62 Na, heute schon mehr als 5000 Schritte gemacht? Jeder vierte Deutsche trägt ein Fitnessarmband oder zeichnet mit einer App auf, wie viel er schläft, läuft und wie viele Kalorien er verbrennt. Manche leiten die Daten an ihre Krankenkassen weiter. Die wiederum zahlen Boni, wenn jemand regelmäßig sein Schrittziel erreicht. Oder sie rufen zu Wettbewerben auf, gern auch in Unternehmen: Wer nimmt in dieser Woche die meisten Treppenstufen? Aber was, wenn aus dem Gesundheitsbonus irgendwann ein Gesundheitsmalus wird? »Blutdrucksenker bei 3000 Schritten pro Tag? – Strengen Sie sich erst mal an!« Locken uns die Fitnessarmbänder gerade spielerisch in eine Art Gesundheitsdiktatur? Um einen Blick in die Zukunft zu werfen, haben wir uns ein kleines Sozialexperiment überlegt. Fünf Kollegen werden acht Wochen lang Fitnessarmbänder tragen. Über eine App beobachten wir uns gegenseitig. Totale Kontrolle, totaler Wettbewerb. Wir wollen eine Gesundheitsdiktatur light simulieren. Wie wird uns das verändern? ERSTE WOCHE Johannes Gernert Johannes Gernert war Rad fahren. Johannes Gernert hat 0:21 h aufgezeichnet. 206 kcal Die Bänder, die uns in den kommenden zwei Monaten vermessen sollen, liegen vor uns auf dem Konferenztisch, die meisten sind schwarz, eines ist lila. Die Kollegin, der ich das lila Armband gebe, guckt ein wenig skeptisch. Ich habe fast den Eindruck: Alle gucken ein wenig skeptisch, während ich die Regeln für unser Experiment erkläre. Wir werden alle Fitnessarmbänder tragen. Jede Woche wird ein neuer Wettbewerb um die meisten Schritte, verbrannten Kalorien, zurückgelegten Kilometer oder Höhenmeter die Konkurrenz schüren. Wenn einer sich verweigert, darf die Gruppe Sanktionen beschließen. Die Teilnehmer: der Kollege Dachsel, dessen Schreibtisch zwölf Schritte von meinem entfernt steht. Der Kollege Allmaier, der 24 Schritte den Gang runter rechts sitzt. Die Kollegin Ceballos Betancur, 15 Schritte und links. Und die Kollegin Thomé, unsere Hospitantin, deren Schrittdistanz mit ihren Büros wechselt. Ich kann das so genau beziffern, weil ich meine Uhr schon seit einer Woche trage. Ich bin in unserer Gruppe der early adopter, die gesellschaftliche Vorhut, und auch: der Studienleiter. Wenn ich mein Handgelenk drehe, erscheinen auf dem schwarzen Display meines Fitnessbandes die Uhrzeit, das Datum. Mein Puls. Und die Zahl der Schritte, die ich an diesem Tag schon gegangen bin. Rufe ich die App namens Dacadoo auf, an die all diese Daten weitergeleitet werden, zeigt sie mir eine Zahl zwischen 1 und 1000. Meinen Gesundheitsindex. Das belebt den Wettbewerb zusätzlich. Über die App sehen wir: Wer ist gerade der Gesündeste? Wer hat den höchsten Wert im Index? Und wessen Gesundheitsaktie fällt? Als wir im Konferenzsaal unsere Bänder festzurren, liegt mein Index bei 591. Grüner Bereich. Gut. Aber natürlich auch: 429 Punkte vom absoluten Spitzenwert entfernt. Wenig später schreitet der Kollege Allmaier (Gesundheitsindex: 706) im Stechschritt an meiner gläsernen Bürotür vorbei. Mehrmals hintereinander. Das tut er sonst nie. Luisa Thomé Luisa Thomé war Rad fahren. Luisa Thomé hat 4,26 km in 0:17 h aufgezeichnet. 181 kcal Meine Großmutter sagt immer: Es zählt, wie du dich fühlst. Ich mache ab und an ein bisschen Sport, bin privat und beruflich ziemlich zufrieden, habe mein Stresslevel meist besser im Griff als meinen Nikotinkonsum. Ich fühle mich kerngesund. Mein subjektives Empfinden wird nun allerdings durch Säulen und Skalen untergraben. Wie gut es mir geht, sagt mir mein Fitnessband. Es sendet meine Schritte, Puls und Herzfrequenz auf den Bildschirm meines Smartphones. Und mein Puls ist komisch hoch (manchmal fast 100 im Sitzen). Dacadoo fragt nach meiner Neigung zu Depressionen, meiner Zufriedenheit im Arbeitsleben oder meinen Energiereserven auf einem Barometer zwischen »gar nicht« und »sehr«. Es fühlt sich an wie das Erstgespräch beim Psychologen. Irgendwie übergriffig. Lebensstil, Körper, Befinden. Aus diesen drei Bereichen errechnet sich dann mein Gesundheitsindex. Nachts werde ich, seit ich das lilafarbene Band trage, ständig vom unkontrollierten Blinken des grellen Bildschirms geweckt. Er schaltet sich immer ein, wenn ich den Arm drehe. Wirft jemand einen flüchtigen Blick auf die Uhr, fange ich sofort an, mich zu rechtfertigen: »Ist nur ein Experiment.« Karin Ceballos Betancur Karin Ceballos Betancur war zu Fuß unterwegs. Sie hat 2,3 km in 0:38 h aufgezeichnet. 97 kcal
ENTDECKEN Ich habe nichts gegen Selbstvermessung, im Gegenteil. Ich benutze seit Jahren eine Wasser-App, um mich daran zu erinnern, genug zu trinken, eine Schlaf-App, weil ich schlafen besonders gut kann und das morgens gern bestätigt sehe. Seit einiger Zeit zeichnet die App auch auf, wenn ich nachts schnarche. Wenn ich wollte, könnte ich mein Schnarchen als Datei an Freunde verschicken. Manchmal erscheinen auf dem Bildschirm meines Smartphones jetzt Ermahnungen: »Schlafen Sie heute etwas mehr. Letzte Nacht haben Sie nur 5:59 Stunden geschlafen.« Das ist der Dacadoo-Coach. Ich mag ihn nicht. Ich bin erwachsen und gehe ins Bett, wann’s mir passt. Luisa Thomé Ich fahre jetzt regelmäßig Fahrrad. Zum Beweis mache ich ein Selfie: mein Rad und ich. Ich schicke es an diverse Freunde. »Bist du krank?«, fragt meine beste Freundin. Sie weiß, ich hasse Radfahren. Und nun radele ich seit einer Woche jeden Morgen bei Wind und Hamburger Wetter 4,62 Kilometer zur Arbeit. Ich tue es, weil es zählt. An diesem Morgen wird mein Weg zur Redaktion nicht aufgezeichnet. Lag es daran, dass der winzige Sensor auf der Innenseite der Uhr keinen Kontakt zur Haut hatte? Aber den braucht er doch bloß für die Herzfrequenz. Während ich die Treppen in die fünfte Etage nehme (es gibt Treppenpunkte!), merke ich, wie mich der Datenverlust ärgert. Schließlich hätte mir die sportliche Anreise 17 aktive Minuten auf meinem Sportkonto gebracht. Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mich von dem Experiment nicht stressen zu lassen, kontrolliere ich, ob auch jede Treppenstufe gezählt wurde, und trage das Radfahren anschließend manuell in der App nach. Ich scheine allerdings nicht die einzige zu sein, die versucht, ihre Schrittzahlen zu optimieren. Während Kollege Allmaier den Flur vermisst, rennt Kollege Dachsel in seinem Büro auf und ab. Als wir einmal zusammenstehen, vibrieren unsere Uhren gleichzeitig: »Bewegungserinnerung«. Kollege Dachsel läuft Runden um den nächsten Tisch, Gernert entscheidet sich, die am weitesten entfernte Toilette aufzusuchen. Karin Ceballos Betancur Ich habe verschlafen und bin spät dran. Während ich zur Bushaltestelle hetze, brummt mein Telefon. Dacadoo-Coach: Durstig? Haben Sie heute schon Wasser getrunken? Nein. Es ist zehn Uhr. Zehn! Ich bin noch nicht mal richtig wach, Coach! Dacadoo-Coach: Dann legen Sie mal los! Wenn Sie Mühe haben, ans Wassertrinken zu denken, kann auch ein Notizzettel an Computer, Fernseher, Telefon oder Kühlschrank helfen. Ich werde Sie aber auch weiterhin regelmäßig daran erinnern. Yay. In der Redaktion hole ich mir jetzt jede Stunde einen Kaffee in der Kantine, um die geforderten 250 Schritte pro Stunde vollzukriegen. Problem: Ich trinke auf diese Weise sehr viel Kaffee. Das gebe ich aber nicht an. Ich unterschlage auch Nikotin und Alkohol. Wenn ich mir eine Zigarette anmache, steigt mein Herzschlag auf Fettverbrennungsmodus. Das zeigt das Armband. Vielleicht kann ich durch intensives Rauchen punkten. ZWEITE WOCHE Johannes Gernert Das Band vibriert. Mir fehlen noch exakt drei Schritte, aber ich sitze in einer Konferenz und kann mich nicht bewegen. Es ist eine kleine, kurze Konferenz. Mir fällt kein Grund ein, spontan den Raum zu verlassen. Die Luftqualität ist in Ordnung. Es würde seltsam wirken, wenn ich aufstehen und das Fenster öffnen würde. 247 Schritte von 250. Noch fünf Minuten bis zur vollen Stunde. Fünf Minuten für drei Schritte. Aber ich sitze fest. Erst wenige Tage sind seit Beginn unseres Experiments vergangen, und der Algorithmus streckt schon seine Hand nach mir aus. Ich entziehe mich seinem Griff nicht. Auch wenn ich abends vor dem Einschlafen manchmal eine unangenehme Enge in der Brust spüre und das starke Bedürfnis, das Band einfach abzureißen. Der Kollege Dachsel behauptet, man könne das Armband zum Schrittzählen bringen, indem man die Arme abwechselnd hochreiße. Auch diese Option scheidet in dem Konferenzraum aus. Möglichst unauffällig rutsche ich mit dem Stuhl nach vorne. Dann wieder zurück. Nach einer Weile wieder nach vorne. Das Band vibriert, auf dem Display steht: »War doch ganz einfach!« Michael Allmaier Michael Allmaier war laufen. Michael Allmaier hat 10,6 km in 1:04 h aufgezeichnet Kollege Gernert steht an seinem höhenverstellbaren Schreibtisch und lobt mich. Toll, meint er, dass ich das Tagesziel von 10 000 Schritten neulich in einer Stunde abgejoggt habe. »Aber dein Puls war ganz schön hoch.« Ich verstehe, was er wirklich
KARIN CEBALLOS BETANCUR schwimmt jede Woche zwei Kilometer, mag aber grundsätzlich keinen Sport Gewicht: 67 kg Größe: 1,77 m Alter: 45 Gesundheitsindex*: 614 beim Start, 520 am Ende
FELIX DACHSEL
LUISA THOMÉ
hat kein Fahrrad und versucht, möglichst wenig zu Fuß zu gehen
ist Mitglied im Fitnessstudio und nimmt immer den Aufzug
Gewicht: 109 kg Größe: 2,04 m Alter: 30 Gesundheitsindex: 561 beim Start, 596 bei Abbruch
Gewicht: 53,5 kg Größe: 1,68 m Alter: 25 Gesundheitsindex: 578 beim Start, 496 am Ende
Na, all
* Der Gesundheitsindex ist ein von der App Dacadoo berechneter Wert zwischen 1 (sehr schlecht) und 1000 (sehr gut), der sich abhängig von Körperwerten, emotionalem Wohlbefinden und Lebensstil (Bewegung, Sport, Ernährung, Stress, Schlaf ) verändert
In Deutschland werden so viele Fitnessarmbänder verkauft wie nie. Kra Wir haben es ausprobiert und eine Gesundheitsdikt
meint: »Du machst sonst nicht so viel Sport, oder?« Nun ja, der Kollege ist jung. Der wird noch fette Krankenkassenbeiträge zahlen, wenn ich schon längst davon profitiere. Es sei denn natürlich, mein Gesundheitsindex klettert so weiter. Ich war meistens der Letzte auf der Bank, als damals im Schulsport die Mannschaften gewählt wurden. Dabei bewege ich mich gerne, aber seit dieser Erfahrung vorzugsweise allein. Was, wie ich jetzt merke, meine Technik nicht gerade perfektioniert hat. Bislang dachte ich, es soll so, dass man nach dem Joggen eine halbe Stunde hyperventilierend in der Badewanne liegt. Jetzt habe ich meinen Herzschlag im Auge und bremse, sobald er aus der Fettverbrennungszone springt. Nordic Walker preschen an mir vorbei, egal. Ich halte durch. Viel länger als früher. Zwei Stunden laufen, kein Problem. Der Coach ist stolz auf mich. Luisa Thomé Gesundheit messbar zu machen auf eine spielerische Art, verspricht unsere Gesund-
heits-App. Ich nehme allerdings vor allem Ermahnungen wahr. Schuld daran ist meist der Dacadoo-Coach. Statt dass er lobt, was ich tue, bemängelt er, was ich nicht tue. Der Coach ist schlimmer als jede Mutter zu Teenagerzeiten. Ständig habe ich das Gefühl, zu verlieren, obwohl ich mich um einen gesunden Alltag bemühe. Jeder Pädagoge würde mir außerdem recht geben, dass es demotivierend ist, alle an denselben Normen zu messen. Was ist mit Behinderungen, Verletzungen, chronischen Erkrankungen oder Allergien? Ich bin übrigens fruktoseintolerant, Coach! Aber danach hast du ja nie gefragt. Fruchtzucker ist Gift für mich. Als ich jedoch die Frage nach meiner täglichen Obststückmenge mit null beantworte, sinkt mein Index. In mir löst das Trotz aus. Dacadoo-Coach: Wie viele Portionen rotes Fleisch essen Sie pro Woche? 1 Dacadoo-Coach: Das liegt noch innerhalb der Grenzen, aber es sollte nicht mehr sein, Luisa! Rotes und verarbeitetes Fleisch kann
das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bestimmte Krebsarten erhöhen. Dacadoo-Coach: Genießen Sie es, zu essen? Sehr Dacadoo-Coach: Schön zu hören, dass Sie gerne essen. Übertreiben Sie jedoch nicht. Achten Sie darauf, ein gesundes Gewicht zu halten. Karin Ceballos Betancur Ich bin ganz zufrieden mit mir. Dass der Kollege Gernert unseren Dauerwettbewerb namens »Energy Burner – alles zählt« anführen würde, damit hatte ich gerechnet. Er federt beim Gehen manchmal ein bisschen nach wie Menschen, die gern Energie verbrauchen, weil sie genug davon haben. Aber immerhin schwimme ich jede Woche zwei Kilometer. Ich wohne im vierten Stock. Ich habe den zweiten Ranglistenplatz beim »Energy Burner« quasi sicher. Obwohl ich mich ein bisschen dafür verachte, weil mir das alles theoretisch widerstrebt, fange ich an, Gefallen an der Konkurrenz zu finden.
Felix Dachsel Felix Dachsel war trainieren. Felix Dachsel war für 1:55 h aktiv. »Felix Dachsel war trainieren.« Als ich den Satz zum ersten Mal lese, fühlt sich das verdammt gut an. Weil das Wort »trainieren« so nach Schwarzenegger klingt. Als hätte ich stundenlang Gewichte gestemmt und nicht mit ein paar Freunden in der Hamburger HafenCity Fußball gespielt. Zweitens aber, und das ist viel wichtiger: Weil mir bewusst wird, dass meine Kollegen diese Meldung lesen werden. Er war tatsächlich trainieren! Fast zwei Stunden! Der Dachsel! Ich bin im Kollegenkreis bisher nicht als besonders Fitness-orientiert aufgefallen. Bei einer Klausurtagung mit unserer Abteilung habe ich mal den Fehler gemacht, mich auf eine morgendliche Joggingrunde mit dem Kollegen Gernert einzulassen. Er schwebte um den See, ich traf eine Viertelstunde nach ihm ein, gebeugt und verschwitzt und wehklagend. Doch jetzt, mit dieser Wunderuhr am Handgelenk, bekommt alles eine neue,
D I E Z E I T N o 16
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ENTDECKEN
MICHAEL ALLMAIER
JOHANNES GERNERT
trägt gern Jogginghosen, gelegentlich auch zum Joggen
spielt dienstags Fußball und fährt seit Jahren nicht mehr Aufzug
Gewicht: 71 kg Größe: 1,77m Alter: 48 Gesundheitsindex: 706 beim Start, 732 am Ende
Gewicht: 74,9 kg Größe: 1,78 m Alter: 37 Gesundheitsindex: 591 beim Start, 751 am Ende
auch angenehm, auf einer der Liegen zu sitzen und der Sonne beim Untergehen zuzusehen. Das Band zeigt längst weit mehr als 10 000 Schritte. Aber ich laufe weiter. Denn der Kollege Allmaier tut es auch. Morgens, abends, nachts. Er läuft 11,5 Kilometer in einer Stunde und 15 Minuten, ich 13,7 Kilometer in einer Stunde und 12 Minuten. Er verbrennt 11,9 MET pro Stunde, ich 16,8. Auf der Karte sehe ich, wie er die Alster umrundet hat und dabei ein zittriges blaues Oval hinterlässt, Durchschnittsgeschwindigkeit 9,1 km/h. Eigentlich kann ich dem Armband und dem Kollegen dankbar sein: Ich fühle mich fit wie lange nicht. Ohne die beiden hätte ich im bayerischen Voralpenland an einem Sonntagmorgen um halb acht sicher nicht die drei Rehe im Nebel auf einer Wiese stehen sehen. Michael Allmaier Im Radio spricht der Philosoph Peter Sloterdijk über das Auge Gottes. Er meint, die Menschen im Mittelalter fühlten sich ständig überwacht. Und dass wir uns da heute gar nicht mehr einfühlen könnten. Du hast wohl kein Fitnessarmband, denke ich beim Zuhören. Nun gut, der Coach ist nicht direkt Gott. Gott verwendet, wenn er textet, sicher keine Emojis. Aber er kennt mich durch und durch, und er will mir wohl. Vorhin hat er mich dafür gelobt, dass sich mein Body-Mass-Index verbessert. Meine Freundin merkt so was nie. Das Versprechen ist doch: Gerechtigkeit. Keine gute Tat bleibt unbemerkt. Und was mein Körper mir in zehn Jahren sagen wird, sagt mir jetzt schon in Echtzeit der Coach. Wie viel gelassener könnte das Leben sein, der Beruf, die Partnerschaft, wenn auch da jemand wäre, der sagte: »Glückwunsch, Michael, du hast dein Tagesziel erreicht.« Ich erinnere mich nur noch vage daran, wie ein Fahrstuhl von innen aussieht. Laufend, radelnd, rudernd entdecke ich unbekannte Teile meiner Stadt. Bewegung als Selbstzweck; der Umweg ist das Ziel. Schon klar, das alles verschlingt Zeit. Aber ich trage ja jetzt keine normale Uhr mehr, sondern eine, die rückwärts zählt. Die mir zeigt, wie mein Leben sich verlängert, wenn ich tue, was der Coach sagt. Ein taubes Gefühl in den Beinen begleitet mich. Ich habe beschlossen, es zu mögen. Johannes Gernert Es ist Donnerstagabend. Am nächsten Morgen endet ein einwöchiger Wettbewerb um die meisten Schritte. Kollege Allmaier liegt vorn. Eigentlich hatte ich am Abend noch laufen gehen wollen. Aber ich muss auf das Kind aufpassen. Ich lese auf meinem Smartphone Zeitung und laufe dabei durch die Wohnung. 60 Minuten lang, ununterbrochen. 4,4 Kilometer. Zwischendurch fällt mir ein, dass ich das werde aufschreiben müssen. Ich sehe mir selbst zu, wie ich Tische umrunde, von der Küche ins Wohnzimmer gehe und wieder und wieder zurück. Wer ist dieser Irre?
lles fit?
nie. Krankenkassen belohnen Selbstvermessung mit Boni. Wo führt das hin? heitsdiktatur errichtet. Totaler Wettbewerb, totale Kontrolle
ungewohnte Dynamik: Ich stehe früher auf und gehe schwimmen. Ich nehme Treppen, zwei, drei, fünf Stockwerke. Ich warte beim Fußball nicht mehr vor dem Tor, bis mich ein hoher Ball erreicht, wie ein italienischer Stürmer kurz vor dem Ruhestand, sondern werfe mich in jeden Zweikampf. Ich sehe auf der Uhr, wie mein Puls nach oben schnellt. Keuchendes Glück. Ich tippe sie an, streichele ihr übers Display: Wir mögen uns. Ich komme also mit federnden Schritten ins Büro und genieße die Blicke der anderen. Sie lesen meine Erfolgsmeldungen im Kampf gegen den inneren Schweinehund. Ich bin, so weit will ich gehen, ein neuer Mensch. Karin Ceballos Betancur Felix Dachsel war aktiv. Für 1:55 Stunden. Dabei hat er irgendwas unternommen, für das es satte 15,4 MET h gibt. Der Sack. MET bedeutet Metabolisches Äquivalent, hat etwas mit Stoffwechselumsatz zu tun und soll den Energieverbrauch bei unter-
schiedlichen Aktivitäten vergleichbar machen. So steht es jedenfalls im Internet. Ein völlig abstrakter Wert, so was Ähnliches wie Kalorien. Aber aus irgendwelchen Gründen ist der Wert zu unserer Währung geworden. Kollege Allmaier geht jetzt offenbar täglich joggen. Ich bin ziemlich sicher, dass die anderen bescheißen. Alle. Der Coach sagt: »Erholung ist wichtig. Der richtige Wechsel zwischen Training und Pausen verbessert Fitness und Gesundheit. Nach einem intensiven Ausdaueroder Krafttraining sollten Sie mindestens 48 Stunden Pause machen.« Sag das doch den anderen! Ich schwimme jetzt einen halben Kilometer mehr als sonst. Ich gehe laufen und hole freiwillig die Post aus dem Briefkasten – 4. Stock, Erdgeschoss, 4. Stock. Morgens begrüßt mich der Coach: »Guten Morgen Karin. Ich habe eine Frage zu Ihrer Lebensqualität, um Ihren Gesundheitsindex genauer zu berechnen. Sind Sie
ruhig und entspannt?« SIEHT MEIN VERKACKTES BEWEGUNGSPROFIL SO AUS? DRITTE WOCHE Felix Dachsel Die Kollegen Gernert und Allmaier sind mir in allen Wettbewerbstabellen heillos entwischt. Es kommt mir vor, als könnte ich nichts mehr gewinnen. Irgendwie hat meine Euphorie deshalb sehr schnell nachgelassen. Am Anfang war das Band noch spannend, ein aufregendes Spielzeug. Jetzt sehe ich die beiden Kollegen auf dem Gang stehen und ihre Uhren vergleichen. Dieses Getue! Hab ich nicht nötig. Karin Ceballos Betancur Ich habe dem Dacadoo-Coach die Wahrheit gesagt. Alkohol, Zigaretten, mehr als ein Teelöffel Butter am Tag, alles. Mein Gesundheitsindex sinkt von 757 auf 520 Punkte. Ich entwickle Niedrig-PunktStolz. Wenn die Uhr kurz vor Mitternacht 9749 Schritte anzeigt und ich weiß,
dass bei 10 000 ein Feuerwerk auf dem Uhrendisplay losgeht, bleibe ich mit Absicht sitzen. Weil ich mich nicht von der Uhr fernsteuern lassen will. Oder von meinen Kollegen. Stattdessen rauche ich meinen Puls in den Fettverbrennungsmodus, den er bei jeder Zigarette erreicht. Burn, fat, burn. VIERTE WOCHE Michael Allmaier Soso, Kollege Gernert hat ein Training beendet. Um 6.58 Uhr? Abartig, wie ernst der das nimmt. Dann bringe ich unsere Tochter halt in Sportklamotten zur Schule und sprinte anschließend zum Bäcker. Meine Freundin sagt: »Das Ding macht euch alle zu Strebern. Und nimm doch das Altpapier mit.« Johannes Gernert An einem herrlich sonnigen Septemberabend gehe ich am Ufer eines bayerischen Sees entlang, oder besser: auf und ab. Ich war gerade in der Sauna, und es wäre jetzt
FÜNFTE WOCHE Felix Dachsel Beim Packen für meinen Frankreich-Trip muss ich das Ladegerät vergessen haben, ärgerlich. Also lege ich im Hotelzimmer als Erstes die Uhr ab, denn sie hat ja keinen Saft mehr. Ich rubbele mir über das Gelenk wie ein Häftling, dem man gerade die Handschellen abgenommen hat. Die wahre Hürde, die meine Begeisterung ausgebremst hat, ist eine technologische: Die Uhr ist ein weiteres Gerät, das Platz im Leben verlangt. Ein weiteres Ladekabel. Abends sitze ich vor gebratenem Speck an Orangenschaum und fühle mich frei. Verlieren ist ja kein Problem, wenn man sich eine Geschichte darum webt. Meine Geschichte handelt von der Einsicht, dass es gar nicht gut ist, so viele Daten preiszugeben, und dass jeder Mensch sein eigenes Tempo hat. Weil Menschen eben verschieden sind. Und das macht sie wertvoll. (In Wahrheit nervt es mich brutal, dass ich so früh aufgegeben habe.) Luisa Thomé 68-mal schaue ich im Durchschnitt auf die Aktivitäten meiner Kollegen. Pro Tag. Habe ich selbst gemessen. Jedem von uns kommt im Laufe des Experiments eine Rolle zu. Der Kollege Gernert treibt uns als Anführer an: Wettbewerbe, motivierende Gruppennachrichten (»Die Wettbewerbsmoral lässt deutlich nach. Woran liegt’s?«) und natürlich der unermüdliche Kampf um Platz eins. Der Kollege Allmaier ist der stille Herausforderer. Tut gern, als sei ihm das alles halb so wichtig, radelt aber mal eben 60 Kilometer, bevor ich meinen ersten Kaffee getrunken habe. Je mehr der eine, desto noch mehr der andere. Ob die zu Hause auch so sind?
Die Kollegin Betancur nerven die ständigen Vergleiche genau wie mich. »Sollen die doch rennen«, sagt sie bei einer gemeinsamen Zigarette. Und der Kollege Dachsel spielt den Rebellen. Recht bald schon erwischen wir ihn ohne Uhr am Arm. Nachrichten im Gruppenchat (»Felix, lebst du noch?«) bleiben unbeantwortet. Selbst die Androhung von Sanktionen hält ihn nicht von seinem Boykott ab. Ich selbst bin aktiver als je zuvor, ernähre mich bewusst, trinke zweieinhalb Liter Wasser pro Tag. Weil ich mehr Zeit mit Sport verbringe, rauche ich sogar weniger. Mein Index liegt trotzdem im tiefroten Bereich. Und ich muss zugeben, das stresst mich. »Kann es sein, dass mit meiner Uhr etwas nicht stimmt?«, tippe ich in den Dacadoo-Kundenchat. Ich gehe zum Internisten. Mein hoher Puls lässt mir keine Ruhe mehr. Alles gut, sagt der Arzt. Es kämen jetzt häufiger Leute, die ihre Fitnessbänder nervös machten. Um meinen Index aus dem roten Bereich zu treiben, lasse ich nichts mehr unversucht. Wenn ich die Wohnung putze, starte ich in der App ein Ganzkörpertraining, wenn ich aus dem Fitnessstudio komme, drücke ich erst eine halbe Stunde später auf »Training stoppen« und kassiere dafür ein paar Extra-METs. Am Sonntag überrede ich sogar meinen Freund, meine Uhr beim Fußballspielen zu tragen. Mit Erfolg: Mein Index steigt um sechs »Movement-Punkte« auf 496. SECHSTE WOCHE Johannes Gernert Um Mitternacht endet der Kalorienverbrennungs-Wettbewerb »Energy Burner – alles zählt«. Der Kollege Allmaier liegt knapp hinter mir, er fährt viel Fahrrad. Ich ahne, dass das noch nicht alles gewesen sein kann. Gegen Abend, ich habe deutlich mehr als 10 000 Schritte auf dem Zähler und einen Tag im Tierpark hinter mir, sehe ich es dann: 29 Kilometer. Er ist an einem Sonntagnachmittag mal eben 29 Kilometer gelaufen, in gut drei Stunden. Die Meldung hat er bei Dacadoo mit nur einem Wort kommentiert: Aua. Ich bin leicht erkältet. Ich muss noch mal kurz raus, sage ich zu meiner Frau. Nach zehn Kilometern habe ich komische Schmerzen am Solar Plexus und frage mich, ob das alles noch gesund ist. Aber ich liege wieder vorn. Rangliste Energy Burner – alles zählt Endstand: Johannes Gernert 514,7 MET h Michael Allmaier 508,1 MET h Karin Ceballos Betancur 187,8 MET h Luisa Thomé 149 MET h Felix Dachsel 74,8 MET h ACHTE WOCHE Johannes Gernert An einem regnerischen Mittwochnachmittag verabreden wir uns, um zum Abschluss gemeinsam um die Alster zu joggen. Wenn schon unser kleines Experiment derart irre Kräfte freisetzt, wie soll das werden, wenn einmal alle Krankenkassen einen Gesundheitsindex einführen? Bei der Techniker kriege ich bisher nur 500 Bonuspunkte, wenn ich zwölf Wochen lang jede Woche 60 000 Schritte schaffe. Bei 1000 Punkten gibt es 30 Euro. Na ja. Etwas anderes wäre es, wenn Minderleister von ihren Kassen sanktioniert würden – etwa mit Zusatzbeiträgen. Unser Minderleister soll heute für seinen allzu lässigen Umgang mit dem Armband bestraft werden. Öffentliche Liegestütze für den Kollegen Dachsel hatte die Kollegin Betancur gefordert. Aber zu mehr als drei können wir ihn in dem kleinen Fitnessparcours am Ufer nicht zwingen. Dann erhebt er sich und verkündet: »Diese Armbänder sind nur technische Helfer eines neuen, kulturellen Leitbilds: das des fitten, ausgeglichenen und stets berechenbaren Menschen. Gegen diesen neuen Fitnessdruck hilft nur Nichtstun.« Für den Rest unserer Alster-Runde beherzigt die Kollegin Thomé das und schlendert die meiste Zeit mit der Kollegin Betancur hinter uns her. Thomé stellt sich eine Welt, in der der Gesundheitsindex regiert, nach diesen acht Wochen trostlos vor. »Wir würden zu paranoiden Angsthasen«, sagt sie. Für faule Sonntage auf der Couch würde uns der Arzt rügen. Kollegen würden morgens tuscheln, warum der Neue heute um 2.36 Uhr für 17 Minuten aktiv war. »Letztlich gäbe es nichts mehr, woran wir uns heimlich erfreuen könnten.« Die Kollegin Betancur dagegen, die es kaum erwarten konnte, das Armband abzulegen, wird es weiter tragen: »Es macht viel mehr Spaß, seit meine Daten nicht mehr mit euren verglichen werden.« Kollege Allmaier hat sich sogar vorgenommen, einen Halbmarathon zu laufen. Von seinem Band hat er sich getrennt. Er sucht jetzt noch jemanden, der mitläuft und ihn lobt.
Illustration: Rami Niemi für DIE ZEIT
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