24. November 2011 | 22:15; Akt: 24.11.2011, 21:22 Print
05.01.13, von Bernd Schöne
http://www.welt.de/gesundheit/article112407172/Diese-Apps-besiegen-den-Schweinehund.html
Diese Apps besiegen den Schweinehund Für die einen sind sie ferngesteuerte Zombies, für die anderen gesundheitsbewusste Zeitgenossen: Menschen, die jede Bewegung aufzeichnen lassen. Gesundheits-Apps beschäftigen auch den Gesetzgeber. grund speichert die Ergebnisse und wertet sie unter medizinischen Gesichtspunkten aus. Die Unterschiede der Apps liegen im Detail. Die ausgefeiltesten Angebote verfügen über eine große Datenbasis im eigenen Rechenzentrum, um das Smartphone zu unterstützen und die Daten gegebenenfalls mit denen anderer Teilnehmern zu vergleichen. App-Training weniger streng kontrolliert
Messen, steuern, regeln: Fitness-Geeks messen alles, was messbar ist – je einfacher, desto besser
J
e größer die Masse, desto träger reagiert sie auf Bewegungswünsche. Dieser Satz der Physik gilt auch für übergewichtige Couch-Potatos. Ausgerechnet Smartphones, deren Nutzung uns normalerweise zum Stehen oder Sitzen zwingt, sollen uns jetzt Joggen, Treppensteigen oder Fahrradfahren schmackhaft machen. Entsprechende Gesundheits-Apps sollen müde User munter machen. Die Pfunde schwinden dahin, berichten die Propheten dieser Technik. Sie sind begeistert von der neuen Mischung aus Turnvater Jahn und Weight Watchers. Die Apps operieren in der Datenwolke, im Grenzbereich zwischen Lifestyle, Fitness und Medizintechnik. Hier entwickelt sich ein Milli-
onenmarkt, der sich seit zwei Jahren dramatisch gut entwickelt. Auf der Düsseldorfer Medizin-Messe Medica waren diese Apps Stars. Die Krankenkassen, Kurkliniken und die Hersteller medizinischer Apparate beobachten die Entwicklungen mit großem Interesse. Der neue Trend kommt ursprünglich aus den USA. „Beobachte dich selbst, oder lass es dein Smartphone tun“, lautet die Devise. Bluthochdruck in den Griff bekommen Der Autor Gary Wolf gilt als Vater der „Quantified Self“-Bewegung. Durch ständiges Messen seiner Vitaldaten bekam er den Bluthochdruck in den Griff. Auf
der gleichnamigen Internetseite berichtet er seitdem über seine Erfolge. Krankheiten nicht behandeln, sondern die Gesundheit erhalten, ist sein Motto. Menschen, die auf sich aufpassen, sind gesünder als solche, denen der eigene Körper egal ist. Neu ist das nicht. Schon der Philosoph und Stoiker Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.) empfahl seinen Lesern, über den Tagesablauf genau Rechenschaft abzulegen. Eine Strategie, der auch christliche Prediger gerne folgten, um ihren Schäflein die Sünde der Völlerei und Genusssucht auszutreiben. Die elektronischen Angebote arbeiten im Prinzip ähnlich. Sensoren erheben Gesundheitsdaten, ein Computersystem im Hinter-
Während bei der Behandlung von Patienten per Telemedizin strenge Richtlinien gelten, wird das Gesundheitstraining per App weit weniger streng kontrolliert. Der Gesetzgeber fordert nur, dass von ihnen keine Gefahr ausgehen darf, exakte Nachweise über den Nutzen sind hingegen nicht erforderlich. Allen Beteiligten ist klar, dass es sich hier um eine rechtliche Grauzone handelt, denn die Übergänge sind fließend. Die Nutzer der Apps stört das wenig, sie greifen gerne zu, speisen ihre persönlichen Eckwerte vom Geschlecht über das Alter und Körpergröße bis hin zu Ernährungsgewohnheiten, Wasserkonsum und Gemütszuständen in Tabellen ein und vernetzen das Smartphone mit den zuvor erworbenen Zusatzgeräten. Diese erfassen von der Bewegung, dem Gewicht, dem Blutdruck und der Herzfrequenz des Probanden so ziemlich alles, was ein medizinischer Laie an Messgeräten handhaben kann. EKG, Blutzuckermessgerät und Sensoren zur Bestimmung des Seite 1
24. November 2011 | 22:15; Akt: 24.11.2011, 21:22 Print
05.01.13, von Bernd Schöne
Sauerstoffgehaltes des Blutes gehören auch dazu. Das so gemessene Bündel an Vitaldaten soll den Gesundheitszustand erfassen und den Trainingsfortschritt dokumentieren. Es gibt sogar Stirnbänder zu kaufen, die Tief- und REM-Schlafphasen erfassen können. Drahtlose Verbindung über WLAN oder Bluetooth Die Verbindungen zwischen den Geräten ist durchweg drahtlos. Zunächst via WLAN oder Bluetooth zum Smartphone und dann über die Telefonleitung und das Internet zur Cloud. Alleine für das iPhone gibt es eine ganze Reihe von Apps, die sich der Daten annehmen, dahinter folgen die Angebote für die Konkurrenz mit Betriebssystem Android. Bei aller hippen Leichtigkeit sollte der Nutzer aber wissen: Die Anbieter haben nichts zu verschenken. Es sind kommerzielle Firmen, die mit drei- und vierstelligen Umsatzmillionen rechnen. Kostenlos ist daher immer nur die Einstiegsvariante der Apps – und selbst das nicht immer. Auch werbefinanzierte Modelle erproben die Anbieter. Wer mehr will, muss zahlen – in der Regel per Abo mit Kosten von bis zu 9,99 Euro pro Monat. Der Markt wächst zweistellig. Das ist kein Wunder, denn vor drei Jahren begann man bei null. Die Telekom visiert im Gesundheits- und Fitnessbereich ein Umsatzziel von einer Milliarde bis 2015 an. Sie ist dabei kein direkter Anbieter von Produkten, sondern tritt nur als Händler auf. Hersteller von Sohlenware mit dabei Neben den Joggingspezialisten fitbit und runtastic hat die Tele-
http://www.welt.de/gesundheit/article112407172/Diese-Apps-besiegen-den-Schweinehund.html
kom auch die Schweizer Firma Quentiq im Portfolio, die sich als Gesundheitsplattform für alle Arten von Sensordaten versteht. Aber auch die Hersteller von Sohlenware sind mit von der Partie. Adidas und Nike haben ihre Angebote als „MiCoach“ und „Nike Training Club“ im App Store platziert. Hier gibt es auch den ebenfalls aufs Laufen ausgerichteten „RunKeeper“. Am Rande des Trends tummeln sich Angebote, die eher aufs Mitmachen als aufs ständige Messen ausgelegt sind. So versteht sich „Allin Yoga“ als Anleitung für das uralte fernöstliche Trainingsangebot für Körper und Geist. Wer Gary Wolf folgen will, braucht allerdings exakte Daten, um den Fortschritt ständig im Blick zu haben. Wettbewerb gegen sich und andere ist der Geist der Selbstbeobachter. Die Apps legen die Latte von selbst immer höher. Höher, schneller und weiter sollen sich die Nutzer bewegen. Schrittzähler in moderner Luxusvariante Von überragender Bedeutung ist ein Schrittzähler – eine Luxusvariante früherer Varianten –, der nur auf Erschütterung reagiert. Ein Drei-Achsen-Beschleunigungssensor erfasst jeden Gang zum Briefkasten und jede Treppenstufe und korreliert diese mit den GPS-Daten der Satellitennavigation. Über die Länge der zurückgelegten Strecke gibt es also keine Diskussionen mehr, ebenso über die Anzahl der erklommenen Treppenstufen. „One“ von fitbit ist schweiß- und spritzwasserresistent. Es gibt also kaum Entschuldigungen, den Wachhund zu Hause zu lassen.
Lob oder Tadel folgen auf dem Fuß. Wer sich ein 10.000-SchrittZiel gesetzt hat und nur 2000 zurücklegt, bekommt die Minderleistung direkt angezeigt. Umgekehrt spornt ein ausgeklügeltes Belohnungssystem kurz vor Erreichen der gesetzten Zielmarkte zum Durchhalten an oder klopft virtuell auf die Schultern, wenn man gerade ein Teilziel erreicht hat. Plastische Beispiele sollen zum ständigen Weitermachen anstacheln und zeigen, wie gut der Nutzer schon ist. Stiegensteigen wird in die Besteigung virtueller Kirchtürme oder in Berge umgerechnet. Die maschinellen Aufmunterungen sind zahlreich, aber bei Weitem nicht die einzige Motivation. 25 Kilogramm abtrainiert Eine Vernetzung mit anderen Teilnehmern zu sozialen Gruppen, die sich gegenseitig überwachen, gehört schon fast zum Standard. Am weitesten getrieben hat diesen Gedanken wohl die Firma Quentiq. Den Anhängern der neuen Bewegung gefällt es. Der Schweizer Tom Zürrer, Leiter des Rechnungswesens eines globalen Rückversicherers, berichtet im Blog von Quentiq über die in zwei Jahren abtrainierten 25 Kilogramm Körpergewicht und die dank digitalem Tagebuch minutiös erfassten 6100 Joggingkilometer – inklusive schweißtreibender 63.100 Höhenmeter. Neben motivierenden Charts über Muskelmasse, Körperfett und Blutdruck werden die Helden der Fitness durch reale Auszeichnungen zu weiteren Hochleistungen angespornt. Da verlängert sich das Abo dann geradezu von selbst. Quentiq macht den Vergleich mit ande-
ren Teilnehmern besonders einfach, was dem Netzwerk auch den Spitznamen „Facebook für Fitness“ eingebracht hat. System aus 70 Millionen klinischen Daten Ständig berechnet die Quentiq-Cloud anhand von Alter und Geschlecht einen Gesundheitszahlenwert zwischen eins und 1000. In ihm steckt nach Meinung der Firma nicht mehr und nicht weniger als Gesundheit, Lebenserwartung, Glück und Zufriedenheit. Je höher der Wert, desto besser. Das System wurde anhand von 70 Millionen klinisch ermittelter Daten entwickelt – in Zusammenarbeit mit dem Universitätsspital Zürich und dem Massachusetts Institute of Technology. Wem immer nur laufen zu langweilig ist, kann auch schwimmen oder Rad fahren. Die gesundheitliche Wirkung von 98 sportlichen Aktivitäten ist hinterlegt. Vor allem Diabetes-Studien und Betrachtungen über des Risiko von Herzinfarkt und Schlaganfall sind in das metrische Risikomodell eingegangen. Dass die dahinter liegenden Annahmen und Berechnungen durchaus kritisch hinterfragbar sind, weiß die Schweizer Firma natürlich selbst. Man setzt aber auf die aufmunternde Wirkung einer simplen Kenngröße, die sich so einfach lesen lässt wie der Kontostand auf einem Schweizer Nummernkonto. Trainingskollegen anfeuern per Button Quentiq reklamiert für sich 100.000 zahlende Nutzer im Jahr 2012. In diesem Jahr sollen es doppelt oder dreimal so viele sein. Die Firma setzt dabei Seite 2
24. November 2011 | 22:15; Akt: 24.11.2011, 21:22 Print
05.01.13, von Bernd Schöne
auf „Gamification“ – eine Kombination aus Designtechniken, Spiellogik und Mechanik, die durch Kombination von mobiler Technologie mit sozialen Netzwerken zum dauerhaften Bewusstseinswandel der Kunden führen soll. Ist nun aber, wie Karl Valentin es formulierte, so viel Gesundheit wirklich gesund? Gesicherte Erkenntnisse gibt es da nicht. Stoff für eine Untersuchung wäre etwa die Frage, wie sich die Psyche jener Gruppenmitglieder verändert, die weder beim Laufen noch beim ebenfalls minutiös analysierten gesunden Schlafen in die höheren Ränge aufsteigen. Wer nicht ständig an sich feilt, dessen Werte sinken, und bei den Netzwerken gehört „anfeuern“ und „verspotten“ der Trainingskollegen zum fest eingebauten Mitteilungsangebot per Button.
http://www.welt.de/gesundheit/article112407172/Diese-Apps-besiegen-den-Schweinehund.html
Lifestyle oder Medizintechnik? Gerade in Deutschland hat man nicht zuletzt aus diesen Gründen hingegen eher auf die „richtige“ Telemedizin gesetzt. Auch da geht es um Diabetes und Gesundheit, aber mit Geräten, die durch eine harte Qualifikation gehen müssen, und nicht um schicke Lifestyle-Apparate mit Designerprospekten. Der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie ermahnte bereits im März 2012 die Hersteller, Geräte und Software eindeutig entweder als Lifestyle- oder als Medizintechnik zu positionieren. Zuvor hatte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte vor einer in der Rheumatherapie verwendeten App warnen müssen, weil dort ein für die Therapieentscheidung wichtiger Parameter in der „Pfizer Rheumatology
Calculator“-App aufgrund eines Programmierfehlers falsch berechnet wurde. Am Heinz-Nixdorf-Lehrstuhl für Medizinische Elektronik der TU-München erforscht man seit Jahren neue telemedizinische Geräte und weiß um den Stellenwert von qualifizierter Hard- und Software. „Mit Billiggeräten kann man nicht sinnvoll arbeiten“, erläutert Professor Bernhard Wolf, „sie taugen einfach nichts.“ Wichtig seien auch ausgereifte Übertragungsprotokolle. „Wenn der Akku leer ist, dürfen keine medizinisch wichtigen Messwerte verloren gehen“, fordert Wolf. Patienten, die an den Versuchen der TU mitwirken, erhalten einen Koffer voll aufeinander abgestimmter, erprobter Messgeräte. Bei den kommerziellen Anbietern sucht man solche Angebote bislang noch vergeblich.
Im Rahmen eines Projektes der Nixdorf Stiftung wurde zusammen mit verschiedenen Kliniken die Wirkung der Bewegungsanimation auf übergewichtige Patienten untersucht. Ohne Diät, aber mit Schrittzähler ausgerüstet, schulterten die Patienten die 10.000-Schritt-Vorgabe der Fitnessgurus mit Leichtigkeit und nahmen weit schneller ab als die hungernde Vergleichsgruppe. Das ist ein glatter Punktsieg für die Bewegungsanimation, wenngleich die Ergebnisse erst vorläufigen Charakter haben.
Seite 3