03. Oktober 2014 17:50 Uhr
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Jeder Moment zählt
Gesellschaft: Weniger schlafen, produktiver arbeiten, besser leben: Selbstvermessung liegt im Trend. Was Menschen dazu bringt, sich mithilfe von Hightech Tag und Nacht selbst zu optimieren.
D
ie Erlösung kommt mit einem leisen Piepsen im zwölften Stock. „Bingo“, ruft Johannes Ostermann und richtet den Blick auf das schwarze Band an seinem Handgelenk. „Die magische Zahl ist geschafft. Punktlandung“, sagt er und öffnet die Tür zu seiner Wohnung. „10 000 Schritte, die musst du jeden Tag mindestens laufen.“ Heute sei seine Performance, die Leistung, besonders gut. „Es ist noch nicht mal 16 Uhr, und ich hab‘ mein Tagespensum schon erreicht.“ Er strahlt. Seine Leistung, die Performance, spielt in Ostermanns Leben eine wichtige Rolle. Der 27-Jährige hat sich ein hohes Ziel gesetzt: Er möchte ein besserer Mensch werden. Wie, das beschreibt der Augsburger so: „Effektiver arbeiten, gesünder sein und glücklicher, die Zeit besser verbringen. Kurz: Ich will mir bewusst sein, wie ich lebe.“
Ostermann weiß jetzt: Wie viel Zeit verbringe ich im Internet? Mit Freunden? Mit Pause machen? Am meisten habe ihn überrascht, dass er täglich eine Stunde auf Bus und Bahn wartet. „Lost time!“ Statt bloß herumzustehen, schreitet er seither den Bahnsteig auf und ab und dreht ein paar Runden um die Haltestelle. „So kann ich zusätzlich Kalorien verbrennen.“ Er tippt mit dem Finger auf sein Armband. Mittlerweile könne er sich ein Leben ohne diese Dinger gar nicht mehr vorstellen. Und damit ist er nicht allein. „The Quantified Self“ – übersetzt: das vermessene Ich – nennt sich die Bewegung, zu der auch Ostermann gehört. 2007 wurde sie von den Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly ins Leben gerufen. Den beiden Kaliforniern ging es vor
Besser leben, effektiver arbeiten, glücklicher sein. Wer möchte das nicht? Im Gegensatz zur bräsigen Masse versucht Ostermann aber jeden Tag ernsthaft, sich an seine Ziele heranzuarbeiten. Ostermann ist ein Self-Tracker, ein Selbstvermesser. Er sammelt Daten über sich und seinen Körper und nutzt sie, um seinen Alltag zu strukturieren und gesünder zu leben. Damit er sein Ziel nicht aus den Augen verliert, kontrolliert er sich rund um die Uhr mithilfe seines ganz persönlichen Überwachungstrupps: Kleine Maschinen, die er am Körper trägt, Armbänder, die seine Bewegungen aufzeichnen, eine Uhr, die Körperfunktionen misst. Blutdruck, Puls, Stresslevel. Seit zwei Jahren verwendet er dazu entsprechende Apps auf seinem Smartphone, seit einem Jahr trägt er ein Fitness-Armband an seinem Handgelenk. Die Geräte, sagt er, hätten ihm geholfen, sein Leben besser in den Griff zu bekommen. Dazu gehört nicht nur, dass er jeden Tag zwischen 10 000 und 18 000 Schritten – immerhin 14 Kilometer – läuft. Auch sein Alltag unterliegt der Quantifizierung. Gerade habe er beispielsweise mit drei verschiedenen Apps zur Zeitmessung experimentiert und seinen Tag lückenlos dokumentiert, sagt er.
len zu kontrollieren, ist uralt. Goethe etwa führte 35 Jahre lang penibel Tagebuch. Auch der Philosoph und Schriftsteller Montaigne pflegte in seinen Essays eine akribische Selbstanalyse. Neu ist jedoch, dass uns das Protokollieren und Vermessen mithilfe der Technik immer leichter gemacht wird. Inzwischen gibt es mehrere Hundert Smartphone-Apps und Tools, die diese Arbeit für uns erledigen – und täglich kommen neue hinzu. Sie messen unseren Puls, wie viele Schritte wir jeden Tag laufen, wie wir uns fühlen, wie intensiv wir lieben, wie produktiv wir sind, wie tief wir schlafen, wie gesund wir leben. In den USA sind es mittlerweile 35 Millionen Menschen, die mithilfe dieser Technik am eigenen Ich basteln. Die Allermeisten davon männlich. Noch mag das, was Self-Tracker wie Ostermann erzählen, befremdlich wirken und überzogen, vielleicht sogar verrückt. Was aber, wenn die Self-Tracker nur das ausprobieren, was viele von uns bald mit sich herumtragen werden?
allem um die Verbreitung einer im Grunde simplen Botschaft: Wer verlässliche Daten und Zahlen über sich sammelt, lernt sich selbst besser kennen. „Self Knowledge Through Numbers“ – Selbsterkenntnis durch Zahlen, lautet dementsprechend der Leitsatz der Szene, die weltweit schnell wächst. Inzwischen haben sich in über 30 Ländern Quantified-Self-Gruppen zusammengeschlossen, auch in Deutschland. Ihre Mitglieder vereinen zwei Trends unserer Zeit: den Drang zur permanenten Verbesserung und die Begeisterung für Technologie. Es geht um Performance. Um Optimierung. Um Effizienz. Der Mensch ist vermessbar, das ist nicht neu. Auch die Idee, sich mithilfe von Protokol-
Eine Branche, in der Sensoren und Dienste zur Selbstvermessung längst Einzug gehalten haben, ist der Fitnessund Gesundheitsbereich. Hier werden sogenannte Wearable Technologies, also am Körper getragene, vernetzte Geräte, schon seit vielen Jahren genutzt. Fitness-Armbänder wie Fitbit, Jawbone oder das Nike+ Fuelband sind derzeit die Verkaufsschlager in einem wachsenden Markt. Pro Armband verlangen die Hersteller rund 100 Euro. Schon im Jahr 2018 könnten die Wearable Technologies einen Wert von über 50 Milliarden Dollar (umgerechnet rund 38 Millionen Euro) erreichen, prognostiziert die Schweizer Großbank Credit Suisse – das Zehnfache der Summe von 2013. „Ein Mega Trend“, prophezeit das Institut. Die Armbänder sehen nicht nur schick aus: Gerade Hobbysportler schwören auf ihre vermeintliche Wirkung. „Studien belegen, dass Nutzer solcher Messgeräte bis zu 40 Prozent Seite 1
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aktiver sind“, sagt etwa Florian Schumacher. Der 34-Jährige ist selbst überzeugter Self-Tracker und einst Vorreiter der Bewegung in Deutschland. Heute berät er Unternehmen darüber, wie sie Tracking-Lösungen für sich nutzen können. „Wenn ich mehrere Strecken zur Auswahl habe, dann wähle ich die, die für mich effizienter ist, bei der ich länger laufen kann.“ Motiviert werde man dabei auch von dem Prinzip, seine persönlichen Ergebnisse mit anderen zu teilen. Als Beispiel dafür nennt er die Erfolgsgeschichte des amerikanischen Schriftstellers Drew Magary. Magary wog sich täglich und stellte sein Gewicht bei Twitter ein. Die Kombination aus digitaler Kontrolle und öffentlicher Blamage führte zu einem Gewichtsverlust von 25 Kilogramm in nur fünf Monaten. Das Fazit: Wer beobachtet wird – sei es auch nur durch sich selbst – strengt sich mehr an. Egal, was die jeweilige Software misst, alle Quantified-Self-Anwendungen basieren auf dieser Idee. Es geht also nicht nur um Effizienz. Es geht auch um Wettbewerb. Um Leistung. Um Erfolge. Und natürlich geht es auch um Glück. Das Glück ist ein Faktor, mit dem vor allem die Werbebranche spielt. Wenn wir 30 Runden um den Teich rennen und anschließend auf dem Sofa sitzen, so die Botschaft, dann
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sind wir zwar geschafft. Aber wir sind vor allem eins: glücklich. Bewusster Leben, und darin unterscheiden sich die Self-Tracker von der Couch-Potato, heißt auch glücklicher leben. „Früher hatte ich immer ein gewisses Schuldgefühl, weil ich dachte, ich verschwende meine Zeit. Jetzt kann ich mich kontrollieren. Das macht mich glücklicher“, sagt Schumacher. Zwar ist der Markt für Self-Tracker in Deutschland längst noch nicht so groß wie in den USA – einer Umfrage des IT-Verbandes Bitkom zufolge nutzt etwa jeder achte Deutsche über 14 Jahren ein Tracking-Gerät. Aber auch hierzulande deutet sich an, was mit der massenhaften Verbreitung der kleinen Geräte alles möglich ist. Aviva etwa, die sechstgrößte Versicherung der Welt, gewährt Autobesitzern, die ihren Fahrstil von einer App kontrollieren lassen, 20 Prozent Rabatt. Und die AOK Nordost kooperierte als erste deutsche Krankenkasse mit einer Plattform, auf der Nutzer Bewegungsmodus, Schlaf und Stress vermessen und in „Health Scores“ umrechnen. Mit der Fitness-App Dacadoo sollen vor allem junge Menschen „zu einem gesunden Lebensstil angehalten werden“. Die AOK Nordost betont in diesem Zusammenhang, man erhebe nur anonyme Daten und keine Detailinformationen über einzelne Versicherte – ihr
Partner Dacadoo aber erhält diese Daten. Es ist also längst nicht mehr undenkbar, die Höhe von Versicherungsbeiträgen an das per App aufgezeichnete Verhalten zu knüpfen. Und die vielen Daten? Die gesammelten Informationen über Gewicht, Schlaf und Sport? Über Leistung und Lebensziele? Was passiert mit ihnen, wo werden sie gespeichert und wer liest mit? Johannes Ostermann zeigt sich von solchen Fragen unbeeindruckt. „Ich teile ja nur das mit anderen, was ich auch wirklich von mir preisgeben möchte“, sagt er. Natürlich könne es sein, dass die Daten irgendwann in falschen Händen landen. Aber diese Gefahr laufen doch alle, die das Internet oder Smartphones nutzen. „Oder nicht?“ Er denkt deshalb schon einen Schritt weiter. Als Nächstes, sagt er, wolle er sich eine App herunterladen, die sein Schreibverhalten misst. Damit will er jeden Buchstaben, den er auf seiner Computertastatur tippt, archivieren. Fehler inbegriffen. Was ihm das bringt? „Ich weiß es noch nicht“, sagt er. „Aber vielleicht werden die Daten ja irgendwann nützlich sein.“ Ostermanns gesammelte Tippfehler. Sieht so ein besseres Leben aus?
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