taz - 2015

18./19. April 2015.

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Shit, mein Lebensstil ist nur hellgrün

Mit einer App will ein Schweizer Start-up das Gesundheitssystem retten. Die EU-Kommission findet das toll. Wir haben es mal probiert.

Auf der Fitnessmesse Fibo in Köln werden die Werte beim Fahrradfahren gemessen. Bild: dpa

Der Chefkoch der AOK Nordost hat einen Gesundheitsindex von 881. Er liegt damit fast 200 Punkte vor mir.

Keine Ahnung, wie er das macht. Obwohl: ein bisschen eine Ahnung hätte ich doch. Gerade ist er schon wieder am Gehen. Bis jetzt hat er 0,5 Kilometer in 0:07 Stunden zurückgelegt.

Er war am Ostseestrand und scheint nun ein Thermenhotel zu umkreisen.

Aufstieg 4 Höhenmeter, Abstieg 9 Höhenmeter. Vor 11 Stunden hat er 16 Minuten seine Bauchmuskeln trainiert und davor ist er 42 Minuten am Meer entlang gejoggt.

Am Tag davor war er 10 Kilometer joggen und hat dabei sieben Fotos gemacht. „What a great walk“, schrieb der Chef von dacadoo unter die Meldung. dacadoo ist das Start-up, das unsere Gesundheitsindices errechnet.

Den von mir und den vom Chefkoch.

Die Zahl kann zwischen 1 und 1.000 liegen. Meiner ist aktuell bei 689, der des Kochs bei 881. Die taz hat 14,99 Euro für drei Monate bezahlt, damit dacadoo meine Gesundheit vermisst.

Die Kasse hat sehr kategorisch abgelehnt.

Das Schweizer Start-up dacadoo kooperiert jetzt mit der AOK Nordost.

Deren Mitglieder bekommen daIch habe dafür wieder den alten cadoo-Beiträge für ein Jahr erstattet, Schrittzähler von Fitbit aus der Plas- wenn sie sich anmelden. Außerdem tikbox geholt, in der ich ihn mit dem soll der Gesundheitsindex Teil des Blutdruckmessgerät fürs iPhone, mit Bonusprogramms werden. In den dem Herzfrequenz-Messband und USA und Großbritannien gibt es Krandem anderen Schrittzähler von adidas kenkassen, die die Beiträge senken, verstaut hatte. Vor vier Jahren habe wenn sich ihre Mitglieder ordentlich ich mich schon einmal einen Monat bewegen. Die New Yorker Start-uplang selbst vermessen und Mitglie- Kasse Oscar erlässt jedem einen Dolder der Quantified-Self-Bewegung lar, der mit ihrem „Misfit Flash fitness getroffen, die glauben, dass man ein tracker“, den man sich um den Arm besserer Mensch werden kann, wenn bindet, sein tägliches Ziel an Schritman seine eigenen Kennziffern kennt ten erreicht. Bis zu 240 Dollar im Jahr – und optimiert. Ich hatte damals auch kann man so in Amazon-Gutscheinen meine Krankenkasse gefragt, ob sie verdienen. In Deutschland nennt sich all die Gesundheitsdaten haben will, die AOK Gesundheitskasse, in den die ich mit den Messgeräten erhob. USA und Großbritannien wollen manSeite 1

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che offenbar gleich zur Fitnesskasse werden.

Wie weit die Quantified-Self-Bewegung in vier Jahren gekommen ist, merke ich, als mir meine Mutter von einer Bekannten erzählt, die nun auch ein Fitnessarmband trage. Die empfohlenen 10.000 Schritte am Tag schaffe man wirklich nur, wenn man Laufen gehe, sagt meine Mutter. Sie habe das auch mal mit einem Zähler überprüft.

Im Media Markt gibt es längst eine Regalreihe mit der Aufschrift „Fitness-Armbänder“. Wenn ab kommenden Freitag die Apple-Uhr verkauft wird, dürfte sich das noch einmal verstärken. Schon jetzt ist auf meinem iPhone das App-Bildchen dafür eingerichtet. Neben dem weißen App-Symbol mit dem Herz im rechten Eck. Das Apple Health Kit. Es misst automatisch meine Schritte. Ungefragt. Die App lässt sich nicht löschen, den Schrittzähler immerhin kann man mittlerweile ausstellen. Bei Google heißt das entsprechende Programm Google Fit. Selbstvermessungsequipment wird gesellschaftsfähig Während ich vor vier Jahren noch ein Teilzeit-Fitness-Nerd unter Vollzeit-Fitness-Nerds war, bin ich mit meinem Selbstvermessungsequipment offensichtlich gesellschaftsfähiger geworden. 17 Prozent der Deutschen tragen laut einer Studie der Beratung PwC Fitnessarmbänder oder Smartuhren. Die Gesellschaft hat sich mir angenähert.

Das Start-up dacadoo will nun noch einen Schritt weiter gehen und die Fitness-Bewegung an die Krankenkassen binden. Wenn es nach dem Gründer Peter Ohnemus geht, dann müssten die Kassen gesundheitsbewusstes Verhalten belohnen und gesundheitsschädliches bestrafen.

Er vergleicht den Gesundheitsindex,

Im Cockpit meines Lebens: Die App stellt fest, wie es einem geht. Bild: Screenshot dacadoo

den er sich ausgedacht hat, mit den Kennziffern der Rating-Agenturen. dacadoo, sagt er, wolle damit einen Goldstandard etablieren. Fürs Gesundheitswesen. Er nennt seine App ein Lebensnavigationssystem. Er will die Bevölkerung damit gesund halten und die Kosten für das Gesundheitswesen senken, das er krank nennt.

Die EU-Kommission hat dacadoo gerade unter die sechs besten //:„e-Health-Solutions“ 2015 gewählt. Bei ihrer eHealth-Woche im Mai im littauischen Riga wird ein Gewinner gekürt.

Lebensstil“ ist lediglich hellgrün.

Ich soll nun also Geräte und Apps mit dacadoo verbinden, die meine Aktivitäten messen. Und ich soll direkt bei dacadoo festhalten, wenn ich Sport mache. Ich klemme mir also den alten Schrittzähler der US-Firma Fitbit an die Hose und verbinde die Fitbit-App mit der dacadoo-App. In den kommenden Wochen werde ich wieder einmal feststellen, dass es wirklich schwierig ist, auf 10.000 Schritte täglich zu kommen. Obwohl ich in der Redaktion nie den Fahrstuhl benutze. Und obwohl mein Schrittzähler auch beim RadfahSchrittzähler an die Hose ren Schritte zu zählen scheint. An Tagen, an denen ich nicht joggen gehe, Wenn AOK und EU-Kommission da- erreiche ich 5.000 bis 7.000 Schritte. cadoo schon so ernst nehmen, muss Nur mit Joggen geht es leicht über ich es vielleicht auch einmal tun. Zu- 10.000. Mein Rekord liegt bisher bei mindest für ein paar Wochen. Meine 21.854 Schritten. Es war ein Donnerseigene Kasse schreibt mir, sie arbeite tag. Ich war zwei Mal joggen. noch an ihrem neuen Fitnesscoach.

Ich melde mich also bei dacadoo an, Je länger ich den Schrittzähler trage, installiere die App, gebe meine Größe desto weniger egal sind mir die Schritund mein Gewicht ein und bekomme te. Ich gehe häufiger laufen, damit ich gleich meinen ersten Gesundheits- häufiger die 10.000 schaffe. Und als index zugewiesen. Sehr vereinfacht ich mich bei dacadoo mit einigen angesagt, steht da, basiere er auf drei deren Nutzern befreundet habe, frage Säulen: „Wer Sie sind (Mein Körper), ich mich, wie der Chefkoch der AOK wie Sie sich fühlen (Mein Befinden) auf seine 881 Punkte kommt, wähund was Sie für Ihre Gesundheit rend ich es höchstens mal knapp über tun (Mein Lebensstil).“ Ich kann das 700 schaffte. Der Mann ist doch seiCockpit meines Lebens aufrufen, in nem Profilfoto nach zu urteilen mindem in allen drei Bereichen die Zeiger destens 20 Jahre älter als ich. bis in den dunkelgrünen Bereich hinein ausschlagen können. Bei mir sind alle gerade so dunkelgrün, bloß „Mein Seite 2

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Auch die E-Mails prüfen

Obwohl ich auch den Ernährungscoach und den Stresscoach aktiviert Ich stellte fest, dass es neben den habe, so oft wie möglich über die Schritten deutlich mehr Datenfelder 10.000 Schritte komme und gelegentgab. Ernährungscoach, Schlafproto- lich sogar ein kurzes Bauchtraining koll, Stressprotokoll. Persönliche me- mache, was ich vom AOK-Chefkoch dizinische Angaben, Fragen zum Le- abgeschaut habe, steigt mein Gebensstil, Blutdruck. Peter Ohnemus, sundheitsindex kaum. Könnte es dader Gründer von dacadoo, den ich mit zusammenhängen, dass ich wefür die Titelgeschichte der taz.am wo- der Herzfrequenz, noch Blutfettwerte chenende vom 18./19. Februar 2015 noch Blutzucker eingegeben habe? in seinem Büro in Zürich treffe, erzählt Ich frage Peter Ohnemus. Und tatdort, dass sie ursprünglich noch viel sächlich: Der Erfüllungsgrad könne mehr hatten aufzeichnen wollen. In sich durchaus auf den Index auswirihren ersten Tests hätten sie Tag und ken. Je mehr ich eingebe, desto besNacht den Umgebungslärm festgehal- ser also. ten oder wie viel Mails jemand kriegt, wie viel er beantwortet. Über Bilder- Aber ist das wirklich so gesund, all kennung sollte der Kaloriengehalt des die Daten auf dacadoo zu stellen?

Essens erfasst werden. Sie hätten dann gemerkt, dass das zu aufwändig Meine Blutwerte kenne ich ja gar war und vielen Leuten auch einfach nicht, die müsste ich extra für dazu viel. cadoo beim Arzt feststellen lassen.

Soll ich unter „Persönliche mediziniIch registriere mich für den Ernäh- sche Angaben“ angeben, ob ich unter rungscoach. Täglich bekomme ich einer Verdickung des Herzmuskels jetzt Fragen dazu, was ich esse und leide (vermutlich nicht) oder unter der wie. Der Coach empfiehlt Milchpro- Zuckerkrankheit (definitiv nicht) oder dukte häufiger als ein Mal täglich zu unter Herz-Rhythmus-Störungen (ich konsumieren, er rät, auch fettarme bin mir nicht sicher)?

Milchprodukte zu kaufen. In Gesellschaft zu essen könne den Vorteil ha- Interesse lässt nach ben, dass man langsamer und damit weniger esse, informiert er mich. Ich dacadoo verspricht zwar, dass all solle nicht denken, ich müsse immer die Daten nur bei dacadoo blieben alles aufessen. Toll, dass Wasser und dass sie gesichert seien wie ein mein wichtigstes Getränk ist. Das soll Schweizer Atomkraftwerk. Und selbst so bleiben. Gut auch der grüne Tee. wenn ich AOK-Mitglied wäre, dürfte die AOK sich meine Blutwerte nicht All die Daten preisgeben? von dacadoo holen. Trotzdem fühlt sich das nicht gut an. Und unter der Jeden Abend fragt mich der Stres- Pressemailadresse des Chaos Comscoach, wie ich mich heute gefühlt puter Clubs meldet sich mal wieder habe. Anfangs soll ich auch noch et- niemand, als ich frage, ob sie mir helwas sagen, damit er an meiner Spra- fen können, das mit dem Schweizer che erkennt, wie gestresst ich bin. Atomkraftwerk zu prüfen.

Ich stehe im Büro und erzähle meinem Telefon, was ich gerade tue. Ich hole meine alte Körperfettwage Meine Kollegen gucken irritiert. Das aus dem Keller und wiege mich. Vier mit den Sprachaufzeichnungen lässt Kilo zugenommen in vier Jahren. Beder Stresscoach dann irgendwann. stimmt nur Muskeln. Das BlutdruckVielleicht merkt er, wie sehr es mich messgerät von Withings lässt sich leistresst. der nicht mehr in mein neues iPhone stecken, andere Kabel.

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Nach den ersten Wochen merke ich, wie empfänglich ich für diesen Schritt-Wettbewerb bin, der mit den Fitnessarmbändern kommt. Je länger die Sache läuft, desto mehr lässt dieses Interesse allerdings auch wieder nach.

Wer verbrennt mehr Energie? dacadoo versucht mit Wettbewerben zu motivieren, die auch Unternehmen für ihre Mitarbeiter ausrufen können.

Die AOK Nordost hat so einen veranstaltet. Wer verbrennt mehr Energie? „Wenn Sie dann sehen, dass die Nachbarabteilung bereits mehr Punkte gesammelt hat, setzt das unglaubliche Energien frei“, stellt Werner Mall, der Leiter der Präventionsabteilung fest. Die soziale Dynamik in Gruppen habe eine bahnbrechende Power – und diese spielerischen Motivationsprozesse mache sich auch die dacadoo-Plattform zunutze. Wenn man merke, dass dem Team noch so und so viele Punkte fehlten, laufe man wegen der 1.000 Schritte mehr eben doch eine Runde in der Mittagspause, sagt eine Kollegin aus dem Bereich „Versorgung und Verträge“.

Mir wird, je häufiger ich mich mit dem AOK-Chefkoch vergleiche, immer klarer, wie wenig ich den Index verstehe. In den USA lassen sich //:schon Lebensversicherungen die Gesundheitsdaten ihrer Kunden schicken.

IBM will solche Daten verarbeiten und nutzbar machen. Das mag eine große Chance für Wissenschaftler sein, noch besser zu verstehen, warum Menschen krank werden. Und es schadet wahrscheinlich nicht, wenn mehr Leute sich mehr bewegen und mehr grünen Tee trinken.

Aber sollen schwer nachvollziehbare Algorithmen auf lange Sicht wirklich die Krankenkassenbeiträge bestimmen, so wie Peter Ohnemus sich das vorstellt? Mir wird bei dem Gedanken unbehaglich. Noch seltsamer kommt mir das vor, als ich einen wesentlichen Seite 3

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Unterschied zwischen mir und dem AOK-Chefkoch begreife. Mein Erfüllungsgrad liegt bei 25 Prozent, seiner bei 100. Ein nicht unerheblicher Teil seines Punktvorsprungs dürfte also damit zu erklären sein, dass er deutlich freigiebiger mit seinen Daten ist.

Der Glaube an die Macht der Ziffern ist also auch das: ein Glaube. Er verbindet sich im Jahrzehnt der Schrittzähler immer stärker mit der Unterstellung, wer zunehme sei eben selbst schuld, ein amoralischer Gesundheitsschlamper.

handlungen verweigert werden. Dass man aber als Versicherung finanzielle Anreize für Bewegung schafft, hält sie für sinnvoll. „Es ist schon lustig“, schreibt sie in einer Mail, „ich bin fett und kriege die größten Vergünstigungen – weil ich so viel trainiere.“

Apple und die Kalorienfabrik

Sie ist fett und hat eine Fitness-App gemacht

Übergewicht schadet doch gar nicht

Als ich den Schrittzähler aus Versehen mit meiner Hose in die Waschmaschine gesteckt habe und er zunächst gar nicht mehr angeht, erkläre ich das Experiment vorerst für beendet.

„Fitness hat aber keine moralische Komponente“, glaubt Naomi Alderman. „Du wirst nicht zum besseren Menschen, wenn du dich bewegst, und auch nicht zum schlechteren, wenn du es lässt.“

Der AOK-Chefkoch scheint sein Hotel mittlerweile erfolgreich umrundet zu haben. 1,1 Kilometer. 16 Minuten.

4,3 Kilometer pro Stunde. Insgesamt hat er mehr als 5 Millionen Schritte Für seine Uhr hat Apple in einem verzeichnet. Und unter anderem den garagenartigen Komplex eine GeErfolg „Stabilität ein Jahr“, für einen sundheitsfabrik aufgezogen, um Ka- Alderman ist die Autorin verschiede- Body-Mass-Index, der ein Jahr lang lorienverbrauchsforschung bei un- ner Romane und vor allem des viel zwischen 18,5 und 25 lag. terschiedlichen Temperaturen zu beachteten Textes „Ich bin fett und betreiben. Menschen mit Atemmess- habe eine erfolgreiche Fitness-App Dabei könnte in seinem Alter ein wegeräten strampeln darin auf Home- gemacht“, der auf medium.com er- nig Übergewicht gar nicht schaden, trainern. Die Apple-Uhr misst auch, schien. Sie erzählt darin, wie sie die wenn man Gesundheitswissenschaftwie viele Kalorien man verbrennt.

App Zombies, Run! der Firma Six lern glaubt. to Start mitentwickelt hat. Sie habe, Dass der Glaube an die Absolutheit schreibt Alderman in dem Text, in ih- Mein Index sinkt und sinkt, seit ich solcher Zahlen schnell zu erschüttern rem Leben viel Sport gemacht, aber kein Training mehr eingebe und der ist, zeigen verschiedene Berichte von nie dadurch abgenommen, „nicht ein Schrittzähler ruht. Irgendwie wurmt Fitbit-Nutzern, die behaupten, sie hät- einziges Pfund.“ mich das schon. Soll ich es doch noch ten trotz der App zugenommen. //:Hamal mit dem Koch aufnehmen? Und ben sich die Algorithmen wohl ver- Alderman besorgt es, sagt sie, dass dafür meine Blutwerte preisgeben? rechnet. in Großbritannien, wo sie krankenversichert ist, Dicken manche Be-

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