Habilitationsvortrag Material Culture

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Material Culture – zur Neubestimmung eines zentralen Aufgaben- und Lernfelds für die Angewandte Kulturwissenschaft. (von Thomas Düllo)

Abb. 1

Da passiert was? Nicht von den ersten, auch nicht von den letzten Dingen ist die Rede. Auch kein ‚Zurück zu den Sachen’, gar eine neue Sachlichkeit. Aber doch eine deutlich sich abzeichnende Hinwendung zur Welt der Dinge, zur Objekt-Welt, zur Welt des M ateriellen, kurz zur material culture. Ein paar Befunde aus Wissenschaft und Kunst: da widmet sich der Soziologe Richard Sennett, ein Enkel der Chicagoer Schule, in seiner letzten Publikation dem Handwerk, die Cultural Studies kennen bereits ein Subgenre wie ‚M aterial Studies’ mit der Galionsfigur Daniel M iller. Es erscheinen Bücher mit dem Titel Wild Things – The Material Culture of Everyday Life oder Reader über die Material Culture, während Bruno Latour seinen Auftritt mit einer symmetrischen Anthropologie hat; die ANT, die Akteur-NetzwerkTheorie, und Latours Kollektive hinterlassen in zahlreichen Wissenswelten ihre Spuren und Anregungen. Die Wissenschaftshistoriker Daston und Galison verfassen ein


materialdurchtränktes Buch über Objektivität, eine ethnologische Publikation von Peter Hahn über Materielle Kultur von 2005 zählt bereits ca. 30 deutschsprachige Dissertationen zwischen 1962-1992 zum Thema, seitdem hat sich die Zahl dramatisch erhöht. Es existiert ein Journal of Material Culture seit über 10 Jahren, die deutschsprachige Zeitschrift für Kulturwissenschaften eröffnet ihr Auftaktheft 2007 mit dem Thema Fremde Dinge. Es erscheinen Bände mit Quellentexten zur Materialästhetik, vom ubiquitären Design-Boom ganz zu schweigen. M an erinnert sich der Art of Assemblage, einer Ausstellung des M useums of M odern Art von 1961; gleichzeitig werden Texte neu ediert wie Peter Wehrlis Katalog von Allem mit 1697 Nummern aus vierzig Jahren (1990/2008) oder Andreas Okopenkos materialreiches Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden (1970/2008) – überhaupt Praktiken und Theorien der Katalogkultur, des Sammelns und der Sammlungen sowie textualistische und nicht-textualistische Archivtheorien zum Raum des Profanen, von dem Boris Groys spricht, wohin man blickt. Auch die Sektion Historische Bildungsforschung führt in genau einem Jahr einen Kongress durch zum Thema Materialität der Erziehung. Wir erleben eine Neubewertung der Fetischisierung (Böhme) und der Vergesellschaftung durch Konsum, einher mit einem Interesse für Aneignungstheorien und methoden und damit auch für das Lernen mit den Dingen, dies auch, aber nicht nur aus medienkompetenztheoretischer Sicht. Und die im frühen Herbst am umfangreichsten rezensierte literarische Publikation ist, nein nicht Die Box von Günter Grass, sondern Orhan Pamuks Istanbul-Roman Museum der Unschuld mit dem Konzept eines M useums über aufgehobene Dinge und Kleinigkeiten mit biografischer Bedeutsamkeit. Es passiert also was, das ich nun ein wenig bannen, kanalisieren, kontextualisierend beschreiben und auch in seinem Potential artikulieren möchte.

Es ist immer verdächtig, wenn so etwas wie ein ‚Zurück zu den Sachen’ erklingt. Entweder findet dies nach stark politisierten und ideologisch geführten Debatten und Themen oder nach dem vermeintlichen Scheitern avancierter Utopien und Großthemen statt. In einem solchen Fall kommt der Ruf ‚Zurück zu den Sachen’ einer Beruhigungs- und Bescheidungstaktik in Wissenschaft, politischer Debatte und Alltagsdiskursen gleich und verspricht mehr Konkretheit und halt Sachlichkeit. Dies ist jedoch im Augenblick wohl nicht der Fall. Das Thema Materielle Kultur und Materialität ist zum einen ein Aus gleichsprogramm, denn es macht sich für ein zu sehr vernachlässigtes Thema stark – vernachlässigt gegenüber Geistoder M entalitätsthemen. Zum anderen handelt es eher um ein thematisches Großmachen eines vermeintlich marginalen Themas, und zwar so, dass im interdisziplinären Sinn M aterialität


durchaus neu, radikaler und umfassender gefasst wird als bisher. Vor allem als Beziehungs größe einer symmetrischen Anthropologie und Handlungshermeneutik. Wir werden sehen. Die prima materia der Literaturwissenschaft im „Konnex mit der kulturwissenschaftlichen Körperdebatte [...], Körper [nun ] betrachtet als Produkt und Effekt unterschiedlicher kultureller und diskursiver Praktiken“, gehört auch hierzu. Ich spare dies aber als Unterthema ebenso aus wie eine ausführliche Würdigung von Designfragen und Produktionsfragen.

i

Auch will mich nicht lange mit Begriffsklärungen heute aufhalten. Nur so viel: Die Begriffe Ding, Objekt, Sache und Gegenstand werden oft ähnlich verwandt, sind aber nach gängigem Urteil wohl zu unterscheiden. So unterscheidet Bill Brown in seiner Ding-Theorie „zwei Erscheinungen von Gegenständen: Objekt und Ding. Er vergleicht Objekte mit einem Fenster, durch man die Welt betrachtet, um zu erfahren, was sie uns über Geschichte, Gesellschaft, Natur oder Kultur zu sagen haben. Das Objekt als Gegen-Stand steht in einer klaren Distanz zum Subjekt, ist differenziert, objektiv, in menschliche Sinn- und Nutzungszusammenhänge. Anders das Ding: Es ist nicht transparent, funktioniert nicht als Fenster zur Welt, sondern ii konfrontiert uns mit seinem eigenen sperrigen Wesen – seiner Dinglichkeit.“ Ähnlich

bestimmt Hahn ‚Dinge’ als „alle materielle Gegenstände“, also „alle berührbaren und sichtbaren Dinge, die den M enschen umgeben, wobei der Umgang mit diesen Dingen eine hervorragende Rolle spielt“. ‚Sachen’ sind dagegen wie bei Brown „nur die vom M enschen geschaffenen Objekte, also Artefakte.“ Trotz dieser begrifflichen Unterscheidungen hat sich vielfach eingebürgert, von ‚Dingen’ zu sprechen. Ich verfahre genauso. Ähnlich konsensuell verfahren nicht wenige thematische Unterteilungen: Im Groben schreiten sie die Trias ab von der M aterialität der Dinge und ihre Wahrnehmung über den Umgang mit Dingen zu den Bedeutungen der Dinge bzw. zu den Dingen als Bedeutungsträger. iii Ich folge dieser Darstellung nicht, sondern biete eine Annäherung, auch in Sinne eines Zwischenresümees, in 8 Schritten an und konzentriere mich mehrfach auf einen bestimmten Ding-Typus, nämlich besonders auf wild things, hidden things und objets trouvés – aber auch Fragene der Dialektik von Indirektheit und Unmittelbarkeit. M anchmal sagen eben Gartenzwerge mehr aus als Vielvölkerfoto. (Siehe Abb. 1)

1. Dinge sind nicht lesbar, Dinge sprechen nicht So gern wir es metaphorisch wahrhaben wollen und so sehr natürlich die Künste es immer zeigen, aber die Dinge sind nicht lesbar, sie sprechen nicht. Anders als Sachen, sind Dinge


nicht immer verfügbar. Das meint der berühmte Eigensinn der Dinge. Insofern thematisiert die material culture immer auch das Fremde und die Schwierigkeiten der Verfügbarkeit und des Verstehens. Es bedarf schon bei der Wahrnehmung der Dingwelt des ‚langen Blicks’ iv anders als beim ‚schnellen Blick’ auf Texte, wie Assmann sagt, besonders bei so genannten

‚dichten Objekten’.v Wenn Heidegger die „Bündelung von Sichtbarem, Fühlbarem und den vi dadurch präsenten M öglichkeiten“ in dem Satz „Der Krug krugt“ formuliert , dann steckt in

diesem Krugenden der Hinweis auf die Eigensinnigkeit und M aterialität, er besagt aber auch die Herausforderung zu einer kontextualisierenden und handlungshermeneutischen Sichtweise: „Anhand des Krugs erläutert Heidegger, wie unzureichend eine Beschreibung des Aussehens ist, wenn nicht auch die darin enthaltenen Flüssigkeit (Wasser, Wein) und die damit verbundenen Tätigkeiten (Einschenken) eingegangen wird. Wahrnehmung ist mehr als das unmittelbar Sichtbare. Sie erfordert stets ein Eingehen auf die in den Dingen enthaltenen M öglichkeiten. Andernfalls entgeht dem Beschreibenden die ‚Nähe des Dings.’“ Auch textualistisch mittels der Analogie ‚Kultur-gleich-Text’ löst sich diese Nichterschließbarkeit der Dinge zunächst nicht auf. Ein Objektzeichen ist nicht immer schon Sprachzeichen.

Abb. 2

Abb. 3

Drei Beispiele: (Abb. 2) Erst vor ein paar Jahren wurde am Frankfurter Hauptbahnhof das Wort „Hauptbahnhof“ in Leuchtschrift angebracht. Er schien der Stadt wohl nicht genügend definiert. (Abb. 3) Oder kennen Sie aus den 70er und 80er Jahren die unverständlichen


Gebilde, die einem auf jeder Landstraße begegneten und auf denen eine das Ganze noch unverständlicher machende M arkenbezeichnung stand: „Ich bin zwei Öltanks.“ vii. (Abb. 4)

Abb. 4

Abb. 5

Ähnlich lösen viele Objekte eine Unlesbarkeit aus, die mit der M ittelung „Ich bin umweltverträglich“ kompensiert wird, dazu reicht manchmal auch ein Baum (Abb. 5). M it dem Gesagten ergeben sich Herausforderungen für die Beschreibung materieller Kultur unter den erschwerten Bedingungen ihrer Wahrnehmbarkeit.

Ich formuliere eine erste Aufgabe für diesen Aspekt: Ding-Forschung ist als Fremdheitsforschung zu betreiben. M it langem Blick für dichte Objekte, und das heißt in Handlungs- und Kulturkontexten, aber mit Vorsicht auf ausschließlich textualistische Perspektiven der Beschreibung. Wenn Fremdheit das treibende M oment dieser Art von Ding-Forschung ist, erweist sich die materielle Kultur als Querschnitts-Thema für verschiedene Disziplinen, wenn man nur an die „neue Gegenstände der Naturwissenschaften, abgelegte Sachen der Vergangenheit, neue Erfindungen der menschlichen Technologie“ denkt oder an die „wenigen Sachen,


die uns von den M enschen überliefert sind, die der europäischen Tradition ganz fern gestanden haben.“ viii

2. Der Aufstand der Dinge

Abb. 6


Abb. 7

Wir bleiben noch kurz bei der Nichtlesbarkeit und der Fremdheit der Dinge. Die kulturelle Selbstbeschreibung hat dieses Phänomen häufig und variantenreich zugespitzt unter dem Bild und der Denkfigur des Aufstands der Dinge (Abb. 6). Ob als Mythos vom Aufstand der menschlichen Geräte gegen ihre Herren in der Prochimu-Kultur Perus, wo der häusliche Sachbesitz der Indianer sich plötzlich gegen die schlafenden M enschen richtet; oder ob im Slapstick des frühen Kinos, wo die Tücke des Objekts als Rache einer sich der menschlichen Verfügung verweigernden Dingwelt komisches Kapital gewinnt, oder ob in der immer noch absurdesten Konstruktion wie bei Kafka und seinen Zeitgenossen (Abb. 7). So heißt es in dem Kurzprosatext Die Sorge des Hausvaters über das Odradek: „Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur ineinander verfitze Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der M itte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. M it Hilfe dieses Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen“. „Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf.“ Soweit Kafkas Hausvater. Wie soll man sich das nun vorstellen, wie Jeff Walls Odradek, den Sie im Hintergrund sehen?


Abb. 8


Abb. 9

Den Aufstand der Dinge gibt es immer noch, nicht nur im Film und seinen spezifischen Genres vom Fantasyfilm bis zur Comicadaption. In der M odellbauinstallation „Fallen Star“ des Koreaners Do Ho Suh crasht ein Häuschen in der typischen Bauweise seiner koreanischen Kindheit in ein vierstöckiges Apartmenthaus aus Providence, Rhode Island, Do Hu Suhs zweiter Heimat. (Abb. 8) Der Betrachter der Installation kann diese Art eines Clashs der Kulturen quasi im Totaleinblick in allen Details und von allen Seiten studieren. (Abb. 9) Ähnlich hat das kubanische Künstlerkollektiv Los Carpinteros ihre „Show Room“ (Abb. 10) betitelte Explosion angelegt: wie in einem Filmstill wird der M oment der Explosion festgefroren, ein stabile Wand birst (denken Sie ruhig assoziativ an die Berliner M auer oder an das Wegsprengen politischer Bedingungen in Cuba), die zerstobenen Dinge (nicht selten M öbel der Ikea-Welt) hängen an Fäden. Gründe der Explosion und des Festfrierens dieses M oments des Dingberstens werden verweigert. Hier ein zweites Beispiel: Abb. 11.


Abb. 10


Abb. 11

M ein Aufgabenauftrag für diesen zweiten Aspekt: Es geht um das Aufspüren, Beschreiben und Vergleichen von M ustern unverfügbarer Dinge: In Kunst, Literatur, Film, Comics, aber auch als so genannte „Wild Things of the Everyday Life“, von denen Juddy Attfield spricht. So entsteht eine M atrix für ix „things with attitude“ , das sind Dinge jenseits der Doktrin des ‚guten Designs’, die

einer definierten visuellen Signatur gehorchen. Doch auch diese ‚hidden and wild things’ sind Orientierungshilfen im Alltagsleben.


3. Dinge als Identitäts- Sozialvokabeln: Responsivität und Appellcharakter der Dinge

Nun muss ich das bisher Gesagte fast zurücknehmen, zumindest relativieren. Gegenüber der berechtigten Vorstellung von Autonomie und Fremdheit der Gegenstände ist nämlich einzuwenden, dass die Dinge zwar nicht sprechen und auch vielfach nicht lesbar sind, dass sie aber uns etwas sagen, weil sie artikulierbar sind. M an kann dies in einer Theorie der Kollektive wie Latour fassen (was ich heute nicht ausführlich tun will, das habe ich ja schon letztes M al getan), also in Form einer symmetrischen Anthropologie, die man für soziotechnische Crossover oder für Fragen der M ediennutzung applizieren kann. M an kann dies aber auch in Form einer unterstellten Responsivität und Appellfunktion der Dinge formulieren. Dies ist sowohl von Bedeutung für erziehende Dinge, wie M eyer-Drawe betont, als auch für eine ethnologisch und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Auffassung von Konsumkultur, vor allem in Anschluss an M cCracken. Abb. 12

Responsivität und Aufforderungscharakter der Dinge meint dann, dass man von einem Beziehungs gefüge zwischen M enschen und Dingen auszugehen hat, bei dem es auch zu Austauschprozessen von Eigenschaften kommt. M an kann dies als Vorgang der Hybrid- oder Kollektivbildung bezeichnen, bei dem Übersetzungen und Artikulationen vor allem eine Rolle spielen. (Hier verweise ich auf meine Arbeit) Vier Dimensionen bei diesem Prozess möchte ich akzentuieren: (1) Dass Dinge (und nicht nur andere Subjekte und Gruppen) den Prozess der Identitätsbildung ganz wesentlich mitsteuern als Identitätsvokabeln – wie in diesem Privatfoto Clint Eastwoods (Abb. 12), als er noch unbedeutender Westernseriendarsteller war, aber doch ganz lässig und stilvoll seine eigentliche Identitätsdinge, ein Jazzreferenzsystem der 40er und 50er Jahre um sich herum gruppiert: „man sieht schon einen künftigen M eister.


Dessen Charakterbildung kann bereits als weitgehend abgeschlossen gelten, auch wenn seine Wohnung nur halb eingerichtet ist“, wie die Süddeutsche zeitung untertitelt.x Somit wird (2) Identitätsbildung auch als materiell unterstützter Gruppen- und Individualstil beschreib- und unterscheidbar. Und M aterialität spielt hierbei eine große Rolle. So hat sich Goethe über zwei Jahrzehnte beim Verfassen seiner Tagesnotizen für den „Gothaischen verbesserten Schreibkalender“ entschieden, einem „Taschenbuch mit vorgedrucktem Kalendarium und gegenüber ausfüllbaren Einnahmen- und Ausgabenregistratur. Sie wiesen einen Durchschuss auf, sodass die 115 auf 190 M illimeter messenden Bücher ein dickliches Ansehen von etwa 6 Zentimeter haben. Ab 1817 ließ Goethe dann Folioblätter in zwei Spalten knicken und erst im Nachhinein heften, sodass deutlich mehr Raum für die nunmehr reichere und systematischere xi Tagebuchführung vorhanden war.“ So heften sich Geschichten an Dinge, mit deren Hilfe

auch der erfolgreiche Hersteller des M oleskine-Kalenders ein ausdifferenziertes, wenn auch flunkerndes Storytelling betreibt nach dem M otto „das legendäre Notizbuch von Hemingway bis Sartre“. (3) Als Konsumkultur werden die Waren als Vergesellschaftungsvehikel xii interessant. Hier entstehen Aufgaben der Verfertigung von „consumtionscapes“ . Es wird

prognostiziert, dass die Ethnologie des Konsums á la Daniel M iller „in den nächsten Jahren wichtiger werde als die Verwandtschaftsethnologie.“

xiii

Wie sehr Konsum als Identitätsmittel,

als soziales Beziehungsvehikel und als Kommunikationsträger fungiert, wird in jeder Rendezvoussituation deutlich – also ausgerechnet in einer Situation, wo es um Gefühle, um Liebe geht: welche Hose, welches Schuhe, welcher Rock, welches Parfüm, der ganze Sichtbarkeitszwang aufmerksamkeits- und zuwendungstaktischer Arrangements, welche Tonträger und Abspielgeräte (vielleicht ist so der Wechselplattenspieler in den 50er/60er entstanden, wer will schon einen sich anbahnenden Kuss nach einer Single von 3 M inuten abbrechen), wessen und welches Auto, welches Restaurant, welche Tassen und Gläser, Kerzen gar, wer bezahlt, wie viel Trinkgeld? All diese Fragen sind der Rendezvoussituation eingeschrieben, und Auswahl, Revision, Neuentscheidung und Arrangements all dieser das Rendezvous rahmenden Dinge beansprucht in der Regel viel mehr Zeit als das Rendezvous xiv selbst. (4) Der Konsumwandel ist ein Beispiel für die „Prozesshaftigkeit der Sachkultur“ ,

wie überhaupt die Geschichte der Dinge und ihrer Umgangsweisen als Indikatoren für das xv „adapting and resisting social change“ zu beforschen sind.

Aus dem Gesagten schließe ich: M aterial Culture Studies zu betreiben als Konsumkulturforschung im Sinne einer Vergesellschaftungspraxis, als Stilforschung (nicht nur jugendlicher Subkulturstile)


und mit besonderem Fokus auf Konsumwandel und die Rolle der Dinge in der Dynamik des gesellschaftlichen Wandels. Was die M aterialität und Stofflichkeit betrifft, lassen sich Anleihen bei der jüngsten M etamorphosenforschung (siehe auch Richard Sennett) machen.

4. Aneignung/Lernen mit Dingen/Das Prinzip der Indirektheit per materialer Unmittelbarkeit Zum Forschungsdesign der material culture gehört die Frage, wie werden Dinge und Artefakte angeeignet, verarbeitet und genutzt, mit welchem Bedeutungsarsenal und welchem Lernpotenzial agieren die Aneignenden? Piaget hat zu diesem Prozess der Aneignung aus entwicklungspsychologischer Perspektive ja Entscheidendens gesagt, und in der M aterialDidaktik des Ansatzes von M ontessori wird eine M enge des Eigentätigkeitsaxioms verwirklicht. Allerdings gibt M eyer-Drawe zu bedenken, dass die erziehende Dinge in der M ontessori-Schule und in der Reformdidaktik, vom üblichen staatlichen Schulbetrieb ganz abgesehen, immer einem Funktionalismus und einem didaktischen Plan folgen und „nicht xvi etwa der Freiheit, sich auf die Appelle der Dinge einzulassen“ . M an könnte es auch so

sagen: wo sind die wild things und objets trouvés in der M onterssori-Schule? M eyer-Drawe plädiert deshalb in Anlehnung an gestaltpsychologische und phänomenologische Ansätze für Versuche, „den Fallen des Funktionalismus, der M ystifikation, des Positivismus, aber auch des puren Konstruktivismus zu entkommen, ohne sich in vorklassische Idyllen zu verstricken.“

xvii

M eyer-Drawe spricht von den ‚Feldkräften’ der Dinge und einer evozierenden

Welt, gibt aber weitere didaktische oder forschungsrelevante Hinweise nicht. Von anderer Seite hat Böhme in großer Nähe zu Latour den grundsätzlichen Versuch unternommen, Fetischisierung zu entfetischisieren und zu normalisieren als einen Vorgang der modernen Aneignungspraxis. In diesem M odell bestimmt sich die Qualität des Handelns in der symmetrischen Beziehung und Artikulation der Dinge, denn Dinge machen sich bemerkbar und regeln das Handeln mit (z.B. Sportgeräte). Artefakte sind demnach inkorporierte Handlungsschemata und enthalten Skripte von Operationen mit Passung. Es kommen also die Spezifität der Dinge und das Konzept des Handelnden zusammen. Im anthropologischen und identitätsbildungstheoretischen Sinn sei auch noch einmal an die Dialektik von Indirektheit und Unmittelbarkeit erinnert, durch die Dinge und Sachen für den M enschen eine Funktion gewinnen. Einerseits vermitteln sie als haptischer, händischer, direkter Zugang ein unmittelbares Verhältnis zur Welt. Andererseits gehorchen Dinge und Sachen dem Prinzip der Indirektheit, ja des Umwegs, weil sich Identität und Sozialität nicht direkt, sondern auch und stets über eine Ding-Beziehung entwickeln.


In interkultureller Perspektive ist es nun interessant, dass Aneignung von globalen Artefakten und Waren sowie die Interferenz, die dabei zwischen Handelnden und fremder Ding-Welt stattfindet, entgegen vielfachen Annahmen wohl nicht zwangsläufig nach dem M uster sich vollzieht von Überfremdung und der Gleichsetzung von ökonomischer Armut und geringem Sachbesitz. So vermitteln zahlreichen Studien, nach Hahn, die „Einsicht, dass geringer Sachbesitz oder gar die Verweigerung gegenüber der Güterexpansion durchaus nicht mit dem Fehlen ökonomischer M ittel gleichgesetzt werden darf“

xviii

. Zum einen gibt es verschiedene

Auffassungen von Wohlstand, zum anderen erfolgt die Aneignung fremder Konsumgüter in archaischen Gesellschaften nicht notwendigerweise in Widerstreit mit vermeintlichen ‚echten’ Bedürfnissen. Stahläxte dienen einer Gruppe von Papua-Neuguineanern halt rituellen Zwecken und werden als ‚luxurary goods’ betrachtet und nicht als Arbeitsgerät. Unerwartete Aneignungen und Bedeutungszuschreibungen definieren damit ‚Landschaften des xix

Konsums’

mit einer Vermischung von lokalen Gütern eines ‚puritanischen’ Konsums mit

Formen eines ‚demonstrativen Konsums’ via globaler Güter.


Abb. 13

Hier ein Fall von technischer Aneignung bei gleichzeitig ideologischer Ablehnung. (Abb. 13) F체r das revolution채re China stand das Grammophon auf dem Index, chinesische Gangster aber vernarrten sich in Aufnahmen chinesischer und westlicher M usiktradition aus Berlin, London und Chicago, die Kulturrevolution befiehlt M odellopern und adaptiert das Grammophon trotz westlicher Dekadenzsymbolik.


Abb. 14

Ein anderer Fall ist die Aneignung und Umschreibung von M üll in Form eines kreativen Recyclings – zur Herstellung von hübschen Souveniers und Gebrauchs gegenständen. (Abb. 14)

Ich resümmiere für diesen Aspekt: M aterial Studies erforschen Dinge als materialisierte Übersetzung von Handlungsprozessen und Dinge als M edien von Handlungen. M an kann dies Interferenzforschung nennen. Sie ist auch in interkultureller Perspektive von Belang. Gleichzeitig kommen lerntheoretische und didaktische Aspekte ins Spiel. Diese führen zu Fragen vom Typus: Was ist die M aterialität des Kategorialen, also des Grundsätzlichen, Prinzipiellen und Übertragbaren? Andererseits zur Frage: Was ist das Kategoriale des M ateriellen? Erste Antworten habe ich ja gegeben. Und: Welche


Alltags gegenstände gelangen in den Schul- und Hochschulunterricht und in welcher Repräsentation und mit welcher M ethode?

5. Finden: das objet trouvé Kunst und Alltagsleben haben sich in der fortgeschrittenen M oderne angenähert. Das gilt zum einen in Fragen des ästhetischen Geschmacks, als auch in Hinsicht auf ähnlich präferierte Gegenstände in der Alltagspraxis, wie das Beispiel mit den zwecksentfremdeten M üllsäcken belegt. Das Finden von Gegenständen wird in beiden Bereichen, der Kunst wie des Alltagslebens, nicht selten fündig bei den objets trouvès, bei den trivialen Gegenständen oder Abfällen – Dadaismus, Surrealismus, Collagen und Ready-mades schreiben ihre Geschichte fort und sind ein Forschungsfeld von M aterial Studies. Vor allem als Taktik- und Strategieforschung, aber auch als Untersuchungsfeld ästhetischer Praktiken und kollektiver Urteilsbildungen. So wenn beispielsweise der Film American Beauty (Abb. 15), so heißt eine amerikanische Rosengattung, nicht das imaginierte Rosen-Bad einer von Kevin Spacey angehimmelten jungen Frau den ästhetischen Kern des Films darstellt. Dieser besteht vielmehr in einer Plastiktüte, einem objet trouvè.

Abb. 15


Abb. 16

Die M arkierung, das Spurenlesen des ästhetischen Scheins der tanzenden Plastiktüte vor einer roten Backsteinwand ist zunächst ein Objekt-Bezug, der sich der M aterialität einer durchaus zeitspezifischen Erscheinung gerade in ihrer Banalität – einer weggeworfenen Plastiktüte auf dem Trottoir – widmet und das zweckfreie ästhetischen Spiel rettet. (Abb. 16) Die Rettung geschieht zeitspezifisch: Der Tanz der Tüte wird mit einer Videokamera festgehalten vom adoleszenten Sohn des Nachbars des Protagonisten (Kevin Spacey). Er ist der flaneurshafte Spurenleser auf den vermeintlich so gar nicht für das Flanieren geeigneten Autostraßen dieser amerikanischen Stadt. Spurenlesen, Ästhetisierung des Anästhetischen und Redundanz des Alltagslebens (der Tanz der Tüte im Kreis), deren Aufzeichnung und ihre wiederholte Rezeption – all dies gehört zu den flanierenden Strategien und Praktiken. Freilich ins Gegenwärtige verschoben: vom Text zur Videokamera, vom erwachsenen zum jugendlichen Flaneur, vom bedeutungsvollen zum marginalen Zeichen, vom Historischen zum Alltäglichen.

Zum Aufgabengebiet kulturwissenschaftlicher Erforschung materieller Kultur zähle ich deshalb: Vergleichende und interkulturelle Untersuchungen zu den Taktiken und ästhetischen Praktiken im Umgang mit objets trouvès in Kunst wie Alltagsleben. Dies ist zu leisten als qualitative Nutzerforschung, führt aber auch zu Fragen der Archivierung und Archivtheorie, die zum Beispiel ihren Ausgang nehmen könnte beim komplexen


Archivierungswerk von Dieter Roth dem kürzlich verstorbenen M aler, Objektkünstler, Filmemacher und Schriftsteller. (Abb. 17)

Abb. 17

6. Spuren lesen / Spuren legen Ein wenig agiert also auch der Forscher der M aterial Culture wie ein versprengter Flaneur – von Wissensflaneuren und Cyberflaneuren ist ja längst die Rede. Als ein solcher Flaneur ist er ein Spurenleser, der Lesarten für den städtischen Raum entwickelt. Dem Spurbegriff ist „nicht nur das deutlich Wahrnehmbare und auch normativ zu Befolgende eingeschrieben, sondern xx ebenso das kaum Wahrnehmbare – situiert am Rande der Unmerklichkeit.“ . Was bei

Benjamin die Verhandlungen mit dem Warenfetischismus des 19. Jahrhunderts in den


Lesarten der Pariser Passagen und Labyrinthe darstellten oder was bei Kracauer die Entzifferung des faschistischen „Trommelwirbels“, abgelesen der Ödnis und Leere der kontrollierten Straßen ,

xxi

bedeutete, das sind den Architekturlesern wie Venturi oder Rowe

die Ähnlichkeiten zwischen Los Angeles/Las Vegas mit der Raumgestaltung und der allegorischen Zeichenpragmatik des italienischen M anierismus und seiner Baukunst. Die Popliteraten wiederum lesen in der Stadt und ihren Waren- und Werbebildern wie in einem Katalog. Lesarten und Spurenlesen kommen beim Flaneur vor allem in Gestalt der Identifizierung und Konstruktion von Ähnlichkeiten zum Tragen, als M arkierung der Differenz in der Wiederholung. Das assoziative Verfahren macht dies möglich. Und dazu ist Spürsinn notwendig. Es muss zwischen Spur und Nicht-Spur unterschieden werden: „Die Kreativität dieser Grenzziehung besteht darin, augenfällige Abweichungen und Störungen im xxii Vertrauten in das kohärente Bild einer narrativierbaren Spur zu transformieren.“ . Das

absichtslose Flanieren ist für die Spurenlese deshalb die kongeniale Bewegungs- und Entzifferungsform, weil „Spuren nicht gemacht, sondern unabsichtlich hinterlassen werden“ xxiii

(16).

Die Verschiebung des klassischen Intellektuellen-Flaneurs zum zeitgenössischen Flaneur wird in der Transformation der Haltung des Spurenlesers in Richtung des Handlungstyps eines Spurenlegers kenntlich. Das lässt sich besonders schön an dem Roman Die Festung der Einsamkeit von Jonathan Lethem studieren, einem Pop- und Entwicklungsroman von doch deutlich anderem Gepräge als die deutschsprachige Popprosa. Seine jugendlichen Protagonisten, der weiße Dylan Ebdus und der schwarze M ingus Rude, sind als Comicleser und Soulhörer Spurenleser, als Graffiti-Aktivisten jedoch Spurenleger. Diese Praktik der sich zeigenden Verhüllung wird noch überhöht durch das Phantasma von Dylan Ebdus, als „Aeroman“, als fliegender Superman wie in den M arvel-Comics die „Festung der xxiv

Einsamkeit“

zu verlassen, die Straßen und Blocks zu überfliegen und dabei als

unentdeckbarer Graffiti-Künstler die Wände der Stadt zu überschreiben. Bereits als Spielende auf und nach „dem Gesetz der Straße“ (125) sind die beiden Freunde nicht nur Spacer der Individualisierung, sondern stets auf der Suche nach posttraditionaler Vergemeinschaftung, mal gelingend als Comic- und Souls-Fans oder als angehende Street-Artisten, mal misslingend im „Würgegriff“ der anderen Jugendlichen und der „rituellen Verunsicherung“ (128). Das Spurenlegen und Spacen gelingt diesen zeit genössischen und adoleszenten Flaneuren auch deshalb, weil sie der material culture des städtischen Raums etwas abverlangen, nämlich Responsivität. Einzuordnen und zu diskutieren wäre dies unter Formen xxv

des hidden intellectualism, von dem Gerald Graff oder Heinz Bude derzeit sprechen.


Ich schlussfolgere als Untersuchungsfeld der M aterial Studies: M aterial Studies betreiben Spurensicherung als Wissenskunst und Orientierungsforschung.

7. Kulturwissenschaftliche Design- und Gestaltungsprüfung Brauchen Sie nicht auch einen bleistiftgroßen Föhn, um die Ringe an Ihrer Hand nach dem Waschen zu trocken oder eine Buch- oder Kladdenstütze an Ihrem Laptop? Vielleicht ist das eher eine Frage an das Idea Engineering von Graham Horton hier in M agdeburg. Ich will nur mit einem Satz diesen Aspekt streifen. Denkbar jedenfalls ist die sympathetische und doch auch kritische und prüfende Rolle von Kulturwissenschaftlern bei der Architekturund Produktentwicklung sowie als Innovationspartizipation.

M eine Schlussfolgerung für diesen nur angedeuteten Aspekt: Objektforschung nicht mehr nur jeweils als Volkskunde, als empirische Wissenschaft der Tübinger Schule, des Designs zu praktizieren, sondern als Verbindung von Human- und Sozialwissenschaften, von Soziologie und Anthropologie, von Ästhetik und Cultural Studies. In Fragen des Designs geht es dann um eine kontextualisierende Kritik und Prüfung.


8. M ediale Ding-Repräsentation und Ding-Inszenierung

Abb. 18

Wie die Dingwelt im Film repräsentiert und inszeniert und damit ernst genommen wird, das ist ein Qualitätsausweis eigener Art. Haben Sie sich nicht auch schon darüber geärgert, wie ein Filmsetting das Interieur vernachlässigt, wie die Darsteller funktionslos und unspezifisch irgendetwas in der Hand halten, nur um nicht nackt agieren zu müssen. Wie sie etwas trinken und essen, aber nie Bezug darauf nehmen oder diese Verrichtungen mit signifikanter Prägnanz oder alltagsmimetischer Beiläufigkeit ausüben? (Abb. 18) Es geht auch anders.


Abb. 19

M it Blick auf das 19. Jahrhundert konstatiert Baudrillard, dass die Gegenstände, M öbel und Dekorationen immer noch in

einem geordneten symbolischen und

ideologischen xxvi

Zusammenhang beziehungsweise in einer „moralischen [...] Einheit“ zueinander stehen.

Andererseits entleere sich allmählich „die abgeschlossene Transzendenz“ des traditionellen Raums, in dem, „Hausgöttern gleich“, die Dinge leben und „die affektiven Bindungen in diesem M ilieu [verkörpern], die ständige Anwesenheit der Gruppe, und [...] sich mit einem milden Abglanz von Unsterblichkeit“ umgeben.

xxvii

Genau in diesem Zwischenstadion der

Wohnsozialisation und -praxis ist Edgar Reitz’ großer „Heimat“-Zyklus angesiedelt. Es ist vor allem die Küche, die dieses Zwischenstadium versinnbildlicht. (Abb. 19) In der Wohnküche der Simons – wir befinden uns im Nachkriegsjahr 1919 – wird gearbeitet, gewohnt und kommuniziert. Reitz’ semidokumentarischer Stil, seine Ästhetik des „natürlichen, [...] kaum Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Bildes“

xxviii

und der epische

Atem seiner Epochendarstellung erlauben es, das hausarbeitliche Hantieren, der Umgang mit Löffeln, Schüsseln, mit M ilch und Wasser zu beobachten. Für den Zuschauer stellt der Kriegsheimkehrer Paul Simon die Sonde dar, die die Beobachtungen der Tätigkeiten seiner M utter und der Objektwelt filtert und fokussiert. Als Kriegsheimkehrer ist er dem vertrauten und doch entfernten Geschehen und der Küchenarbeit seiner M utter sowie der Alltagskommunikation der ebenfalls in der Küche Weilenden oder immer wieder Eintretenden entrückt. Am zentralen Küchentisch sitzend, angelehnt an eine Säule, folgt er,


am Gespräch unbeteiligt, den Handbewegungen der M utter, die mit bloßen Händen in einer Schüssel Kleie einrührt. Er isst nicht, sondern schaut langsam auf die im Leim des sich drehenden Fliegenfängers festhängende Fliege. Die Entschleunigung der Reitzschen M ise en Scène erlaubt Deleuzeschen Zeit-Bilder auf der Ebene ganz banaler Alltagsepiphanien, in denen einerseits der Eindruck eines Zusammenhangs von M öbeln, Haushaltsgeräten und M ensch im Baudrillardschen Sinn evoziert wird. Andererseits dient die ruhige Inszenierung mit ihren halbnahen und nahen Einstellungen bei weitgehendem Verzicht auf Groß- und Detailaufnahmen dazu, den Beziehungs grad und die Austauschprozesse zwischen den Akteuren und den Aktanten im Latourschen Sinn des Faitiche zu zeigen. Die filmsprachlichen M ittel in „Heimat“ kontextualisieren M ensch und Wohnumwelt, Akteur und Aktant, und reißen deren Band nicht auseinander. Die Kamera erzielt den Eindruck von Nähe gegenüber den M öbeln und Haushaltsgeräten, sie bleibt aber auf Distanz, auch den Akteuren gegenüber. Doch für Paul, den Heimkehrer, der noch in Uniform am Küchentisch zentral positioniert ist, entschwindet diese Welt vor dem Horizont seiner Kriegserfahrung, so wie er vom Heimkehrer zum plötzlichen Verschwindenen mutiert, der eines Tages unangekündigt nach Amerika aufbrechen wird. Die Küche der Simons ist bei aller Intimität kein regressives Rückzugsterrain. Das bringen nicht nur die unangekündigten und selbstverständlichen Besuche von Nachbarn und Verwandten zum Ausdruck, sondern auch das Fenster als Wahrnehmungs- und Kommunikationsmedium. Es ist weder das Fenster der Romantiker als Sehnsuchtsportal in die Fern- und Naturwelt noch Hitchcocks voyeuristisches Fenster zum Hof, wenngleich es Parallelen dazu gibt. An einem der zwei niedrigen Küchenfenster sitzt, kippelnd auf dem rückwärts gewendeten Stuhl, Pauls Bruder Eduard. Er beobachtet das Geschehen auf der Straße durch das geöffnete Fenster und teilt seine Wahrnehmungen den Anderen in der Küche mit. Fast multimedial liest er gleichzeitig in der „Hunsrücker Zeitung“ und verschränkt Weltnachrichten mit dem Rapport über die lokalen Ereignisse auf der Straße. Weitläufigkeit und Beschränktheit halten sich in Eduards Kommentaren die Wage. Jedenfalls ist dies noch kein Cocooning.

Schnitt. (Abb. 20) Norwegen in den 50er Jahren. Offensives Cocooning in der Wohnküche. Vor allem in der Zielgruppe männlicher

Singles, die von

einem schwedischen

Forschungsinstitut für Heim und Haushalt ins Visier genommen wird, um den Verkauf neuer, funktionaler

und

technisch

optimierter

Küchenausstattungen

zu

vermarkten.

Die

schwedischen M arktforscher in Bent Hamers melancholischer wie grotesker Komödie


Kitchen Stories haben das Einmaleins von Bauhaus und Funktionalismus verinnerlicht und gehen, gewaschen mit allen Wassern der positivistischen Feldforschung, akribisch an die Arbeit. Der Beobachter Folke widmet sich dem extrem zurückgezogenen Junggesellen Isaak. Auf einem dafür eigens angefertigten Hochsitz nimmt er Stellung und observiert die Laufwege seines Küchenwilds.

Abb. 20

In einem ständigen Wechsel von Unter- und Aufsicht markiert die Kamera die Absurdität der Situation, in der jeder persönliche Kontakt und damit auch jedes Wort zwischen Beobachter und Proband untersagt sind. Anders als vielleicht erwartbar, entwickelt sich die Geschichte nicht nach dem M uster von Beobachtungsabwehr und Verteidigung von Privatsphäre, sondern erst werden zögerlich die Rollen getauscht, also der Beobachtete zum Beobachtenden und umgekehrt, dann markiert Isaak in Abwesenheit von Folke seine eigenen Laufwege auf dem Aufzeichnungstableau, und schließlich entwickelt sich zwischen beiden eine Freundschaft.


Natürlich

bei

gleichzeitiger

Abwehr

der

Begehrlichkeiten

durch

das

M arktforschungsunternehmen. Indes zahlt der Film mit dieser Groteske auch seinen Preis, der darin besteht, dass die Abwehr der Wohnungsforscher und Küchenverkäufer bei gleichzeitigem Gewinn eine M ännerfreundschaft erkauft wird durch die Affirmation eines radikalisierten Cocoonings. Ein schwedisches M odell? Vergleicht man die ansonsten grandiosen „Kitchen Stories“ mit der etwas schwermütigen deutschen Wohnalltagskomödie „Du bist nicht allein“ – im übrigen ein Credo, das auch für „Kitchen Stories“ gilt –, dann wird ein Unterschied manifest: die Plattenbau-Beziehungskomödie von Bernd Böhlich (D 2007) zeigt Wohnhöhlen, die in ihrer Einfalt und Tristesse „nichts von Refugien“ haben oder zum Rückzug aufrufen, sondern zum „Aufbruch“.

xxix

Eine letzte Schlussfolgerung: M aterial Studies betreffen die M öglichkeit der Qualitätsprüfung bei medialer DingInszenierung im Sinn einer Aktanten-Artikulation.

i

Sigrid G. Köhler/Martina Wagner-Egelhaff: Einleitung Prima Materia. In: PrimaMateria, S. 9 Bärbel Tischleder: Objekttücke, Sachzwänge und die fremde Welt amerikanischer Dinge. Zu Dingtheorie und Literatur. In: Zs. F. Kulturwissenschaften 1 (2007), Fremde Dinge, S.61-72, hier S. 61f. iii Vgl. Hans Peter Hahn: Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin 2005, S. 15. iv Vgl. Hahn, S. 26. v Vgl. Hahn, S. 85-88. vi Vgl. Hahn, S. 27. vii Vgl. die Erklärung: “ Üblicherweise müssen öltanks in wannen aufgestellt werden, damit im falle eines lecks nichts passiert. Inzwischen gibt es öltanks mit zweiter ‚schale’ und einem treibmittel zwischen der ersten und der zweiten hülle. Tritt öl aus, dann reagiert dieses mittel und zeigt ein leck der inneren hülle.“ http://iq.lycos.de/qa/show/11670402/%22Ich+bin+zwei+Öltanks%22/ (Stand 23.09.08) viii Michael Frank u.a.: Fremde Dinge. Eine Einführung. In: Zs. F. Kulturwissenschaften 1 (2007), Fremde Dinge, S. 9-16, hier S. 10. ix Judy Attfield: Wild Things. The Material Culture of Everyday Life. Oxford, New York 2000, S. 9-11. x Süddeutsche Zeitung vom 4.9.08, S. 12. xi Gustav Seibt, in Süddeutsche Zeitung vom 28.8.08, S. 14. xii Vgl. Hahn, S. 53. xiii Hahn, S. 14. xiv Hahn, S. 73ff. xv Attfield, S. 74. xvi Käte Meyer-Drawe: Heraus forderung durch die Dinge. Das Andere im Bildungsprozess. In: Zs. F. Pädagogik 99 (1999), H. 3, S. 329-336, hier S. 331. xvii Meyer-Drawe, S. 333. xviii Hahn, S. 75f. xix Hahn, S. 81. xx Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistomologische Rolle? Eine Bestandsaufnahm e. In: Sybille Krämer/Werner Kogge/Gernot Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Frankfurt/M. 2007, S. 11-37, hier S. 14. xxi Kracauer, Siegfried: Straßen in Berlin und anderswo. Berlin 1987, S. 8 xxii Krämer, S. 19 xxiii Krämer, S. 16 xxiv Jonathan Lethem: Die Festung der Einsamkeit. Roman. München 2006, S. 100. ii


xxv

Siehe Süddeutsche Zeitung vom 22.9.08, S. 11. Jean Baudrillard: Das system der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. Frankfurt/M., New York 2001, S. 23. xxvii Baudrillard, S. 24. xxviii Edgar Reitz: Liebe zum Kino. Köln 1983, S. 204. xxix Fritz Göttler: Vom Gummibaum, der die Wohnung wechselt. Gefühlvoll wie ein alter Roy Black-Song: „Du bist nicht allein“ , ein Film von Bernd Böhlich. In: Süddeutsche Zeitung vom 21./22.7.07, S. 17. xxvi


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