Sonntag, 28. Juni 2015
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RHEINPFALZ am Sonntag
Die Vermessung des Selbst
Noch ein bisschen optimieren und noch ein bisschen: Genug kann nie genügen. Nur Superman kann alles. Aber der kommt ja auch von einem anderen Stern. (fotos: imago / dpa/adidas)
Nachdem Ende März die Germanwings-Maschine abgestürzt war, begann eine Diskussion, ob nicht der Mensch das letzte zu eliminierende Sicherheitshindernis in Flugzeugen sei. Hätte die Katastrophe verhindert werden können, wenn der Copilot seinen Gemütszustand regelmäßig hätte prüfen und die Daten an den Arzt der Fluggesellschaft übermitteln müssen? Solchen Debatten liegt eine Idee vom „fehlerhaften“ Menschen zugrunde. Abhilfe verspricht der „Solutionism“ kalifornischer Prägung. Er geht davon aus, dass sich für jedes Problem dieser Welt eine technische Lösung finden lässt. Schon jetzt existieren smarte Apps, die beim Telefonieren anhand der Sprachmelodie Anzeichen von Depression erkennen und – bei entsprechender Voreinstellung – automatisch einen Termin beim nächstgelegenen Psychiater vereinbaren. Seit geraumer Zeit greift ein Trend zur digitalen Lebensprotokollierung um sich: das Lifelogging. Unter Lifelogging werden vielfältige Formen der digitalen Erfassung, Speicherung und Auswertung von Lebensdaten und Verhaltensspuren – lifelogs – verstanden. Das Spektrum reicht vom Gesundheitsmonitoring über gemeinsame Heilversuche chronisch Kranker oder die Standorterfassung von Kindern, Partnern und Angestellten bis hin zur Kontrolle von Demenzkranken mittels Sensoren.
Seine Wurzeln hat das Lifelogging im militärischen Bereich. Das Pentagon startete das Projekt LifeLog, das zum Namensgeber des Trends avancierte. Soldaten sollten umfassend mit Sensoren ausgestattet werden. Ein General drückte es so aus: „Ich möchte, dass Soldaten permanent die eigene Umwelt scannen (...). Ich will, dass sie wach sind.“ Die Quantified-Self-Bewegung sieht es im Grunde nicht anders. Jedes Detail könnte der Schlüssel zum Gesamtverständnis des eigenen Lebens sein. Mögliche Gefahren werden quasi in berechenbare Risiken zerlegt. Einer der Gurus der Bewegung, Garry Wolf, ist überzeugt, dass wir auf die Hilfe von Maschinen zurückgreifen sollten, um sämtliche „blinde Flecken in unserer Wahrnehmung und Lücken in unserer Aufmerksamkeit“ auszuleuchten. Ironischerweise geht die Selbstverdatung Hand in Hand mit der Überwachung durch Geheimdienste. So leben wir zunehmend in einem doppelten Kontrollregime. Auf den ersten Blick grenzt es an Schizophrenie, wenn wir uns über die „Kontrolleure von oben“ empören und selbst Gadgets nutzen, mit deren Hilfe wir virtuelle Bonuspunkte erhalten, wenn wir das eigene Leben transparent machen. Tatsächlich aber sind sich in der doppelten Kontrollgesellschaft die Motive derer, die uns (von oben) ausspionieren, und derer, die sich freiwillig selbst (von unten) überwachen, ähnlich. Ausgangspunkt ist der fehlerhafte Mensch: Weder ist er ein perfekter Bürger, noch eine perfekte Person, noch ein perfekter Konsument oder Arbeitnehmer. Die wachsende Zahl der sich selbst überwachenden Menschen geht unter anderem darauf zurück, dass das Vertrauen in die politischen Institutionen und die Selbststeuerungsfähigkeit moderner Gesellschaften in den vergangenen Jahren dramatisch abgenommen hat. Indem die Lifelogger die Welt mit bunten Balkendiagrammen wieder überschaubarer machen, gewinnen sie die Illusion zurück, das Leben sei beherrschbar. Unter den Wettbewerbsbedingungen der
modernen Gesellschaft konfiguriert sich der Lifelogger selbst – als wäre er eine Maschine, die optimal funktionieren soll. In allen nur denkbaren Bereichen des Lebens finden sich heute Nützlichkeitsdenken, Kosten-Nutzen-Analysen und Effizienzberechnungen. Leistung wird in allem gesucht, was quantifizierbar ist. Joggen wird zur Leistung, ebenso wie Sightseeing oder das verfügbare Repertoire an Sexpositionen. Die Leitformel der Quantified-Self-Bewegung, „Selbsterkenntnis durch Zahlen“, lässt sich vor diesem Hintergrund als Triumph des neoliberalen Denkens im Alltag verstehen. Die umfassende Kontrolle des Menschen am Arbeitsplatz existiert ja in einigen Bereichen schon. Der Wirtschaftsexperte James Wilson spricht von „Physiolytics“, der Vermessung der Arbeitenden, „wo es darum geht, die Leistung zu steigern“. US-Supermarktketten wie Tesco oder der Internetgigant Amazon kontrollieren zum Beispiel die exakten Laufstrecken und Pausenzeiten ihrer Mitarbeiter. Bald zahlt sich das Selbstvermessen auch für Privatleute wirtschaftlich aus. Huk-Coburg und Allianz haben für Deutschland schon die Einführung von Telematik-Tarifen angekündigt: Ein Sensor im Auto misst das Fahrverhalten; wer risikoarm fährt, bekommt Rabatt. Nach einer Studie des Marktforschungsunternehmens Yougov können sich schon heute 32 Prozent der Bundesbürger vorstellen, eigene gesundheitsbezogene Daten an ihre Krankenversicherungen weiterzuleiten, wenn sie im Gegenzug finanzielle Vorteile erhalten. Jeder fünfte Befragte zieht sogar die digitale Vermessung der eigenen Kinder in Betracht. Die Generali-Versicherung hat einen solchen Tarif schon angekündigt. Aber auch ohne solche Versicherungen zu buchen, gibt derjenige, der sich selbst vermisst, seine Daten preis. Die IT-Sicherheitsfirma Symatec untersuchte 2014 verschiedene Lifelogging-Anwendungen und kam zu einem ernüchternden Ergebnis: Datenschutz wie Seite 1
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auch Nutzersicherheit sind einer Vielzahl von Anbietern offenbar vollkommen gleichgültig. Fitness-Apps reichen gesammelte Daten an durchschnittlich fünf andere Anbieter weiter – meist an Marketingfirmen, die umfangreiche Nutzerprofile erstellen und verkaufen. Die gesellschaftlichen Folgen der Selbstverdatung sind dramatisch. Sie erzeugt einen wachsenden sozialen Anpassungsdruck. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die neuen Vermessungsmethoden digitale Versager und Gewinner erzeugen. Leistungsträger werden von Leistungsverweigerern getrennt, Kostenverursacher von Kosteneinsparern, „Health-On“-Menschen (Gesunde) von „Health-Off“-Menschen (Kranken), Nützliche von Entbehrlichen. Dabei kommt es zu einer Wiederbelebung vormoderner Schuldvorstellungen, wenn auch im modernen Gewand der „Eigenverantwortung“. Dies lässt sich schon jetzt bei einzelnen Unternehmen beobachten. So hat sich das Schweizer Unternehmen dacadoo darauf spezialisiert, aus individuellen Werten einzelner Mitarbeiter einen kollektiven „Healthscore“ für ganze Firmenbelegschaften zu errechnen. Aus diesem lässt sich dann der Versicherungsbeitrag für die Betriebskrankenkasse ableiten. Das US-Unternehmen Fitbit verkauft seine Armbänder zur Aktivitätsver-
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messung unter anderem an Firmen, die damit die Gesundheitsbemühungen ihrer Belegschaft „unterstützen“ wollen. Beide Anbieter versprechen, gesundheitsbezogene Kosten in Unternehmen zu senken und zugleich die Produktivität der Mitarbeiter zu steigern. Bei der Jagd nach dem besten Healthscore konkurrieren ganze Abteilungen erbittert untereinander. Wehe dem, der den Score der Kollegen kaputt macht. Die betriebsinterne Solidarität bleibt auf der Strecke. Wie wird die Gesellschaft der Zukunft aussehen? Versicherungen könnten einzelnen Kunden bestimmte Leistungen verweigern, weil deren Daten eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine chronische Krankheit vorhersagen. Oder Banken verweigern einem Kunden einen Kredit, weil dessen Konsumdaten eine sinkende Kaufkraft prognostizieren. Dass wir von einem solchen Szenario nicht mehr allzu weit entfernt sind, zeigt sich in den USA: Hier verursachen Schüler mit guten Noten statistisch betrachtet weniger Verkehrsunfälle. Als Folge davon stiegen vielerorts die Versicherungsprämien für Leute mit schlechten Schulnoten – ungeachtet ihrer tatsächlichen Unfallbilanz.
Daten-Double ständig zu optimieren versuchen. Immer weiter weitet sich die Vermessungszone aus: Sleep-Logging, Sex-Logging, Stimmungs-Logging, Thing-Logging und Death-Logging sind schon jetzt möglich. Immer häufiger gibt die Software vor, was wir tun sollen. Die App Ampelini soll Kindern helfen, beim Überqueren einer Straße das Richtige zu tun. Der Algorithmus nimmt den Kindern die Entscheidung ab. Der Microsoft-Berater Gordon Bell überlässt sogar die Entscheidung, ob er sich ein Eis gönnt, einem Programm, das seinen Kalorienstatus überwacht. Je mehr wir uns Entscheidungsmaschinen unterwerfen, desto mehr gleicht unser Leben der Gebrauchsanweisung eines Kühlschranks. Aber nur wenn wir uns unsere sozialen Fähigkeiten bewahren, können wir auf die psychologischen Risiken unserer Optimierungsgesellschaft angemessen reagieren – und die vom ständigen Wettbewerb in allen Lebenslagen erschöpften Individuen wieder als das sehen, was sie sind: als Menschen.
Um solcher diskriminierender Schlechterstellung zu entgehen, wird der Mensch sich selbst in eine Ware verwandeln, wird sein eigenes
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