Allgemeine Zeitung - 2015

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21.06.2015, von Karl Schlieker http://www.allgemeine-zeitung.de/wirtschaft/wirtschaft-regional/digitale-gesundheitshelfer_15662500.htm

Wirtschaft regional

Digitale Gesundheitshelfer MEDIZIN Self-Tracking wird zum Trend / Aber noch gibt es viele Hürden für Vernetzung FRANKFURT - Gesundheit wird mobil. Ein in der Hauptarterie implantierter Chip liefert Blutwerte an eine Überwachungsstation im Krankenhaus, die die Daten automatisiert auswertet. Sacken die Werte unter eine kritische Marke, schlägt der Alarm an und benachrichtigt Arzt und Patienten. Peter Ohnemus von der Dacadoo AG, die Gesundheitsdaten digitalisiert und auswertet, beschreibt ein Zukunftsszenario. Die Technik sei vorhanden, sie müsste nur eingesetzt werden. Ein BMW verfüge bereits über 400 Sensoren, der Mensch bald auch? Tragbare Minicomputer könnten anhand der gemessenen Körpertemperatur und anderer Daten die Stimmung von depressiven Patienten ermitteln, schwärmt der „Big-Data“-Unternehmer. Das Self-Tracking von Gesundheitsdaten, also die elektronische Selbstbeobachtung und -vermessung beispielsweise über digitale Armbänder, ist längst im privaten Alltag angekommen. „Doch nicht nur für Fitnessbewusste ist das hilfreich, sondern auch für chronisch Kranke“, so Inga Bergen von der Berliner Welldoo GmbH, die digitale Gesundheitsanwendungen entwickelt. So könnte die drohende Zuspitzung von Krankheiten durch Prognosen aus den Alltagsdaten der Patienten besser abgeschätzt werden. Ein entsprechendes Telemonitoring-Projekt hat die Techniker

Krankenkasse nach eigenen Angaben bereits mit Patienten mit einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung mit Erfolg umgesetzt. Kritiker warnen vor digitalen Allmachtsfantasien und einer schwärmerischen Sorglosigkeit im Umgang mit Gesundheitsdaten. „Eine Krankenkasse, die alles über die Patienten weiß, neigt schnell zur Diskriminierung“, betont Alexander Markowetz, Juniorprofessor für Informatik an der Universität Bonn. Die entscheidende Frage sei: Welche Entscheidungen dürfen aufgrund der übermittelten Daten von wem zu welchen Zeitpunkt gefällt werden und wer trägt dafür die Verantwortung? Die Vision des gläsernen Patienten sei trügerisch. Wird die Krankenkasse in Zukunft sehen, wie viel Bier den Blutzuckerwert des Patienten hochgetrieben hat? Und welche Konsequenzen zieht die Kasse aus dem Verhalten? Verschiedene IT-Systeme Die digitale Medizin stößt im Alltag ohnehin noch an Grenzen, weiß Matthias Meunier vom Gesundheits-IT-Anbieter Xonion GmbH in Remagen. In der Praxis seien Praxen, Krankenhäuser und Krankenkassen mit mehr als 600 verschiedenen IT-Systemen „Lichtjahre von einheitli-

chen Standards für den Datenaustausch“ entfernt. Eine lückenlose Vernetzung sei noch lange nicht in Sicht. In Zukunft werde der Patient aber seine Gesundheitsdaten öfter beim Hausarztbesuch mitbringen. Auch Ferndiagnosen beispielsweise bei der Auswertung von Röntgenbildern seien möglich. Das helfe kleinen Krankenhäusern, die die Expertise nicht im Haus hätten. Der Gründer von Sun Microsystems, Vinod Khosla, ist der Ansicht, dass vier Fünftel der ärztlichen Tätigkeiten im Zuge der Digitalisierung ersetzt werden könnten. Als ausgebildeter Arzt möchte Jens Baas, Vorstandschef der Techniker Krankenkasse, dem nicht zustimmen. Aber sicher könne man vieles, was heute den Arzt Zeit kostet, in naher Zukunft durch eine bessere Vernetzung einsparen. Und wenn der Patient krankheitsrelevante Daten gleich übersichtlich aufbereitet in digitaler Form mitbringe, könne man zusätzlich Zeit gewinnen. „Zeit, die der Arzt dafür nutzen kann, sich um seine Patienten zu kümmern und mit ihnen zu sprechen.“ Auch der Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Roland Stahl, wehrt sich gegen kühne Szenarien: „Das persönliche Arzt-Patienten-Verhältnis kann nicht ersetzt werden.“

E-PROJEKTE

In der Praxis gibt es bereits verschiedene konkrete digitale Gesundheitsprojekte im Einsatz. So bietet die Techniker Krankenkasse beispielsweise ein digitales Diabetes-Tagebuch an, in dem Nutzer ihre Blutzuckermesswerte in ein Smartphone laden und auswerten lassen können. Andere Projekte sind zum Beispiel eine Teletherapie Stottern, interaktives Gesundheitscoaching, online Arzttermine buchen und vergleichen oder der Einsatz von Wearables für die bessere Versorgungsqualität bei wund gelegenen Patienten.


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