16. 7. 2013 von Gerald Gartner http://www.format.at/leben/gesundheit/die-vermessung-ich-362012
Die Vermessung des Ich Stimmung, Schlaf, Stress: Eine neue Generation protokolliert mit Sensoren und Smartphones ihr Leben - Potenzial für Versicherungen, Schreckgespenst für Datenschützer. wollen gemeinsam unsere Leistungen verbessern, erklärt Florian Schumacher, Gründer von Quantified Self Deutschland. Neun von zehn Teilnehmern der Meetings seien Männer, schätzt der Trendscout und Produktmanager. An ein schnelles Ende des Trends glaubt Schumacher nicht: „Es wird bald völlig normal sein, über seine persönlichen Statistiken Bescheid zu wissen.
Florian Gschwandtner hat dieses Jahr 201 Fitnessübungen gemacht. Er hat 66.010 Kalorien verbrannt, 127 Stunden trainiert und ist 411,85 Kilometer über 3.231 Höhenmeter gelaufen. Jeden Tag versucht der 30-Jährige, 10.000 Schritte zu Fuß zu gehen. Sein Körperfettanteil ist im einstelligen Prozentbereich. Gschwandtner weiß das, weil Sensoren und sein Smartphone ihn auf Schritt und Klick beobachten. Er ist bekennender Selbstvermesser und Chef der Linzer Fitness-App-Schmiede Runtastic, deren Anwendungen weltweit 30 Millionen mal heruntergeladen wurden. „2009 hieß es noch, das macht doch keiner. Heute wissen wir es besser, sagt er.
Er erwartet den Durchbruch dieses Trends in Österreich für 2016. In den USA ist die Selbstvermessung schon jetzt ein heißes Geschäftsfeld. Sechs Prozent der Amerikaner tragen beim Sport ein Gerät, das ihre Leistungen protokolliert. Die Gadgets bilden ein digitales Spiegelbild, das ihren Anhängern auf der Suche nach Selbsterkenntnis und -optimierung helfen soll. Dieses Verlangen macht vor Schlafverhalten, Körperhaltung, Blutwerten, Laune oder Sexgewohnheiten nicht halt. Nutzer füttern ihre tragbaren Computersysteme permanent mit Daten. So entsteht über einen längeren Zeitraum ein Informationsnetz, das Muster oder Zusammenhänge im Verhalten offenlegen soll.
Schlafe ich besser, wenn ich mehr als 8.000 Schritt täglich gehe? Bin ich schlecht gelaunt, wenn ich keinen Sport mache? Hängen meine Bauchschmerzen mit meinem Essverhalten zusammen? Jeder Nutzer sucht nach einer Lösung für ein persönliches Problem oder nach Motivation zur Erreichung eines Zieles. Neues Stammtischthema Quer über den Globus treffen sich die Anhänger der neuen, sogenannten „Quantified-Self-Bewegung auch in Gruppen, um ihre Ergebnisse und Erfahrungen miteinander zu teilen. In Österreich gibt es noch keinen Ableger. Dafür hat das Phänomen in Deutschland München, Berlin, Hamburg und Köln erfasst. „Wir
Viele Smartphones kommen schon vorinstalliert mit diesen Funktionen auf den Markt. Der Umbruch bei neuen Technologien, die früher durch hohe Preise Spezialisten vorbehalten waren, birgt zudem großes Potenzial für E-Health-Anwendungen. Das Wiener Startup mySugr hat beispielsweise eine Diabetes-App zum Protokollieren von Blutzuckerwerten entwickelt. Das hilft Patienten beim Ermitteln der Insulin-Dosis und hält langfristig den Langzeitblutzuckerwert niedrig. „Diabetiker waren quasi die unfreiwilligen Vorreiter von Quantified Self. Sie müssen ihren Blutzuckerwert mehrmals täglich protokollieren, erläutert mySugr-CEO Frank Westermann. Ungehobene Datenschätze Für Versicherungen und die Werbebranche sind all diese Daten von Fitness über Herzfrequenz bis Stress Seite 1
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ungehobene Schätze. Während mySugr und Runtastic beteuern, dass Daten nicht an Dritte weitergegeben werden, setzt das Schweizer Unternehmen dacadoo genau darauf. Das Startup berechnet basierend auf Ernährung, Aktivität, Stress und Schlaf einen „Healthscore. Dieser Wert kann als Grundlage für die Versicherungsprämie dienen. Verhandlungen mit deutschen Krankenkassen laufen. Wie die Daten dann verwertet werden - zur Belohnung von gesundem Lebensstil oder Bestrafung von schlechtem - obliegt dem Kunden. Steuert dieser Trend also auf eine Gesundheitsdiktatur mit verordneter bedingungsloser Grundgesundheit? Die Sozialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft bietet bereits ein Modell an, dass das Erreichen von Gesundheitszielen mit halbiertem Selbstbehalt belohnt. Dass es bei diesem Ansatz als Motivationsspritze bleiben wird, glaubt Robert Hawliczek, E-Health-Referent der Ärztekammer, nicht: „Die finanzielle Situation dieser Institutionen wird früher oder später zu einer Bestrafung tendieren. Dann ist jeder an seiner Krankheit selber schuld. Streitfrage ist zudem, was als gesundes Verhalten gilt. „Medizin ist keine exakte Wissenschaft. Jeder Datenhaufen ist ohne Interpreta-
tion zunächst wertlos, meint der Kunden ausgelegt werHawliczek. den. Fragen wie War ich zu schnell dran? oder Hat mein Die Gefahr, dass Patien- Fahrverhalten die Kondition ten Pseudo-Korrelationen des Autos verschlechtert? zwischen Daten herstellen können eindeutig beantworoder der Illusion absoluter tet werden. Selbstkontrolle unterliegen, geht mit Quantified Self ein- Rechtliche Grauzonen her. Der E-Health-Experte glaubt deshalb auch, dass Aus juristischer Sicht hat neue Technologien kein Arz- das Geschäft ebenfalls Kontersatz sein können. Dass fliktpotenzial. Grundsätzkünftig Smartphone-Apps lich ist zwar alles möglich, wie in Großbritannien zu- sofern der Nutzer zustimmt sätzlich zu Medikamenten - selbst die Verwertung und verschrieben werden sei Verwendung persönlicher sinnvoll. Daten durch die Pharmaund Marketingindustrie. Der Was im Gesundheitssektor Teufel steckt im Detail: Die in der Ferne liegt, ist bei Europäische DatenschutzKfz-Versicherungen Re- richtlinie stuft Gesundheitsalität. Das US-Unterneh- daten als sensibel ein, wesmen Progressive kalkuliert halb die Zustimmung zur die Prämie auf Basis von Erhebung und Weitergabe Bremsverhalten, gefahre- der Daten streng geregelt nen Kilometern und wie oft ist. Es reicht also nicht, die der Fahrer zwischen Mit- Klausel in AGB oder Kleinternacht und vier Uhr früh gedrucktem zu verstecken. fährt. In Österreich hat die Uniqa ein Pay-As-You-Dri- Außerdem haben viele ve-Modell in abgeschwäch- Dienstleister von Quanter Form. Wer sich einen tified-Self-Geräten ihren Chip einbauen lässt und Sitz außerhalb der EU. Das unter 15.000 Kilometer pro macht sie für geltende DaJahr fährt, zahlt weniger tenschutzbestimmungen fast Prämie. 50.000 Kunden ma- unantastbar. Verwaltungschen das. strafen und Zivilverfahren sind das Maximum. Beide Datenschützer Hans Ze- sind in den USA aber nicht ger, ARGE Daten, ist kein durchsetzbar. „Man sollte Fan dieser Modelle: „Die- sich immer fragen, warum se Entwicklungen laufen etwas gratis ist und die Bedem Versicherungsgedan- stimmungen kritisch lesen, ken zuwider. Die Phantasie rät Axel Anderl, Leiter des der Versicherungen bei der IT-Departments bei DBJ Interpretation ist grenzen- Rechtsanwälte. los und kann zum Nachteil
Bei Treffen der Quantified-Self-Bewegung ist Datenschutz zwar Thema, es geht aber vor allem um die Kontrolle über eigene Daten. „Dass sich US-Dienste viele Datenrechte nehmen, heißt noch nicht, dass konkrete Aktionen folgen, glaubt Trendscout Schumacher. Sicher ist das Potenzial für gute Geschäfte. Der New Yorker Marktforscher ABI Research prognostiziert bis 2018 jährliche Wachstumsraten von 40 Prozent. 167 Millionen dieser Geräte sollen dann in Europa im Umlauf sein. Aus der Nische wird ein Massenmarkt. „Das Wachstum ist nachhaltig. Die Big Player werden stark mit flexiblen Startups konkurrieren , kündigt ABI-Analyst Jonathan Collins an. Auf Österreichs Vorreiter Runtastic kommen also harte Zeiten zu. Im Gegensatz zum Konkurrenten Runkeeper will Florian Gschwandtner möglichst wenige andere Anbieter in das geschlossene Ökosystem lassen: „Wir können deren Qualität nicht kontrollieren. Ausgleichen will er das mit neuen Produkten. Eine Pause gibt es für Gschwandtner erst einmal nur privat: Seine digitale Laufstatistik steht nach einer Knieverletzung still. Das befiehlt der analoge Schmerz.
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