SonntagsBlick Magazin - 2012

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Ich fühle mich körperlich und seelisch ausbalanciert – auch dank dem Fokus, mit dem ich mein Training überwache» Tom Zürrer


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Das Handy ist mein Fitnesstrainer

Wie gut habe ich geschlafen? Wie hoch ist mein Ruhepuls? Wie viele Kalorien habe ich heute schon verbrannt? Anhänger der «Quantified Self»-Bewegung wollen ständig wissen, wie es um sie steht – das Überwachen von Körper und Seele soll sie fitter, gesünder, glücklicher machen. Der Trend schwappt gerade über den grossen Teich – im Freizeitsport hat er schon Fuss gefasst Text: Philippe Pfister

Fotos: Thomas Stöckli

723 Kilometer in einem Monat «Der Mensch ist ein Sammler – ich bin ein Datensammler», sagt Tom Zürrer, bei Flagstone Re Leiter des globalen Rückversicherungs-Rechnungswesens. Vor allem Daten über sich selbst sammelt Zürrer besonders akribisch – früher auf Excel-Tabellen, heute in der InternetDatenwolke. Details über sein Lauftraining, Angaben über Muskelmasse, Körperfett, Blutdruck und Ruhepuls – über alles weiss er stets exakt Bescheid. Dank Selbstüberwachung und viel Diszplin nahm er vor zwei Jahren 25 Kilogramm ab. Diesen Sommer beteiligte er sich an einem internen Laufwettbewerb der Gesundheitsplattform Quentiq. Zürrer schaffte in einem Monat 723 Kilometer – so viel wie kein anderer Teilnehmer.

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enn der 52-jährige Tom Zürrer vom Lauftraining in seine Wohnung zurückkehrt, kann er sich die neuste Statistik noch vor dem Duschen ansehen. Auf die Zahlen ist er stolz. 551-mal hat er sich seit dem 15. Januar 2011 die Laufschuhe angezogen. 553 Stunden ist er gerannt. 6100 Kilometer und 63 100 Höhenmeter hat er zurückgelegt. Und dabei exakt 455 307 Kalorien verbrannt. Akribisch Buch geführt haben sein iPhone und seine Pulsuhr – beides hat Zürrer bei jedem Lauf dabei. Ganz automatisch übermitteln die elektronischen Helfer die Daten jeweils ins Internet. Falls Zürrer wissen will, wie sich sein Körperfett entwickelt, ist die Kurve ebenfalls

nur ein paar Mausklicks entfernt – seine mit dem Netz verbundene Waage schickt die Werte zuverlässig jeden Morgen in die Datenwolke. Dort kann der Buchhaltungsexperte auch nachsehen, wie sein Blutdruck Anfang Mai war. Oder sein Ruhepuls Ende Juni. Beides misst Zürrer regelmässig – mit einem Gerät, das sich ans iPhone anschliessen lässt. Zürrer betreibt das, was man wahlweise als «Self-Tracking» oder «Quantified Self», abgekürzt QS, bezeichnet: die möglichst präzise und lückenlose Überwachung des eigenen Körpers. Der Trend schwappt gerade aus den USA auf Europa über, in Dutzenden Städten weltweit treffen sich die Vorreiter der Bewegung regelmässig, um ihre Erfahrungen auszutauschen. Die Selbstvermesser nutzen und kombinieren drei wichtige technische EntwickSonntagsBlick magazin

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Für das SonntagsBlick magazin hat Model Lucia Thalman fünf Gadgets zur Selbstüberwachung am Körper montiert. Der Sleep Tracker von Zeo misst die Anzahl und Dauer von Tiefschlaf-, Traum- und Wachphasen. Wer schlecht schläft, kann damit überprüfen, welche Verhaltensänderung ihn besser schlafen lässt

Das iPhone ist so etwas wie die zentrale Steuereinheit der Selbstvermesser. Es kommuniziert mit anderen Geräten, erstellt Bewegungsprofile und schickt die Daten anschliessend in die Cloud. Auf Plattformen wie Quentiq fliessen alle Daten zusammen – dort vernetzen sich die Nutzer und tracken sich gegenseitig

Das Gerätchen am Schuh ist ein Schrittzähler von Fitlinxx. Es überwacht die gelaufenen Distanzen und gibt Auskunft über die verbrannten Kalorien. Mit eigenen, im Schuh eingebauten MonitoringSystemen arbeiten auch die Sport-Giganten Nike und Adidas

Fotos: Paul Seewer

lungen der letzten Jahre. Da sind erstens die Smartphones. Abermillionen solcher Geräte befinden sich inzwischen im Umlauf – deren GPS-Satelliten-Empfänger zeichnen Bewegungsprofile auf, spezielle Apps (kleine Programme) überwachen Kalorienzufuhr oder Stimmungsschwankungen. Da sind zweitens unzählige medizintechnische Spielzeuge, mit denen sich Körperwerte überwachen lassen – beispielsweise Blutdruck, Zuckerspiegel oder Muskelmasse. Und da ist drittens die Cloud, die Datenwolke im Internet, in die die Selbstvermesser all ihre Werte schicken. Dort sind sie jederzeit von jedem Ort der Welt abrufbar – auf Internet-Plattformen können QS-Anhänger ihre Datenreihen diskutieren und nach unentdeckten Zusammenhängen fahnden. Geistiger Vater der Bewegung ist der US-Publizist Gary Wolf, Mitbegründer der Internetseite quantifiedself.com. Rund 20 Vitalwerte protokolliert Wolf regelmässig. Dank penibler Selbstüberwachung schaffte er es, seinen Bluthochdruck dauerhaft zu drosseln. Er ist überzeugt, dass es künftig nicht so sehr darum geht, Krankheiten zu behandeln – sondern vor allem darum, die Gesundheit zu erhalten. Menschen, die sich selbst genau beobachten, seien nicht nur fitter, sondern am Ende des Tages auch glücklicher. Wolfs Motto ist so radikal wie einfach: «Für uns steht die eine, wichtigste Person im Mittelpunkt: ich selbst.» Selbstoptimierung dank Selbstbeobachtung also. Neu ist dieses Konzept freilich nicht. Schon Seneca (4 v. Chr.–65 n. Chr.) empfahl seinem Freund Lucilius, sich über seinen Tagesablauf genau Rechenschaft abzulegen. Michel de Montaigne (1533–1592) hielt in seinen «Essais» allerhand skurrile Details fest – beispielsweise erzählt er von einer sechs Stunden andauernden Nierenkolik, die mit dem Ausscheiden eines pinienkerngrossen Steins geendet habe. Gegen die modernen Methoden der Selbstvermessung erscheinen die TagebuchEinträge von Montaigne & Co. allerdings wie ein Fahrrad, das gegen einen Ferrari antritt. Unzählige Apps und Gadgets sollen dabei helfen, sich selbst zu optimieren. ■ Psychobarometer auf dem Smartphone erfassen die aktuelle Stimmungslage, am besten mehrmals täglich. Anhand der Eingaben lassen sich Befindlichkeitskurven erstellen und mit anderen Datenreihen kombinieren: Drückt Alkohol am anderen Tag auf die Stimmung? Macht Laufen bessere Laune als Krafttraining?

Die Waffen der Self-Tracker

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Der Pulsmesser von Wahoo kommuniziert direkt mit dem iPhone. Dieses schickt die Daten in die Cloud – Nutzer von Quentiq können die Werte direkt in ihr Profil einfliessen lassen. Gerade für Sport-Anfänger ist die Pulskontrolle laut Experten sehr wichtig, weil sich die meisten Menschen überschätzen

Zur Pulsuhr von Garmin gehört ein Brustband, das die Pulsrate ans Handgelenk funkt. Die Daten lädt die Uhr anschliessend in die Datenwolke hoch. Dank eingebautem GPS-Empfänger erstellt sie auch Bewegungsprofile. Gelaufene Strecken sind also gespeichert. Das erleichtert die Planung und das Überprüfen von Fortschritten

Körper unter der Lupe

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1 Der Glucose-Meter von Bayer mit USB-Anschluss misst den Blutzuckerspiegel. 2 Der Schrittzähler von Fitbit hält fest, wie viel man sich bewegt. 3 Das Blutdruckmessgerät von Withings lässt sich ans iPhone anschliessen. 4 Die Withings-Waage misst Gewicht, Körperfett und Muskelmasse und schickt die Daten via WLAN ins Internet.


«Nicht übertreiben»

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Selbstbeobachtung kann sehr nützlich sein, sagt der Sportmediziner Martin Halle. Wenn sie aber zur Manie wird, kann es gefährlich werden. Herr Halle, heute ist für jeden Laien möglich, was bis vor kurzem nur Profisportlern vorbehalten war: Vom Puls über den Blutdruck bis hin zur Glucose und Körperfett lassen sich viele Vitalwerte problemlos messen, aufzeichnen und auswerten. Wie sinnvoll ist das grundsätzlich? Es ist generell sinnvoll, sich mit dem Körper und seinen Funktionen zu beschäftigen. Man kennt beispielsweise seinen Blutdruck oder weiss, wie stark der Blutzucker nach dem Essen ansteigt – und umgekehrt nach sportlicher Bewegung wieder abfällt. Das ist nicht nur interessant für Ingenieure und Zahlenfreaks. Allerdings sollte man es auch nicht übertreiben, denn die Geräte spucken manchmal falsche Werte aus – und dann ist die Verunsicherung gross. Wenn es zu medizinisch wird, hört der Spass auf? Ja. Weil die Gefahr besteht, dass Werte zu ungenau oder falsch gemessen sind. Der Arzt hat halt den Vorteil, dass er nicht nur auf Werte schielt, sondern den Körper im Zusammenhang sieht. Ein Self-Tracking, das zur Manie und zu unnötigen Ärztekontakten führt, bringt ja nichts. Haben Sie in Ihrer Praxis entsprechende Erfahrungen gemacht? Diabetiker kennen die Selbstüberwachung mit den Blutzuckerstreifenanalysen ja schon immer. Ihre Blutdruckwerte sollten jene regelmässig kontrollieren, die Probleme mit dem Blutdruck haben. Aber wenn Patienten zu mir kommen und seitenweise Bögen oder Excel-Dateien über ihre Werte vorlegen, dann ist das zu viel – und sieht eher nach einer Beschäftigungstherapie aus. Was empfehlen Sie Leuten, die damit anfangen wollen? Wer sich sportlich verbessern will und wenig Zeit hat, der muss optimal und zeiteffektiv trainieren. Das funktio-

niert am besten über eine Pulskontrolle, also einen Pulsmesser. Der zeigt die optimalen Trainingsbereiche auch für den Einsteiger an. Auch Schrittzähler können motivieren, wenn man seine Fortschritte dokumentieren kann. Kritiker sagen, ein mündiger Mensch könnte auf seine Fähigkeit vertrauen, das rechte Mass der Dinge ohne Messgeräte zu ermitteln. Verlieren wir nicht die Fähigkeit, auf uns selber zu hören, wenn wir diese Aufgabe Messgeräten abtreten? Die meisten Menschen können sich doch schon heute gar nicht mehr richtig einschätzen. Sie überschätzen sich fast immer. Beispiel: Jemand ist übergewichtig und völlig untrainiert. Die Empfehlung allgemein wäre: Nordic Walking oder Spazierengehen – vielleicht 15 bis 20 Minuten. Das ist aber für viele, weil sie sich überhaupt nicht mehr einschätzen können, bei weitem zu viel, ein «Overkill», der zum Abbruch des Trainings nach drei Wochen führt. Also lautet die Devise: Training maximal bis 130 Herzschläge pro Minute – und langsam starten. Gerade in dem Bereich ist konkrete Anleitung und Überprüfung also extrem wichtig. Nicht umsonst scheitern deshalb viele Sport-Präventionsprogramme.

Prof. Dr. med. Martin Halle (50) ist ärztlicher Direktor für Prävention und Sportmedizin an der Technischen Universität München. Sein neues Buch «Zellen fahren gerne Fahrrad» (Mosaik-Verlag, Fr. 31.90) ist ein Ernährungs- und Bewegungsratgeber für Sport-Einsteiger

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Hightech auf zwei Rädern Zeit ist für Top-Manager ein knappes Gut, das gilt auch für Morten Hannesbo. Trotz dichter Agenda und langen Arbeitstagen sollten «vier bis sechs Stunden pro Woche dem Sport gehören», sagt der 49-jährige CEO des Autoimport-Konzerns Amag. Aufs Mountainbike oder Rennvelo steigt der dreifache Familienvater meist frühmorgens – an Wochenenden bleibt auch mal Zeit für eine längere Tour. Weil Hannesbo genau wissen will, wie sich sein Training entwickelt, ist er immer mit einem leistungsfähigen Fahrrad-Computer und einer GPS-fähigen Pulsuhr unterwegs. Die Daten fliessen via iPhone zu seinem Profil auf der Gesundheitsplattform Quentiq. «Die Geräte sind gewiss Spielerei», sagt er. «Aber eine Spielerei, die durchaus hilft.» Eine Vernachlässigung der Kilometerleistung schlage nur zu schnell auf sein Gewicht durch. Ausserdem kann Hannesbo jede Bike-Tour, die er in den letzten Jahren unternommen hat, am Computer abrufen. «Das erleichtert mir die Planung bevorstehender Trainings», sagt er.

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Die Geräte sind gewiss Spielerei. Aber eine Spielerei, die durchaus hilfreich ist» Morten Hannesbo

Nordost bietet den Quentiq-Zugang seit kurzem ihren 1,8 Millionen Versicherten an. Erreichen will man vor allem Leute, die mit der Plattform gesund bleiben wollen. Heuer versichert, dass Detailinformationen über einzelne Versicherte nicht zur AOK fliessen – anonymisierte Auswertungen aber schon. Die könnten der Versicherung helfen, ihre Präventionsprogramme zu verbessern. Inzwischen gibt es aber auch Kritiker, denen die Lust an ständiger Selbstbeobachtung suspekt ist. Denn wenn es einen optimalen Lebensstil gibt, könnte es auch bald Vorschriften geben, die einen solchen vorschreiben. In Zukunft könnten Krankenkassen von ihren Mitgliedern etwa verlangen, gewisse Vitalwerte ständig überwachen zu lassen, wenn sie von der günstigsten Prämie profitieren wollen. «Zahlenkolonnen ma-

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chen den Menschen zum Objekt», moniert die deutsche QS-Kritikerin und Schriftstellerin Juli Zeh. Als wäre Glück ein Rechenergebnis, führe das ständige Selbstvermessen eher zu Selbstversklavung statt zu Selbstermächtigung. Zeh ortet sogar einen «Rückschritt in der Geschichte des humanistischen Denkens». Ein mündiger Mensch könne auf seine Fähigkeit vertrauen, «das rechte Mass der Dinge ohne Messgeräte zu ermitteln», schrieb sie im «Tages-Anzeiger». Zweifel melden auch Sportexperten an. «Ein Self-Tracking, das zur Manie und zu unnötigen Ärztekontakten führt, bringt nichts», sagt der Münchner Sportmediziner Martin Halle. Noch deutlicher wird der Zürcher Personal Trainer Frank Müller. «Für jemanden, der unfit ist, reicht es, in den Spiegel zu schauen – dazu braucht es keine

Pulsuhr», sagt der Inhaber des Zurich Gym. Um sich zu motivieren, mache das Aufzeichnen von Daten zwar Sinn; die Betreuung durch einen professionellen Trainer könne aber auch das beste Messgerät nicht ersetzen. Ambitionierte Freizeitsportler wie Tom Zürrer lassen sich von der Kritik nicht beirren. Zwar hatte auch Zürrer ein einschneidendes Spiegel-Erlebnis – das war 2010, als seine Waage 105 Kilogramm anzeigte. Es war eine Art heilsamer Schock. Seither vertraut Zürrer sein Körper-Tagebuch iPhone, Pulsuhr & Co. an. 25 Kilo waren im Nu weg. Die letzte «Running Challenge» von Quentiq entschied Zürrer für sich: 723 Kilometer in einem Monat! Erreicht habe er das nicht, weil er gegen andere Leute renne, betont er, «sondern weil ich für mich laufe».


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