Gesundheit und Ernährung
Mir geht’s heute 430 Jeder Schritt, jeder Herzschlag, jeder Apfel zählt: Krankenkassen fördern die Selbstvermessung ihrer Kunden, um Kosten zu s enken. Worauf lässt sich ein, wer den Köder schluckt? Text Gudrun Sachse Illustration Michael Kirkham
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«Ich kann fressen, was immer ich will!» So blaffte ihn die Vorsitzende der Gesellschaft gegen Gewichts diskriminierung in einer Talkshow an. Peter Ohnemus ist überzeugt, dass ihn das ZDF damals nur in die Sendung einlud, «weil die ein Arschloch wollten». Er habe der Vorsitzenden – «über 180 Kilo, zwei Stühle» – nur mit einer Frage geantwortet: «Aber wer soll das bezahlen?» Ende des 19. Jahrhunderts riet der deutsche Reichs kanzler Otto von Bismarck seinem Kaiser, Gesetze zu erlassen, die Arbeiter gegen Krankheit, Unfall, Invali dität und Alter absichern. Der Grundstein der Kran kenkasse war gelegt. Trotz unzähligen Reformen blieb das System im Kern bis heute bestehen. «Total veraltet», sagt Ohnemus am Check-in des Flughafens Zürich. Die Hälfte des Jahres ist er auf Reisen, Businessclass, Goldcard. In einer Stunde wird er im Flugzeug nach Paris sitzen. Platz 4 F – vorderste Reihe. Noch lieber wäre ihm ein Gangplatz gewesen, damit er schneller wieder draussen ist. Es gibt viel zu tun. «Machen wir uns nichts vor, die meisten Kran kenkassen sind pleite.» Das Gesundheitswesen ist die grösste Industrie der Welt. «Stellen Sie sich vor: ein gigantisches Unternehmen, das Trilliarden Dollar ausgibt, ohne zu messen, was dabei herauskommt. Undenkbar.» Darum hat Peter Ohnemus Dacadoo erfunden, ein Gesundheitsportal, das den Gesundheitszustand seiner Benutzer mit Punkten von 1 bis 1000 bewertet und vergleicht. Normalerweise hilft eine Benchmark einem Unternehmen, seine Leistung mit jener der stärksten Mitbewerber zu vergleichen. Aber schliess lich seien Menschen und Unternehmen dasselbe. Das wird Ohnemus in einigen Stunden auch in Paris Hun derten Versicherungsvertretern erzählen, auf deren Kongress er als Redner geladen ist. Dacadoo misst, dokumentiert und vergleicht die Gesundheitswerte seiner Benutzer weltweit. Ohnemus nennt die App «Lebensnavigationssystem». Auf der Basis von Informationen über seine Ernährung, Psy che und Fitness erhält der Nutzer jederzeit Auskunft
«Die Schritte werden mittels App an die CSS übermittelt. Nur die Schritte, weder Schlafstunden noch Herzfrequenz. Für 10 000 Schritte täglich gibt es 40 R appen Prämienreduktion.»
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über sein Wohlbefinden. In Ohnemus’ Universum begrüssen wir uns künftig nicht mehr mit: Wie geht’s? – Danke, gut. Sondern wir antworten: Danke, mir geht’s 430. Dacadoo ist nur Vorreiter einer Ent wicklung. Immer komplexere Smartphones und Tra cker ermöglichen mit raffinierten Apps die Über wachung des Menschen. Wir nutzen sie, um uns zu analysieren, unseren Alltag zu überprüfen, uns an den Leistungen anderer zu messen. Eine lustige Spielerei – ginge es dabei nicht um ein Milliardengeschäft für Versicherungen und Datensammler wie Google und Fitbit; ginge es dabei nicht um die Verschiebung der gesellschaftlichen Normen hin zu einem System, das auf Rankings und Zahlen beruht. Als «sozialer Kapitalist» liege ihm vor allem das Wohl der Menschen am Herzen, sagt Ohnemus. Seit er vor zwei Jahren von der Vorsitzenden der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung beschimpft wurde, asozial zu sein, warfen er und seine Geschäftspartner die Netze weiter aus: Heute hat Dacadoo private Nutzer in über zwanzig Ländern. Krankenkassen in zehn Ländern – darunter Neuseeland, die Niederlan de, Deutschland und die Schweiz – interessieren sich für sein System. Sie wollen es in Kürze als Teil ihres Versicherungsmodells aufnehmen. Ohnemus’ Idee ist überreif. Die Medizin wird teurer, die Patienten wer den älter und anspruchsvoller, gleichzeitig fauler und dicker. Seit Jahren bemühen sich die Krankenkassen mit Präventionskampagnen, ihre Kunden zu einem gesunden Lebensstil zu erziehen. Für Aufsehen sorgte die CSS, als sie dieses Jahr das Schrittezählen in ihr Programm aufnahm. Niklas Elser hat bei der Krankenversicherung CSS «my step» eingeführt. Nur ein halbes Jahr dauerte es von der Idee der Geschäftsleitung bis zur Plakatkam pagne, die mit dem Slogan wirbt: Schritt für Schritt belohnt werden. Die Schritte werden mittels App an die CSS übermittelt. Nur die Schritte, weder Schlaf stunden noch Herzfrequenz. Für 10 000 Schritte täglich gibt es 40 Rappen Prämienreduktion. Die Krankenkasse habe viel sensiblere Daten ihrer Kunden
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herumliegen, sagt Elser, das Schrittezählen sei daten technisch nicht dramatischer als der Gutschein für ein Fitnessabo. Niklas Elser ist bis 10 Uhr vormittags schon 4212 Schritte gegangen. Seine Kollegin Gabriella Chiesa 1429. Elser und Chiesa leiten das CSS Health Lab, eine Zusammenarbeit mit der ETH Zürich und der Univer sität St. Gallen. Derzeit entwickle man Hilfsmittel, mit denen Chronischkranke ihren Alltag besser bewältigen könnten, sagt Chiesa. Asthmatiker sollen ihren Husten während der Nacht aufzeichnen. Die Stärke und die Häufigkeit des Hustens können Hinweise auf einen nahenden Anfall liefern. So lässt sich der Notfall ab wenden, der nicht nur unangenehm für den Patienten ist, sondern die Krankenkasse viel Geld kostet. Die meisten der Doktoranden sind Verhaltensforscher. Ihre Aufgabe ist es herauszufinden, welche digitalen Hilfsmittel die richtigen sind, welche Anreize nötig sind, um Menschen dauerhaft umzupolen. Die italienische Versicherungsgruppe Generali ist schon weiter. Werden in ihrem Vitality-Programm gesunde Nahrungsmittel wie Obst und Salat gekauft, schlägt sich das in der Prämie nieder. Noch habe man keine Supermarktkette, mit der sie zusammenarbeiten könnten, heisst es bei Generali in München; anders bei Generali in England, wo das Einkaufen gesunder Produkte bereits mit Gutscheinen und Rabatten belohnt wird. Das System beruhe auf Vertrauen, ver sichert Generali. Wo und was der Kunde einkauft, lässt sich nicht steuern. Das Obst im Generali-Store, die Tüte Chips an der Tankstelle, unüberwacht – so viel Freiheit ist noch da. Der Vitality-Gedanke entstand in Südafrika. Dort warb die Versicherung Discovery für ihr Lebensstilund Gesundheitsprogramm Vitality mit Geschenken, wenn die Versicherten im Gegenzug ihre selbstaufge zeichneten Gesundheitsdaten ablieferten: die Zahl der täglichen Schritte, die sportliche Aktivität, die ver brauchten Kalorien und Daten über Vorsorgeunter suchungen. Bei der CSS, sagt Elser, habe man so etwas auch im Köcher.
«Die Versicherung Generali ist schon weiter. Werden in ihrem Vitality-Programm gesunde Nahrungsmittel wie Obst und Salat gekauft, schlägt sich das in der Prämie nieder.»
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Generali in Deutschland und die CSS in der Schweiz sagen: Das ist alles freiwillig, der Kunde entscheidet, ob er bei einem Punktesystem mitmachen möchte. Zumal das System nicht die gesetzliche Grundversicherung betrifft, sondern die Zusatzversi cherung. Aber schleichend setzen die Krankenkassen einen Prozess in Gang, der alle unter Druck setzt, die beim Zahlensammeln nicht mitmachen wollen oder können. Durch das langsame Verschieben der Normen gilt langfristig als normal, wer sich vermessen und dafür belohnen oder bestrafen lässt. Doch Druck entsteht auch durch ständiges Vermes sen. Damit dieser Druck keinen Stress erzeugt, der sich negativ in den Unternehmensbilanzen nieder schlagen könnte, hat das deutsche Unternehmen Soma Analytics eine App entwickelt, die über die Sensorik des Smartphones den Anstieg des Stresslevels misst, indem die Schlafqualität und der Klang der Stimme erfasst und ausgewertet werden. In England ist die App im Einsatz. Morgens weiss der Chef, welcher Mitarbeiter wie lange und ruhig geschlafen hat, er weiss, bei wem sich eine mögliche Krise anbahnt. Dadurch liessen sich Mitarbeiter gezielter einsetzen, und Chefs könnten rechtzeitig auf deren Probleme eingehen. Das ist die Vision der App-Entwickler. Auch Schweizer Firmen wollen wissen, wie es um ihre Angestellten steht. Banken und Grosshandel sind Kunden von Dacadoo. Denn ein Burnout kostet Geld. Das grösste Risiko jedes Unternehmens, sagt Ohne mus, sei der Mitarbeiter. Eine ökonomische Zeitbom be. Der Vorgesetzte wisse zwar nicht, dass der dicke Müller heute mittag mal wieder am Buffet zuschlug, statt spazierenzugehen – aber er sehe, dass in der Abteilung Logistik, in der der dicke Müller arbeitet, der Health Score in den letzten Wochen tauchte. Ein Grund, sich die Abteilung genauer anzusehen. Ohnemus steuert eine Bar vor der Passkontrolle an. Er sei übergewichtig, sagt ihm sein Health Score. Erst 432 Schritte heute. Früher habe er ein Sixpack gehabt, erzählt Ohnemus, der einfach etwas kräftig ist, was nicht weiter erstaunlich ist für einen Mann mit 51 Jah
ren, fünf Töchtern und zwei Ehen. Er legt ein Beutel chen auf die Theke und kramt den Inhalt heraus: ein Chip, ein Plasticpflaster, eine Kapsel, kaum grösser als eine Schmerztablette. Die Kapsel, vorn und hinten mit einer Kamera ausgestattet, schiesse acht Bilder vom Innern des Darms, sagt er. Das US-Gesundheitssystem benutze das bereits, bei uns komme es in den nächsten fünf Jahren. Ohnemus lobt den Preis der Bilder: «600 Franken statt 2200 Franken beim Arzt.» Er liebt Zahlen und Statistiken, sie sind seine Muni tion im Kampf gegen die Zweifler und Bewahrer alter Werte. Blutqualität, EKG, alles werde künftig voll automatisch erfasst. Ausgewertet durch Algorithmen und Ärzte, «die dann endlich mehr Zeit fürs Zuhören» hätten. Das EKG hat der Patient nämlich bereits gemacht. Daheim. Ohnemus zeigt ein kleines Plätt chen. Steckt man es ans iPhone und hält es ans Herz, misst es die Herzdaten und übermittelt sie direkt an den Arzt oder das Spital. Auch der Bluttest daheim ist keine Kunst. Man nehme Lackmuspapier, da kommt etwas Blut drauf, das Papier in einen Chip. Der Chip geht an den Hausarzt. Fertig. Allergien, Eisenmangel, Cholesterinwerte, alles messbar, sagt Ohnemus. Und statt 100 Franken koste das dann noch 20 Franken. Wahlweise gibt’s ein kleines Gerät dazu, mit dem man die Werte auch gleich selber messen kann, Kosten punkt 7000 Franken. Ohnemus spricht sich warm für Paris. Er ist gut. Sein Enthusiasmus wird die Versiche rungsfachleute anstecken wie ein viraler Infekt. Ein Infekt, der einige Datenschützer in Panik ver setzt, andere herausfordert. Zu ihnen gehört Professor Ernst Hafen, der 2014 den Verein Daten und Gesund heit mitgründete. Der Zürcher Molekularbiologe ist am Tag zuvor in Kanada eingetroffen, um in Québec mit 3000 Genossenschaftern über den künftigen Umgang mit Daten zu sprechen. Sein Ziel ist die Gründung einer genossenschaftlich organisierten Gesundheitsdatenbank, in der individuelle medizini sche Daten eingegeben, verwaltet und genutzt werden. Ähnlich wie bei einer Bank werden die Daten für den Besitzer an einer sicheren Stelle aufbewahrt, nachdem
«Ohnemus zeigt ein kleines Plättchen. Steckt man es ans iPhone und hält es ans Herz, misst es die Herzdaten und übermittelt sie direkt an den Arzt oder das Spital.»
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er von Google, Apple, Cumulus, Fitbit & Co. eine Kopie seiner «virtuellen Spuren» eingefordert hat: «Das Recht auf die Kopie kann uns keiner nehmen.» Ja, die Dinger machen uns abhängig, und ja, gläsern sind wir auch längst. Ändern lässt sich das nicht mehr – nur richtig nutzen. Das heisst, nicht nur an dere profitieren lassen, sondern selbst davon profitie ren. «Daten sind eine Währung», sagt Hafen. Im Datenverständnis befänden wir uns noch im Mittelal ter, als jeder Bürger brav den Feudalherren das Getrei de ablieferte. Heute beliefern wir Google, Apple und Fitbit – «als wären wir deren Leibeigene». Hafen will uns nicht nur vor uns selbst schützen. Ihm geht es auch um den Nutzen für die Gesellschaft. Citizen Science nennt sich der Gebrauch wissenschaftlicher Daten für die Forschung. Jahrelang habe er als Mikrobiologe Fliegen seziert, um Informationen zu erhalten – wie viel einfacher sei es da, die Quelle Mensch «mit dem Supercomputer» anzuzapfen. Datenbesitzer können ihre Daten anonym der Forschung zur Verfügung stellen und so «den Wirtschaftsstandort Schweiz erhalten». Fortschritt ist schliesslich nicht aufzuhalten, nur in die richtigen Bahnen zu lenken. Dacadoo speichert die Daten seiner Benutzer auf einem Hochsicherheitsrechner in den Schweizer Bergen. «Es gibt Datenschutz. Wir handeln nicht mit Daten», sagt Ohnemus. Die Angst vor der totalen Überwachung sei, vor allem in Deutschland, historisch bedingt: Dort stecke noch vielen die Gestapo in den Knochen. Darum bekäme er in deutschen Fernsehsen dungen auch immer «auf die Schnauze». Nach dem Talk im ZDF sei die Vorsitzende der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung über Pommes und Cola hergefallen, erzählt Ohnemus. Mit Ketchup in den Mundwinkeln habe sie sich zu ihm umgedreht: «Sehen Sie, ich fresse, was und wann ich will.» – «Okay, Sie haben gewonnen», antwortete Ohnemus. Doch das war nur dahingesagt.
Gudrun Sachse ist NZZ-Folio-Redaktorin.