Der Tagesspiegel - 2014

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Adrian Lobe, 08.08.2014 16:10 Uhr

http://www.tagesspiegel.de/medien/die-vermessung-des-ich-mein-koerper-ist-meine-app/10310504.html

Die Vermessung des Ich

Mein Körper ist meine App

„Quantified-Self“ heißt ein Trend, der inzwischen auch Deutchland erreicht hat. - Foto: Fotolia

Fitness-Tracker, intelligente Uhren und Datenbrillen werden immer beliebter. Die Nutzer wollen damit das eigene Ich optimieren. Doch aus der Wearable-Technologie erwachsen riesige Datenschutzprobleme. Neulich in der S-Bahn einer deutschen Großstadt. Eine Frau Mitte 50 zückt ihr Smartphone und sagt zur ihrem Mann: „Mal sehen, wie viele Schritte ich heute gegangen bin!“. Interessiert beugt sich die Dame über ihr Handy und stellt staunend fest, dass es tausend waren. Der Mann starrt ungläubig in das Display und sagt: „Was die Technik heute alles kann!“.

ne Up zeichnet zum Beispiel sämtliche gelaufenen Schritte inklusive verbrauchter Kalorien sowie das Schlaf- und Essverhalten auf und erinnert per Vibrationsalarm, sich mehr zu bewegen. Fitness-Tracker liegen im Trend. Laut Branchenverband Bitkom nutzen inzwischen 13 Prozent der Deutschen eines der kleinen digitalen Geräte, die Schritte und Kalorien zählen oder die Schlafqualität analysieren. Der Markt für „Wearables“ boomt. Das Marktforschungsunternehmen Deloitte schätzt, dass in sechs Jahren 100 Millionen Fitness-Tracker und andere Gadgets auf dem Markt sein werden. Ramon T. Llamas, Analyst der International Data Corporation, sagt, der Großteil des Wachstums stamme von einfacheren Geräten, von Gesundheits-Apps oder Fitness-Trackern. Datenbrillen oder Smartwatches hätten noch enormes Entwicklungspotenzial.

Auf Grundlage von Alter, Größe und Gewicht ermittelt ein Programm den Kalorienverbrauch und die empfohlene Tagesration für Lebensmittel. Den Fitness-Coach gibt es entweder als App fürs Smartphone oder in Form von „Wearables“, kleinen Geräten, die man am Körper trägt. Das Fitness-Armband Jawbo- Eine Smartwatch ist ein in-

ternetfähiger Hybrid aus Smartphone und Uhr – eine Armbanduhr mit integriertem Computer. In der Uhr stecken ein kleiner Lautsprecher, Mikrofone sowie eine Kamera. Googles Smartwatch „Android Wear“ funktioniert beispielsweise so: Man sitzt im Auto, hebt den Arm vom Lenkrad und diktiert eine SMS in die Smartwatch. Wenig später vibriert diese, ein kurzer Blick aufs Display verrät: fünf neue Mails, aber nichts Wichtiges, also weiterfahren und auf den Verkehr achten. Google kennt Standort und Ziel und kann in Echtzeit Verkehrsmeldungen durchgeben. Die juristische Problematik, dass eine intelligente Uhr als Handy fungiert, ist noch nicht mal im Ansatz diskutiert worden – die Technik entwickelt sich schneller als das Recht.

Bewegung, die durch konsequente Auswertung von Daten das eigene Ich optimieren will. Die Anhänger dieser Bewegung hegen die Obsession, jede Aktivität zu quantifizieren. Frei nach dem Motto: Mein Körper ist meine App. Das Interessante daran ist, dass das Self-Tracking ja gegen einen selbst gerichtet ist. Nicht die Datenkraken von Google oder Amazon müssen Daten erheben – das tut der Einzelne ganz freiwillig. Der Soziologe Christopher Till, der an der Leeds Metropolitan University zu dem Phänomen forscht, sagte: „Das Self-Tracking korrespondiert mit einer Tendenz in gegenwärtigen Gesellschaften, unseren Körper als Maschine zu sehen, den wir wie ein Auto mit spezifischen Inputs oder Outputs von Energie managen können.“ Auch in Deutschland gibt es eine Die Smartwatch wird zum Quantified-Self-OrganisatiSchlüssel ins digitale Zuhau- on, die sich in regelmäßigen se Meetings austauscht. Freunde können zu „Challenges“ aufGeht es nach den Entwicklern, gerufen – Wer ist als Erster 20 soll die Smartwatch künftig Kilometer gejoggt? –, Diäterder Schlüssel ins digitale Zu- folge digital geteilt werden. hause werden. Die großen Technikfirmen tüfteln emsig Nach Ansicht von Datenspezian der Umsetzung intelligenter alist Ramon Llamas macht WeUhren. Apple will angeblich arables so attraktiv, „ dass sie nächstes Jahr seine iWatch he- Rechenleistung an den Nutzer rausbringen. Was erklärt diese mit Informationen über diesen Entwicklung? Ist es der Wille bringen, und das in Echtzeit. zu permanenter Selbstkontrol- Es ist sicher ein bedeutender le? Oder Tugendwächterei am Bequemlichkeitsfaktor dabei.“ eigenen Leib? Was braucht man ein klobiges Handy, wenn man sich das „Quantified-Self“ (etwa „sich Internet ganz einfach um den selbst vermessen“) nennt sich Arm schnallen kann? eine aus den USA kommende Seite 1


Adrian Lobe, 08.08.2014 16:10 Uhr

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Das Netz verfolgt uns auf Schritt und Tritt. Speziell für Läufer gibt es Sensorensocken, die den Laufstil in Echtzeit auswerten. Intelligente Waagen berechnen neben dem Gewicht den Körperfettanteil und den Body-Maß-Index. Diese Daten können dann über W-Lan mit einem Computerprogramm oder einer App auf mobilen Geräten ausgelesen und über Statistiken und Graphen analysiert werden. Und sie können an Krankenkassen und Versicherungen weitergegeben werden. Hat der Nutzer in letzter Zeit zugenommen? Hat er sich zu wenig bewegt? Dann könnte die Versicherung die Beiträge erhöhen. Wearables produzieren riesige Datenmengen Solche Systeme gibt es bereits. Die AOK Nordost bietet in Zusammenarbeit mit dem Unternehmen dacadoo ag eine Gesundheits- und Fitnessplattform an. „Mithilfe der dacadoo Tracker-App werden Ihre Aktivitäten aufgezeichnet und automatisch auf diese Gesundheitsplattform übertragen“, heißt es auf der Website. Ein „health score“ ermittelt auf einer Skala von 1 bis 1000

den aktuellen Gesundheitszustand und das Fitnessniveau. Der Nutzer erhält eine kostenfreie Jahreslizenz im Wert von 60 Euro im Austausch seiner Daten. Vermutlich zahlt er aber einen viel höheren Preis. „Es kann sehr riskant sein, Informationen mit Dritten zu teilen“, sagt Llamas. „Ich denke, der Fokus liegt gar nicht auf der Herzfrequenz oder den Schritten. Die Frage ist, wie Wearables sensible Informationen gewinnen können“, so Llamas. Zum Beispiel, ob der Nutzer an Diabetes leidet. Fakt ist: Wearables produzieren gigantische Datenmengen.

auf der Intensivstation trügen. über eine eingebaute KameÄrzte frohlocken bereits, Big ra. Ein kleiner Bildschirm vor Data könne Leben retten. dem rechten Auge gibt dem Träger Informationen aus dem Für die Krankenkassen ist Netz, etwa Routenpläne oder der Datenfluss ein Segen. Die Antworten auf Suchanfragen. Versicherer können genau ab- Prinzipiell funktioniert die schätzen, wer ein Risikopati- Brille per Sprachsteuerung, ent ist. Wearables speisen in doch Befehle können auch mit Echtzeit Informationen in ihre dem Auge erteilt werden. UnDatenbanken ein. Doch die bemerkt lassen sich so Fotos Kehrseite dieser Gesundheits- aus der Umgebung schießen. optimierung ist der gläserne Patient. „Die Privatsphäre Erst vor kurzem wiesen chibleibt meine Hauptsorge“, sagt nesische Forscher nach, dass Llamas. Tech-Giganten wie man mit der Datenbrille kinGoogle oder Samsung erhal- derleicht den Pincode von ten, gewissermaßen frei Haus, Kreditkarten stehlen kann. In ein umfangreiches Bewe- den USA, wo Google Glass gungs- und Aktivitätenprofil seit Mai bezogen werden kann, ihrer Nutzer. Wer hält sich wo regt sich Widerstand. Ein Rezu welcher Zeit auf, wessen staurant hatte einen StammPuls schlägt wann besonders kunden vor die Tür gesetzt, hoch? Die Geräte sind über- nachdem dieser sich weigerte, dies anfällig für Manipulatio- seine Google Glass abzusetnen und Missbrauch. „Hacker zen. Demnächst wird Google würden zu gerne diese Daten Glass auch auf dem deutschen bekommen, weil sie aussage- Markt erhältlich sein. Gut kräftig und personenbezogen möglich, dass bald die ersten sind“, warnt Experte Llamas. datenbebrillten Passagiere in „Das größte Problem dabei der S-Bahn sitzen und freusind Kameras.“ dig deklamieren: „Sieh mal, was die Technik alles kann. Da Google Glas ist das umstrit- hinten sitzt mein alter Klassentenste Wearable kamerad.“

Im Mai fand in Boston eine Konferenz zum Thema „Big Data in Healthcare“ statt. Alan Stein, der bei Hewlett Packard für Gesundheitstechnologie verantwortlich ist, hat an der Konferenz teilgenommen. „Die Idee von Big Data im Gesundheitswesen ist, dass wir Daten aus einer Vielzahl von Quellen sammeln und Algorithmen anwenden, die wertvolle Erkenntnisse über den Einzelnen liefen“, sagt er. Big Data helfe dabei, ganz bestimmte Fragen zu beantworten, zum Beispiel bei Patienten, Google Glass, das wohl umdie ein hohes Infektionsrisiko strittenste Wearable, verfügt

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