichte. Beim deutschen Bürgertum war die Kaiserhymne im 19. Jahrhundert nämlich geradezu verhasst. Die demokratische Vormärz-Bewegung sah in ihr das Symbol für Monarchie und Unfreiheit. Der Dichter A.H. Hoffmann von Fallersleben machte sich sogar einen Spaß daraus, den Text dieser Hymne immer wieder zu parodieren – mit Zeilen wie „Gott erhalte den Tyrannen“. Auch sein „Lied der Deutschen“ von 1841 wollte er auf Haydns Kaisermelodie gesungen wissen – eine rebellische Provokation! Als der Kaiser in Wien 1918 abdankte, mochten die Österreicher ihre Haydnhymne nicht mehr haben. Nur die unverbesserlichen Monarchisten sangen sie noch, gemünzt auf den einstigen Kronprinzen, der nun im Exil lebte: „In Verbannung, fern den Landen, weilst Du, Hoffnung Österreichs“. Also schnappte sich Friedrich Ebert, erster Reichspräsident der Weimarer Republik, die verwaiste Hymnenmelodie der Österreicher und erklärte das „Lied der Deutschen“ mit Haydns Kaisermusik zur Nationalhymne der deutschen Demokratie. So, als wäre an dieser Kombination überhaupt nichts irritierend oder provokant. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlangten die Österreicher die Hymne nicht zurück. Die Melodie schien ihnen durch die Nazi-Herrschaft entwertet und international verhasst. Konrad Adenauer kannte solche Skrupel nicht. Die Textstrophe wurde zwar ausgetauscht, aber die Melodie blieb dieselbe. Und die Österreicher? Die haben ja zum Glück neben einem Haydn auch noch einen Mozart. Die österreichische Bundeshymne ist Mozarts Freimaurerkantate entnommen, soll aber gar nicht von Mozart sein. Wussten Sie übrigens, dass die deutsche Nationalhymne bis 1918 genau wie die britische klang?

7 Tausendsassa Nicolaus Bruhns Ingo Duwensee spielt auf der Klapmeyer-Orgel St. Nicolai Altenbruch

10 Antonio Salieris „Les Danaides“ Ein spannendes und mitreißendes Opernerlebnis 11 Farbenreicher Kosmos Vierhändige Klavierwerke Schumanns vom Amsterdamer Piano Duo 12 30 Jahre Philharmonia Quartett Berlin Ein besonderes Jubiläum 13 Gipfeltreffen der Königinnen! Christoph Schoener registriert Bachs Orgel-Toccaten in St. Michaelis Hamburg 14 Klangstark und keine Note zuviel… Ein Gerald-Finzi-Portrait der Kölner Kammersolisten 15 Les Martyrs Eine willkommene Donizetti-Premiere 16 Unerhört – exotisch – farbig Japanische Gitarrenkonzerte gespielt von Masao Tanibe 17 Johann Ritter von Herbecks „Große Messe e-Moll für Chor, Orgel und Orchester“ wiederentdeckt 18 Sängerhochburg Magdeburg Europas beste Laienchöre messen sich 19 W.A. Mozart – Antonio Salieri Habsburgische Operngala mit dem Musikkollegium Winterthur 21 Dreidimensionale Kopf-Hör-er-lebnisse 22 Und immer wieder Sinfonien… Neues von einem unverwüstlichen Genre 27 Im Blickpunkt

Neuheiten vorgestellt von CLASS

Impressum Herausgeber/Verlag:

CLASS e.V. Association of Classical Independents in Germany Bachstraße 35, 32756 Detmold Tel. 05231- 938922 class@class-germany.de Redakteur (v.i.S.d.P): Dr. Rainer Kahleyss Anzeigen: Gabriele Niederreiter Grafische Gestaltung: Ottilie Gaigl Druck: Westermann Druck, Braunschweig Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des Verfassers, nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Einen hymnenarmen, aber sonnenreichen Sommer wünscht Ihnen

Druckauflage: 113.000 1. Quartal 2015 ISSN: 2195-0172

Ihr Hans-Jürgen Schaal

geprüfte Auflage

Titel-Foto: © Marco Borggreve Alle Tonträger dieser Ausgabe finden Sie auch unter www.bielekat.de

AUSGABE 2015/2

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Die Philosophie des Labels Brilliant Classics steht für … ... hochwertige Aufnahmen zu erschwinglichen Preisen, ... Klassik-Vielfalt, Raritäten, Erst- und Referenzaufnahmen, ... umfangreiche Komponisten-Portraits.

Mit den Veröffentlichungen umfangreicher Gesamtwerks-Editionen und -Zyklen verschiedenster Komponisten, hat sich das Label erfolgreich am Musikmarkt etabliert. In nur knapp zwei Jahrzehnten sind die Brilliant Classics Editionen zu einem echten Markenzeichen in der Musikszene geworden.

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CLASS : aktuell

Mit Weitblick, mit Liebe, mit Bravour Das neue Album von Kirill Troussov und Alexandra Troussova

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irill Troussov gehört heute zu den welt­ weit gefragtesten Geigern, und warum das so ist, zeigt sein neues Album mit Werken russischer Komponisten, das er gemeinsam mit seiner Schwester Alexandra Troussova jetzt als sein Debüt bei MDG vor­ gelegt hat: Perfekte Technik – natürlich – dazu eine selten gehörte Eleganz im Spiel und eine Klangfarbenpalette, die ihresgleichen sucht. Der intelligente Künstler blickt dabei weit über das übliche Violinrepertoire hinaus und wagt sich gerne auch an wenig bekannte Werke. So finden sich auf seiner Recital-CD neben Publikumsrennern wie Khatchaturjans „Säbeltanz“ und Rachmaninoffs „Vocalise“ auch die wunderbare „Suite im alten Stil“ von Alfred Schnittke – ebenso wie Prokofievs 2. Sonate – eine liebevolle Hommage an längst vergangene Zeiten. Das Werk entstand 1943 zunächst als

Flötensonate, wurde dann in Zusammenarbeit mit David Oistrach auch für Violine umgearbeitet und gehört in beiden Versionen heute zu den ganz wichtigen Werken des 20. Jahrhunderts. Bruder und Schwester standen schon in Kindertagen auf der Bühne – kein Wunder, dass die beiden sich blind verstehen. Da sitzt jede Geste, da stimmt jedes Detail, und die schein­ bare Mühelosigkeit beim Musizieren erlaubt auch spontane Freiheiten, die der Musik eine ganz neue Dimension verleihen. Troussov spielt eines der bedeutendsten Ins­ trumente überhaupt: Mit der „Brodsky“- Stradivari von 1702 wurde schon Tschaikowskys Violin­ konzert aus der Taufe gehoben – von eben je­ nem Adolf Brodsky, dessen legitimen Erbes sich Troussov als in jeder Hinsicht würdig erweist. Von Tschaikowsky sind die „Meditation“, die eigentlich als Mittelsatz des grandiosen Violin­

„Memories“ Werke für Violine und Klavier von Prokofiev, Schnittke, Shchedrin, Shostakovich, Rachmaninoff, Khachaturian und Tchaikovsky Kirill Troussov, Violine Alexandra Troussova, Klavier MDG 603 1903-2

konzerts gedacht war, und das „Valse-Scherzo“ auf der sehr persönlichen Zusammenstellung zu hören. Hier zeigt sich Troussov ganz in bester russischer Geigentradition: Aberwitzig virtuos, dabei immer mit Esprit und einer Eleganz, die das Zuhören zum reinsten Vergnügen macht. Lisa Eranos

Foto: © Marco Borggreve

„Diese musikalische Zeitreise ist zugleich eine Reise durch unsere persönliche Geschichte“

www.troussov.com

Ausgabe 2015/2

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CLASS : aktuell

Robert Schumann (1810-1856) Myrten op. 25 Diana Damrau, Sopran Iván Paley, Bariton Stephan Matthias Lademann, Klavier Profil Edition Günter Hänssler PH14048

Geheime Botschaften Robert Schumanns Myrten op. 25 mit Diana Damrau, Iván Paley und Stephan Matthias Lademann

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obert Schumanns Kompositionspläne im Jahr 1840 bezogen sich nicht nur auf Klavierstücke oder – wie allgemein angenommen wird – auf Lieder, sondern reichten sogar bis zu einem Opernprojekt, dessen Libretto fast fertig gestellt war. Doch den in seinem Leben als erwachsener Mann vielleicht am meisten herbeigesehnten Moment – den Hochzeitstag, an dem er mit seiner geliebten Braut Clara Wieck nach so viel Leid und schmerzhaften Auseinandersetzungen endlich vereint war – wollte er mit einem Liederzyklus feiern und diesen seiner Angebeteten schenken. Lieder als Perlen – nicht zwölf wie beim Eichendorff-Liederzyklus oder neun wie bei Heines „Liederkreis“, sondern gleich 26 als eine lange Schmuckkette. Diese Lieder sollten ein Spiegel der Beziehung sein, sie sollten die Vergangenheit präsent halten und der Gegenwart Ehre machen, waren aber auch dazu angetan, mit Hoffnung in die Zukunft zu schauen. Ein solches Geschenk muss eine unglaubliche Überraschung für Clara gewesen sein, obwohl sie einige Lieder und Gedichte aus dem Zyklus bereits kannte, da Robert ihr beispielsweise den „Nussbaum“ oder das Gedicht „Suleika“ früheren Briefen beigelegt hatte. Die sieben Dichter, die Schumann für den Zyklus ausgewählt hatte, greifen unterschiedliche Themen auf, die der Komponist in seinem Werk vereint sehen wollte. Die „Myrten“ sind ein Universum von Gefühlen und Situationen, gleichsam ein ABC der Liebe („Du bist wie eine Blume“, „Der Nussbaum“, Aus den östlichen Rosen“, „Widmung“). Sie sind auch ein musikalisches Reisebuch, in welchem viele Länder in ihren verschiedenen Stimmungen gezeichnet werden (z. B. die beiden

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„Venetianischen Lieder“). Es gibt Lieder über die Familie und Kinder – ein Thema, das Schumann unbedingt integrieren wollte („Lied der Braut I und II“), „Hochländisches Wiegenlied“, „Im Westen“). Auch Scherz und Humor sollten in seiner Beziehung zu Clara nicht fehlen („Rätsel“, Lieder aus dem Schenkenbuch im Divan No. 1“). Sogar erotische Aspekte und die zukünftige sexuelle Beziehung fanden ihren Widerhall („Die Lotusblume“), ebenso die religiöse Komponente, die in „Talismane“ und „Zum Schluß“ vertreten ist. Die „Myrten“ repräsentieren Schumanns Persönlichkeit und offenbaren sie deutlicher als jedes andere Werk des Komponisten – die Sorgen und schmerzhaften Erinnerungen an den schweren Kampf um Clara, seine Wünsche für ein harmonisches Leben und seine Visionen eines gemeinsamen Glückes. Kerstin Hänßler

Ebenso bei Profil erschienen: Gustav Mahler (1860-1911) Des Knaben Wunderhorn Diana Damrau, Sopran; Iván Paley, Bariton Stephan Matthias Lademann, Klavier Profil Edition Günter Hänssler PH14018 (2 CDs)

Ausgabe 2015/2


Fotos: © MDG

CLASS : aktuell

Ingo Duwensee Klapmeyer-Orgel St. Nicolai Altenbruch

Alleinunterhalter, Alleskönner, Himmelsstürmer! Nicolaus Bruhns Orgelwerke im fein austarierten Orgelkang

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in wahrer Tausendsassa muss Nicolaus Bruhns gewesen sein: Als Violinvirtuose hat er sich gelegentlich selbst auf dem Orgelpedal begleitet; Überlieferungen zufolge soll er dazu auch noch gesungen haben! Zuzutrauen wäre ihm das durchaus: Seine wenigen überlieferten Orgelwerke, die Ingo Duwensee jetzt an der historischen Orgel in Altenbruch eingespielt hat, zeigen einen originellen Geist mit einer Vorliebe für bizarre Überraschungen. Die außerordent­li­che Qualität seiner Kompositionen wussten auch andere zu schätzen: Kein Geringerer als Johann Sebastian Bach besorgte sich eine Abschrift des großen e-Moll-Präludiums – als herausragendes Beispiel des „Stylus phantasticus“. Und „phantastisch“ ist Bruhns´ Orgelmusik in der Tat: Ein tonales Furioso überwältigt den Zuhörer des großen e-MollPräludiums; Metrum und Tempo wechseln ständig und erzeugen den Eindruck einer aus dem Augenblick inspirierten Improvisation. Dabei ist die Überraschung klug kalkuliert: Symmetrischer Aufbau und mehrere streng fugierte Abschnitte offenbaren eine sorgfältig

durchdachte Komposition fern jeder ausufernden Beliebigkeit. Überraschend auch die Textausdeutung in der Choralfantasie „Nun komm, der Heiden Heiland“:

Nicolaus Bruhns (1665-1697) Sämtliche Orgelwerke Ingo Duwensee, Klapmeyer-Orgel St. Nicolai Altenbruch MDG 906 1878-6 (Hybrid-SACD)

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Bruhns erlaubt sich, das Mysterium der Jungfrauengeburt als Herausforderung an den menschlichen Geist zu vertonen. Zweifelnd tastet sich der Satz um die Zeile „der Jungfrauen Kind erkannt“ – bis sich am Ende dann doch die Glaubensgewissheit durchsetzt. Wie aus dem Himmel meint man ein Engelskonzert zu hören – nicht zuletzt dank der dreidimensionalen Wiedergabe der perfekt balancierten Super Audio CD. Den wenigen überlieferten Orgelwerken aus Nicolaus Bruhns´ Feder stellt Ingo Duwensee einige Stücke aus dessen Husumer Umfeld zur Seite. Damit präsentiert er die nach wechselvoller Geschichte erst vor wenigen Jahren liebevoll res­ taurierte Altenbrucher Orgel von ihrer schönsten Seite. Ebenso wie Bruhns´ Husumer Instrument stammen wesentliche Teile aus der Werkstatt Fritzsche – eine Idealbesetzung! Die als Bonus dieser im fein austarierten 2+2+2 Raumklang produzierten SACD angefügte Register­ vorführung gibt erhellende Ein­ blicke in die klanglichen Geheimnisse großer barocker Or­ gelkunst. Spannend. Klaus Friedrich


Fotos: © Christine Schneider

CLASS : aktuell

Views from Ararat Meisterwerke großer Komponisten aus Armenien und der Türkei Rebekka Hartmann, Violine Margarita Oganesjan, Klavier FARAO classics Best.-Nr. B 108086 (2 CDs in Brillantbox)

Views from Ararat nennen Margarita Oganesjan (Klavier) und die ECHO-KlassikPreisträgerin Rebekka Hartmann (Violine) ihre neue CD.

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it Werken von Babadschanjan, Baghdassarian und Saygun stellen sie armenische und türkische klassische Musik nebeneinander. Margarita Oganesjan: „In diesem Jahr erinnern wir an den 100. Jahrestag des Genozids. Unsere CD verstehen wir als ein Zeichen, welches über das Verhältnis der beiden Völker hinaus weisen soll“. Virginia Tutila sprach mit den beiden Musikerinnen über ihre erste gemeinsame Einspielung.

Dass Sie als Armenierin die großen Komponisten Ihrer Heimat präsentieren, ist selbstverständlich. Wie sind Sie auf die Verbindung mit klassischer türkischer Musik gekommen?

M.O.: Für mich war es ein Kindheitstraum, einmal auf dem Berg Ararat zu stehen und in beide Richtungen – Türkei und Armenien – zu blicken. Und weil ich mir diesen Wunsch nicht erfüllen konnte, wollte ich das musi­kalisch realisieren. Ich bin mit den schmerzlichen Aspekten der Vergangenheit meines Volkes aufgewachsen und stand stets vorsichtig der türkischen Kultur gegenüber. Aber schon der erste Kontakt mit der Musik Sayguns hat mich tief berührt. Sie haben osteuropäische Wurzeln in Kroatien, sind aber Münchnerin. Wie haben Sie den Zugang zu den Werken der hier vorgestellten Komponisten gefunden?

R.H.: Als Margarita mir die Werke präsentierte war es um mich geschehen und ich konnte mich sofort damit identifizieren! Die Rhythmik, die Melodik und die Harmonik sind mir sehr vertraut, gerade aufgrund meiner bosnisch-serbischen Wurzeln! Was sind die Gemeinsamkeiten der hier eingespielten Werke?

M.O.: Eine große Gemeinsamkeit findet sich in einer raffinierten Polyrhythmik. Die unsymmetrischen Strukturen ungerader Rhythmen wirken auf uns wie kleine Energieschübe. Man kann sich in einem 5/4 oder 7/16 Takt nie ausruhen. Dazu kommt eine Harmonik und Melodik, die sich jederzeit unverhohlen ihrer folkloristischen Herkunft bedient und daraus Leidenschaft, Melancholie und Sehnsucht schöpft. Die hier vorgestellten Werke beruhen hauptsächlich auf modalem Material und traditioneller Musik. Welche Besonderheiten sind Ihnen in der Interpretation der Stücke begegnet?

R.H.: Die technischen und musikalischen Anforderungen dieser osteuropäischen Musik unterscheiden sich nicht grundlegend von denjenigen der westeuropäischen Musik. Aber es gibt Besonderheiten: Die zweiten Sätze der Suite und der Sonate von Ahmed Adnan Saygun, welche auf dem Aksak-Rhythmus, auch genannt „hinkender Rhythmus“, basieren, stellen durchaus eine rhythmische Herausforderung dar. Faszinierend ist Sayguns Anwendung folkloristischer Stilmittel in seinen Werken. Da ist zum Beispiel der „Zeybek“, ein alter, sehr langsamer Volkstanz, der nur von Männern getanzt wird. In den ersten Sätzen der beiden

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türkischen Werke erinnern manche Klänge an die Gesänge der Muezzins. Bei den armenischen Werken ist die abwechselnde Metrik ein spezielles Merkmal. Die Melodik ist teilweise orientalisch, sehr getragen und elegisch. Sie haben schon öfters das Programm der CD aufgeführt. Wie ist die Reaktion des Publikums?

M.O.: Wir haben bisher in vielen Konzerten Schwerpunkte mit der Gegenüberstellung armenischer und türkischer Komponisten gesetzt und das Publikum hat das begeistert aufgenommen. Manche Veranstalter wünschen einen kompletten Abend mit „Views from Ararat“, der politischen Aktualität der 100­jäh­rigen Gedenkfeier wegen. Ich kann wirklich jedem empfehlen, diese Meister vom Kaliber eines Bartók, Schostakowitsch, Prokofjew für sich zu entdecken! Was ist die Botschaft dieser Einspielung?

M.O.: In der Musikwelt ist eines ganz selbstverständlich: Die Koexistenz, das friedliche Nebeneinander. Unsere CD will eine musikalische Brücke zwischen zwei, seit Jahrhunderten verfeindeten Völkern sein. R.H.: Mein tiefster Wunsch wäre es, dass die Musik den Menschen dieser beiden so problematisch zueinander stehenden Länder die Gemeinsamkeiten ihrer Kulturen deutlich macht. Ich wünsche mir, dass unsere Einspielung die Herzen bewegt und in den Menschen nachhallt.


CLASS : aktuell

Naturfreund, Philosoph, Genießer Berolina Ensemble entdeckt Ernst Rudorff

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Ernst Rudorff (1840-1916) Kammermusik Sextett für 3 Violinen, Viola und 2 Violoncelli op. 5; Drei Romanzen op. 48 Capriccio appassionato op. 49 Sechs Klavierstücke op. 52 Concertetüden No. 1 und 2 op. 29 Romanze für Violine + Klavier op. 41

Berolina Ensemble MDG 948 1889-6 (Hybrid-SACD)

Ambitioniert dann der zweite Satz: Wie der zunächst betörend schlichte Beginn des Themas nach nur wenigen Takten von lichtem Dur ins grüblerische Moll wechselt, ist bei aller Einfachheit grandios: Ein großartiger Auftakt für einen Variationensatz von symphonischem Ausmaß! Salonkultur auf allerhöchstem Niveau bietet die abschließende Romanze für Violine und Klavier. Hier kann David Gorol seine violinistische Perfektion in den Dienst einer hochromantischen Erzählung stellen, von Viller Valbonesi auf einen orchestralen Klang gebettet, der die in schwärmerischen Höchstlagen singende Violine aufs Beste unterstützt. Zu erleben ist dies alles in fein austarierter SACD-Technik, mit echtem 3D-Klang – nicht nur für Naturfreunde ein Genuss! Lisa Eranos Foto: © Joerg Merlin Noack

cho Klassik für Hofmann; Opus d’or für v. Bausznern: Zum dritten Mal tritt das Berolina Ensemble mit einer spektakulären Entdeckung ins Rampenlicht. Und wieder einmal erscheint unerklärlich, warum so großartige Werke derart in Vergessenheit geraten konnten. Ernst Rudorff ist die neueste Veröffentlichung gewidmet, und mit dem opulenten Streichsextett, der Romanze für Violine und Klavier sowie einer Reihe zauberhafter Klavierstücke ist das kammermusikalische Schaffen dieses Berliner Komponisten, der überdies zu den Pionieren des Naturschutzes gehörte, umfangreich dokumentiert. Rudorff war eng mit Clara Schumann und ihrer Familie befreundet; eine der SchumannTöchter erhielt bei ihm Klavierunterricht. Dass er sich Schumann und Brahms zum Vorbild nahm, ist besonders in den Klavierwerken zu spüren. Man höre nur einmal das zweite der „6 Klavierstücke“: Schumannsches Agitato trifft auf ambitionierte Harmonik, während das erste eine Reminiszenz an den erzählenden Ton der „Kinderszenen“ vorstellt. Spätestens aber im vierten Stück der Sammlung findet sich ein ganz neuer Tonfall, der dann in der harmonischen Spannung des abschließenden Adagios deutlich in die Zukunft weist. Mit weit ausschwingender Geste beginnt das Streichsextett, das der junge Rudorff als op. 5 veröffentlichte. David Gorol, spiritus rector des Ensembles, setzt als Primarius gleich von Beginn an auf eine leidenschaftliche Linienführung.

Heinrich Hofmann (1842-1902) Oktett op. 80; Serenade op. 65; Sextett op. 25 Berolina Ensemble MDG 948 1808-6 (Hybrid-SACD)

www.berolina-ensemble.de

Waldemar von Bausznern (1866-1931) Kammermusik Serenade, Elegie, Oktett Berolina Ensemble MDG 948 1826-6 (Hybrid-SACD)

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Edition Günter

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Foto: © Ignacio Barrios Martinez

Hänssler

Foto: M. Creutziger

Profil

Christophe Rousset

P. Schreier und das Dresdner Streichquartett wähend der Aufnahmen der MDR FIGARO-Produktion in der Dresdner Lukaskirche, 2005.

Antonio Salieri: Les Danaides Judith van Wanroij; Philippe Talbot; Katia Velletaz u.a. Les Talens Lyriques, Christophe Rousset; Les Chantres du Centre de musique baroque de Versailles, Olivier Schneebeli

PETER SCHREIER Abschied von der Sängerlaufbahn Zum 80. Geburtstag von Peter Schreier Im März 2005, also vor 10 Jahren, hat sich Schreier noch einmal ins Studio begeben, um in der Lukaskirche Dresden jene Fassung der «Winterreise» aufzunehmen, die der Kasseler Komponist Jens Josef für Singstimme und Streichquartett geschaffen hat. Das war das Jahr, in dem Schreier seinen 70. Geburtstag feiern konnte und in dem er den bemerkenswerten Entschluss fasste, noch auf der völligen Höhe seines stimmlichen Könnens Abschied von seiner Sängerlaufbahn zu nehmen. Vor diesem Hintergrund kommt dieser Einspielung eine besondere Bedeutung zu. Das war auch bei der Aufnahme selbst zu spüren. Peter Schreier wusste wieder mit völlig neuen Nuancen und Gedanken musikalisch zu «erschüttern». Sowohl das Ganze als auch jedes einzelne Lied hatte die Aura des Ein- und Letztmaligen. Meist war die jeweils erste Fassung gleich die Gültige. Hinzu kamen die Farben der vier Streichinstrumente des Dresdner Streichquartetts. Durch sie wirkte der vom Tod umhauchte Liedzyklus noch fahler und geheimnisvoller. Die Aufnahme krönt ein überreiches Lebenswerk, mit der Liedsänger Peter Schreier uns für immer beschenkt hat. Michael Oehme

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Massenmord!

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ein Geringerer als der Erzromantiker Hector Berlioz äußerte sich 1822 bewun­ dernd über die 1784 in Paris uraufgeführte Oper Les Danaides von Antonio Salieri. Das der fran­zösischen Königin Marie Antoinette gewidmete Werk wurde zunächst als Gemeinschaftskompo­ sition von Christoph Willibald Gluck und seinem ehemaligen Schüler deklariert. Nach dem über­ wältigenden Erfolg der Uraufführung 1784 an der Pariser Académie Royale de Musique klärte Gluck im Journal de Paris den „Schwindel“ und erklärte offiziell, dass Salieri der alleinige Ver­ fasser des Werkes sei. Der bescheidene Salieri erklärte dagegen, dass er von Glucks Weisheit geleitet und von dessen Genie erleuchtet worden sei. Mit dem Werk über den ungeheuerlichen Massenmord der 49 Töchter des Danaos an ihren frisch angetrauten Ehemännern (dem sich nur die älteste Tochter Hypermnestra verweigert) war dem jungen Komponisten tatsächlich eine der re­ volutionärsten Opern des Ancien Régime gelungen und er etablierte sich endgültig als führender

Nachfolger Glucks auf dem Gebiet der Tragédie lyrique. Salieri verabschiedet sich endgültig von der klassischen Nummernoper und schuf ein durchkomponiertes Werk, das dem Chor in noch stärkerem Maße als bei Gluck eine tragende Rolle zukommen lässt. Statt einem klassischen Schlusschor bzw. Schlusstanz lässt Salieri die Oper mit einem eindrucksvollen Tableau vivant ausklingen, das die von Dämonen gepeinigten Schwestern der Hypermnestra im Tartarus zeigt (Tatsächlich wurden die Danaiden von den Toten­ richtern zu einer Sisyphos-Arbeit verdammt: Sie mussten auf ewig mit ihren Wasserkrügen ein Fass ohne Boden füllen). Christophe Rousset und Les Talens Lyriques unterstreichen mit ihrer außerordentlich gelungenen Produktion die Be­ deutung des Werkes und bereiten uns ein span­ nendes und mitreißendes Opernerlebnis. Wer tatsächlich noch Zweifel an der musikhistori­ schen Bedeutung Salieris hatte, dem bietet sich hier eine gute Gelegenheit, seine Meinung mit diesem Stück und dieser Aufnahme zu revidieren.

Bernhard Blattmann

Foto: © Eric Larrayadieu

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Foto: © Marco Borgreve

CLASS : aktuell

Wyneke Jordans und Leo van Doeselaar

Erard-Flügel (Paris, 1837)

Farbenreicher Kosmos Das Amsterdam Piano Duo präsentiert Schumann mit Erard

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uf dem Klavier kannte Robert Schumann sich aus wie kein Zweiter. Immer auf der Suche nach neuen Klängen muss es für ihn und seine Frau Clara ein Erlebnis gewesen sein, als ihr Flügel um ein Pedal wie bei der Orgel erweitert wurde. Diese Offenbarung nachzuempfinden ist das Anliegen des Amsterdam Pianoduo, die die „Studien für den Pedalflügel“ jetzt auf einem ErardFlügel von 1837 eingespielt haben – in einer Fassung für Klavier zu vier Händen von Georges Bizet. In den „Studien“ trifft Schumanns poetische Fantasie auf strenge kontrapunktische Ausarbeitung, strenger Kanon auf gefühlvolle Harmonik. Was zunächst unvereinbar erscheint, führt zu einem beglückenden Ergebnis: Individuelle Charakterstücke im romantischen Geiste, die Schumanns Bach-Verehrung ebenso widerspiegeln wie seine schier grenzenlose Vorstellungskraft und Fantasie. Die zeigt sich besonders in seinen „Bilder aus Osten“, die unter dem Eindruck von Rückerts Über­tragung

mittelalterlich-arabischer Dichtung entstanden sind. Weniger das illus­ trative Vertonen der Gedichte als vielmehr das Einfühlen in Form und Kunstfertigkeit der fremdartigen Literatur mag dabei im Vordergrund stehen: Spätestens im sechsten Stück sind programmatische Be­züge zum Text unüberhörbar. Wie gekonnt Schumann Poesie und Pädagogik verbindet,

zeigen van Doeselaar und Jordans in den viel zu selten zu hörenden „Zwölf vierhändige Klavierstücke für kleine und große Kinder“ – ein Zyklus, der den ungleich bekannteren „Kinderszenen“ in nichts nachsteht. Das Amsterdam Piano Duo mit Leo van Doeselaar und Wyneke Jordans überzeugt in dieser bestens ausgestatteten SACD mit farbenreichem Spiel, das einen Kosmos romantischer Haltung eröffnet – und zum Staunen einlädt. Da sich auch der Flügel aus der Sammlung Edmund Beunk in Top-Zustand präsentiert, bleibt eine nachhaltige Empfehlung sich diese Aufnahme einmal anzuhören. Klaus Friedrich

Robert Schumann (1810-1856) vierhändige Klavierwerke Bilder aus Osten op. 66 6 Studien in Kanon für den Pedalflügel op. 56 (bearb. von G. Bizet) Stücke für kleine und große Kinder op. 85 Amsterdam Piano Duo: Wyneke Jordans, Leo van Doeselaar MDG 904 1902-6 (Hybrid-SACD)

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CLASS : aktuell

Das Philharmonia Quartett Berlin wird 30 Es gibt diese Quartette. Und solche. Und jene. Und dann gibt es das Philharmonia Quartett Berlin. Das ist anders. Und das jetzt seit genau 30 Jahren.

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Alle Mitglieder des Streichquartetts sind gleichzeitig Mitglieder der Berliner Philharmoniker: Daniel Stabrawa, der Primus, ist der erste Konzertmeister, der zweite Geiger, Christian Stadelmann, ist Stimmführer der Violinen und Neithart Resa der Solobratscher des Orchesters. Quartettmusiker, die jeden Tag im Orchester spielen, haben einen Sinn für das Orchestrale, das in allen großen Quartetten steckt. Beethovens und Schuberts Streichquartette sind auch Symphonien für vier Solostreicher. Und genau so spielt sie das Philharmonia Quartett.

Die Mitglieder des Quartetts gehen bei ihren Interpretationen seit jeher einen Mittelweg, der jedoch keinen faulen Kompromiss darstellt, sondern das Resultat einer ausgewogenen Mischung von Herz und Hirn ist. Auf der einen Seite greifen die Musiker bei Klang und Phrasierung weder in den großen Sahnetopf mit dem Dauervibrato, noch gießen sie über die Musik die einst so beliebte Steak-

sauce aus seufzenden Portamenti, sentimentalen Rubati und tiefempfundenen Ritardandi. Auf der anderen Seite kommt ihr Klang aber auch nicht aus der Kühl- und Gefrierkombination mit der Energieeffizienzklasse A+++, sondern bleibt, bei aller durchsichtigen Schlankheit, stets warm, kräftig und sonor. Ludwig van Beethoven Streichquartette Philharmonia Quartett Berlin Thorofon CTH2614 (8-CD-Box)

Johannes Brahms Streichquartette Philharmonia Quartett Berlin Thorofon CTH2623 (2 CDs)

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Ausgabe 2015/2

Aktuelle Konzerte: 22. 05. 2015 Wittingen 23. 05. 2015 Magdeburg 24. 05. 2015 Bad Oeynhausen 22. 08. 2015 Schloss Amerang 23. 08. 2015 Brühl www.philharmonia-quartett-berlin.de

Noch etwas zeichnet die Musiker des Philharmonia Quartetts aus: Sie haben weder das Lachen verlernt noch ihre Gefühle in Frischhaltefolie verpackt. Sie wissen, dass bei Beethoven der Humor nie weit weg ist, bei Schubert Tanz und Stimmung Teil der Musik sind und es einen Dvorˇ ák ohne Volksmusik und Polka nicht gibt. Seit 30 Jahren spielt nun das Philharmonia Quartett in derselben Besetzung mit nur einer Ausnahme: Der großartige Cellist Jan Diesselhorst, auch er Mitglied der Berliner Philharmoniker, ist vor fünf Jahren viel zu früh verstorben. Für ihn kam der kongeniale Dietmar Schwalke, Philharmoniker wie seine Kollegen. Zu ihrem 30. Geburtstag haben die Musiker ihren Fans und sich selbst ein doppeltes Geschenk gemacht: Sämtliche Streichquartette von Beethoven und von Brahms sind nun in zwei Schmuckboxen erhältlich. Musik von bleibendem Wert! Markus Brandstetter

Foto: © Stephan Roehl

Keine Steaksauce aus der Kühl- und Gefrierkombination


Foto große Orgel: © St. Michaelis, Peter Vette; weitere: Michael Zapf

CLASS : aktuell

Gipfeltreffen der Königinnen! Christoph Schoener registriert Bachs Orgel-Toccaten mit allen vier Orgeln von St. Michaelis

Christoph Schoener

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n einer spannenden Neuproduktion spielt Christoph Schoener die fünf Toccaten von Johann Sebastian Bach an allen vier Orgeln im Hamburger Michel – für die berühmte d-Moll-Toccata kommen sogar drei Instrumente auf einmal zum Einsatz! Das überwältigende Klangerlebnis ist dank MDGs 2+2+2-Wiedergabeverfahren und nächtlicher Stille jetzt zum ersten Mal auch zu Hause zu erfahren: Auf der fein ausbalancierten Super Audio CD erklingt jedes Instrument an seinem originalen Platz, und der prachtvolle barocke Raum der hanseatischen Hauptkirche kommt in überragender Natürlichkeit zur Geltung. Opulente Raumwirkung war auch das Anliegen, das der 2009 durchgeführten Restauration der Orgeln zu Grunde lag. Die gewaltige „Große Orgel“ im Westen bildet mit ihren 86 Registern auf fünf Manualen natürlich den Mittelpunkt. Eine romantische Farbe bringt die „Konzertorgel“ auf der Nordempore ein, und

dank glücklicher Fügung konnte ein ungewöhnlich reichhaltig ausgestattetes Fernwerk auf dem Dachboden errichtet werden, das ebenfalls von der zentralen Spielvorrichtung aus wie eine komplette eigenständige Orgel genutzt werden kann. Von besonderem Reiz ist die „Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel“, die mit ungleichschwebender Stimmung natürlich nur als Solitär auf der Südempore zum Einsatz kommt. Bachs Toccaten eignen sich besonders gut für die Wiedergabe auf mehreren Orgeln. Schon der Beginn des wohl popu­ lärsten Orgelwerks aller Zeiten, der Toccata in d-Moll, wird von Christoph Schoener als faszinierende Raumin­stal­ lation inszeniert, und wenn dann das Fernwerk aus luftiger Höhe erklingt, zeigt sich die dreidimensionale Auf­ nahme von ihrer spektakulärsten Seite. Christoph Schoener, Kirchenmusik­ direktor an der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis, spielt Bachs Toccaten mit historisch informiertem Hintergrund; dabei kommt die spielerische Entdeckerfreude aber keineswegs zu kurz. Für ungetrübtes Hörvergnügen sorgen die Tonmeister von MDG, die auch für die Stereofreunde ein attraktives Klangbild gezaubert haben. Wirklich atemberaubend ist aber die dreidimensionale Wirkung der 2+2+2-Wiedergabe, die diese Auf­ nahme zu einem einmaligen Erlebnis macht. Lisa Eranos

Die großartige Orgelanlage von St. Michaelis Hamburg mit großer Orgel (o. re.), Konzertorgel (o. li.) und Carl-Philipp-Emanuel-BachOrgel – nicht sichtbar ist das Fernwerk

J. S. Bach (1685-1750) Orgel-Toccaten Christoph Schoener an allen vier Orgeln der Hauptkirche St. Michaelis, Hamburg MDG 949 1893-6 (Hybrid-SACD)

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Foto: G. Finzi © Angus McBean; Foto: Kölner Kammersolisten © Florian Peelmann

CLASS CLASS : aktuell : aktuell

Kölner Kammersolisten

Klangstark und keine Note zuviel… Die Kölner Kammersolisten mit einem Gerald-Finzi-Portrait

N

eun Variationen von neun Kompo­ nisten über das lustige Liedlein eines Amateurkomponisten: Gerald Finzi wurde eingeladen mit so individuellen Persönlichkeiten wie Ralph Vaughan Wiliams, Gordon Jacob oder Howard Ferguson zusam­ men zu komponieren. Diese „Diabelleries“ über „Oh! Where´s My Little Basket Gone?“ für eine höchst ungewöhnliche Kammermusikbesetzung sind jetzt von den Kölner Kammersolisten erst­ mals eingespielt worden, zusammen mit weite­ ren Werken aus Finzis Feder – Fazit: Ein span­ nender Überblick über die britische Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Finzis Ruf gründet in besonde­ rem Maße auf seinen Vokalkomposi­ tionen, die eine tiefe Sensibilität für die literarischen Vorlagen erkennen lassen. Seine wenigen Instrumental­ werke fanden bislang deutlich gerin­ gere Beachtung – völlig zu Unrecht, wie diese Neuaufnahme beweist: „Pre­ lude and Fugue“ für Streichtrio etwa zeigt einen ausgereiften Personalstil; vom beklemmenden Anfang über ge­ radezu schrille Töne zu einem groß­ artigen Finale entsteht eine beein­ druckend energiegeladene Steigerung. Finzi muss sich der Qualität der Komposition sehr sicher gewesen sein: Sie ist seinem Kontrapunktlehrer ge­ widmet…

Dass Finzis Werk von überschaubarem Umfang ist, liegt sicher nicht nur am viel zu frühen Tod durch eine unheilbare Erkrankung. In seinen jungen Jahren verbrachte er neben dem Komponieren viel Zeit mit dem Aufbau einer beeindruckenden Sammlung wertvoller Bücher; außerdem bewahrte er durch gezielten Anbau etliche historische englische Apfelsorten vor dem Aussterben. Quasi nebenbei schuf er in dieser Zeit sein „Introit“, das als langsamer Satz eines ambitionierten, dann aber verworfe­ nen Violinkonzerts konzipiert war. Seine „Five Bagatelles“ halten sich bis heute im Repertoire; die hier eingespielte Fassung für Klarinette und

Gerald Finzi

Streichquartett erlebte ihre Uraufführung zu Finzis hundertstem Geburtstag. Vom frühen „Introit“ bis zu den „Diabelle­ ries“, die am Ende seines Lebens entstanden, umfasst die Werkschau der Kölner Kammer­ solisten ein ganzes Komponistenleben. Sie zeigt einen Künstler, der mit äußerstem Skrupel ans Werk geht: Keine Note ist zuviel, jede Ge­ schwätzigkeit wird vermieden. So entsteht ein Werk von wunderbarer Klarheit, das in der Darbietung des Kölner Solistenensembles im modernsten SACD-2+2+2-Klang endlich die gebührende Wertschätzung erfährt. Stark! Klaus Friedrich Gerald Finzi (1901-1956) „Diabelleries“ Variationen über ein Thema „Oh! where’s my lovely basket gone“ Romance für Streichquartett op. 11 Elegie für Violine und Klavier op. 22 Prelude & Fugue für Streichtrio op. 24 und andere Kölner Kammersolisten MDG 903 1894-6 (Hybrid-SACD)

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WERGO

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Jetzt neu bei WERGO

Gaetano Donizetti Les Martyrs Joyce El-Khoury; Michael Spyres u.a. Orchestra of the Age of Enlightenment Sir Mark Elder

und Paolina in der Arena am Ende der Oper. Der verärgerte Donizetti schwor sich, nie wieder eine Oper an San Carlo aufzuführen und reiste nach Paris ab, um dort seine Karriere weiterzuführen. Wenig später ließ er hier das Libretto von Eugène Scribe zu einer vieraktigen Grand Opera nach französischem Geschmack umarbeiten. In Paris hatte man mit dem „christlichen“ Sujet offenbar weniger Probleme. Das 1840 uraufgeführte Stück kann mit zwanzig Aufführungen in der ersten Saison durchaus als Erfolg verbucht werden, auch wenn die italienische Erstfassung – sie wurde 1848 posthum dann doch noch am Teatro San Carlo uraufgeführt – heute bekannter ist. Anders als bei den französischen Versionen anderer Opern des Komponisten gibt es hier auch musikalisch einige signifikante Änderungen und Ergänzungen gegenüber der italienischen Erstfassung. Somit wird eine Beschäftigung mit Les Martyrs als eigenständigem Werk eine echte Bereicherung für jeden Donizetti-Liebhaber. Die Aufnahme beim britischen Label Opera Rara mit Mark Elder und dem Orchestra of the Age of Enlightenment sowie handverlesenen Solisten (u.a. Michael Spyres und Joyce El-Khoury) macht zudem erstmals als Studioproduktion mit der äußerst selten gespielten Oper bekannt. Grundlage ist dabei die neue kritische Ausgabe von Flora Willson, die viele bislang bei Aufführungen gestrichene Passagen berücksichtigt. Bernhard Blattmann

Opera Rara ORC52 (3 CDs)

Two3 für Sho- und fünf mit Wasser gefüllte Muscheln Stefan Hussong: Akkordeon, Muscheln / Wu Wei: Sheng, Muscheln

Morton Subotnick The Wild Beasts Landmark Recordings After the Butterfly / The Wild Beasts Mario Guarneri: Trompete / Dane Richards Little, Alan K. Bartholemew: Cello / William Edward Powell, James D. Rohrig: Klarinette / Jay Charles Bulen, Toby L. Holmes, Miles Anderson: Posaune / Marvin B. Gordy III: Percussion / Virko Baley: Klavier / Morton Subotnick: Leitung

WER 67942 (CD) Koproduktion: Deutschlandradio

Michael Spyres, Joyce El-Khoury und Sir Mark Elder vor dem Orchestra of the Age of Enlightenment in der Royal Festival Hall, London

John Cage

WER 73112 (CD)

L

es Martyrs ist Gaetano Donizettis Umarbeitung seiner italienischen Oper Poliuto zu einer echten französischen Grand Opera. Die Hintergründe der Umarbeitung sind wenig erquicklich: Poliuto sollte eigentlich 1838 am Teatro San Carlo in Neapel uraufgeführt werden, doch verbot die königliche Zensur die Oper quasi in letzter Minute, weil der König kein christliches Sujet auf seiner Theaterbühne dulden wollte. Das „Christliche“ an der Handlung war lediglich der Märtyrertod des Paares Poliuto

WER 67582 (2 CDs) Koproduktion: Deutschlandradio

Willkommene Donizetti-Premiere

Giacinto Scelsi Foto: © Opera Rara

Suite 9 & 10 per pianoforte Sabine Liebner: Klavier Vertriebe Deutschland: New Arts International BV, 02571 / 5819462, marie.batenburg@newartsint.com Österreich: Lotus Records,06272 / 73175,office@lotusrecords.at Schweiz: Tudor, 044 / 4052646, info@tudor.ch

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Fordern Sie bitte unseren Katalog an! WERGO, Weihergarten 5, 55116 Mainz, Deutschland, service@wergo.de | www.wergo.de


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Unerhört – exotisch – farbig Masao Tanibe spielt japanische Gitarrenkonzerte

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Takemitsus farbenreiche Partitur leuchtet auch durch exotische Harmonik. Und es ist faszinierend zu erleben, wie sich dissonante Zusammenklänge in reiner Farbe auflösen. Masao Tanibes makellos virtuoses Gitarrenspiel harmoniert wundervoll mit den einfallsreichen Klangcollagen, die entfernte Ahnungen an Maurice Ravel oder Claude Debussy assoziieren. Toshio Hosokawa geht deutlich sparsamer mit dem Orchester um: lediglich zwei Schlagzeuger treten zum Streicherkorpus hinzu. Und dennoch entsteht auch hier eine fernöstliche Klangmagie: Japanische Windglocken verbreiten als Frühlingsboten ein apartes asiatisches Kolorit. Und wenn die Sologitarre dann wie eine Koto zu spielen ist, ist die japanische Illusion perfekt. Hikaru Hayashis Konzert beschränkt sich in der Begleitung komplett auf Streichinstrumente; der Einfluss amerikanischer Meister der Streichorchesterkomposition ist unüberhörbar. Für Masao Tanibe geht mit dieser Produktion ein Herzenswunsch in Erfüllung. Der weltgewandte Gitarrenvirtuose hat in Europa studiert, blieb dabei aber seinen kulturellen Wurzeln treu.

Japanische Gitarrenkonzerte Toru Takemitsu (1930-1996) To the Edge of Dream Toshio Hosokawa (*1955) Voyage IX – Awakening Hikaru Hayashi (1931-2012) Concerto „Northern Sail“ Masao Tanibe, Gitarre Erzgebirgische Philharmonie Aue Naoshi Takahashi, Ltg. MDG 901 1901-6 (Hybrid – SACD)

Die Verschmelzung zwischen japanischer Komposition und europäischer Orchestertradition gelingt mit der Erzgebirgischen Philharmonie Aue perfekt, und die fein abgestimmte SACD bringt diese Symbiose im 2+2+2-Sound ideal zur Geltung. Eine Entdeckung! Klaus Friedrich

Foto: © Rikimaru Hotta

Foto: © Dirk Rückschloß

as für zauberhafte Klänge! Gestopfte Hörner mit Klarinetten, Streichertriller im Pianissimo-Unisono mit gedämpften Blechbläsern, dann Vibrafon, Celesta und zwei Harfen… Toru Takemitsu ist ein Magier der Instrumentation. Ein riesenhaftes Orchester begleitet die zarten Töne der Sologitarre in „To the Edge of Dream“, das der Virtuose Masao Tanibe jetzt auf einer vielfar­bi­ gen SACD eingespielt hat. In Kombination mit „Voyage IX – Awakening“ von Toshio Hosokawa und dem Concerto „Northern Sail“ von Hikaru Hayashi ist eine hochinteressante Moment­ aufnahme der derzeit führenden Generation japanischer Komponisten im Genre Gitarrenkonzert gelungen. Den überaus anspruchs­ vollen Orchesterpart übernimmt die Erzgebirgische Philharmonie Aue – mit Chefdirigent Naoshi Takahashi am Pult.

Masao Tanibe

Gespannte Aufmerksamkeit bei der Produktion

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Profil

CLASS : aktuell

Edition Günter

Hänssler

BRUCKNER – ZYKLUS Gerd Schaller & Philharmonie Festiva – Live Einspielungen vom Ebracher Musiksommer –

Gerd Schaller, Dirigent, Gründer und künstlerischer Leiter des Ebracher Musiksommers

Die Messe ist

PH14021

durchwegs einheitlich und in großem Styl gehalten,

ernst und würdevoll würdevoll.

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Johann Ritter von Herbecks „Große Messe e-Moll für Chor, Orgel und Orchester“, wiederentdeckt von Gerd Schaller, wurde im Rahmen des Ebracher Musiksommers 2014 aufgeführt und vom Bayerischen Rundfunk – Studio Franken als Ersteinspielung für Profil-Edition Günter Hänssler aufgenommen.

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erd Schaller hat sich mit seinen BrucknerInterpretationen international einen Namen gemacht, darüber hinaus ist er EchoMusikpreisträger: Die bis dahin völlig in Ver­gessenheit geratene Oper „Merlin“ von Carl Goldmark wurde mit dem Echo Klassik 2010 ausgezeichnet. Auch mit der Einspielung des Requiems von Franz von Suppé gelang Gerd Schaller ein großer Wurf. Ein Requiem von Suppé? Ja, und was für eines – Gerd Schaller liebt die Entdeckung und die Aufführung unbekannter Kompositionen. So forscht er in Bibliotheken nach vergessenen Werken und macht damit Furore. Wie z.B. die Oper „Merlin“: Die Aufnahme wurde über Nacht zum Erfolg.

Johann Ritter von Herbeck (1831-1877) Große Messe e-Moll für Chor, Orgel und Orchester Philharmonischer Chor München Einstudierung: Andreas Herrmann Wieland Hofmann, Orgel Philharmonie Festiva, Gerd Schaller Profil Edition Günter Hänssler PH15003

Mit der Einspielung der Großen Messe von Johann Ritter von Herbeck will der Dirigent ein weiteres Werk vor der endgültigen Vergessenheit bewahren „Und das lohnt sich bei diesem Werk – diese Messe hat etwas Funkelndes, Spielerisches, Leuchtendes.“ Schon der große Musikkritiker Hanslick hat die Qualität der Messe bestätigt: „Die Messe ist durchwegs einheitlich und in großem Styl gehalten, ernst und würdevoll. [....] Der Chorsatz herrscht ausschließlich, meistens sechs- und achtstimmig; [...] Die Krone des Ganzen ist das Agnus Dei, ein streng achtstimmiger Satz voll Kraft und Weihe, ein Musikstück, dessen kunstvolles Gefüge den Kenner fesselt, ohne den unbefangenen, andächtigen Zuhörer zu drücken. Echte contrapunktische Kunst, welche Schwierigstes löst, ohne es zum ästhetischen Zweck zu machen, bewährt der Componist im Credo und Gloria, namentlich in der Fuge „Cum sancto spiritu“. […] Daneben leuchtet aus den vocalen Klangwirkungen die feinste Kenntniß des modernen Männergesanges, aus dem Orchester die vollständige Herrschaft über den Besitz der gegenwärtigen Instrumentalkunst.“ Somit wird deutlich, dass sogleich zu Beginn der Rezeption zu dieser herausragenden Messe erkannt wurde, dass viel Eigenes, Neues, Weg­bereitendes und zugleich Retrospektives wie Traditionelles in diesem großen Stück Kirchen­ musik vereint ist. So hat die Herbeck-Messe ihren eigenen, ganz besonderen Stellenwert in der Kirchenmusikgeschichte des 19. Jahrhunderts, der nun dank dieser Ausgrabung und Welterst­einspielung auch entsprechend gewürdigt werden kann. Kerstin Hänßler

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Carragan-Edition

2 CD PH13027

Carragan-Edition PH13049

Carragan-Edition

3 CD PH12022

Carragan-Edition

4 CD PH11028

„Anton Bruckners Sinfonien kennen Sie nur als stundenlange, bleischwere Boliden? Dann hören Sie mal die Philharmonie Festiva unter der Leitung von Gerd Schaller an!“ (artistxite.de 9/14)

Erhältlich im Fachhandel! Profil

Edition Günter

Hänssler

Profil Medien GmbH . Edition Günter Hänssler www.haensslerprofil.de

Vertrieb: NAXOS DEUTSCHLAND GmbH . www.naxos.de


Foto: © Dagmar Titsch

CLASS : aktuell

Die 35 jungen Sängerinnen vom Aarhus Pigekor aus Dänemark begeistern mit einer weiten Ausdruckspalette

Sängerhochburg Magdeburg Europas beste Laienchöre messen sich bei den European Choir Games

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om 5. bis 12. Juni dieses Jahres finden die zweiten European Choir Games statt und Magdeburg wird sich dank tau­ senden singbegeisterten Menschen aus vielen verschiedenen Ländern Europas in eine wahre Hochburg des Singens verwandeln. Die Spiele werden ausgetragen von „Interkultur”, einem der weltweit führenden Initiatoren und Veranstalter internationaler Chorwettbewerbe, mit dem Ziel, Menschen aller Länder, Kulturen und Weltanschauungen im friedlichen Wettbe­ werb zusammenzubringen. Den hier aufeinandertreffenden weltbesten Laienchören und anderen Preisträgern bei in­ ternationalen Wettbewerben von „Interkultur” gibt das Label Hänssler Classic mit der Reihe „The Choir Project“ seit 2014 eine starke und bunte Stimme – so vielfarbig und vielseitig wie die Kulturen der Chöre und Vokalensembles selbst, die ein breit gefächertes Repertoire von Barock bis Pop präsentieren. Inzwischen sind unter „The Choir Projekt“ drei hervorragende Einspielungen erschienen, die alle vor hörbarer Singfreude und sängerischer Energie strotzen – und das auf höchstem musikalischen Niveau. Die erste Einspielung „Tuesdays“ stellte den holländischen Chor Dekoor Close Harmony vor – Gewinner zahlreicher internationaler Wettbe­ werbe und einer der bekanntesten Chöre in den

Musical Movements Aarhus Girls Chor Hänssler Classic CD-Nr. 94.704

Niederlanden. In elf Songs, teils neu komponiert, teils Coverversionen entfacht Dekoor ein vo­ka­ les Feuerwerk, das durch seinen farblichen und rhythmischen Reichtum schon beinahe Happening-Charakter hat. Das international vielfach preisgekrönte österreichische Vokalensemble Lalá ist vor allem durch seinen einzigartig homogenen Klang, die unverwechselbaren Interpretationen und das unverkennbare Timbre bekannt geworden. Die vier SängerInnen bewegen sich quer durch die Musikgeschichte: Franz Schubert, Johannes Brahms, aber auch ein Titel von Earth, Wind and

Fire, Wienerlieder und Eigenkompositionen. Mit der aktuellen Folge von „The Choir Project“ kommt nun eine vokale Botschaft aus Dänemark: Der Mädchenchor aus Aarhus – auf gut dänisch: Aarhus Pigekor. Die 35 jungen Sängerinnen bewegen sich musikalisch über­ wiegend auf dänischem Terrain, von einfachen Volksliedern bis zu modernen Chorwerken. Besondere Kennzeichen des Chores sind dabei eine weite Ausdruckspalette, genüsslich ausgekostete Kontraste und natürlich die von der Dirigentin Helle Høyer Vedel handverlesenen, exquisiten Stimmen. Leon Roder

Alles hat seine Zeit LALÀ

Tuesdays Dekoor Close Harmony

Hänssler Classic CD-Nr. 94.702

Hänssler Classic CD-Nr. 94.701

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Kenneth Tarver

Douglas Boyd www.musikkollegium.ch

Verschwörer, Liebhaber, Doppelspitze Das Musikkollegium Winterthur mit einer habsburgischen Operngala

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ozart und Salieri – eine ganz besondere Beziehung. Spätestens seit Milos Formans „Amadeus“ sind Legenden und Verschwörungstheorien Allgemeingut geworden. Die künstlerische Qualität Salieris gerät da immer mal in den Hintergrund – dabei hat er entschiedenen Anteil am Glanz der Wiener Oper. Salieri führte die unterschiedlichsten Strömungen zusammen und verhalf Glucks Pariser Opernreform in der Habsburger Metropole zum Durchbruch. Das Musikkollegium Winterthur hat seine jüngste Veröffentlichung ganz den beiden Alphatieren am Hofe Joseph II. gewidmet – ein mitreißender Opernabend, der nicht nur die Freunde des Musiktheaters begeistert. Mit Becken und Trommeln eröffnet Salieri „Axur, Re d´Ormus“. Die Janitscharenklänge machten die Oper weit über Wiens Grenzen hinaus bekannt. Etliche Arien finden sich heute noch in Musikautomaten und Flötenuhren in ganz Europa. Mit der Ouvertüre, der Sopranszene „Come fuggir“ und dem Duett „Qui dove ride“ stehen drei echte Knaller auf dem Programm. Zehn Jahre vor „Axur“ eröffnete die Mailänder Scala – mit einer Oper von Salieri natürlich: „Ah! Lo sento“ aus „L´Europa riconosciuta“ zeigt, warum Salieri über lange Zeit der führende Opernkomponist Europas war. Mozart musste sich also anstrengen. Das tat er mit Erfolg: Für eine Wiener Produktion seines

„Idomeneo“, der für die Münchner Residenz kurz vor Mozarts Übersiedlung nach Wien entstand, arbeitete er einige Teile um und fügte Neues hinzu. Ein Glücksfall: Im zauberhaften Duett „Spiegarti non poss´io“ verschmelzen Sen Guo und Kenneth Tarver in wunderbarer Innigkeit, und im Rondo „Non temer, amato bene“ glänzt Kon­zert­meis­­ter Roberto González Monjas mit geschmei­ diger Umspielung der Tenorpartie. Die gran­ diose Ballettmusik war schon in München der krönende Abschluss – eine Referenz an das wohl beste Orchester der damaligen Zeit. Auch die leisen Töne sind in Winterthur bestens aufgehoben: Douglas Boyd entlockt seinem Orchester mit den „Sechs ländlerischen Tänzen“ aus Mozarts letztem Lebensjahr zarteste Farben, die auf dieser liebevoll gearbeiteten Doppel-SACD perfekt zum Leuchten kommen. Am besten natürlich in 3D Wiedergabe – die festliche Gala für Zuhause! Klaus Friedrich Ausgabe 2015/2

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Sen Guo

W. A. Mozart (1756-1791) Antonio Salieri (1750-1825) Arien und Ouvertüren Sen Guo, Sopran; Kenneth Tarver, Tenor Musikkollegium Winterthur; Douglas Boyd, Ltg. MDG 901 1897-6 (2 Hybrid – SACDs)

Fotos ©: S. Guo: Marcel Sauder; K. Tarver: Joan Tomàs; D. Boyd: Pablo Faccinetto Photography

CLASS : aktuell



CLASS : aktuell In Vorbereitung: Johann Georg Linike: mortorium Concert Royal Köln

Bereits als SACDs erschienen (Stereo, Surround Sound und 3D-Binaural-Stereo): Max Reger Edition: Sämtliche Orgelwerke Vol. 1-3 Martin Schmeding auf verschiedenen historischen Orgeln

Musicaphon M56972

Cybele SACD 051501 / 051502 / 051503

Foto: © Martina Leymann

Dreidimensionale Kopf-Hör-er-lebnisse

HEAD Kunstkopf

Advanced Headphone Amplifier www.hd-klassik.com/aha

Ingo Schmidt-Lucas

D

r. Rainer Kahleyss, Inhaber der Firma Klassik Center Kassel, im Gespräch mit Ingo Schmidt-Lucas, Geschäftsführer des Klassik-Labels Cybele Records sowie der Download-Plattform hd-klassik.com.

Die V­erbreitung von hochwertigen Kopf­hö­rern hat in den letzten Jahren ja stark zugenommen. Was muss man sich unter einem dreidimensionalen KopfHör-Erlebnis vorstellen?

Eine dreidimensionale Aufnahme (3D-Binaural-Stereo) wird mithilfe eines künstlichen Kopfs (Kunstkopf) realisiert, der aufgrund seiner der menschlichen Anatomie nachempfundenen Geometrie in der Lage ist, eine Aufnahme in sehr ähnlicher Weise abzubilden wie sein menschliches Vorbild. Durch dieses einzigartige Verfahren wird der Hörer quasi direkt an den Ort des Geschehens versetzt, so als würde er die Aufnahme live mit­erleben, wodurch sich dieses Aufnahmeverfahren von allen anderen unterscheidet. Ich habe selbst einige 3D-Binaural-StereoAufnahmen gehört; die klanglichen Vorzüge sind bestechend. Warum ist die Verbreitung auf dem Markt noch nicht so groß wie sie eigentlich sein sollte?

Ich denke, dies liegt unter anderem daran, dass Tonmeister und Künstler oft im Nachhinein Aufnahmen im Studio weiter abmischen möch-

ten. Und dies geht nur mit konventionellen Aufnahmeverfahren, bei denen meistens jedes Instrument ein eigenes Mikrofon bekommt, was natürlich bequemer ist, weil man somit während der Aufnahme die Abmischung des Klangs noch nicht komplett festlegen muss. Ich kenne jedoch keinen Menschen, der sich sozusagen gleichzeitig an verschiedenen Mikrofon-Positionen im Raum befinden kann. Wir sitzen immer nur an einer Position. Insofern entspricht eigentlich keines der konventionellen Aufnahmeverfahren dem natürlichen mensch­ lichen Hören. Bei einer 3D-Binaural-Stereo-Aufnahme „mischt“ man ausschließlich durch die Position des künstlichen Kopfs ab – oftmals zentimeter­ genau –, so als würde man im Konzert entscheiden, welchen Sitzplatz man einnimmt – ein äußerst puristisches Verfahren, durch das alle Feinheiten der Aufnahme lebendig per Kopfhörer abgebildet werden können.

Kopfhörerverstärkers berücksichtigen?

Wir haben dieses Jahr einen Kopfhörerver­ stärker (Advanced Headphone Amplifier) entwickelt, der die Fertigungstoleranzen von Kopfhörern individuell ausgleicht. Man schickt uns seinen Lieblingskopfhörer, der dann von uns eingemessen wird und danach zusammen mit dem hd-klassik Advanced Headphone Amplifier eine klangliche Einheit bildet. Die klanglichen Unterschiede zwischen normalen Kopfhörerverstärkern und unserem Verstärker sind deutlich hörbar, wie uns viele Musik-Begeisterte bestätigt haben. Und das ebenfalls bei herkömmlichen Stereo-Aufnahmen, die mithilfe unseres Verstärkers deutlich realistischer abgebildet werden.

Was braucht man als Endverbraucher, um in den Genuss dieses 3D-Sounds zu gelangen?

Man benötigt keine üppig ausgestattete Surround-Anlage, sondern lediglich 3D-BinauralStereo-Aufnahmen, einen handelsüblichen Kopfhörer sowie im Idealfall einen auf den eigenen Kopfhörer eingemessenen Kopfhörerverstärker. Was ist ein ‚eingemessener Kopfhörerverstärker‘? Was muss man bei der Wahl des Ausgabe 2015/2

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In Vorbereitung (Veröffentlichung Juli 2015): Johann Sebastian Bach: Werke für Cembalo Fritz Siebert, Cembalo Cybele SACD 031517


CLASS : aktuell

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 9 Staatl. Russisches Sinfonieorchester Mark Gorenstein, Ltg. MDG 648 1719-2 (2 CDs)

Josef Bohuslav Foerster Gustav Mahler

Und immer wieder Sinfonien… Gustav Mahler: Das klagende Lied Blumine (Sinfonie Nr. 1) Sinfonie Nr. 10 Beethoven Orchester Bonn Stefan Blunier, Ltg. MDG 937 1804-6 (Hybrid – SACD)

Gustav Mahler – Hermann Behn Sinfonie Nr. 2 c-moll „Auferstehungssinfonie“ Fassung für 2 Klaviere Christiane Behn, Mathias Weber Harvestehuder Kammerchor Claus Bantzer

Neues von einem unverwüstlichen Genre

M

usik spiegelt einen Teil des kulturellen Lebens. Und solange da Leben ist, ist auch Veränderung. Manche Gattungen der Musik haben ihre Zeit gehabt und werden zwar noch im Konzert, aber nicht mehr von Komponisten gepflegt. Andere Genres erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit. Unter diesen „Dauer­ läufern“ finden wir die Sinfonie. Und so ist es immer wieder interessant zu verfolgen, wie gerade ent­ sprechende Musik des 20. Jahrhunderts in neuen Interpretationen den CD-Markt bereichert. Auf zu neuen Ufern – wenn ein Komponist die Tür zu den vielfältigen Erscheinungsformen der Gattung „Sinfonie“ im 20. Jahrhundert mit seinen monumen­ talen Werken ganz weit aufgestoßen hat, dann war das Gustav Mahler. Auflösung der hergebrachten Har­ monik (hier war er ein würdiger Nachfolger Richard Wagners), das Spiel mit vertrackten Rhythmen, die

Aufweichung der strengen Form – all das waren zu seiner Zeit Pioniertaten. Aber nicht nur die musikali­ sche Welt, sondern auch Gustav Mahlers Seele war in Aufruhr, als er 1909 sein letztes vollendetes Werk komponierte. Der Tod der Tochter, die Diagnose einer unheilbaren Herzkrankheit und die Aufgabe seiner Direktorenstelle an der Wiener Oper hatten seine Welt auf den Kopf gestellt. Diese Ereignisse berührten ihn so sehr, dass er kaum in der Lage war, an frühere Aus­ drucksformen anzuknüpfen. Im Gegenteil: Mahlers Neunte ist geprägt von akuter Subjektivität; sie handelt von der Überwindung einer persönlichen geistigen Krise, von der „Wiedergeburt“ eines Menschen und ist gleichzeitig ein einzigartiges, nonverbales, auto­ biografisches Testament. Aufbau und Harmonik von Mahlers 9. Sinfonie weichen deutlich von der klassischen Form ab. Zwei große langsame Sätze umrahmen die beiden Scherzi

Musicaphon M56915

Mahler: Symphonie Nr. 2 für 2 Klaviere zu 8 Händen Brieley Cuttin, Angela Turner, Stephen Emmerson, Stewart Kelly

Josef Bohuslav Foerster Sinfonie Nr. 1 und 2 Sinfonieorchester Osnabrück Hermann Bäumer, Ltg.

Josef Bohuslav Foerster Sinfonie Nr. 3 und 4 Sinfonieorchester Osnabrück Hermann Bäumer, Ltg.

Josef Bohuslav Foerster Sinfonie Nr. 5 Sinfonieorchester Osnabrück Hermann Bäumer, Ltg.

Melba MR301144

MDG 632 1491-2

MDG 632 1492-2

MDG 632 1493-2

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Profil

CLASS : aktuell

Edition Günter

Hänssler

CLASSICS on the move

unterschiedlichen Charakters, die Tonarten wech­ seln und Anklänge zu Schönbergs Experimenten sind erkennbar. Die orchestrale Struktur ist zu­ dem so dicht, dass Mahler mehr als einmal die Grenzen menschlicher Auffassungskraft touchiert. Und dann dieser völlig untriumphale verinner­ lichte, versöhnliche, nie enden wollende Schluss­ satz, in dem die Musik letztlich unmerklich in die Sphäre des Unhörbaren verschwindet. Das ist ergreifend und ungeheuerlich. Und beein­ druckend gelungen. Mit ungeheurer Präzision vermag der 65-jäh­ rige Mark Gorenstein seinen 120-köpfigen Klang­ körper zu motivieren. Nach Eugene Onegin folgt in MDGs Live-Reihe mit Mahlers 9. Sinfonie sofort ein weiterer Bolide der symphonischen Spätromantik mit dem Staatlichen Russischen Sinfonieorchester. Und es lohnt sich, man spürt vom ersten Augenblick an den Sog, mit dem die riesigen klanglichen Entwicklungen mit Herzblut durchlebt werden und in den Trugschlüssen des berühmten Adagio-Finalsatzes kulminieren. Mahler mit russischer Seele – wer kann sich dem entziehen (MDG 648 1719-2). Überhaupt hatte Mahler etwas „russisches“ (wenn es überhaupt erlaubt ist, von solchen natio­ nalcharakterlichen Zügen zu reden). Zeitlebens schwankte er zwischen begeisterter Euphorie und tiefster Depression. Die Programmzusammen­ stellung der MDG 937 1804-6 zeigt das in sehr anschaulicher Weise; sie vereint nämlich „Das klagende Lied“, „Blumine“ und das „Adagio“ der 10. Symphonie. Eigentlich war Mahler klar, dass er eine 10. Sinfonie (nach Beethovens 9.) nicht vollenden würde. Immerhin hatte er ja zwei „Liederzyklen“ schon aus diesem Grunde bewusst aus seiner symphonischen Zählung herausgenom­ men. Notizen am Rande der Partitur machen den Blick in persönliche Abgründe frei: „Für dich leben! Für dich sterben! Almschi!“… Musste aus ähnlichen Gründen das idyllische „Blumine“-An­ dante weichen, das ursprünglich als zweiter Satz der ersten Sinfonie angelegt war? Offenbar lugt auch hier das Unheil bereits um die Ecke… Stefan Blunier hat mit hervorragenden Pro­ grammen und kluger Disposition in der letzten Zeit seinem Beethoven Orchester Bonn einen sicheren Platz in der Diskografie verschafft. Die feine 2+2+2- Mehrkanalaufnahme im gewohnt schnörkellosem Naturklang des Labels MDG bietet eine fantastische Klangbühne, auf der Blunier mit expressivem Dirigat die gewaltige Spanne von den fahlen, geradezu leblosen Eingangs­ tönen der Bratschen bis zum schwelgerischen Kolossalklang scheinbar mühelos bewältigt.

Der oft skrupulöse Mahler hegte für seine 2. Symphonie eine ganz besondere Zuneigung. Mehrfach gab es Versuche, dieses Riesenwerk zu arrangieren. Den ersten unternahm Mahler selbst, als er 1891 dem Dirigenten Hans von Bülow den ersten Satz am Klavier vorstellte. Dieser Versuch allerdings misslang; Bülow kom­ mentierte: „Wenn das Musik sein soll, verstehe ich von Musik überhaupt nichts!“ Geglückt da­ gegen sind Arrangements von Mahlers Freund Hermann Behn für zwei Klaviere (Musicaphon M56915) und von Bruno Walter für Klavier vierhändig. Auf Melba MR301144 wird die be­ setzungstechnisch aufwendigste Fassung vorge­ stellt; Heinrich von Bocklets Version für zwei Klaviere vierhändig, also achthändig, wurde 1914 wenige Jahre nach Mahlers Tod von der Universal Edition publiziert. Diese uns heute exotisch vorkommende Besetzung war zu ihrer Entstehungszeit nichts Besonderes; eine er­ staunlich große Zahl von Orchesterwerken ist um die Wende zum 20. Jahrhundert in dieser Form bearbeitet worden. Von Bocklets Fassung der 2. Symphonie erklingt hier in Ersteinspielung. Unter den Freunden Mahlers findet sich ein Talent aus Tschechien: Josef Bohuslav Foerster (1859-1951). Der kann sich eine Karriere als Musiker, Maler, Schauspieler oder Dichter vor­ stellen. Er wird Kirchenmusiker (ausgebildet bei Dvorák), Autor und Komponist. Nach seiner Hochzeit zieht das Paar nach Hamburg, freun­ dete sich mit Mahler an, der ihn als Dirigent an die Wiener Hofoper beruft. Foerster stirbt 1951 hoch geehrt in seiner Heimatstadt Prag. Zu Beginn seiner Hamburger Zeit kompo­ nierte er seine 3. Sinfonie mit dem Titel „Das Leben“. Hier zeigt sich ein hochtalentierter, von den unterschiedlichsten musikalischen Ein­ flüssen inspirierter Komponist. Mal glaubt man Anklänge an Wagner zu hören, dann wieder von Dvorák, schließlich von Bruckner oder doch von Mahler. Foersters Botschaften sind subtil. Wie individuell und mit viel Feingefühl er seine dritte Sinfonie gestaltet hat, erfahren aufmerk­ same Zuhörer dennoch – und sind umso mehr verzaubert von slawischer Terzenseligkeit und natürlich einem böhmisch klingenden Scherzo. Am Karfreitag 1904 begann Foerster die Kom­ position der „Osternacht“. Eine reine Meditation sollte es nicht werden, im Gegenteil: Den ersten Satz seiner 4. Sinfonie widmet er den Ostertagen, wie der Erwachsene sie erlebt, im zweiten Satz schildert er die Feiertage mit den Augen eines Kindes. Dann ein Gebet und schließlich das Finale zur Feier des auferstandenen Heilands…

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CLASS : aktuell

Max Bruch: Sinfonie Nr. 2 Violinkonzerte Nr. 3, op. 58 Sinfonieorchester Wuppertal Gernot Schmalfuß, Ltg. MDG 335 0868-2

Felix Draeseke: Symphonia tragica, Ouvertüre zu Gudrun, Symphonischer Prolog zu Penthesilea op. 50 Sinfonieorchester Wuppertal George Hanson, Ltg. MDG 335 1041-2

Franz Schmidt: Sinfonie Nr. 4 Intermezzo aus „Notre Dame“ Beethoven Orchester Bonn Stefan Blunier, Ltg. MDG 937 1631-6 (Hybrid – SACD)

Arthur Honegger Sämtliche Symphonien Philharmonisches Orchester der Hanse­ stadt Lübeck, Roman Brogli-Sacher

Erst Jahre nach dem plötzli­ chen Tod seines 16-jährigen Soh­ nes Alfréd verarbeitete Foerster den schmerzlichen Verlust musi­ kalisch. Er entwarf die fünfte Sin­ fonie als Instrumental-Requiem, das ihn bis zur Uraufführung an seinem 70. Geburtstag am 2. No­ vember 1929 fünf Jahre lang intensiv beschäftigte. Das Haupt­ thema des Werkes beginnt mit einem musikalischen Anagramm: Foerster wählt die in ausgreifen­ den Sprüngen emporstrebende Tonfolge a-f-e-d und setzt damit seinem Sohn ein verstecktes Denkmal, das vom Sinfonieorchester Osnabrück unter Leitung seines GMD Hermann Bäumer gekonnt, begeis­ ternd und Echo-prämiert erst­ein­ge­spielt wurde. (MDG 632 1491-2 ; MDG 632 1492-2; MDG 632 1493-2) Zeitgleich hatte Mahlers und Foersters Kollege Max Bruch gänzlich anderes im Sinn. Als „musikalische Sozialdemokratie“ verachtete Bruch (1838 – 1920) alle kompositorischen Neuerungen seiner Zeit und ging seinen eigenen, konservativen Weg, den Weg der großen Oratorien, Chorballaden und Hymnen. 1897, als Brahms starb, ging für Bruch eine ganze Kunst­ richtung zugrunde: „Was im 20. Jahrhundert aus der Kunst werden soll, wissen die Götter...“ Erst 1891 bekam er eine Professur für Komposi­ tion an der Königlichen Akademie der Künste Berlin: „Ein großes Glück ist es, daß ich nun ganz unabhängig von den Launen des Publikums, der elenden Tages­ presse und der gemeinen Orchestermitglieder bin...“ Nun konnte Bruch sich ganz seinen Idealen hingeben – der Melodie, der Form und der Schönheit – und mußte sich nicht mehr Kritiken wie die zu seiner 2. Sinfonie anhören: „...pathetisch, düster, murrsinnig, langweilig!“ (MDG 335 0868-2). So wie für Max Bruch der Olymp der Musik von Johannes Brahms bewohnt wurde, war Felix Draeseke (1835 – 1913) ein glühender Verehrer Wagners und Liszts. Geübt an zahlreichen sym­ phonischen Dichtungen, über­trug er deren kräftige Melodik und farbige Harmonik auf nahezu alle seine Hauptwerke. Dem Be­wun­ de­rer heute erschließen sich die Bilder in derselben Klarheit, in der sie Draeseke bei der Kompo­ sition seiner gewichtigen Sym­

phonia tragica vorschwebten... Das Symphonieorchester Wuppertal unter der Leitung von George Hanson präsentiert Draesekes „Symphonia tragica“, die „Ouvertüre zu Gudrun“ und der „Symphonische Prolog“ zu „Penthesilea op. 50“ – Werke, die dem spätromantischen Dorn­ röschenschlaf entrissen werden sollten und heute für manche ästhetische Überraschung gut sind.(MDG 335 1041-2). Gibt es eine Verbindung Max Bruch zwischen Gustav Mahler und Franz Schmidt? Eine äußerliche schon: Beide führte ihr Weg (auch) nach Wien. Franz Schmidt wuchs als musikalisches „Wunderkind“ in Pressburg auf, dem heutigen Bratislawa und Haupt­ stadt der Slowakei. Sein erster Klavierlehrer Theodor Leschetitzky riet ihm dringend von einer Musiker­ karriere ab: „Wenn einer Schmidt heißt, soll er nicht Künstler werden.“ Die Schmidts zogen nach Wien, Franz fand am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde eine adäquate Ausbildung und eine erste Anstellung als Cellist am Wiener Hofopernorchester und den Wiener Philharmonikern. Eine leidvolle Er­ fahrung veranlasste Franz Schmidt zu seiner vierten und letzten Sinfonie. Nachdem er bereits seine erste Frau in einer Nervenheilanstalt dahindämmern sehen musste, verlor er 1932 auch noch seine Tochter. Die vierte Sinfonie wurde ihr Requiem. Vor allem der zweite Satz, ein bewegendes Adagio, trägt autobiogra­ phische Züge: „So stelle ich mir mein Sterben vor...“ 1939 erlag der Komponist einem Herzanfall. Der LiveAuftritt des Beethoven Orchesters Bonn in der Beet­ hovenhalle Bonn vermittelt viel Atmosphäre und Stefan Blunier gelingt es den großen roman­ tischen Entwurf der Sinfonie grandios zu gestalten. Nicht zu­ letzt dank der ausgefeilten und detailreichen 2+2+2-MehrkanalSACD entsteht ein verschwende­ rischer, lebendiger Hörgenuss (MDG 937 1631-6). Weiter führt uns der Weg nach Westen, in die Schweiz, denn aus diesem Land kommt einer der bedeutenden Sinfoniker des 20. Jahrhunderts: Arthur Honegger. Felix Draeseke Geboren 1892 in Le Havre als Sohn Schweizer Eltern vereinigte Honegger als Komponist lebens­ lang Eigenschaften des französi­

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CLASS : aktuell

Franz Schmidt

schen und des deutschsprachigen Kulturkreises in sich, was ihn zu einem der reizvollsten Musiker seiner Zeit machte. Vielseitigkeit und Offenheit verschiedensten Stilen gegenüber, der Willen und das Können zur Anknüpfung an die (deutschromantische) Tradition sowie der Mut zu neuen Themen und Formen zeichnen sein Werk aus, das er vor allem in Paris, wo er seit 1913 dauerhaft lebte, schuf. Er gehört zu den sechs Komponisten, die auf merkwürdige Art und Weise zu Mitgliedern einer vermeintlich programmatischen Gruppie­ rung wurden, denn nur mehr oder weniger zu­ fällig kam die Gründung des „Groupe des Six“ zustande. Honegger hielt sich bei gemeinsamen theoretischen Äußerungen der Six zurück, jedoch beteiligte er sich an Gruppenprojekten wie dem Kollektivballett „Les Mariès de la Tour Eiffel“ (1929/30). Am stärksten hatten ihn von Jugend auf Richard Wagner, Max Reger und Richard Strauss, also die spätromantische deutsche Musik, beeinflusst. Mit Darius Milhaud besuchte er den Unterricht von André Gédalge, um auch später wieder die harmonische Komplexität und den polyphonen Reichtum der Musik Johann Sebastian Bachs zu schätzen und in seinen Werken auf­ zugreifen. Für ihn stand im Zentrum der Auf­ merksamkeit die detaillierte und ernsthafte Auseinandersetzung mit jedem einzelnen Instru­ ment, wie sie am besten in der Kammermusik möglich war. Zugleich aber hatte er Sinn fürs Provokative und Unkonventionelle, wie er es in seinen programmatischen Orchesterwerken „Pacific 231“ (1923) und „Rugby“ (1928) oder auch in seinen Filmmusiken vorführte. Mit ihren auf die moderne Welt bezogenen Titeln wurden sie schnell berühmt. Honegger kultivierte in sich eine Mischung aus Bürgerschreck und solide gegründetem Handwerk, die ihn zu einem, wenn nicht dem herausragenden Komponisten im Kreis der Six werden ließ. Und seine fünf Sinfonien, in denen er zeitgeschichtliche Ereignisse verarbei­ tete, sind Werke von ganz eigener Stilistik und Qualität. Roman Brogli-Sacher hat sie über meh­ rere Jahre mit dem Orchester der Hansestadt Lübeck eingespielt (Musicaphon M56942).

Ein Generationsgenosse und Landsmann Honeggers war Frank Martin (1890-1974). Er hatte nur einen musikalischen Lehrer, Joseph Lauber, der ihn Klavier, Harmonie und Kompo­ sition lehrte. Später war er eng verbunden mit Emile Jaques-Dalcroze, der ihm die Technik der Rhythmik nahebrachte. Martin war beschäftigt als Pianist und Cembalist, und während des Zweiten Weltkrieges war er Präsident der L’Association Suisse des Musiciens. 1946 siedelte er in die Niederlande über, und von 1950 bis 1957 unter­ richtete er Komposition an der Musikhochschule Köln. In seinem persönlichen Stil, den er erst Ende der 1930er Jahre ausbildete, entwickelte Martin eine Synthese aus der Zwölftontechnik Schön­ bergs und der traditionellen tonalen Musik. Seine „Petite Symphonie concertante“ geht auf einen Auftrag des Basler Mäzens und Dirigenten Paul Sacher zurück. Zunächst komponierte Martin ein Werk für Kammerorchester mit solistischen Einlagen von Klavier, Harfe und Cembalo, später schuf er eine Fassung für großes Orchester, hier zu hören in einer Interpretation durch das Sinfo­ nieorchester Stavanger. Das macht bereits seit Jahrzehnten international von sich reden. Seine beiden Schwerpunkte Alte und Zeitgenössische Musik sowie das große Repertoire norwegischer Kompositionen aus dem 20. Jahrhundert und die hohe künstlerische Qualität des Klangkörpers machen die Musiker aus Stavanger zu einem unverzichtbaren Bestandteil des europäischen Konzertkalenders. Die Verpflichtung von Steven Sloane als Chefdirigent, die deutliche Aufstockung der Musikerstellen und der Bau einer neuen Konzerthalle haben dem Orchester zusätzlichen Schwung verliehen und setzen deutliche kultur­ politische Akzente (MDG 901 1614-6). Apropos „Petite Symphonie“: eine der meist missverstandenen symphonischen Schöpfungen des 20. Jahrhunderts ist Benjamin Brittens „Simple Symphony“. Denn das Werk eignet sich ganz und gar nicht für Schulorchester. „Einfach“ ist die Symphonie allenfalls für den Hörer, und noch dazu höchst amüsant – das ist Tschaikowsky mit britischem Augenzwinkern! Zu hören ist das Werk des Engländers zusammen mit seinen „Variations on a Theme of Frank Bridge“ und „Les Illuminations“ auf MDG 901 1275-6, vor­ getragen von der Sopranistin Franziska Hirzel und dem Kiev Chamber Orchestra unter der Lei­ tung von Roman Kofman. Bei der Gründung des Kammerorchesters Kiew im Jahre 1963 fungierte Kofman noch als 1. Konzertmeister. Seit 1990 ist er künstlerischer Leiter und Chefdirigent des Orchesters, das in dieser Zeit zu einem Ensemble

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CLASS : aktuell

Frank Martin Stavanger Symphony Orchestra MDG 901 1614-6 (Hybrid – SACD)

Benjamin Britten Kiev Chamber Orchestra MDG 601 1275-2

Fritz Brun: Symphonie Nr. 1 Moscow Symphony Orchestra, Adriano Guild GMCD 7395

Carl Nielsen: Symphonien Nr.1 & 3 Royal Stockholm Philharmonic Orchestra, Sakari Oramo BIS BIS-SACD-2048

Allan Pettersson: Symphonien Nr. 1 & 2 Norrköping Symphony Orchestra, Christian Lindberg BIS BIS-SACD-2110

der Weltspitze wurde. Ein Orches­ ter, das selbstverständlich im Ste­ hen musiziert, was übrigens in der Mehrkanalwiedergabe in 2+2+2 Recording deutlich zu hören ist. Benjamin Von einem der bekanntesten Brittens Komponisten des 20. Jahrhunderts zu einem der vielen heute zu Unrecht vergessenen. Fritz Brun (1878-1959) war Komponist, Dirigent und Pianist. Er studierte er am Kölner Konservatorium u.a. bei Franz Wüllner. Er schloss Freundschaft mit Volkmar Andreae, der ebenfalls in Köln studierte, und mit Othmar Schoeck. Anschließend folgte eine Anstellung bei Prinz Georg von Preußen in Berlin als dessen Musiklehrer und Privatmusiker. Nach dem Tod des Prinzen ging Brun nach London, gab dort Privatunterricht und schlug sich mit dem Instrumentieren von Couplets für das Variété durch. Im Oktober 1902 übernahm er schließlich eine Stelle als Klavier- und Theorielehrer am Konservatorium von Dortmund, ein Jahr später an der Musikschule Bern. 1909 wurde er zum Dirigenten der Sinfonie­ konzerte der Bernischen Musikgesellschaft berufen. Zudem übernahm er die Leitung des „Cäcilienvereins“ und der „Berner Liedertafel“. Volkmar Andreae brachte Bruns zweite, vierte, fünfte und neunte Symphonie zur Uraufführung, Hermann Scherchen die sechste, siebte und achte Symphonie in Winterthur. Ende der Saison 1940/1941 legte Brun alle öffentlichen Ämter nieder und zog in das Dorf Morcote (Kanton Tessin) am Luganersee, um sich ganz dem Komponieren zu widmen. Seine 1. Symphonie ist nun auf einer Auf­ nahme mit dem Moskauer Symphonieorchester auf Guild GMCD7395 zu hören. Aus Mitteleuropa blicken wir nun nach Skan­ dinavien, zu einem der bedeutendsten nordischen Sinfoniker: Carl Nielsen (1865-1931). 1892, Nielsen war Mitte zwanzig, schrieb er seine erste Symphonie. Der merkt man an, mit welchem Respekt Nielsen vorangegangenen Meistern begegnete. Das Werk ist ganz klassisch in seinen Proportionen; vieles erinnert an Schumann. Aber gleichzeitig zeigen sich Affinitäten zum fiebrigen Stil eines Berlioz, dem lyrischen Ton eines Grieg und der rhythmischen Vitalität eines Svendsen, der auch die Uraufführung dirigierte (mit Nielsen als Orchestermusiker in den Reihen der 2. Vio­ linen). Das zweite Werk auf dieser SACD, eingespielt vom Königlichen Stockholmer Sinfonieorchester unter Leitung seines Chefdirigenten Sakari Oramo, dokumentiert Nielsens endgültigen Durchbruch als Symphoniker. Etwa 20 Jahre nach der 1. entstand die 3. Symphonie, später „Sinfonia espansiva“ untertitelt. Ein großer Erfolg; in kürzester Zeit hatten Orchester in ganz Europa Aufführungen dieser Symphonie auf den Konzertplänen. Der Grundton des 2. Satzes, der

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Carl Nielsen

auch auf Nielsens Beerdigung gespielt wurde, ist nach Worten des Komponisten, die „friedliche Atmo­ sphäre darzustellen, wie sie im Paradies geherrscht haben mag vor dem Fall unserer Ureltern Adam und Eva.“ (BIS-SACD-2048). Allan Pettersson (1911-1980) war eine sehr eigene, eigenwillige Stimme nicht nur innerhalb der schwedischen, sondern der gesamten europäischen Musik des 20. Jahrhunderts. Er begann als Kind ar­ mer Eltern mit einer von seinem Bruder gebastelten Fidel, wurde 1939 in die königliche Stockholmer Philharmonie als Bratscher aufgenommen – und fing zu dieser Zeit an, zu komponieren. Ab Ende der 1940er Jahre konzentrierte er sich dann ganz auf die Komposition; es entstand ab 1951 seine „Symphonie Nr. 1“, die er nie vollendete. Nach diesem ersten Ver­ such komponierte er noch 15 weitere Symphonien und hinterließ bei seinem Tod 1980 ein weiteres Fragment. Daneben schrieb er nur sechs andere Werke; er war halt durch und durch Symphoniker. Auf BIS-SACD-2110 hat das Norrköping Symphonie­ orchester unter der Leitung von Christian Lindberg nun die Symphonien 4 und 16 eingespielt. Nur die Jahre vor der Veröffentlichung der 4. Symphonie scheinen Jahre des kompositorischen Innehaltens gewesen zu sein, ausgelöst durch den Misserfolg der 3. Symphonie 1956. Die 4. hat einen biographischen Bezug; Petterssons Mutter war gestorben, und er schrieb in sein Tagebuch: „Symphonie Nr. 4. für meine Mutter, die heimgegangen ist in das Leben, in dem Güte in Gott verkörpert wird.“ Die choralartigen Passagen dieser Symphonie werden direkt inspiriert sein durch die Lieder, die ihm seine tief religiöse Mutter in seiner Kindheit vorgesungen hat. Ganz anders der Ansatz der 16. Symphonie, in der Pettersson das Saxophon solistisch auftreten lässt und die von der Spannung zwischen wilden, eruptiven und langsamen, ruhigen Abschnitten lebt. Als Bonus liegt der SACD eine DVD bei mit einem zweiundfünfzigminütigen Interview, 1974 von Sveriges Television aufgezeichnet: „Vem fan är Allan Pettersson?“ (Wer zur Hölle ist Allan Pettersson?) Und was „zur Hölle“ treibt bis heute Komponisten, sich mit dieser traditionsbehafteten Form immer wieder auseinander zu setzen? Eine Frage, die auch dieser Artikel sicher nicht erschöpfend beantworten konnte. Die Entwicklung geht weiter. Bleiben Sie dran! A. Rainer

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Im Blickpunkt

CLASS : aktuell Kammermusik

Werke für Flöte und Klavier Reinecke: „Undine“-Sonate op. 167 Prokofiev: Sonate D-Dur op. 94 Enescu: Cantabile et Presto; Hindemith: Sonate (1936); Dohnányi: Aria op. 48,1

Daniela Koch, Flöte Oliver Triendl, Klavier Indésens INDE074

Die junge Flötistin Daniela Koch begann mit 16 Jahren ihr Studium am Mozarteum in Salzburg bei Michael Martin Kofler. Sie wurde vom Konzert­ haus und Musikverein Wien als „Rising Star“ der European Concert Hall Organi­ sation nominiert. In diesem Rahmen gab die Flötistin Rezitale in vielen europäi­ schen Konzertsälen von internationalem Rang. Weitere Konzerte führten die Flö­ tistin außerdem bislang unter anderem nach Kanada, die USA und nach Japan.

Ein Rising Star lässt aufhorchen Nicht zuletzt durch ihre zahlreichen Wettbewerbserfolge konnte sich Daniela Koch in der Musikwelt schnell einen Namen machen. So gewann sie als jüngste Teilnehmerin im April 2009 den 1. Preis bei der 7. Kobe International Flute Competition – dem größten und bedeutendsten internationalen Flöten­ wettbewerb. Beim 59. Internationalen Musikwettbewerb der ARD in München im September 2010 konnte sie als jüngste Finalistin mit dem 2. Preis so­ wie einem Sonderpreis den nächsten Erfolg verzeichnen. Nach Stipendien der Orchesteraka­ demie der Münchner Philharmoniker, sowie der Sommerakademie der Wiener Philharmoniker ist Daniela Koch seit April 2011 Soloflötistin der Bamberger Symphoniker. Auf dieser, ihrer zweiten CD, widmet sie sich zusammen mit dem bekannten Pianisten Oliver Triendl dem großen europäischen Flötenrepertoire vom späten 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts.

Claude Debussy (1862-1918) Klaviertrio in G (1880) Maurice Ravel (1875-1937) Klaviertrio a-Moll (1914) Trio Parnassus MDG 303 0272-2

fantasia italiano – per clarinetto e piano Domenico Mirco: Fantasia sopra motivi dell‘opera Mosè (Rossini); Iwan Müller: Fantasie „Di piacer mi balza il cor“ (Rossini) / Fantasie „Ecco ridente in cielo“ (Rossini) Donato Lovreglio: Fantasia da Concerto „La Traviata“ (Verdi) Giacomo Setaccioli: Sonata in Es op. 31

Eindrucksvolle Gehversuche eines ganz Großen: Das Klaviertrio ist Claude Debussys erste erhaltene Instrumental­ komposition. Erst in den 1980er Jahren entdeckt, erlaubt das jugendlich-unge­ stüme Werk einen spektakulären Ein­ blick in die künstlerische Entwicklung des späteren Meisters des französischen Impressionismus. Das Trio Parnassus hat diese Neuentdeckung seinerzeit als eines der ersten Ensembles in sein Re­ pertoire aufgenommen und gemeinsam mit dem reifen Meisterwerk Ravels in einer exquisiten Digitalaufnahme ein­ gespielt – Grund genug für eine längst überfällige Neuauflage. In Maurice Ravels Klaviertrio hin­ gegen zeigt sich die Souveränität eines selbstbewussten Künstlers. Die für die Impressionisten so typische Neugier an fremden Kulturen schlägt sich schon im Titel des zweiten Satzes nieder: „Pantoum“ bezieht sich auf eine malai­ ische poetische Deklamationsform, die Ravel meisterhaft in ein virtuoses Scherzo über drei rhythmisch konkur­ rierende Themen transformiert. Fernweh und Bodenständigkeit sind für Ravel kein Gegensatz: Der letzte Satz weckt mit wildem Wechsel von 5/4- und 7/4Takt Assoziationen an die baskische Heimat des Komponisten.

Nach dem großen Erfolg seiner CDEinspielung „Romantische Raritäten für Klarinette und Klavier“, amb 97879 wid­ mete sich der Klarinettist Rolf Weber nun Transkriptionen berühmter Opern­ melodien. Auf Grund seiner langjährigen Erfah­ rung im Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz in München war er fas­ ziniert von den kammermusikalischen Übertragungen ausgewählter Arien Rossinis und Verdis in den Fantasien von Domenico Mirco und Iwan Müller und begeistert von dem Streifzug durch die Oper „La Traviata“ bei Donato Lovreglio, wo Motive der ganzen Oper höchst virtuos in der Fantasio da Con­ certo zusammengefasst wurden. Mit diesen Fantasien und zusam­ men mit der Sonate in Es von Giacomo Setaccioli (inspiriert durch das Gedicht „Sole e amore“ von Giosuè Carducci), die schon deutlich impressionistische Anklänge erkennen lässt, gelingt es dem Duo Weber/Tsuzuki verborgene und selten zu hörende Schätze zu heben.

Vom Feinsten

Geliebte Oper

Mit dieser maßstabsetzenden Einspie­ lung gab das Trio Parnassus sein Debüt auf LP bei MDG – der Beginn einer bei­ spiel­losen Erfolgsstory. Mehrere Dutzend wegweisender Aufnahmen entstanden, und bis heute veröffentlicht das Ausnah­ meensemble exklusiv beim Detmolder Edellabel. Zahlreiche Schallplattenpreise, darunter gleich zwei Mal der begehrte „ECHO Klassik“, zeugen vom Musizieren auf allerhöchstem Niveau.

In den drei Sätzen der Sonate, über­ schrieben mit „Nachmittag“, „Abend­ lied“ und „Morgendämmerung“ werden Stimmungen tonmalerisch nachemp­ funden: spiegelndes Sonnenlicht auf der Wasseroberfläche, leichter duften­ der Wind, tanzende Abendfeen, sanftes Wellenrauschen, die Kraft des Morgens und des aufsteigenden neuen Tages, Trost und Hoffnung spendend, im wahrsten Sinne „fantasia italiana“.

Rolf Weber, Klarinette Kazue Tsuzuki, Klavier Ambitus AMB96955

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Joseph Haydn (1732-1809) Streichquartette Vol. 8 Quartette op. 50 Nr. 2, 3 & 6 Leipziger Streichquartett MDG 307 1898-2

Mit drei weiteren Werken aus op. 50 setzt das Leipziger Streichquartett seine Haydn-Edition fort. Dass die vier Sachsen auf der Höhe der historisch informierten Interpretationspraxis sind, versteht sich von selbst, und die Verwendung von Bo­ genmodellen aus dem 18. Jahrhundert sorgt für ein vielfarbiges Musikerlebnis, das keine Wünsche offen lässt. Haydn ist ein Phänomen: Auf der einen Seite erarbeitet er in mehreren Werkzyklen die klassische Form des Streichquartetts, um sie auf dem Höhe­ punkt der Vollendung durch völlig un­ vorhersehbare Einfälle gleich wieder in Frage zu stellen. Man höre nur einmal den Anfang des 6. Quartetts: Das Stück beginnt auf der None, mit einer Wen­ dung, die mehr einer Schlusskadenz ähnelt; lediglich das Cello sorgt dann mit pulsierenden Achteln für den nöti­ gen Drive, um in den Satz einzusteigen. Und eine überaus abenteuerliche Har­ monik lässt auch im weiteren Verlauf ein Gefühl harmloser Betulichkeit gar nicht erst aufkommen. Und dann der Schlusssatz: Eine wilde Bariolage, die dem Stück den zweifelhaften Beinamen „Froschquartett“ eintrug…

Frosch und König Verspielt, gleichzeitig jedoch mit ländlerischer Derbheit beginnt die CD; reiche Verzierungen und filigrane Drei­ klangsbrechungen fordern vor allem den Primarius. Dass sich aus diesen Figura­ tionen im Mittelteil dann eine veritable Doppelfuge entwickelt, zeigt einmal mehr den hintergründigen Humor, der Haydns kompositorische Meisterschaft mit schier grenzenloser Fantasie verbindet. Gewid­ met sind die Quartette dem preussischen König, der sich artig mit einem kostba­ ren Ring bedankte…


Im Blickpunkt

CLASS : aktuell Kammermusik

Felix Mendelssohn Bartholdy Die Klaviertrios: Trio Nr. 1 d-Moll op. 49 Trio Nr. 2 c-Moll op. 66 Sitkovetsky Trio BIS BIS-SACD-2109

„Dies ist das Meisterwerk in diesem Genre in unserer Zeit“, schrieb Robert Schumann begeistert über Mendelssohns Klaviertrio in d-Moll, als er das Werk 1840 in seiner Neuen Musikzeitung rezen­ sierte. Es mit den Trios von Beethoven und Schubert vergleichend, formulierte er weiter, es sei eine „wunderschöne Komposition, die auch in kommenden Zeiten noch unsere Enkel und Urenkel erfreuen wird.“ Und in der Tat ist das d-Moll-Trio bis heute eines der belieb­ testen und bekanntesten Kammermusik­ werke Mendelssohns, in dem sich die melodische Erfindungsgabe des Kom­ ponisten aufs Schönste mit formaler Meisterschaft und lyrischer Erfindungs­ gabe vereint. Daher ist es sehr er­ staunlich, dass Mendelssohn das Werk zweimal vor Drucklegung revidierte, obwohl doch die Musik hier so ganz natürlich fließt. Schuld daran war (je­ denfalls beim zweiten Mal) der Pianist Ferdinand Hiller, der den Klavierpart „streckenweise old fashioned“ fand.

Beliebt, nicht mehr old fashioned Also änderte Mendelssohn und stellte später befriedigt fest, dass „Pianisten das Werk gerne spielen werden, denn es gibt ihnen Gelegenheit, sich zu zeigen“. Einige Jahre später tat er sich mit dem zweiten Klaviertrio in c-Moll deutlich leichter. Und dem ersten steht das zweite, 1845 komponiert, qualitativ keineswegs nach. Zwei Höhepunkte romantischer Kammermusik, hier vorgetragen von einem jungen, ambitionierten Ensemble, dessen Debüt-CD 2014 mit den Trios von Dvorˇ ák und Smetana als „grandios“ gefeiert wurde.

Alte Musik

La Primadonna Arien in Arrangements für Oboe von Andreas N. Tarkmann Carl Maria v. Weber: Freischütz-Concertino: Romanze des Ännchen, Cavatine der Agathe, Ariette des Ännchen Christoph Willibald Gluck: „Oh, del mio dolce ardor“ aus Paride ed Elena; Wolfgang Amadeus Mozart: „Dove sono“ aus Le nozze di Figaro Gioacchino Rossini: Finale „Naqui all´affanno“ aus La Cenerentola; „D´Amor al dolce impero“ aus Armida Giuseppe Verdi: „O patria mia“ aus Aida; Elena‘s Bolero „Mercè dillette amiche“ aus I Vespri Siciliani; Violetta‘s Abschied „Addio del passato” aus La Traviata Giacomo Puccini: „Sole e amore“ Studie zu La Bohème; „Storiella d´amore“ Richard Wagner: „Träume“ aus den Wesendonck-Liedern Andreas N. Tarkmann: „Intermezzo“, Allegro

Clara Dent, Oboe Mendelssohn Kammerorchester Leipzig Coviello CLASSICS COV 91505

Obwohl das Solo-Repertoire für die Oboe vergleichsweise reichhaltig ist, wollte die bekannte Virtuosin Clara Dent für ihre neue CD ein anderes, ganz in­ dividuell maßgeschneidertes Programm einspielen. Fasziniert von den unmittel­ baren Ausdrucksmöglichkeiten der Ge­ sangsstimme in großen Opern, wünschte sie sich von Meisterarrangeur Andreas N. Tarkmann ein ganzes Programm mit bearbeiteten Arien. Dieser richtete eine Auswahl von Lieblingsstücken der Solistin so passend für die Oboe ein, dass sie auf ihrem Instrument adäquat zu „singen“ sind. Von Glucks „Paride ed Elena“, der „Hochzeit des Figaro“ von Mozart über Rossini, Verdis „Aida“ und „La Traviata“ bis Wagner und Puccini sind die renommiertesten Komponisten der Operngeschichte mit bekannten Hits versammelt; bei der Adaption von Carl Maria von Webers „Freischütz“ kam sogar ein ganz neues Concertino heraus. Das gelungene Ergebnis der Wandlung der Oboe zum Opernstar ist hier zu hören und fas­ ziniert nicht weniger, als würde man einer der großen Gesangsdiven, vom Mendelssohn Kammerorchester Leipzig kongenial begleitet, lauschen.

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Christopher Simpson (1605-1669) 20 Ayres for Two Trebles and Two Basses; Four Divisions Chelys Consort of Viols BIS BIS-SACD-2153 (Teilweise Ersteinspielung)

Wir wissen nicht viel über das Le­ ben Christopher Simpsons, kennen ihn eigentlich nur als exquisiten Komponis­ ten von Musik für Violen, obwohl er zu Lebzeiten vor allem als Gambenvirtuose, weniger als Komponist geschätzt wurde. Bis heute nutzen Gambisten sein Hand­ buch „The Division Viol“ als Führer für die Aufführungspraxis dieser Zeit. Ins­ besondere erfährt man darin, wie die „Divisions“ zu spielen sind, die damals so beliebten improvisatorischen Ausschmü­ ckungen notierter Musik. Simpson gibt zu diesem Thema ganz praktische und detaillierte Anweisungen. Doch sind viele der Werke Simpsons bis heute unaufge­ führt, so dass auch die hier vorgestellte Sammlung der „20 Ayres“ ihre Erstein­ spielung erfährt. Im Manuskript ist von Musik „for two trebles and two basses“ die Rede, und es finden sich daher auch Stimmen für das Continuo. Deshalb wird das Chelys Ensemble hier verstärkt durch Dan Tidhar an Kammerorgel und Cem­ balo sowie durch James Akers, der die Klangfarben von Theorbe und Barock­ gitarre beisteuert.

Großes aus melancholischer Endzeit Das Programm bietet einen faszinie­ renden Einblick in die Gambenmusik Mitte des 17. Jahrhunderts und mit den Ayres herausragende Beispiele für die melancholische Endzeit der großen englischen Musiktradition, die von den Gambenconsorts geprägt war. 10 Jahre nach Simpsons Tod sollte Henry Purcell mit seinen berühmten „Fantazias“ das letzte Kapitel dieser Geschichte schreiben.

Ausgabe 2015/2

Die Bassvioline Werke von Giovanni Battista Vitali (1632-1692) Giuseppe Colombi (1635-1694) Giovanni Lorenzo Lulier (1662-1700) Musica Perduta: Renato Criscuolo, Violone Alberto Bagnai, Cembalo Bud Roach, Barockgitarre Leonardo LDV14021 (Teilweise Ersteinspielung)

Unter den diversen Instrumenten der Barockzeit, die dank der Wieder­ entdeckung der Alten Musik auf die Konzertpodien zurückgekehrt sind, ist die Baßvioline eines der nur sehr selten zu sehenden und zu hörenden. Sie ist der Vorläufer des Cellos, in Italien als Violone bezeichnet, und war bisher nur am Rande Gegenstand musikhistorischwissenschaftlicher Beschäftigung. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts war sie modern, als aus dem Violone sich das Cello entwickelte (das „kleine Violone“). Möglich wurde dies durch die Erfin­ dung von Saitenmachern aus der Emilia, Baßsaiten mit Silberdraht zu umspinnen, was es erlaubte, die Saiten zu verkürzen und damit den Instrumentenkorpus zu verkleinern.

Falsche Besetzung Heute wird oft für die Wiedergabe von Musik des 17. Jahrhunderts das Barockcello eingesetzt, obwohl es vor dem Ende des Jahrhunderts noch gar nicht erfunden war. Also sollte für die Musik vor dieser Zeit eigentlich ein Violone anstelle des Cellos gespielt wer­ den (für außeritalienische Musik auch noch bis ins 18. Jahrhundert hinein, da das Cello zunächst nur in Italien Ver­ breitung fand). Die Intention dieser CD ist also die korrekte Wiedergabe von Musik, die spezifisch für die Bassvioli­ ne geschrieben wurde, allein oder mit Begleitung durch ein Basso continuo, unter Benutzung der richtigen Instru­ mente und unter Beachtung der Spiel­ praxis jener Zeit.


Im Blickpunkt

CLASS : aktuell Orchester und Konzert

Fantastique Werke von Berlioz und Weber Hector Berlioz: Symphonie fantastique Carl Maria von Weber (Orchestrierung: H. Berlioz): Aufforderung zum Tanz

Argovia Philharmonic Douglas Bostock, Leitung Coviello CLASSICS COV 91508

Vom Liebesrausch zum Höllenritt – die Symphonie phantastique von Hector Berlioz verarbeitet so plastisch wie kaum ein anderes Instrumentalwerk das ty­ pisch romantische Sujet des tragischen Helden, den seine maßlose Liebe am Ende in die Katastrophe führt.

Tanz, Liebesrausch und Höllenritt Berlioz erzählt diese Geschichte in prallen musikalischen Farben und führt dabei die immer wiederkehrende „idee fixe“ zur Kennzeichnung der Hauptfigur ein – eine Kompositionstechnik, die später auch bei Wagner als Leitmotiv zum prägenden Element wurde. Über­ haupt gab es einige Berührungspunkte zwischen Berlioz und der deutschen Musik, die er bewunderte. So freute ihn sicher der Auftrag der Pariser Opéra, eine Ballettmusik zu Carl Maria von Webers bekannter Oper „Der Freischütz“ zu schreiben; ein Werk, das er einmal als „vom ersten bis zum letzten Ton ge­ lungen“ bezeichnet hatte. Berlioz wählte das ebenfalls von Weber stammende Klavier-Rondo „Aufforderung zum Tanz“ und verwandelte es mit meisterlicher Instrumentationskunst zu einem fun­ kelnden Orchesterwerk, das mit oder ohne Opernballett äußerst effektvoll ist – hier von Douglas Bostock und dem argovia philharmonic brillant serviert.

Sergeij Prokofiev (1891-1953) Symphonie Nr. 5 B-Dur op. 100 Skythische Suite op. 20 Bergen Philharmonie, Andrew Litton BIS BIS-SACD-2124

1944, als der Sieg der Alliierten über die zurückweichenden deutschen Truppen sich schon abzeichnete, wurde dieses Werk in der Sowjetunion als pa­ triotisch, heroisch und unverbrüchlich optimistisch gefeiert. Der Komponist be­ schrieb seine Gefühle später so: „Ich hielt es für ein Werk, das den menschlichen Geist feiert.“ Dabei ist diese 5. Sympho­ nie alles andere als vordergründiger Schwulst und Bombast, hohle Rhetorik und lautstarke Banalität, wie man dies oft in solchen als politisch/patriotisch gelobten Werken findet. Der große Erfolg in Russland setzte sich sofort im Ausland fort und verhalf Prokofiev letztlich dazu, in den Olymp der großen Sinfoniker des 20. Jahrhunderts auf­ genommen zu werden.

Gute Futterverwertung Die sich anschließende Skythische Suite erblickte 1905 als „Ala und Lolli“ das Licht der Welt; eine Ballettsuite für Diaghilevs „Ballets Russes“. Die Skythen waren ein antikes Volk aus der südrussi­ schen Steppe. Zu der Zeit, als Prokofiev die Suite schrieb, wusste man noch herzlich wenig über dieses Volk und seine Kultur. Die Musik geriet keines­ wegs übermäßig fremdartig, sprengte auch kaum die Grenzen herkömmlichen Komponierens. Und dennoch: Diaghilev hörte eine Klavierfassung und war davon überhaupt nicht begeistert; das Ballettprojekt wurde abgeblasen – ein Skandal. Da Prokofiev aber niemals gute Musik „in den Mülleimer“ warf, extrahierte er zehn Jahre später aus dem Material eine farbenreiche viersätzige Suite für konzertante Aufführungen.

Antonin Dvorˇák (1841-1904) Komplette Symphonien Vol. 1: Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 3, Rhapsodie op. 14 Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern, Karel Mark Chichon, Dirigent Hänssler CLASSIC CD-Nr: 93.330

Karel Mark Chichon, der britische Chefdirigent der Deutschen Radio Phil­ harmonie Saarbrücken Kaiserslautern, hat sich für seine erste Einspielung mit diesem hervorragenden Orchester nichts Geringeres vorgenommen als eine Gesamteinspielung der Sinfonien von Antonin Dvorˇák. Die Sinfonien sollen auf CD jeweils gekoppelt werden mit anderen Orchesterwerken des tschechi­ schen Meisters, vor allem mit Ouvertüren und Zwischenspielen aus den Opern Dvorˇ áks – eine Kombination, die selten auf Tonträgern zu erhalten ist.

Zauber und Melodienreichtum In der ersten Folge der Dvorˇ ák-Ein­ spielung widmen sich Chichon und sein Klangkörper der ersten Sinfonie des tschechischen Meisters und kombinie­ ren dazu die slawisch-vaterländisch grundierte Rhapsodie op. 14. Dvorˇ áks erste Sinfonie mit dem Beinamen „Die Glocken von Zlonice“ ist trotz des um­ fangreichen Orchesterapparates voller Zauber und Melodienreichtum. Ihre großräumigen Flächen und Steigerun­ gen erinnern von Ferne an Anton Bruckner, doch volkstümliche Wendun­ gen, lebhafte Stimmungswechsel und farbiger Streicherklang geben dem Werk eine ganz eigene Note. Die herausragenden Eigenschaften des Dirigenten Karel Mark Chichon sind sein Temperament, seine Leidenschaft und seinen Sinn für Stimmungen – Eigen­ schaften, die er besonders bei der Musik Antonin Dvorˇ áks einsetzen kann, die er und die erstklassisch aufspielende Deut­ sche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern mit Frische und Leben­ digkeit zu einem Erlebnis machen.

Ausgabe 2015/2

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Johann Gottfried Müthel (1728-1788) Die fünf Cembalokonzerte Marcin Swiatkiewicz, Cembalo Arte dei Suonatori BIS BIS-CD-2179

Bachs Biograph Johann Nikolaus Forkel nannte Müthel als einen der be­ deutendsten (und letzten) Schüler des Meisters. Und der Chronist Charles Burney, beschrieb Müthels Werke als „so voll neuer Ideen, Geschmack, Anmut und Formvollendung, das ich mich nicht scheue, sie unter die wichtigsten Pro­ duktionen der Gegenwart einzureihen.“ Dennoch geriet dieser interessante Kom­ ponist in Vergessenheit, und das hat mit seiner Biographie zu tun. Nach der Lehr­ zeit bei Bach unternahm er noch eine aus­ giebige, einjährige Bildungsreise zu ande­ ren Großen der deutschen Musikszene (Altnikol, Hasse, C. Ph. E. Bach, Telemann), aber dann verschwand er von der zentra­ len europäischen Bühne. Denn 1753 ging er nach Riga, wo er als Kapellmeister in einem der Adelshäuser eine Anstellung fand, und wurde schließlich Organist der dortigen Kathedrale St. Petri bis zu sei­ nem Tod. Er scheint sich dort sehr wohl gefühlt zu haben, denn er lehnte mehr­ mals Angebote aus Deutschland ab.

Wanderer zwischen den Welten In seinen fünf Cembalokonzerten be­ gegnen wir einem Wanderer zwischen den Welten, ganz ähnlich wie C. Ph. E. Bach hat er mit dem zu Ende gehenden Barock stilistisch schon gebrochen, in der auf­ dämmernden Klassik ist er aber noch nicht so ganz angekommen. So wird er neben C. Ph. E. Bach zu einem der Haupt­ vertreter des „Sturm und Drang“. Müthel lehnt sich schon noch an die formalen Vorbilder seines Lehrers an, spielt aber mit den Formen, mit raffinierten Rhyth­ men und harmonischen Kunststückchen. Er wechselt zwischen orchestralen Effek­ ten und intimer Kammermusik und ver­ mag so stets zu überraschen. Eine höchst unterhaltsame Entdeckung, die Lust auf mehr von diesem Komponisten macht.


Im Blickpunkt

CLASS : aktuell Cembalo

Cembalo Avantgarde Violeta Dinescu: Prelude Hans Werner Henze: Aus Zwei Sonaten über Gestalten von Shakespeare Peter Heeren: Fünf Stücke / Bazon 1-3 John Patrick Eloge 2 / Imaginary Dances Anders Eliasson: Disegno per clavicembalo Isang Yun: Shao Yang Yin Roderick de Man: Chordis Canam

Kristian Nyquist, Cembalo Musicaphon M55723 (Teilweise Ersteinspielung)

Zeitgenössische Musik für Cembalo? Bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahr­ hunderts hinein war es das Cembalo, wel­ ches an vorderster Front als Klangkörper für experimentelles und avantgardisti­ sches diente: Die Toccaten Frescobaldis, Préludes- non-mesurés von Louis Cou­ perin, das „Wohltemperirte Clavier“ J.S. Bachs, Domenico Scarlattis Sonaten seien als „berühmtere“ Beispiele ge­ nannt. Spätestens mit der Generation um Beethoven hatte sich für diese Aufgabe dann der „moderne“ Hammerflügel als Tasteninstrument durchgesetzt.

Altes Instrument ganz vorn Mit der Renaissance des Cembalos gegen Ende des 19. Jhd. erwachte auch allmählich das Interesse lebender Kom­ ponisten für dieses Instrument. Ein erster Höhepunkt war in den 1920er Jahren erreicht, als Manuel de Falla und Francis Poulenc mit ihren jeweiligen Konzertstücken die ersten bedeutenden Werke schufen, in Auftrag gegeben von Wanda Landowska. Deren Offenheit für „ihre“ zeitgenössischen Komponisten ist beispielhaft und steht für die schier grenzenlosen Möglichkeiten einer frucht­ baren Verbindung des vermeintlich „al­ ten“ Instrumentes mit „neuer“ Musik. Erfreulicherweise wird weiterhin fleißig für dieses „alte“ Instrument kom­ poniert. Die auf dieser CD zu erlebende Darbietung eines Rezitals im Jahr 2004 soll die Lebendigkeit sowie Aktualität neuer Cembalomusik dokumentieren. Daneben stand die Idee im Vordergrund, Werke verschiedenster Stile vorzustellen.

Klavier

Paul Dukas (1865-1935) Sämtliche Klavierwerke Olivier Chauzu, Klavier Calliope CAL1523

Dukas studierte am Pariser Konser­ vatorium Klavier, Harmonielehre und Komposition. Später unterrichtete er dort selbst; zu seinen Schülern zählten u. a. Jehan Alain, Maurice Duruflé und Olivier Messiaen. Er pflegte stets Kontakte zu anderen berühmten Komponisten wie beispielsweise Claude Debussy. Zeitge­ nossen beschreiben ihn als einen Mann von hoher Allgemeinbildung. Sein Hang zur Selbstkritik führte dazu, dass er eine ganze Reihe komponierter Werke nach ihrem Beginn abbrach und schließlich einige ganz vernichtete, weil sie seinen Ansprüchen nicht genügten.

Meisterliches vom Zweifler Und so verwundert es nicht, dass selbst ein Standardgenre wie Musik für Klavier von ihm durchaus spärlich bedacht wurde. Aber unter den nur vier Klavierwerken von Paul Dukas finden sich zwei sehr unterschiedliche Meister­ werke. Das eine ist französisch inspi­ riert (die Variations, Interlude et Finale sur un thème de Rameau), das andere deutsch (die Klaviersonate). Charakte­ ristika der Klaviersonate sind die klas­ sische Form, der große Gestus und der Sinn für einen farbenreichen Klang. Sie ist interpretatorisch nicht einfach, und diese Schwierigkeiten zeigen sich denn auch in den sehr unterschiedlichen verfügbaren Einspielungen. Einer der bisher überzeugendsten Interpreten des Werkes war Jean Hubeau. Olivier Chauzu nimmt diese Herausforderung sehr erfolgreich an.

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Johann Brahms (1833-1897) Variationen und Fuge über ein Thema von Händel op. 24 Max Reger (1873-1916) Variationen und Fuge über ein Thema J.S. Bach op. 81 Friedrich Wilhelm Schnurr, Klavier MDG 604 0172-2

Ein Mehrgenerationenprojekt der be­ sonderen Art: Friedrich Wilhelm Schnurr ist noch bei den Klavierlegenden Alfred Cortot und Wilhelm Kempff in die Lehre gegangen. Als fürsorglicher Pädagoge von Weltrang hat er bis heute Generationen von Pianisten geprägt. Viele seiner her­ ausragenden Schüler bekleiden nam­ hafte Professuren auf der ganzen Welt. MDG hat jetzt eine Aufnahme aus den 1980er-Jahren wieder aufgelegt, die Schnurr als zupackenden, energiege­ ladenen Interpreten zeigt. Händel hatte sein tänzerisch-einfa­ ches Thema selbst einem Variationssatz zu Grunde gelegt. Was allerdings der junge Brahms daraus macht, ist sensa­ tionell, es entfaltet sich ein gigantischer Kosmos an musikalischen Charakteren und Ausdrucksebenen.

Meisterhaft Max Reger wählte sich ein instrumen­ tales Vorspiel aus einer Kantate Bachs. Aber anders als Brahms entfernt er sich nach einigen Umspielungen weit vom Ausgangspunkt: Schon die dritte Varia­ tion ist eine sehr freie, kontemplative Fantasie, die mit urplötzlichen dyna­ mischen Ausbrüchen überrascht. Auch Reger schließt mit einer Fuge, die es in sich hat: Schon das Anfangsthema ist von überbordender Chromatik, und mit dem später einsetzenden zweiten Thema entsteht einen Doppelfuge von gewaltigen Dimensionen. Dass diese spektakuläre Aufnahme auch nach 30 Jahren nichts von ihrer Frische eingebüßt hat, liegt auch an der tonmeisterlichen Klangregie, die die Atmosphäre der berühmten RudolfOetker-Halle in Bielefeld perfekt ein­ gefangen hat.

Ausgabe 2015/2

Jean Sibelius gespielt am Klavier in Ainola Kleinere Klavierstücke Folke Gräsbeck, Klavier BIS BIS-CD-2132

Ainola, das Haus, das Sibelius 1904 baute und in dem er bis zu seinem Tod 1957 lebte, ist unter Liebhabern skandi­ navischer Musik zu einer Wallfahrts­ stätte geworden. Mehr als 300 seiner Werke hat Sibelius hier komponiert, und im Kamin von Ainola hat er wohl das Manuskript seiner 8. Symphonie ver­ brannt, bevor er als Komponist endgültig verstummte. Das Haus ist jetzt ein Mu­ seum, jeden Sommer von Zehntausenden besucht. Das best gehütete Objekt des Museums ist Sibelius‘ großer Steinway, den der Meister 1915 zu seinem 50. Ge­ burtstag geschenkt bekommen hatte und der ihm für 40 Jahre zum treuen Ge­ fährten wurde. An diesem Instrument hat der Sibelius-Spezialist Folke Gräsbeck nun einen Querschnitt durch das Klavier­ schaffen des Meisters aufgenommen, aber auch Transkriptionen beliebter Orches­ terwerke wie „Finlandia“ und „Valse triste“ einbezogen. An der Aufführung und Einspielung von über 200 Kompositio­ nen seines Landsmanns hat Gräsbeck mitgewirkt, und nicht weniger als 82 davon hat er uraufgeführt. Die große Sibelius-Gesamtedition bei BIS wäre ohne Gräsbecks fundierte Quellenarbeit kaum zustande gekommen.

Beim Meister zu Hause Authentischer geht es also wohl kaum, wenn Sibelius‘ Klavierwerke hier an seinem eigenen Instrument im eige­ nen Haus erklingen.


Im Blickpunkt

CLASS : aktuell Klavier und Lied

Josef Matthias Hauer (1883-1959) Sämtliche Melodien und Präludien Steffen Schleiermacher, Klavier Holger Falk, Bariton MDG 613 1890-2 (3 CDs)

Wie Arnold Schönberg komponierte auch Joseph Matthias Hauer „mit zwölf Tönen“ – aber wie anders ist das Ergeb­ nis! Bestimmen bei Schönberg Dissonanz, harmonische Spannung und ein Höchst­ maß an Expressivität das Geschehen, so ist Hauers Musik völlig frei von alledem. Von geradezu luftiger Leichtigkeit, über­ aus gesanglich und oft mit wohlklingen­ den Dur-Dreiklängen am Ende bilden sei­ ne Präludien und Melodien, die Steffen Schleiermacher jetzt erstmals vollständig eingespielt hat, ein Kondensat Hauers musikalischer Philosophie.

Luftige Leichtigkeit „Ausdruck je nach Melos“ lautet die Spielanweisung zu jedem einzelnen dieser kurzen Werke. Es bleibt dem empfind­ samen Interpreten vorbehalten, dem „Melos“ nachzuspüren und seinem Cha­ rakter zu folgen. Das „Sonnenmelos“ von 1919 führt die Bedeutung des Melos besonders eindringlich vor Ohren: Aus­ drücklich für Gesang und Klavier gesetzt, ist das Stück – „gedeutet und gedichtet von Joseph Matthias Hauer“ – streng einstimmig! Keine Spur von komplexen Rhythmen oder würziger Harmonie, nichts stört die Klarheit der Intervalle, die mit großer Konsequenz alle zwölf chromatischen Töne erreichen, bevor auch nur einer wiederholt wird. Wie im „Sonnenmelos“ steht Bariton Holger Falk dem Pianisten auch in der Melodie op. 24 zur Seite. Spätestens seit der Einspielung der „Musik mit Hölder­ lin“ bilden die beiden das Dream Team für Hauers Musik. Den weitaus größten Teil übernimmt Steffen Schleiermacher allerdings allein, und wieder einmal führt sein außerordentlicher Klangsinn zu einer faszinierenden Entdeckung, die in Zeiten musikalischer Übersättigung eine geradezu reinigende Wirkung entfaltet.

Orgel

Laute

Northern Baroque Sweelinck, Buxtehude & Co. Jan Pieterszoon Sweelinck: Toccata; Echo fantasia; Est-ce Mars Heinrich Schütz: O süßer, o freundlicher, o gütiger Herr Jesu Christe; Eile mich, Gott, zu erretten, Herr, mir zu helfen! Heinrich Scheidemann: Lobet den Herren, denn er ist sehr freundlich; Preambulum in g Erbarm dich mein, O Herre Gott 1. Versus: Canto fermo in Tenore Erbarm dich mein, O Herre Gott Versus: auff 2 Clavir Dieterich Buxtehude: Toccata in d Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ Passacaille in d; Fuga in C; Komm Heiliger Geist, Herr Gott; Klag-Lied

Fabien Moulaert, Orgel Zsuzsi Tóth, Sopran Coviello CLASSICS COV 91504

Heinrich Schütz gilt heute als Be­ gründer der norddeutschen barocken Orgelmusik. Allerdings etablierte schon kurz vor seiner Zeit, gegen Ende des 16. Jahrhunderts, Jan Pieterszoon Sweelinck in Amsterdam eine neue Orgelschule, die wenig später auch für Norddeutschland prägend wurde: Ne­ ben vielen anderen studierte Heinrich Scheidemann bei Sweelinck. Später war er langjähriger und einflussreicher Organist der Hamburger Katharinen­ kirche und etablierte dort dessen stilis­ tische Neuerungen in Improvisation und Komposition. In der Blütezeit der Hansestädte bildete sich – trotz der Schatten des 30jährigen Krieges – die auf Sweelinck basierende norddeutsche Schule in zahlreichen, oft reich ver­ zierten und komplex kombinierten For­ men wie Toccaten, Choralfantasien und Lied-Variationen aus, die im Werk von Dieterich Buxtehude einen Höhepunkt findet. Fabien Moulaert und Zsuszi Toth zeichnen in ihrer Neueinspielung eine knapp hundertjährige Entwicklung von Sweelinck bis Buxtehude nach – an der großen Arp-Schnitger-Orgel in der Hamburger Jacobi-Kirche, einer der bedeutendsten in fast unverändertem Originalzustand erhaltenen Barock-Or­ geln überhaupt.

Samuel Scheidt (1587-1654) Tabulatura nova III Franz Raml an historischen Orgeln: Scherer Orgel St. Stephan in Tangermünde, Schnitger Orgel in St. Jacobi Hamburg, Putz Orgel im Praemonstratenser-Chor­ herren-Stift Schlägl (A) MDG 614 1895-2 (2 CDs)

Mit der dritten Folge schließt Franz Raml die Gesamtaufnahme von Scheidts „Tabulatura nova“ ab. Den als „Referenz­ einspielung“ gelobten ersten beiden Teilen folgt Schlusspunkt und Krönung zugleich: An den historischen Orgeln in Tangermünde, St. Jacobi in Hamburg und dem oberösterreichischem Stift Schlägl entfaltet der umtriebige Organist ein prachtvolles und vielfarbiges Klangfest frühbarocker Kirchenmusik.

Fernstudium Die „Tabulatura nova“ schrieb Scheidt für seine Schüler auf – der vielbeschäftig­ te Musiker hatte einfach kaum noch Zeit zu unterrichten… Entsprechend finden sich in der Sammlung vor allem Werke, die als exemplarische Vorlagen zu Stu­ dienzwecken gedacht waren. Im 3. Band stehen liturgische Stücke im Vordergrund: Neben Magnificat-Vertonungen in allen Kirchentonarten auch Hymnen für die ho­ hen Festzeiten des Kirchenjahres. Revo­ lutionär ist die Notation: Zum ersten Mal erscheint Orgelmusik in Partiturform – so lassen sich die Satzstrukturen besser er­ kennen, und auch die Übertragung in die damals übliche Buchstabentabulatur zum praktischen Gebrauch vertiefte den didaktischen Nutzen. Wertvolle Hinweise zur Registrierung der einzelnen Stücke gibt Scheidt selbst im Vorwort zum 3. Band der „Tabulatura nova“: Auf dem „Rückposetif mit einer scharffen Stimme“ könne der cantus firmus gespielt werden, oder am schöns­ ten sei „den Alt auff dem Pedal zu spielen“. Detaillierte Beispiele für geeignete Regis­ terkombinationen ergeben ein umfassen­ des Bild von Scheidts Klangvorstellung, die an den aufwändig restaurierten Origi­ nalinstrumenten zu neuem Leben erwacht.

Ausgabe 2015/2

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François Dufaut (1604-1670) Les Accords Nouveaux III (Suiten in c, g, B, d und B) + Jacques Gallot: Prélude; Le Sommeil de Dufaut Sigrun Richter, Laute Ambitus AMB96956

Aufbruch in eine andere Klangwelt, die Entwicklung eines neuen Lautenstils – der Beginn des 17. Jahrhunderts ist reich an Neuigkeiten für die Laute. Wäh­ rend in Italien Chitarrone und Arciliuto entstehen, entwickelt sich in Frankreich aus der 10-chörigen Renaissance-Laute die 11-chörige Barocklaute. Die Möglich­ keiten größerer Resonanz öffnen den Weg für den französischen barocken Stil. François Dufaut gehörte zusammen mit den Komponisten Mesangeau, Pierre Gaultier, Chancy, Chevalier, Dubuisson, Bouvier zu jenen „Revolutionären“ der Laute, die durch die Accords Nouveaux schließlich die neue Barocklautenstim­ mung entwickelt haben.

Revolutionär mit Erfolg beim Adel Dufaut hatte in den 20er Jahren des 17. Jhs. großen Erfolg in der Lautenszene der Pariser Adelskreise, und bald darauf gingen seine Werke in die gedruckten Sammlungen des Verlagshauses Ballard ein. So eilte ihm schon sein Ruf voraus, als er 1652 aufbrach, um als Virtuose auch außerhalb Frankreichs Karriere zu ma­ chen. Die vielen Handschriften mit hohem Anteil an Dufaut-Werken in schweizeri­ schen, österreichischen, böhmischen und deutschen Archiven belegen die große Wertschätzung, die dem Virtuosen und seinen Werken überall entgegengebracht wurde. Offenbar in den früheren Jahren Dufauts entstanden die Suiten in B-Dur für 10-chörige Laute. Dem gegenüber stehen die vermutlich später komponierten Suiten für 11-chörige Laute in c, g und d. Die CD schließt mit der großartigen Huldigung an Dufaut von Jacques Gallot aus seinen „Pièces de Luth“ 1681, dem Tombeau „Le Sommeil de Dufaut“.


Im Blickpunkt

CLASS : aktuell Geistliche Musik

Johann Sebastian Bach Die lutherischen Messen, Vol. 1: Lutherische Messen BWV 235-236 Sanctus G-Dur BWV 240 Sanctus BWV 241, 238, 237 Kyrie c-Moll BWV Anh. 26 Christe c-Moll BWV 242 Blazikova, Lunn, Blaze, Türk Bach Collegium Japan, Masaaki Suzuki BIS BIS-SACD-2081

Längst hatte die Reformation die traditionelle Liturgie und Form des Gottesdienstes zu Bachs Zeit gründlich verändert, und die deutsche Sprache hatte das Kirchenlatein verdrängt. Rudimentär verblieben Elemente der großen Liturgie des römisch-katholischen Hochamts, insbesondere der Messe, aber doch im lutherischen Gottesdienst. Dies gilt be­ sonders für das Kyrie und das Gloria, die denn auch entsprechend häufig auch von protestantischen Komponisten ver­ tont wurden. Obwohl in der verkürzten Form unvollständig, wurden diese Werke dennoch „Messe“ genannt. Heute spricht man, um diese Werke von vollständigen Messvertonungen zu unterscheiden, von den „lutherischen Messen“. Auch Bachs berühmte h-Moll-Messe hat ihr kompo­ sitorisches Leben als lutherische Messe begonnen, und vier andere Exemplare dieser Gattung aus Bachs Feder sind auf uns gekommen. In allen Fällen greift Bach ausgiebig auf bereits existierendes musi­ kalisches Material zurück; die zwei auf dieser SACD vorgestellten Messen sind sogar komplette Parodie-Messen.

Ausgiebig zitiert

Chor

Lied

Concert Clemens Werke von Gade, Mendelssohn, Lewkovitch, Duruflé, Gesualdo, Nystroem, Nystedt, Taverner, Arason, Jersild, Byrd, Janequin Vokalensemble Concert Clemens Carsten Seyer-Hansen Danacord DACOCD752

Concert Clemens, in Aarhus behei­ matet, besteht aus 16 ausgebildeten Sän­ gerinnen und Sängern und hat sich einen festen Platz in der dänischen Chor- und Ensembleelite erarbeitet (nicht zuletzt nach dem 1. Platz beim internationalen Chorwettbewerb 2009 in Randers). Un­ ter anderem Frieder Bernius und Paul Hillier haben dieses äußerst leistungs­ fähige Vokalensemble schon geleitet. Das Ensemble verfügt dank seiner professionell ausgebildeten Stimmen über weitreichende stimmliche und musika­ lische Fähigkeiten. Dies ermöglicht dem Chor denn auch Ausflüge in sehr unge­ wohntes Repertoire abseits des Üblichen.

Lust am Experiment So konnte Concert Clemens Johann Sebastian Bachs Johannespassion in einem Arrangement für Chor, Saxophon­ quartett und Basso continuo aufführen. Nach zwei Konzerten in Berlin im Frühjahr 2009 nahm Concert Clemens das Requiem und vier Motetten von Maurice Duruflé für CD auf. Die hier vorgestellte neue CD bietet einen reprä­ sentativen Querschnitt durch das weit gefächerte Repertoire des Ensembles, das von Musik der frühen Renaissance bis zur Gegenwart reicht.

Begleitet werden sie hier von SanctusKompositionen, auch dies eigentlich ein Teil der katholischen Messe, der aber oft als eigenständiges Werk vertont wurde. Zwei davon sind Originalkompositio­ nen, während BWV 241, vielleicht auch BWV 240, Arrangements von Werken anderer Komponisten sind. BWV 241 stammt im Original von Johann Kaspar Kerll. Und Kyrie und Christe c-Moll schließlich sind Umarbeitungen von Kompositionen des Francesco Durante.

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Ophelia sings Liedzyklen von Rihm, Schumann und Strauss Wolfgang Rihm: Das Rot Sechs Gedichte der Karoline von Günderrode für Sopran und Klavier Robert Schumann: Liebeslied (Goethe) op. 51 No. 5 Robert Schumann: Sechs Gesänge op. 107 Richard Strauss: Mädchenblumen Vier Gedichte von Felix Dahn für eine Singstimme und Klavierbegleitung op. 22; Drei Lieder der Ophelia (Seeger, nach Shakespeare) op. 67 Wolfgang Rihm: Ophelia sings Drei Lieder für Sopran und Klavier (Shakespeare)

Annika Gerhards, Sopran Pauliina Tukiainen, Klavier Coviello CLASSICS COV 91506

Immer wieder war in der Musikge­ schichte seit dem frühen 19. Jahrhundert vor allem das Lied Kristallisationspunkt emotionaler Extreme – große Gefühle wie Liebe, Verzweiflung und Todes­ sehnsucht können in der knappen Form besonders prägnant auf den Punkt gebracht werden, der unmittel­ bare Bezug von Wort und Musik lässt auf engem Raum höchste Dramatik ent­ stehen. Robert Schumann und Richard Strauss stehen in dieser Tradition, und auch Wolfgang Rihm, der wohl popu­ lärste deutsche Komponist der Gegen­ wart, hat sich mehrfach dieser Gattung zugewandt. In „Das Rot“ vertont er Texte von Karoline von Günderrode, einer romantischen Dichterin, die sich in ihrem kurzen Leben vom Widerspruch zwischen ihrer ungestümen Emotionali­ tät und der aufgezwungenen Frauenrolle ihrer Zeit zerrissen sah. Annika Gerhards stellt sie in Bezug zum Schicksal der seelenverwandten Ophelia aus Shakes­ peares Hamlet, vertont in einer WeltErsteinspielung von Rihms jüngstem Liedzyklus Ophelia sings mit Ori­gi­nal­ texten und im bekannten Ophelia-Zyklus von Richard Strauss. Ergänzt wird das Kompendium tragischer Frauenschick­ sale durch einige Schumann-Lieder.

Ausgabe 2015/2

Jazz

Remembering the Rain – A Jazz View Bill Evans, George Enescu, Jerome Kern, Arthur Hamilton, Béla Bartók, John Lewis, Peter de Rose, John Coltrane

Valentin Radutiu, Cello Benjamin Schaefer, Klavier Markus Rieck, Schlagzeug Hänssler CLASSIC CD-Nr. 93.331

Nur ein paar wenige, berühmte Jazz-Bassisten haben es unternommen, über die Grenzen ihres Instrumentes hinauszugehen und neue Möglichkeiten auf dem Cello zu suchen. Nun hat der Cellist Valentin Radutiu den Spieß um­ gedreht und zeigt, wie viel Jazz im Cello steckt: Mal als Bass, mal als Gitarre, und natürlich als Stimme. Das Repertoire die­ ses außergewöhnlichen Albums stammt überwiegend aus dem Fundus des „Great American Songbook“, ergänzt um Stan­ dards der gemäßigten Jazzmoderne von John Lewis bis zum Meister improvisie­ render Intensität Bill Evans, außerdem zwei Anker aus der klassischen Musik, um die eigenen Wurzeln nicht völlig außer Acht zu lassen.

Fulminantes Trio Unterstützt und gefordert wird Valentin Radutiu dabei von zwei Jazzkollegen, die ihrerseits zu den renommierten Grenz­ gängern ihres Fachs gehören und mit der passenden Mischung aus Behutsamkeit und gestalterischer Kraft das Projekt wachsen lassen: Benjamin Schaefer am Klavier und Markus Rieck am Schlag­ zeug. Das ist ein Team, das mit viel ge­ genseitiger Hochachtung und einer Prise Witz die Berührung und Verschmelzung von Kontrasten in den Mittelpunkt stellt. „Remembering the Rain“ ist ein Pro­ gramm, das keine Revolution vom Zaun bricht. Es arbeitet sich vielmehr be­ dächtig genug voran, um dem Cello klassischer Provenienz im Raum des Jazz seinen Platz zu geben. Denn es geht nicht um Konfrontation, sondern um die Verbindung von Radutius immensen spielerischen Kompetenzen mit einer Musik, die er liebt – und das auf emo­ tionaler und ästhetischer Augenhöhe.


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