Forum Theologie & Gemeinde
theologisch kompetent – praktisch relevant
Leseprobe 2014 mit Beiträge aus verschiedenen FThG-Bänden Herausgegeben vom Forum Theologie & Gemeinde des BFP
© 2014 Copyright Forum Theologie & Gemeinde (FThG) im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden KdöR, Erzhausen Bibelstellen sind, wenn nicht anders angegeben, der Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984 entnommen. Durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung. © 1984 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. © 2010 ERF Online. Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigungen in Form von Kopien einzelner Seiten oder Ausdrucken einzelner Abschnitte (digitale Version) sind nur für den privaten Gebrauch bzw. innerhalb einer Ortsgemeinde gestattet. Alle anderen Formen der Vervielfältigung (Mikrofilm, andere Verfahren oder die Verarbeitung durch elektronische Systeme) sind ohne schriftliche Einwilligung durch das Forum Theologie & Gemeinde nicht gestattet. Layout u. Umschlag, Realisierung E-Book: admida-Verlagsservice, Erzhausen ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-942001-96-0 Forum Theologie & Gemeinde (FThG) Industriestr. 6–8, 64390 Erzhausen fthg@bfp.de • www.forum-thg.de
Inhalt Statt eines Vorworts – Über den Herausgeber.................................... 5 Für den besonderen Anlass Kasualien in der Freikirche 1
Einleitung......................................................................................... 9
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Begriffsbestimmungen: Kasualien, Sakramente und Amtshandlungen.................................................................................... 10
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Konkretisierung............................................................................ 12
3.1 Kasualien als Segenshandlung................................................... 12 3.2 Kasualien als Proklamationshandlungen.................................. 14 4
Kasualien im Gemeindeleben..................................................... 15
4.1 Kasualien und Kultur................................................................... 15 4.2 Kasualien und Evangelisation.................................................... 16 4.3 Kasualien und Seelsorge.............................................................. 18 4.4 Fazit................................................................................................. 20 5
Thesen zum richtigen Umgang mit Kasualien......................... 21
Das Evangelium den Armen 1
Einführung..................................................................................... 25
2
Soziales Engagement in der Pfingstbewegung........................ 26
3
Triumphalismus in der Pfingstbewegung................................ 34
4
Soziale Ethik in der Pfingstbewegung....................................... 42
Leitungsdienst in der Gemeinde 1
Einleitung....................................................................................... 53
1.1 Fragestellung................................................................................. 54 1.2 Ziel.................................................................................................. 55 1.3 Methodik........................................................................................ 55 1.4 Vorläufige Definition der Begrifflichkeiten.............................. 57 | 3
1.5 Eingrenzung der Arbeit............................................................... 58 2
Überblick unterschiedlicher Positionen ................................... 59
2.1 Grundsätzliche Thesen zum Verhältnis von Charisma und Amt................................................................................................. 60 2.2 BFP-Dokumente............................................................................ 71 Stimmt’s noch? – Wie mein Dienst wieder Schärfe gewinnt II. Segeln: „Wie leite ich?“ – Der Leiter mit einem Ziel vor Augen.............................................................................................. 81 Über auftragsbestimmte Leitung und den richtigen Kennerblick.................................................................................... 81 1
Gute Leiter beweisen Weitblick.................................................. 83
2
Gute Leiter beweisen Rundblick................................................ 88
3
Gute Leiter beweisen Einblick.................................................... 92
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Gute Leiter beweisen Aufblick.................................................... 93
Statt eines Vorworts – Über den Herausgeber Das Forum Theologie & Gemeinde (FThG) ist eine Einrichtung des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) und hat sich die Aufgabe gestellt, neutestamentlichen Gemeindebau entsprechend dem Lehrbefehl Christi durch die Herausgabe von Publikationen zu fördern. Die Redaktionsmitglieder verstehen sich als eine Arbeitsgruppe, die wie unsere Pfingstväter davon überzeugt ist, dass die Bibel Gottes Wort ist. Gottes Wort hat sowohl für unser Glaubensleben als auch für unser theologisches Arbeiten normative Funktion. Intellektuelle Redlichkeit, differenziertes Denken und theologisch solides Arbeiten stehen für uns in Beziehung zu pfingstlich-bibeltreuer Gemeindepraxis. Dieses drückt sich aus in unserem Motto „Theologisch kompetent – praktisch relevant“, welches wir als zirkulären Prozess verstehen, der sich auf die Bibel stützt und die Erfahrungen sowie die eigene Geschichte mit einbezieht. Zudem scheuen wir uns nicht, im innerpfingstlichen Diskurs als auch nach außen theologisch gegensätzliche Positionen zu benennen und zu veranschaulichen. Dabei werden wir geleitet von dem Gedanken, sich gegenseitig stehen zu lassen und das Gute zu behalten. Neben den organisatorischen und strukturellen Veränderungen in den vergangenen Jahren ist auch die konzeptionelle Überarbeitung der Ziele und der Vision Arbeitsschwerpunkt gewesen. Dazu wurde ein Strategiepapier entwickelt, das schließlich im Frühjahr 2012 vom Präsidium des BFP genehmigt wurde. Um diese Neuausrichtung nach außen kenntlich zu machen, wurde der Name von „Bundes-Unterrichts-Werk“ in „Forum Theologie & Gemeinde (FThG) – Bundeswerk im BFP“ geändert. Zu dem Profil des FThG heißt es: „Wir verstehen uns als eine Arbeitsgruppe, • die wie unsere Pfingstväter davon überzeugt ist, dass die Bibel Gottes Wort ist. Sie hat sowohl für unser Glaubensleben als auch für unser theologisches Arbeiten normative Funktion. Intellektuelle Redlichkeit, differenziertes Denken und theologisch solides Arbeiten stehen für uns in Beziehung zu pfingstlich-bibeltreuer Gemeindepraxis.
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• die im innerpfingstlichen Diskurs theologisch gegensätzlichen Positionen zu benennen, zu veranschaulichen und sich gegenseitig stehen zu lassen. Dabei werden wir geleitet von dem Gedanken, das Gute zu behalten. Das gilt sowohl für die pfingstliche als auch für andere Gemeindetraditionen.“ (Strategiepapier des Forums Theologie & Gemeinde (FThG) – Bundeswerk im BFP. April 2012.)
Die Aufgaben und die Schwerpunkte des FThG sollen insofern erweitert werden, indem durch Intensivforen die theologische Arbeit und Diskussion innerhalb des Bundes gefördert werden. Zurzeit werden zwei verschiedene Reihen herausgegeben: •
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Die „Materialien zum geistlichen Dienst“ – diese Reihe umfasst biblisch-theologisch fundierte Impulse (Theorie der Praxis) mit konkreten praktischen Hilfestellungen für den leitenden Mitarbeiter im geistlichen Dienst. Die „Systematisch-theologischen Beiträge“ – hier wird in der Rückkopplung auf exegetische Erwägungen unser Grundlagenverständnis des christlichen Glaubens erarbeitet.
Die Beiträge zu diesen Reihen kommen in der Regel von Autoren aus dem BFP oder aus Einrichtungen, die dem BFP nahestehen. Diese können durchaus unterschiedliche Ansätze bzw. Details vertreten, die nicht mit der theologischen Auffassung der Redaktion übereinstimmen. Vielmehr ist es uns wichtig, die Autoren miteinander „ins Gespräch zu bringen“. Mit den folgenden Leseproben wollen wir einen kleinen Einblick in die aktuellen Veröffentlichungen geben. Die eBooks können bei jedem bekannten eBook-Anbieter erworben werden oder auch direkt in unserem Webshop www.forum-thg.de.
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Auszug aus:
Für den besonderen Anlass Kasualien in der Freikirche Zusammengetragen von Hartmut Knorr, bearbeitet von Daniel Aderhold, mit einer Einführung von Marc Strunk FThG – Handbuch (Band 17)
© 2011 Copyright Forum Theologie & Gemeinde (FThG) im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden KdöR, Erzhausen 3., durchgesehen und leicht bearbeitete Auflage 2013 ISBN der Printausgabe: 978-3-942001-62-5 ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-942001-20-5
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Einleitung
Die Gemeinde Gottes ist immer wieder neu vor die Herausforderung gestellt, ihre „Gemeindepraxis“ anhand des Wortes Gottes zu prüfen und zu erneuern. Dies gilt für alle Bereiche der Gemeinde: z. B. Gottesdienstformen, Leiterschaftsmodelle, Themen der Gemeindeleitung etc. Ganz besonders wichtig ist dies aber auch im Zusammenhang von Kasualien. Es stellt sich nämlich folgende zentrale Frage: Warum feiern wir als Gemeinde „besondere Gottesdienste“ (Kasualien) und wie lassen sich Spuren aus dem Neuen und Alten Testament finden, die unser Handeln begründen? Die Auseinandersetzung und die Planung von Kasualien bedarf deshalb einer theologischen Reflexion, eines theologischen Unterbaus, damit nicht Pragmatismus, sondern eine biblisch gefundene Überzeugung unser Handeln prägt. Gelingt es, dass wir unser Handeln biblisch begründen können, entsteht Ernsthaftigkeit und Tiefe, die letztlich das Gemeindeleben positiv belebt. Mit diesen Gedanken sind aber auch Grenzen und Chancen abgesteckt. Da das Neue Testament verhältnismäßig wenig über konkrete Gottesdienstformen zu berichten weiß, kann es im Folgenden nicht darum gehen, eine „freikirchliche Liturgie“ für Kasualien festzuschreiben. Des Weiteren sind die folgenden Gottesdienstabläufe als Vorschläge gedacht, die das kreative Mitdenken voraussetzt und ggf. Modifizierungen notwendig erscheinen lassen. Zudem stellt sich immer wieder die Frage nach der Rolle des Heiligen Geistes, der das Gemeindeleben im Allgemeinen, Kasualien aber im Speziellen in die von Gott vorgesehene Richtung zu lenken hat. Eine zu starke Fixierung auf äußerliche Formen und Abläufe kann das Wirken des Heiligen Geistes hemmen. Hier gilt es innezuhalten und auf das Reden Gottes in der jeweils konkreten Situation zu achten und zu hören. Eindeutig ist aber auch auf die Chancen hinzuweisen. Gerade in freikirchlichen Gemeinden ist das Verständnis von Gottesdienstformen und Kasualien häufig theologisch nicht ausreichend reflektiert worden. Im Verhältnis zu den „Großkirchen“, bei denen der Gottesdienst einer bestimmten Liturgie folgt, scheint jede pfingstliche charismatische Ge-
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meinde ihre eigene Gottesdienstform zu entwickeln – mehr oder weniger reflektiert; mehr oder weniger geprägt durch Tradition und Kultur. Gerade bei Kasualiengottesdiensten begegnet man Erwartungen, die durch großkirchliche Liturgien und kulturelle Gewohnheiten geprägt sind. So haben die Gäste und Besucher vielfach ein festgefügtes Bild davon, wie eine Hochzeit „festlich“ gestaltet werden sollte. Ebenso gibt es bestimmte Erwartungen an Beerdigungsgottesdienste. Stehen bei uns die Menschen und nicht Abläufe oder Regeln im Fokus, dann folgt daraus, dass wir zu überlegen haben, wie wir ihnen in ihren Erwartungen entgegenkommen können.
2 Begriffsbestimmungen: Kasualien, Sakramente und Amtshandlungen Was sind eigentlich Kasualien? Kasualien bezeichnen jeden besonderen Fall („casus“) der unregelmäßig das Gemeindeleben und deren Mitarbeiter zum (frei-)kirchlichen Handeln veranlasst. Dazu gehören z. B. Taufe, Begräbnis, besondere Segenshandlungen wie Ordination u. Ä.1 Ursprünglich kommt der Begriff aus der protestantischen Seelsorgelehre und unterscheidet den Kasualgottesdienst von dem Regelgottesdienst (z. B. den sonntäglichen Gottesdienst mit Predigt).2 Zu unterscheiden sind Kasualien von der sogenannten „Liturgie“. Liturgie bezeichnet kirchengeschichtlich die gesamte „Kulttätigkeit“ während eines (normalen oder kasualen) Gottesdienstes, ist also eng mit 1
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In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Bedeutung dem Abendmahl beigemessen wird. Im katholischen Gottesdienst wirkt das Abendmahl z. B. konstituierend. Immerhin fordert Jesus seine Jünger auf, das Abendmahl immer wieder auch als „Erinnerungsmahl“ zu feiern, was eine gewisse Regelmäßigkeit bedingt (Lukas 22,19). Da aber immer wieder auf die sträfliche Vernachlässigung des Abendmahls (aufseiten der Freikirchen) hingewiesen wird, erscheint es sinnvoll, das Abendmahl dadurch aufzuwerten, indem es als eine besondere Form (oder Höhepunkt) des normalen Gottesdienstgeschehens verstanden wird. Vgl. „Kasualien, Kasualienpraxis“. Baumgartner, Konrad (Hrsg.). Lexikon der Pastoral. Freiburg: Herder, 2002. Bd. I. Sp. 805ff.
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dem Verständnis von Kirchenamt und Sakrament (s. u.) verbunden.3 Die Liturgik oder Liturgiewissenschaft beschäftigt sich vereinfacht gesagt mit der praktisch-theologischen Reflexion des Gottesdienstgeschehens und versucht Handlungsanweisungen oder Vorschläge für die Gemeindepraxis zu erarbeiten.4 Diese Begriffsbestimmungen können zu Irritationen führen. Soll etwa über Umwege oder durch die Hintertür eine Liturgie für die BFP-Gemeinden festgeschrieben werden? Das dem nicht so ist, wird die genaue Verortung von Liturgie im Verständnis der Großkirchen zeigen. Eine besondere Bedeutung wird nämlich in beiden Großkirchen dem „Amtsträger“ und dem Sakrament beigemessen.5 Das katholische Verständnis des Sakraments als heilsstiftendes Handeln braucht dazu kirchenrechtlich legitimierte Amtsträger, die die sog. „Amtshandlung“ vollziehen. Damit aber die rechte Verwaltung der Sakramente gewährleistet werden kann, ist der Vollzug der Handlung in Form einer Liturgie vorgeschrieben und festgelegt. Da nach freikirchlichem Verständnis zwar biblisch legitimierte Handlungen einen hohen Stellenwert haben, diesen aber nicht eine aus sich selbst heraus heilswirkende (also sakramentale) Bedeutung beigemessen wird, entfällt die Pflicht zur Kontrolle (frei-)kirchlicher Handlungen seitens einer Kirchenleitung. Es besteht also keine Not3
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Vgl. „Liturgie“. Fahlbusch, Erwin (Hrsg.). Evangelisches Kirchenlexikon: Internationale theologische Enzyklopädie (EKL). Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1992. Bd. III. Sp. 149–158. Vgl. „Liturgiewissenschaft“, EKL, Bd. II, Sp. 158–161. Aus freikirchlicher Sicht haben vor allem Stephan Nösser und Esther Reglin den Versuch unternommen „Liturgie“ für den freikirchlichen Gottesdienst zu beleben. Vgl. Nösser, Stephan; Reglin, Esther. Wir feiern Gottesdienst: Entwurf einer freikirchlichen Liturgik. Wuppertal: Brockhaus Verlag, 2001.
Überhaupt gilt es darauf hinzuweisen, dass auch nach lutherischem Verständnis dort Gemeinde Gottes präsent ist, wo das Wort Gottes gepredigt wird und die Sakramente (im protestantischen Sinne) in rechter Weise gespendet werden. In der Confessio Augustana wird deshalb in Bezug auf die Kirche (de ecclesia) festgestellt: „Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden.“ Zitiert aus: Unser Glaube: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hrsg. Lutherisches Kirchenamt. Gütersloh: Verlagshaus Gerd Mohn, 1986.
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wendigkeit, den Amtsträgern einer Kirche kanonisch oder kirchenrechtlich den genauen Ablauf mit entsprechenden Formulierungen vorzuschreiben. Es bleibt jedem Prediger, Ältesten oder Pastor zunächst selber überlassen wie (in Absprache mit den übrigen Beteiligten) eine kirchliche (Amts-)Handlung zu vollziehen ist. Insofern sind die folgenden Entwürfe als Handreichung zur Gemeindepraxis zu verstehen, die dem Bedürfnis und der Pflicht nach Angemessenheit und Ästhetik Rechnung tragen sollen.
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Konkretisierung
Nachdem die allgemeine Bedeutung von Kasualien geklärt ist, gilt es nun einen „Rahmen“ zu entwickeln, der hilft Grenzen und Chancen von Kasualgottesdiensten aufzuzeigen. Deshalb werden im Folgenden Kategorien entwickelt, in denen die verschiedenen Kasualien gruppiert werden können. Weil die Grenzen zwischen den verschiedenen Kategorien fließend sind, ist darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei nicht um in „Stein gemeißelte“ Festlegungen handelt – die ständige Reflexion und Neuorientierung ist deshalb vorausgesetzt. Der Wert dieser Kategorien besteht hauptsächlich darin, einen Rahmen an die Hand zu geben, um entscheiden zu können, wann ein gewünschter Kasualgottesdienst aus biblisch-theologischen Überlegungen und deshalb aus Gewissensgründen von einer Ortsgemeinde nicht mehr vollzogen werden kann.
3.1
Kasualien als Segenshandlung
Will man die Bedeutung des Segens aus biblischer Sicht verstehen, so ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Gott als der Segnende hervorgehoben wird. Der Mensch selbst ist niemals Quelle des Segens, sondern lediglich ein von Gott gesegneter „Kanal“. So verstanden ist Segen die Bitte an Gott um seine Gnade, Güte, Bewahrung, Langmut und Geduld: Gott selber segnet den Menschen, mit den Dingen, die
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er zum Leben braucht. Insofern liegt die Wirkkraft des gesprochenen Segens nicht bei dem Menschen, sondern bei Gott selbst.6 Unabhängig von der Bitte um den Segen Gottes im „normalen“ Gottesdienst wird hier die Bedeutung der Kasualien als Segenshandlung deutlich: Z. B. im Zusammenhang einer Trauung bittet die Gemeinde um den Segen Gottes für die neu entstandene Familie. Ebenso verhält es sich bei der in freikirchlichen Gemeinden üblichen „Kindersegnung“. Die Bitte um Gottes Schutz und Bewahrung, die Bitte um frühe Gotteserkenntnis des Kindes prägen diese Kasualiengottesdienste. Damit ist aber auch eine Grenze aufgezeigt. Erstens bleibt Gott der Segnende und zweitens wird Gott das nicht segnen können, was gegen seinen ausgesprochenen und offenbarten Willen steht. Rolf Scheffbuch stellt in diesem Zusammenhang fest: Darum muß auch Gott nicht das tun, was segnende Menschen vorhaben; sondern segnende Menschen werden vom lebendigen Gott gelenkt, letztlich das zu tun, was Gott segnend vorhat […]. Ja, selbst dort, wo der S.[egen] ausgesprochen wurde, muß Gott nicht gegen seinen Willen segnen.7
Jeder kirchliche Mitarbeiter hat deshalb anhand des Wortes Gottes und im Gebet zu prüfen, inwiefern eine mögliche Segenshandlung überhaupt sinnvoll erscheint. Da, wo geplante oder gewünschte Segenshandlungen dem Willen Gottes widersprechen, lässt sich kaum mehr von einem (christlichen) Kasualgottesdienst sprechen. Bestenfalls handelt es sich dann um kulturelle Riten, die sich einen christlichen Schein geben. Im Wesentlichen sind also Kasualiengottesdienste als Segenshandlungen eher theozentrisch – also auf Gott hin ausgerichtete Gottesdienste. Zu den bereits oben genannten Trau- und Kindersegnungsgottesdiensten ließen sich folgende „besondere Gottesdienste“ ergänzen: Ordination eines kirchlichen Mitarbeiters (inkl. Einsetzung eines neuen Pastors, Jugendpastors, Ältesten oder Arbeitskreisleiters), Einweihung eines Gemeindehauses, Gemeindejubiläen etc. 6 7
Vgl. „Segen, segnen“, in: Das große Bibellexikon, Bd. 5. Wuppertal: Brockhaus, 1996. S. 2198. Vgl. ebd.
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3.2
Kasualien als Proklamationshandlungen8
Das deutsche Wort „Proklamation“ leitet sich aus dem spätlateinischen Nomen proclamatio ab und meint so viel wie eine amtliche Verkündigung, einen Aufruf oder eine gemeinsame Erklärung.9 Insofern wird durch eine Proklamation das zum Ausdruck gebracht, was im Griechischen mit den Verben kērussō (κηρύσσώ) und euaggelizō (ευαγγελιζω) bzw. euaggelio (ευανγγέλιον) gemeint ist. Beide Verben verbindet die Weitergabe der Christusbotschaft. Kērussō bezieht sich dabei mehr auf die verkündigte und angebrochene Gottesherrschaft10, euaggelizō und euaggelion dagegen auf die Proklamation der unverdienten und umsonst gewährten Rettung und Gnade durch Christus.11 Daraus ergeben sich für Kasualien als Proklamationshandlung zwei wesentliche Merkmale. Zum einen proklamieren sie die allgemeine und konkrete Herrschaft Gottes in dieser Welt und im Besondern im Leben eines Menschen. Zum anderen proklamieren sie die Heilstaten Gottes und im Speziellen das Erlösungswerk Christi. Sicherlich gilt auch hier wieder der Hinweis, dass die Proklamation der Herrschaft Gottes und der Heilstat Christi Teil eines jeden „gewöhnlichen“ Gottesdienstes ist. Jedoch lässt sich das Gesagte für Kasualgottesdienste gut konkretisieren: Die Taufe ist zum einen Ausdruck eines Herrschaftswechsels. Nicht mehr der alte Mensch (Adam) soll das Leben bestimmen, sondern die nun durch Christus geschenkte Identität. Diese ist wiederum ursächlich durch Christi Heilshandeln ermöglicht worden. In einem Taufgottesdienst wird u. a. auch auf diesen Zusammenhang nicht zuletzt durch das persönliche Bekenntnis des Täuflings einzugehen sein. Gottes Herrschaft und die Gnade Christi wird in der Taufhandlung schließlich symbolisch zum Ausdruck gebracht. Vereinfacht könnte man sagen, dass Kasualien als Proklamationshandlungen sehr stark christozentrisch ausgerichtet sind. Weitere 8 9 10
11
Man könnte auch von Bekenntnishandlungen sprechen. Duden. Das große Fremdwörterbuch. 2. Aufl., Mannheim: Dudenverlag, 2000. S. 1093. Vgl. Coenen Lothar; Klaus Haacker (Hrsg.). Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament (TBLNT). Wuppertal: Brockhaus, 2005, S. 1755 (bes. S. 1761). Bauer, Walter; Aland, Kurt. Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. 6. Aufl., Berlin: de Gruyter. 1988, Sp. 877. TBLNT. S. 432 ff. (bes. 436 f.). Bauer, Aland. Sp. 642 f.
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Kasualien, die stark das Moment der Proklamation betonen, sind z. B. Abendmahlsfeiern und Beerdigungen. Einleitend ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Segens- und Proklamationshandlungen bei Kasualien durchaus in gemischter Form in die Gottesdienstgestaltung miteinbezogen sind. Es wird in Bezug auf Kasualien niemals den reinen Segens- oder Proklamationsgottesdienst geben. Jedoch sollte bei der Planung von Kasualien folgende „Faustregel“ bedacht werden: Als „Minimalkriterium“ muss mindestens eine Segenshandlung oder eine Proklamationshandlung das Gottesdienstgeschehen mitbestimmen. Oder anders ausgedrückt: Kasualien sind immer theozentrisch und/oder christozentrisch.
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Kasualien im Gemeindeleben
Mit der oben dargestellten zweifachen Ausrichtung von Kasualien (als Segensund Proklamationshandlungen) ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten für das Gemeindeleben. Wichtig erscheint es dabei jedoch zu sein, sich zunächst der kulturellen Prägung (und dem damit verbundenen Gottesbild) bewusst zu werden. Dadurch ergeben sich Chancen und Grenzen für Evangelisation und Seelsorge bei Kasualien.
4.1
Kasualien und Kultur
Dass die gängige Kasualpraxis auch von der „westlichen“ Kultur geprägt ist, bedarf zunächst keiner weiteren Begründung. Eine Trauung, eine Kindersegnung oder auch eine Beerdigung entfaltet in anderen Kulturkreisen eine ganz andere Erscheinungsform mit vielleicht unterschiedlichen Schwerpunkten. Und trotzdem obliegt es hier einer verantwortlichen biblischen Theologie, „Kultur“ oder kulturelle Einflüsse nicht statisch und damit unveränderbar hinzunehmen. Vielmehr stellt sich immer wieder die Frage, inwiefern biblische Aussagen in ein kulturelles Umfeld „übersetzt“ werden können. Den Prozess des Übersetzens bezeichnet man als „Kontextualisierung“. Richtig verstandene Kontextualisierung versucht das Evangelium in eine Kultur zu über-
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tragen und der damit verbundenen Dynamik und der entstehenden Herausforderung gerecht zu werden.12 Nach Klaus Müller ist im Zusammenhang von Kontextualisierung das Gottesbild von entscheidender Bedeutung. Er stellt fest: „Das Gottesbild ist der Beginn jeder bewussten, langfristigen Kulturveränderung und deshalb der Ansatzpunkt der Verkündigung des Evangeliums. Deshalb muss die Kontextualisierung am Gottesbild beginnen.“13 Für die Kasualpraxis hat dies folgende Konsequenzen: Es gilt zunächst danach zu fragen, was der unbewusste (oft nicht reflektierte) Wunsch nach einem Kasualgottesdienst ist. Die Bedeutung der Kontextualisierung im Zusammenhang von Kasualien liegt also weniger in der Erörterung eines möglichen Ablaufs und dem Fragen nach den Hörern. Vielmehr nimmt sie den zu Segnenden (in Form einer Segenshandlung) oder den Bekennenden (in Form einer Proklamationshandlung) in den Fokus. Diese Vorgehensweise ist insofern notwendig und erhält dadurch ihre Berechtigung, weil nur so der eigentliche Wert (nämlich die Langzeitwirkung) gewährleistet werden kann. Da, wo der Wunsch nach einer bestimmten Kasualie durch kulturelle Prägung gewünscht ist, gilt es deshalb an dem Gottesbild dieser Person zu arbeiten. Dadurch wird ein Kreislauf in Gang gesetzt, der die Möglichkeit zur Evangelisation und zur Seelsorge eröffnet.
4.2
Kasualien und Evangelisation
Wird im Zusammenhang von Kasualien nach dem Gottesbild gefragt und werden Kasualien als Segensund Proklamationshandlungen verstanden, ist das Moment der Evangelisation im Rahmen dieser Gottesdienste zu berücksichtigen. Was ist aber unter Evangelisation zu verstehen? Die Lausanner Verpflichtung definiert Evangelisation wie folgt: Evangelisieren heißt, die gute Nachricht zu verbreiten, dass Jesus Christus für unsere Sünden starb und von den Toten auferstand nach der Schrift 12
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Vgl. Klaus Müller. „Kontextualisierung verstehen“, in: Holthaus, Stephan (Hrsg). Die Mission der Theologie: Festschrift für Hans Kasdorf zum 70. Geburtstag. Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft, 1998. S. 220. Müller. „Kontextualisierung verstehen“, 1998. S. 230.
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und dass er jetzt die Vergebung der Sünde und die befreiende Gabe des Geistes allen denen anbietet, die Buße tun und glauben.14
Des Weiteren wird darauf hingewiesen, dass Evangelisation einfühlsames Hören, die Verkündigung des historischen Christus und die Kosten der Nachfolge beinhaltet. Das Ergebnis der Evangelisation schließe Gehorsam gegenüber Jesus Christus, Eingliederung in seine Gemeinde und verantwortlichen Dienst in der Welt ein.15 Mit dieser umfassenden Definition von Evangelisation wird deutlich, dass ein Kasualgottesdienst über die Maßen beansprucht wäre, wenn „Evangelisieren“ das einzige Moment dieses Gottesdienstes ist. Und doch ist die Verkündigung der guten Nachricht („Evangelium“) das, was im Rahmen eines Kasualgottesdienstes geleistet werden kann oder gar muss. Einige Beispiele: •
Im Zusammenhang des Abendmahls (als Proklamationshandlung) wird auf den Tod und die Auferstehung Jesu verwiesen. Dies ergibt aber nur Sinn, wenn auch die ursprüngliche Sendung Jesu (Rettung von Sündern) in die einleitenden Erklärungen (Einsetzungsworte) mit einfließt. Durch die Einladung, „zum Tisch des Herrn“ zu kommen, erhält der Hörer die Möglichkeit zu reagieren – sein Leben vor Gott in Ordnung zu bringen (Buße).
14
Artikel 4 der Lausanner Verpflichtung. Vgl. Die Lausanner Verpflichtung. Hrsg. Lausanner Bewegung in Deutschland, 5. Aufl., Stuttgart, 2000. Auf die Lausanner Verpflichtung wird deshalb verwiesen, weil diese den größten Konsens bzgl. Evangelisation im evangelikalen Milieu widerspiegelt. Nachzulesen ist die Verpflichtung unter folgender URL: www.lausannerbewegung.de/data/files/content.publikationen/55.pdf, 28.12.2010. Von der Zielrichtung ähnlich definiert der Missionswissenschaftler David Bosch Evangelisation: „Wir können Evangelisation zusammenfassen als die Dimension und Aktivität in der Sendung der Gemeinde, die durch Wort und Tat und angesichts spezieller Situationen und konkreter Kontexte, jeden Menschen und jeder menschlichen Gemeinschaft wo auch immer eine echte Möglichkeit zu einer radikalen Neuorientierung des Lebens herausgefordert zu werden, bei der es u. a. darum geht befreit zu werden aus der Versklavung an die Welt und ihre Mächte, Christus als Herrn und Heiland anzunehmen, ein lebendiges Mitglied der Gemeinde zu werden, eingeschrieben zu werden in seinen Dienst der Versöhnung, der Friedens und der Gerechtigkeit auf Erden, und sich für Gottes Ziele einzusetzen, dass alle Dinge der Herrschaft Christi untergeordnet werden.“ (Eigene Übersetzung aus: Bosch, David. Transforming Mission. Orbis: 1991, S. 420.) Vgl. Artikel 4 der Lausanner Verpflichtung.
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•
•
Im Rahmen einer Kindersegnung (als Segenshandlung) wird der verantwortliche Gottesdienstleiter, Pastor oder Ältester erklären müssen, warum aus theologischer Sicht die „Säuglingstaufe“ abzulehnen ist. Dies wird zwangsläufig dazu führen, kurz und verständlich das Heilshandeln Gottes (also das Evangelium) zu erklären. Schließlich wird im Segensgebet für das Kind auch die Bitte um frühe Gotteserkenntnis und Glaubensgehorsam enthalten sein. Besonders sensibel und deshalb mit viel Einfühlungsvermögen zu behandeln ist das Moment Evangelisation im Rahmen einer Beerdigung (als Proklamationshandlung). Tatsache ist, dass hier ein Prediger oder Gottesdienstleiter für den Verstorbenen keine Verantwortung mehr übernehmen kann. Da wo es sich bei dem Verstorbenen um einen wiedergeborenen Christen handelt, ist das Evangelium Trostwort. Andererseits gilt es die anwesende Trauergemeinde wenn auch mit größtmöglicher Sensibilität und „Fingerspitzengefühl“ mit der Frage nach der Ewigkeit zu konfrontieren.
Ein Zusammenhang von Kasualgottesdiensten und der Möglichkeit zur Evangelisation ist deshalb (s. o.) durchaus festzustellen und legitim. Einige Kasualien sind sogar nur vom Evangelium her verständlich und sinnvoll. Allerdings können Kasualien nur einen begrenzten Teil des sehr umfangreichen Auftrags zur Evangelisation abdecken. Zudem bedarf es großen „Fingerspitzengefühls“ und großer Sensibilität. Besonders aber für kleinere Gemeinden (mit weniger evangelistischer Durchschlagskraft) sind Kasualien (biblisch theologisch richtig verstanden und durchgeführt) eine gute Gelegenheit der Evangeliumsverkündigung.
4.3
Kasualien und Seelsorge
Wie oben bereits festgestellt, sind Kasualien im Zusammenhang der protestantischen Seelsorgelehre thematisiert worden. Da der Begriff „Seelsorge“ allerdings kein genuin biblischer Begriff ist, stellt sich hier die Frage, was unter Seelsorge zu verstehen ist.
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Christliche Seelsorge nimmt den Menschen in seinem Beziehungsverhältnis (oder Nichtverhältnis) zu Gott wahr und hat zunächst die primäre Aufgabe: Menschen zu Jesus Christus als dem Herrn über Leben und Tod zu führen und von dieser Begegnung ausgehend das Leben in Freiheit zu ordnen und zu gestalten. Insofern S.[eelsorge] dies im Blick hat, ist sie bibl. orientiert.16
Ähnlich wird im Handbuch Seelsorge (wenn auch zu sehr auf den gläubigen Menschen eingegrenzt) festgestellt: Die Seelsorge nimmt sich der Probleme des gläubigen Menschen an, die sich durch Lebensumstände und Persönlichkeitsentwicklung und -struktur ergeben. Somit ist Seelsorge Glaubens- und Lebenshilfe und (…) ein Aspekt der Nächstenliebe. (…) Seelsorge umfasst den ganzen Menschen in allen seinen Lebensbezügen: in seiner Persönlichkeit, in seiner Ehe, in seiner Familie, in seiner Gemeinde, in seinem Beruf, in seinem geistlichen Wachstum.17
Obwohl Seelsorge oft im Zusammenhang eines Einzelgespräches oder kleiner Gesprächsgruppen vollzogen wird, ist der seelsorgerliche Aspekt von Kasualien nicht zu unterschätzen. So kann eine Wortverkündigung im Rahmen eines Gottesdienstes zur inneren Buße und Bekehrung führen, sie kann auferbauen und stärken und damit heilend auf die Zuhörer wirken.18 Von besonderer Bedeutung wird die Seelsorge bei einem Todesfall. Bestenfalls hat eine Sterbebegleitung durch denjenigen, der auch den Trauergottesdienst leitet, stattgefunden.19 Da dies aber nicht immer gewährleistet werden kann, ist später durch die Vorbereitungsgespräche im Vorfeld einer Beerdigung das seelsorgerliche Handeln an den Hinterbliebenen von besonderer Bedeutung.20 Schließlich wird bei der 16 17 18 19 20
„Seelsorge“. Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde (ELThG). Wuppertal: Brockhaus, 1994. Bd. 3, S. 1817. Bundes-Unterrichts-Werk (Hrsg.). Handbuch Seelsorge. Erzhausen, Bundes-Unterrichts-Werk, 2005. S. 12. Vgl. a. a. O. S. 25. Vgl. a. a. O. S. 46 f. Dies kann u. a. durch den Verweis auf folgende Verheißungen geschehen: 1. Der Himmel ist ein Ort der Ruhe (Offb 14,13). 2. Im Himmel gibt es keinen Schmerz, keine Träne, kein Geschrei (Offb 21,4). 3. Der Himmel ist ein Ort vollkommener
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Beerdigung selbst ein Blick über den Tod hinaus eröffnet werden. Der Trauergemeinde werden Verheißungen und Zusagen Gottes vor Augen geführt und somit Seelsorge vollzogen. Aber nicht nur im Zusammenhang von Beerdigungen ist Seelsorge von großer Bedeutung. So kann z. B. durch die mit dem persönlichen (Christus-)Bekenntnis verbundene Gotteserfahrung eines Täuflings der Gemeinde und den anwesenden Gästen Mut und Hoffnung vermittelt werden. Wird Seelsorge in einem ganzheitlichen Zusammenhang gesehen und im praktisch-theologischen Sinne verstanden, dann lässt sich Folgendes feststellen: An der Schwelle lebensentscheidender (Krisen-)Situationen ist die Bedeutung von Seelsorge im Vollzug einer gottesdienstlichen Handlung (Kasualie) erheblich. Helge Stadelmann stellt diesbezüglich fest: Insofern die Kasualpredigt den Menschen in Situationen besonderer Erschütterung oder Freude sowie an Wendepunkten seines Lebens anspricht, hat sie von der Schrift her Ermutigung, Trost und Ermahnung (…) bzw. Wegweisung (…) zu geben. Sie ist insofern seelsorgerliche und auch prophetische Verkündigung.21
4.4
Fazit
Das Gesagte lässt sich gut in einem Kreislauf darstellen. Durch das Bewusstwerden der kulturellen Prägung wird die Frage aufgeworfen, warum überhaupt eine Kasualie gewünscht wird. Dadurch ergeben sich Möglichkeiten zur Evangelisation, denn es steht ja die Frage im Mittelpunkt, was inhaltlich durch eine Gottesdiensthandlung (z. B. Trauung oder Beerdigung) zum Ausdruck gebracht werden soll. Dieses Fragen führt (hoffentlich) zur Lebens(neu)ausrichtung, unterstützt und getragen durch seelsorgerliches Handeln. Dies wirkt wiederum bestimmend bei der Teilhabe anderer Kasualien.
21
Freude im Angesicht des Herrn (Apg 2,28). 4. Obwohl wir verwandelt sein werden, werden wir einander wieder erkennen (Mt 17,3–4; Petrus erkannte Mose und Elia). 5. Der Himmel wird schöner sein als alles, was wir uns vorstellen können (Offb 21–22). 6. Wir werden uns im Himmel wohl fühlen, denn er ist unsere Heimat (Joh 14,2). (Nach: MacDowell, Josh; Hosteler, Bob. Handbuch Jugendseelsorge, Bielefeld: Christliche Literatur-Verbreitung, 1998. S. 110.) Stadelmann, Helge. Schriftgemäß predigen: Plädoyer und Anleitung für die Auslegungspredigt, 3. Aufl., Wuppertal: Brockhaus, 1996. S. 270.
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Abbildung 4.1: Darstellung der Wirkungen von Nachfrage und Kasualien
5 Thesen zum richtigen Umgang mit Kasualien Anstelle einer Synthese sollen im Folgenden vier Arbeitsthesen das Gesagte zusammenfassen. Diese Thesen sollen zum weiteren Nachdenken anregen – ja, sogar Widerspruch hervorrufen: 1. Kasualien sind auf Gott hin ausgerichtete Gottesdienste. In der Vorbereitung und in der Absprache mit den entsprechenden Beteiligten ist auf eine konsequente theozentrische Ausrichtung zu achten. So kann dafür gesorgt werden, dass Kasualien nicht zu „Gefälligkeitsgottesdiensten“ verkommen. Ist diese konsequente
Thesen zum richtigen Umgang mit Kasualien | 21
theozentrische Ausrichtung nicht gewünscht, stellt sich die Frage, inwiefern ein Gottesdienst dann noch durchzuführen ist. 2. Die Proklamation des Evangeliums und/oder die Bitte um den Segen Gottes bestimmen die inhaltliche Ausrichtung der Kasualien. Als Segensund Proklamationsgottesdienste stellen sie Gott als den Segnenden, Christus als den Erlösenden und den Menschen als Empfangenden in den Vordergrund. Insofern ist auf die strikte Bindung an das Wort Gottes (auch was die Predigt betrifft) zu achten. 3. Kasualien sind Teil des Gemeindelebens. Von der Form unter kulturellem Einfluss stehend, erfüllen sie das Bedürfnis nach Seelsorge und können evangelistisch (wenn auch nicht umfassend) wirken. Kasualien erfüllen damit eine wichtige Funktion im Gemeindealltag und sollten deshalb mit großer Sensibilität und Sorgfalt vorbereitet und vollzogen werden. 4. Die Durchführung einer Kasualie ist zunächst nicht auf kirchliche Amtsträger beschränkt. Älteste (und Mitarbeiter) können nach Absprache, Aufgaben eines Kasualiengottesdienstes übernehmen (im Zusammenhang von Segenshandlungen ist dies sogar sehr wichtig!). Als geistlich verstandene Handlung ist bei dem Vollziehenden unbedingt auf eine Autorisierung durch die Gemeinde oder eines Gemeindebundes zu achten.
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Auszug aus:
Das Evangelium den Armen Die Pfingstbewegung im Spannungsfeld zwischen sozialer Verantwortung und klassischem Missionsverständnis FThG – Material zum geistlichen Dienst: Band 19
© 2013 Copyright Forum Theologie & Gemeinde (FThG) im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden KdöR, Erzhausen ISBN der Printausgabe: 978-3-942001-68-7 ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-942001-24-3
Das Evangelium den Armen – | 23
Soziales Engagement und Triumphalismus in der Pfingstbewegung von Wolfgang Vondey
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Einführung
Die weltweite Pfingstbewegung zeigt deutliche Spannungen zwischen sozialem Engagement auf der einen Seite und sozialer Zurückhaltung bis hin zum Triumphalismus auf der anderen Seite.1 Globale Charakterisierungen und Theorien des Pfingstlertums berufen sich gerne auf geläufige Untersuchungen, die die Entwicklung der modernen Pfingstbewegung auf Formen sozialer Deprivation zurückführen möchten.2 In armen und unterentwickelten Ländern wird das Pfingstlertum oft als Ausweg aus Armut, Korruption und Unterdrückung und als ein Weg in Richtung auf Stabilität, Konsum, Reichtum und Freiheit angesehen. Die Pfingstbewegung in den Entwicklungsländern repräsentiert für viele die Wünsche der neuen Mittelklasse, sich in der neuen Welt und ihren erwarteten Vorteilen einzufügen.3 In den entwickelten Ländern der ersten Welt steht das Pfingstlertum oft für sozialökonomische Stabilität und Mobilität, die vor allem dem Aufwärtsdrang der jungen Generation entspricht. Diese Identifizierungen überkreuzen sich nicht selten in Gebieten, wo Reichtum und Armut nahe beieinanderstehen. In vielen dieser Gebiete, wo die Bezeichnungen der ersten, zweiten und dritten Welt nicht immer eindeutig zu differenzieren sind, hat die Pfingstbewegung sich in verschiedene Richtungen bewegt, und 1
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Eine erweiterte Fassung dieses Aufsatzes mit Anlehnung an die weltweite Pfingstbewegung findet sich in: Wolfgang Vondey, Pentecostalism: A Guide for the Perplexed, London und New York, Bloomsbury T&T Clark, 2013, S. 89–110. Besonders Robert Mapes Anderson, Vision of the Disinherited: The Making of American Pentecostalism, Oxford, 1979. David Martin, Tongues of Fire: The Explosion of Protestantism in Latin America, Oxford, 1990, S. 163–268.
Einführung | 25
die Einfindung in ein Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit stellt die Einheit des Pfingstlertums vor erhebliche Schwierigkeiten. Dieser Beitrag widmet sich den sichtbaren Spannungen der Pfingstbewegung im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit: Einerseits wird in den programmatischen und langzeitlichen Beispielen eines fortschrittlichen sozialen Aktivismus soziales Engagement sichtbar; andererseits herrschen soziale Passivität und pfingstlerischer Traditionalismus, wie sie an der Predigt eines Evangeliums des Wohlstands und der göttlichen Heilung sichtbar werden. Die soziale Ethik des Pfingstlertums ist zerrissen zwischen diesen beiden Extremen, der Teilnahme und Leiterschaft im Kampf gegen Armut, Deprivation, Unterdrückung und Verfolgung auf der einen Seite und des Verharrens in einer Denkart des konfessionell motivierten Individualismus und Triumphalismus auf der anderen. Dieser Aufsatz ist daher zugleich ein kritischer und therapeutischer Vergleich und eine Untersuchung globaler Spannungen, die nicht nur für die Pfingstbewegung von Bedeutung sind, sondern auch für ein weltweites Christentum, das sich zunehmend mit diversen sozialökonomischen, kulturellen und politischen Zusammenhängen konfrontiert sieht. Der erste Teil dieses Beitrags befasst sich mit dem sozialen Engagement von Pfingstlern in Asien, Afrika und Lateinamerika. Der zweite Teil präsentiert die Predigt eines Wohlstandsevangeliums und den Einfluss der Reichtums- und Heilungsphilosophien auf das heutige Pfingstlertum. Im abschließenden Teil dieser Untersuchung werden die beiden Positionen verglichen und eingebracht in einen Dialog über den gegenwärtigen Stand der sozialen Ethik in der Pfingstbewegung.
2 Soziales Engagement in der Pfingstbewegung Soziales Engagement der Pfingstbewegung ist in den letzten Jahren auch unter dem Begriff „fortschrittliche Pfingstler“ bekannt geworden.4 Diese 4
Donald E. Miller und Tetsunao Yamamori, Global Pentecostalism: The New Face of Christian Social Engagement, Berkeley, 2007, S. 31–34.
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fortschrittlichen Gruppierungen verstehen soziale Gerechtigkeit oft als direktes Mandat Gottes, veranschaulicht in der Hl. Schrift, und als normativen Bestandteil des christlichen Lebens. Ein besonderes Merkmal dieser fortschrittlichen Pfingstler ist die Erfahrung der Armut, Deprivation, Unterdrückung und Verfolgung oder zumindest die Identifizierung mit derartig unterprivilegierten, marginalisierten Randgruppen. In Einzelfällen führen beide Elemente zu einer höchst aktiven, mitunter sogar revolutionären Einstellung gegenüber dem status quo. Die weitverbreitete Deprivationstheorie führt die pfingstlerische Statuseinstellung vor allem auf die Erfahrung von Armut und Verfolgung sowie den unterprivilegierten gesellschaftlichen Rang vieler Pfingstler zurück. Diese ersten Versuche, das klassische Pfingstlertum in die sozialen und kulturellen Umgebungen des frühen 20. Jahrhunderts einzuordnen, dominierten die Geschichtsschreibung der amerikanischen Pfingstbewegung. Robert Mapes Anderson charakterisierte die Pfingstbewegung in seiner klassischen Studie als eine unmittelbare Konsequenz ökonomischer, sozialer, kultureller und physischer Verdrängungen und Entbehrungen.5 Seine Theorie erklärte allerdings in erster Linie lediglich den Ursprung der Pfingstbewegung, ohne zugleich anzugeben, ob die Pfingstler sich mit ihren soziokulturellen Bedingungen auseinandersetzten oder wie die Pfingstbewegung sich diesen Bedingungen gegenüber verhielt. Darüber hinaus ergab die Identifizierung der Pfingstler mit enthusiastischer und ekstatischer Religiosität eine dezimierte Einschätzung des pfingstlerischen Interesses an sozialer Gerechtigkeit. Mitunter wurde das Pfingstlertum sogar als Ersatz für gesellschaftliches Engagement angesehen.6 Anstelle eines gesellschaftsbewussten Aktivismus erscheint die Pfingstbewegung als nach innen und oben gewendet, mit sich selbst und mit Gott beschäftigt, aber ohne ein bewusstes, teilnehmendes Interesse an der Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Obwohl es heute allgemein abgelehnt wird, die Deprivationstheorie als alleinige Erklärung für die Assoziation mit der Pfingstbewegung anzusehen, kann die Deprivation doch nicht ganz beiseite gelegt wer5 6
Anderson, Vision of the Disinherited, S. 223–240. A. a. O, S. 152.
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den.7 Die Deprivationstheorie ist nicht fähig, die Anziehungskraft des Pfingstlertums in seiner ganzen Breite unter allen sozialen Klassen zu erklären. Und es ist Anderson darin zuzustimmen, dass die Erfahrung oder Assoziation mit Armut und Unterdrückung, wenn auch typisch für weite Teile der Pfingstbewegung, nicht notwendigerweise zu sozialem Aktivismus führt. Diese Schlussfolgerung wird darin bestätigt, dass nur wenige Pfingstler dem Eindruck entgegengetreten sind, sich keiner Verantwortung für soziale Gerechtigkeit bewusst zu sein.8 Neuere Theorien sozialer Bewegungen nähern sich der Pfingstbewegung mehr als einem Phänomen sozialökonomischer Aufwärtsbewegung innerhalb eines breiten Spektrums von gesellschaftlichen Faktoren, die zum Bekehrungsprozess beitragen.9 Obwohl die allgemeinen Bedingungen der Deprivationstheorie nicht diskreditiert werden, erscheint die Pfingstbewegung zunehmend als ein Mechanismus, der mit der gesamten Breite gesellschaftlicher, sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen in Zusammenhang gebracht werden kann.10 Beobachtungen der explosionshaften Ausbreitung der Pfingstbewegung in Nord- und Lateinamerika lassen darauf schließen, dass das Pfingstlertum in diesen Zusammenhängen beispiellosen Wachstums als aktive, teilnehmende, freiwillige und umformende Bewegung mit Hinblick auf egalitäre Ideale angesehen werden kann.11 Unter den Armen wird die Pfingstbewegung als Form religiöser Teilnahme an der sozialökonomischen Wirklichkeit angesehen, die neue und effektive Möglichkeiten anbietet, sich mit wirtschaftlicher und politischer Unterdrückung auseinanderzusetzen oder sich dieser sogar entgegenzustellen. In stabileren Umgebungen kann man das Pfingstlertum als ein Instrument zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Entwick7
8 9 10 11
Virginia H. Hine, The Deprivation and Disorganization Theories of Social Movements, in: Religious Movements in Contemporary America, ed. Irving I. Zaretsky and Mark P. Leone, Princeton, 1974, S. 646–661. Veli-Matti Kärkkäinen, Are Pentecostals Oblivious to Social Justice? Theological and Ecumenical Perspectives, Missiology: An International Review 24, 4 (2001), S. 417–431. John Loftland and Rodney Stark, Becoming a World-Saver: A Theory of Religious Conversion, American Sociological Review 30, 6 (1965), S. 862-874. Luther P. Gerlach and Virginia H. Hine, People, Power, Change: Movements of Social Transformation, Indianapolis 1970, S. XXII–XXIII. Martin, Tongues of Fire, S. 271–295.
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lung ansehen, vor allem unter Gesellschaftsschichten, die sich mit den sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Problemen der Armut und Unterdrückung identifizieren, auch wenn sie selbst nicht direkt davon betroffen sind. Zumindest prinzipell erscheint eine Kombination dieser Mechanismen die Grundlage für ein soziales Engagement des weltweiten fortschrittlichen Pfingstlertums darzustellen. Die persönliche Erfahrung verheerender sozialer, ökonomischer und medizinischer Verhältnisse in den Entwicklungsländern hat zu einer aufstrebenden Form des Pfingstlertums geführt, die durch ausdrückliches soziales Engagement in einer Vielzahl von Diensten, Hilfeleistungen und gesellschaftlichen Programmen gekennzeichnet ist. Verbreitete Modelle der fortschrittlichen Pfingstler zeigen Hilfsdienste in Notfällen (z. B. Erdbeben und Flutwellen), medizinische Unterstützung (einschließlich medizinischer Hilfe in Katastrophengebieten, Präventivmitteln, Drogenrehabilitation, psychologischer Dienste und des Aufbaus von Krankenhäusern und Zahnkliniken), Barmherzigkeitsdienste (Obdachlosenzuflucht, Lebensmittelverteilung, Kleidungsvergabe, Altenhilfe), Erziehungsprogramme (besonders Tagesstätten und Schulen), Beratungshilfen (z. B. Eheberatung, Schwangerschaftsberatung, Hilfe bei Depressionen, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit und Inhaftierung), wirtschaftliche Unterstützung (Ausbildungshilfe, Arbeitslosenunterstützung, sozialer Wohnungsbau, Jugendprogramme, Städteentwicklung, Kreditprogramme), politisches Engagement (mit Hinblick auf Wahlbeaufsichtigung, Korruptionsbewältigung, Minimallohnunterstützung) sowie Ausbildung in den Künsten (z. B. Musik, Theater und Tanz).12 Viele dieser Hilfsdienste konzentrieren sich auf spezifische Regionen und deren besondere Bedingungen und Formen der Pfingstbewegung. Eines der frühesten Beispiele aktiven sozialen Engagements in der klassischen Pfingstbewegung ist Pandita Ramabais Mission in Indien am Anfang des 20. Jahrhunderts. Aus einer Erneuerungsbewegung unter Hindufrauen herkommend, verstand Ramabai diese Anfänge als Einführung einer genuin indischen Christenheit und interpretierte 12
Miller und Yamamori, Global Pentecostalism, S. 41–43.
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diese im Zusammenhang der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten der Zeit.13 Selbst Waisenkind und Witwe, widmete sich Ramabai den besonderen Lebensumständen hinduistischer Frauen und Witwen. Sie wurde schnell bekannt durch die Etablierung einer Mission für vertriebene Frauen und Kinder in der Mukti-Region des indischen Bundesstaates Maharashtra. Nachdem sie die Situation der indischen Erziehungskommission vorgetragen hatte, unterstützte Königin Viktoria Ramabais soziales Engagement durch den Aufbau von Frauenkliniken und Schulen für Frauen und Witwen. Als ausgebildete Wissenschaftlerin arbeitete Ramabai auch an der Übersetzung der Bibel in die Volkssprache Marathi, empfahl Hindi als nationale Sprache Indiens und etablierte Missionen, Waisenhäuser und Schulen, um eine neue soziale Wirklichkeit der Frauen im Lande herzustellen.14 Ihre soziale Arbeit beinhaltete Vorschulen und Grundschulerziehung, Berufsschulen und industrielle Dienstleistungen, Gesundheitsmaßnahmen, die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Kleidung sowie die Einrichtung von Lebensgemeinschaften für Kinder, Waisen, Prostituierte und Blinde. Die Reichweite ihrer Arbeit dehnte sich im Laufe der Zeit bis nach England, Nordamerika und Chile aus.15 Ramabai repräsentiert eine frühe Pionierin der Pfingstbewegung, deren soziales Engagement langsam begonnen hat, soziales Kapital aufzubauen, das breitere soziokulturelle Veränderungen bewirken kann. Sozialer Aktivismus im Pfingstlertum zeigt sich auch in den verarmten und politisch unterdrückten Regionen auf dem afrikanischen Kontinent. Vor allem in Gebieten, wo Hunger, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Überschuldung und Korruption herrschen, stellt die Pfingstbewegung durch Gemeinschaftsbildung, Moralität, Lebensstil und Spiritualität Alternativen zur Verfügung.16 Besonders groß ist die pfingstliche Anteilnahme an den sozialen und ökonomischen 13 14 15 16
Helen S. Dyer, Pandita Ramabai: The Story of Her Life, New York, 1900. Clementia Butler, Pandita Ramabai Sarasvati: Pioneer in the Movement for the Education of the Child-Widow of India, New York, 1922. Allan Anderson, Spreading Fires: The Missionary Nature of Early Pentecostalism, London, 2007, S. 75–102. David Martin, Pentecostalism: The World Their Parish, Oxford/Malden: Blackwell, 2002, S. 132–152.
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Belangen der einheimischen Bevölkerung in Südafrika. So weist z. B. Soweto mit seinen bekannten Bedingungen wie einer hohen HIV- bzw. Aidsrate und einer bei 80% liegenden Arbeitslosigkeit ein erstaunliches Wachstum pfingstlerischer Kirchengemeinden auf.17 Inmitten der Deprivation schafft das Pfingstlertum ein neues Bewusstsein von Disziplin, Arbeit und Selbstvertrauen im Herzen konkreter Projekte der Armutsbewältigung. Auch wenn die hierzu aufgewandte Energie und Initiative ihresgleichen suchen, dringen viele dieser Projekte nur selten ins öffentliche Bewusstsein Südafrikas.18 Unter Betonung der geistlichen Verpflichtung als eines zentralen Elements der Bewegung hat das Pfingstlertum dazu beigetragen, eine neue Kultur des Selbstvertrauens, der Selbstachtung, Entschlossenheit und des persönlichen Handelns aufzubauen.19 Pfingstlerische Gemeinden haben dabei geholfen, selbstständige Organisationen unter den Armen aufzubauen, die soziale Mobilität ermöglichen. Selbst über Südafrika hinaus helfen pfingstlerische Christen mit landwirtschaftlichen Hilfsdiensten, Kliniken, Erziehungsinstituten, Anleiheberatungen, juristischer Beratung, gesundheitlichen Schutzmaßnahmen und anderen sozialen Diensten.20 Die Pfingstbewegung in Afrika erscheint als eine Bewegung, die sich auf den psychophysischen, geistlichen und materiellen Befreiungskampf fokussiert.21 Das Pfingstlertum nimmt hier eine wichtige Übergangsposition ein in der Neubestimmung nationaler und kontinentaler Identität vieler afrikanischer Staaten. In Lateinamerika zeigt sich ein ähnliches Bild sozialen Engagements einer fortschrittlichen Pfingstbewegung. Herausragende Beispiele sind Brasilien und Chile. In Brasilien ist das Interesse an sozialer Wohlfahrt vor allem sichtbar an pragmatischen Aktivitäten, die ein breites Spektrum abdecken, von der Installation öffentlicher Versorgungsbetriebe 17 18 19 20 21
Ogbu Kalu, African Pentecostalism: An Introduction, Oxford, 2008, S. 211f. Sandy Johnston, Under the Radar: Pentecostalism in South Africa and Its Potential Social and Economic Role, Johannesburg, 2008. Lawrence Schlemmer, Dormant Capital: Pentecostalism in South Africa and Its Potential Social and Economic Role, Johannesburg, 2008. Roger Southall und Stephen P. Rule, Faith on the Move: Pentecostalism and Its Potential Contribution to Development, Johannesburg, 2008. Kalu, African Pentecostalism, S. 213–217.
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bis zum Aufbau von Schulen wie auch medizinischen Einrichtungen und der Teilnahme an Arbeitskämpfen.22 Pfingstgemeinden dienen als Hilfsgesellschaften, die sich als eine Art Krisenzentrum mit Gesundheit, Familie und Arbeitsverhältnissen auseinandersetzen.23 Der Kampf um soziale Gerechtigkeit vollzieht sich in kleinen Gruppen, die sich auf Einzelpersonen konzentrieren können und nur allmählich eine kulturelle und politische Organisation und Autonomie unter den Armen ausbilden.24 In Ausnahmefällen hat der soziale Aktivismus ein breiteres politisches Bewusstsein ausgelöst, das die Pfingstbewegung aus einer ursprünglichen Sektenmentalität zur Entwicklung von effektiveren institutionellen Strukturen geführt hat.25 In Chile hat die Pfingstbewegung bereits in weiten Bereichen an der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes teilgenommen. Besonders einflussreich ist der sogenannte Protestantische Entwicklungsdienst (SEPADE), eine öffentliche Organisation, die rasch eine Führungsposition in Gesellschaftsentwicklung, Nachbarschaftsprogrammen, politischer Mobilisierung und verschiedenen anderen Aktivitäten eingenommen hat.26 Als eine Ausnahme unter vergleichbaren Nichtregierungsorganisationen konzentriert sich SEPADE vor allem auf die Entwicklung eines sozialökonomischen Bewusstseins im Pfingstlertum, ursprünglich auf lokaler Basis, die letztendlich zu einer erneuerten Demokratisierung des Landes beigetragen hat.27 Aus anfänglichen SEPADE-Sozialdienstleistungen in lokalen, zumeist ländlichen Bereichen erwuchs eine breite Palette von Diensten und Institutionen auf dem Lande sowie in den Städten, wie z. B. Suppenküchen, Agrardienstleis22
23
24 25 26 27
John Burdick, Struggling against the Devil: Pentecostalism and Social Movements in Urban Brazil, in: Rethinking Protestantism in Latin America, ed. Virginia Garrard-Burnett and David Stoll, Philadelphia, 1993, S. 20–44. R. Andrew Chesnut, Born Again in Brazil: The Pentecostal Boom and the Pathogens of Poverty, New Brunswick, NJ: Rutgers University Press, 1997, 104–107; Cecilia Loreto Mariz, Coping with Poverty: Pentecostals and Christian Base Communities in Brazil, Philadelphia, 1994, S.95–100. Ebd., S. 101–151. Rowan Ireland, Kingdoms Come: Religion and Politics in Brazil, Pittsburgh, 1991, S. 93– 108. Frans H. Kamsteeg, Prophetic Pentecostalism in Chile: A Case Study on Religion and Development Policy, Lanham, 1998, S. 169–227. Ebd., S. 229-248.
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tungen, Gesundheitsorganisationen, Gemeindezentren, Vergabe von Lebensmittelgutscheinen, Erziehungs- und Erholungsprogramme, Ausbildungs- und Kindertagesstätten sowie gewerkschaftliche Arbeitnehmer-Organisation.28 SEPADE hat die Pfingstbewegung in Chile mobilisiert und integriert in eine weitreichende christliche Beteiligung an der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und dem Aufbau einer neuen sozialen Ethik. Diese wenigen Beispiele sollten nicht den Eindruck erwecken, dass die Pfingstbewegung generell als ein Motor gesellschaftlicher Veränderungen angesehen werden kann. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Einstellungen des Pfingstlertums bleiben weiterhin äußerst verschiedenartig.29 Ähnliche Formen gesellschaftlichen Engagements existieren in anderen Gebieten Latein- und Nordamerikas.30 Dieser soziale Gerechtigkeitssinn findet sich allerdings weniger im Westen und auf der nördlichen Halbkugel als im Süden und Osten der Welt. In den meisten Fällen zeigt sich diese Gesinnung in sozialen Diensten von Kirchengemeinden und weniger in direktem sozialpolitischen Aktivismus.31 Öffentlich organisierte Formen der Gesellschaftsveränderung sind meistens in den Händen einer fortschrittlichen Minderheit. Konservative und sektenhafte Varianten der Pfingstbewegung existieren neben Gruppierungen, die sich zutiefst dem Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit verschrieben haben.32 Nichtsdestoweniger kann man die Pfingstbewegung als Vertreter der Armen und Befreier der Verfolgten überall dort ansehen, wo sich keine andere Hilfe zeigt. In zunehmendem Maße widmet sich die Pfingstbewegung dem Interesse sozialer Gerechtigkeit und einer eigenständigen Teilnahme am Kampf um Leben, Würde und Gleichberechtigung.
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Ebd., S. 182-185. Cf. Amos Yong, In the Days of Caesar: Pentecostalism and Political Theology, Grand Rapids, 2010, S. 3–38. Cornelia Butler Flora, Pentecostalism in Columbia: Baptism by Fire and Spirit, Cranberry, 1976, S. 204–229. Omar M. McRoberts, Streets of Glory: Church and Community in a Black Urban Neighborhood, Chicago, 2003, S. 100–121. Miller und Yamamori, Global Pentecostalism, S. 99–128.
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3 Triumphalismus in der Pfingstbewegung Im Gegensatz zum vorhergehenden Bild einer fortschrittlichen und gesellschaftlich aktiven Pfingstbewegung lassen sich auch passive, zurückhaltende und triumphalistische Verhaltensweisen im heutigen Pfingstlertum feststellen.33 Ein besonders einflussreiches Beispiel dieser Widerstandskräfte ist das komplexe Phänomen, das unter Pfingstlern als Evangelium der Heilung und des Reichtums, Wohlstandsevangelium, Wohlstandspredigt, Erfolgstheologie oder „Wort des Glaubens“-Theologie bekannt geworden ist. Der Triumphalismus dieser Gruppierungen wird sogar unter Pfingstlern zum Teil heftig kritisiert.34 Trotzdem hat sich die Wohlstandspredigt durch geschickten Gebrauch von Massenmedien und einer aufnahmebereiten Öffentlichkeit innerhalb eines breiten sozialökonomischen Spektrums der Pfingstbewegung etabliert. Dieser Abschnitt untersucht die Präsenz der Wohlstandspredigt in verschiedenen pfingstlerischen Gruppen, beschreibt die theologische Basis dieses Phänomens und erklärt die Gegensätze zur gesellschaftlich aktiven Pfingstbewegung. In Nordamerika tritt die Wohlstandspredigt vor allem in afroamerikanischen Pfingstgemeinden und charismatischen Bewegungen auf. Fernsehevangelisten haben einen besonderen Einfluss auf diese Bevölkerungsschichten und haben dazu beigetragen, das Heilungsund Reichtumsevangelium in den schwarzen Gemeinden und Kirchen zu etablieren.35 Obwohl es ungenau wäre, die Wohlstandspredigt in Nordamerika ausschließlich mit dem Afro-Pfingstlertum zu assoziieren, müssen Geschichte und sozialökonomischer Status der afroamerikanischen Bevölkerung als einflussreicher Beitrag zur Entstehung der Wohlstandspredigt angesehen werden, nicht zuletzt aufgrund ihrer hartnäckigen materiellen und wirtschaftlichen Benachteiligung. Die 33 34 35
Eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesem Phänomen findet sich in Vondey, Pentecostalism, 96–103. Gordon D. Fee, The Disease of the Health and Wealth Gospel, Beverly, 1985. Milmon f. Harrison, Righteous Riches: The Word Faith Movement in Contemporary African American Religion, Oxford, 2005, S. 3–19, S. 134–158.
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Wohlstandspredigt spricht die daraus erwachsenden Bedürfnisse vor allem durch das Versprechen an, über die Grundversorgung hinaus zu Gesundheit und finanziellem Wohlstand zu gelangen.36 Indem sie vor allem unter Arbeitern und sozial Schwachen bzw. Armen Zustimmung fand, hat die Wohlstandspredigt das Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit neu definiert.37 Im Gegensatz zur fortschrittlichen Pfingstbewegung können diese Gruppierungen als fest im christlichen Kapitalismus verankert angesehen werden. Der Aufbau von Megakirchen und die Spiegelung von Wohlstand, ja Reichtum der Mitglieder in den Medien haben den Eindruck erweckt, dass es sich bei der Pfingstbewegung um eine Afroreligion der Reichen, nicht der Armen handelt, um ein Medium sozialer Aufwärtsbewegung und nicht um Solidarisierung mit den sozial und wirtschaftlich Unterdrückten.38 Der Aufbau dieser neuen Identität hat der Wohlstandspredigt in nordamerikanischen Kirchen einen weitreichenden gesellschaftlichen Einfluss beschert. Der weltweite Einfluss der amerikanischen Wohlstandspredigt hat sich vor allem in den verarmten Teilen Afrikas bemerkbar gemacht. Die Suche nach einer afrikanischen nationalen Identität, wirtschaftlicher Stabilität, Gesundheitsreform und sozialer Wohlfahrt bewog weite Teile der Pfingstbewegung in Afrika zur Adoption des Materialismus und Individualismus, wie er für die nordamerikanische Kultur charakteristisch ist.39 Auf diese Weise haben sich ursprünglich konservativ geprägte Pfingstkirchen in vielen Ländern dem Wohlstandsevangelium geöffnet.40 In manchen Ländern Afrikas hat so die Wohlstandspredigt das Gesamtbild des Christentums dermaßen verändert, dass Christsein nunmehr mit kulturellem und finanziellem Wohlstand 36 37 38 39
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Ebd., 134–137. Ebd., 138 ff. Stephanie Y. Mitchem, Name It and Claim It? Prosperity Preaching in the Black Church, Cleveland, 2007, S. 104–117. Ogbu U. Kalu, Black Joseph: Early African American Charismatic and Pentecostal Linkages and Their Impact on Africa, in: Afro-Pentecostalism: Black Pentecostal and Charismatic Christianity in History and Culture, ed. Amos Yong and Estrelda Alexander, New York, 2011, S. 209–232 (228). Asonzeh f.-K. Ukah, Those Who Trade with God Never Loose: The Economics of Pentecostal Activism in Nigeria, in: Christianity and Social Change in Africa: Essays in Honor of J.D.Y. Peel, ed. Toyin Falola, Durham, 2005, S. 253–274.
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und Mobilität gleichgesetzt wird.41 Genau wie afrikanische Spiritualisten erhalten auch die Wohlstandsprediger materielle Geschenke von ihren Gemeinden, damit sie für die Geber Fürbitte tun und diese von Gott Gesundheit und Reichtum erhalten.42 In Widerspiegelung traditioneller afrikanischer Kosmologie werden Armut und Krankheit den spirituellen Aktivitäten von Dämonen und bösen Geistern zugeschrieben, denen sich der christliche Glaube erfolgreich entgegenzustellen versucht.43 Dieser Triumphalismus entfernt die Nachfolger der Wohlstandspredigt allerdings weit von aktiver Teilnahme am sozialen Gerechtigkeitskampf. Der Wohlstand der Kirchen und des Einzelnen hat Priorität vor dem Aufbau von Krankenhäusern, Schulen, Suppenküchen, Beratungszentren, Arbeitslosenunterstützung und anderen Diensten, die sich direkt am sozialökonomischen Aufbau beteiligen. In Asien zeigt sich ein ähnliches Bild, vor allem auf den Philippinen und in Südkorea. Innerhalb des römisch-katholischen charismatischen Lagers der Philippinen bildet die El-Shaddai-Bewegung eine der Gruppen, die sich am entschiedensten der Wohlstandspredigt verschrieben haben.44 Die städtische Bevölkerung des Landes und hier vor allem Schichten, die an der Armutsgrenze leben oder der unteren Mittelklasse angehören, hat sich in der Predigt von Reichtum, Heilung und Arbeit einen Erretter auserkoren, der zwar eine Umstellung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse verspricht, sich aber nicht für soziale Gerechtigkeit einsetzt.45 El Shaddai wirkt hauptsächlich durch das „Glaubenssamen“-Prinzip, das Geschenke an die Kirche als Investitionen in Reichtum und Gesundheit der eigenen Person ansieht. 41 42
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44 45
David Maxwell, African Gifts of the Spirit: Pentecostalism and the Rise of a Zimbabwean Transnational Religious Movement, Oxford, 2006, S. 217 f. Rijk van Dijk, The Pentecostal Gift: Ghanaian Charismatic Churches and the Moral Influence of the Global Economy, in: Modernity on a Shoestring: Dimensions of Globalization, Consumption and Development in Africa and Beyond, ed. Richard Fardon, Wim van Binsbergen, Rijk van Dijk, Leiden, 1999, S. 71–89. Tabona Shoko, Healing in Hear the Word Ministries Pentecostal Church Zimbabwe, in: Global Pentecostalism: Encounters with Other Religious Traditions, ed. David Westerlund, London, 2009, S. 43–55. Katharine L. Wiegele, Investing in Miracles: El Shaddai and the Transformation of Popular Catholicism in the Philippines, Honolulu, 2005. Ebd., S. 80-104.
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Die Verschmelzung von religiöser Aufrichtigkeit, katholischer Sakramentalität und Materialismus sowie der verfehlte Einsatz für soziale Gerechtigkeit haben der Bewegung weitreichende Kritik eingetragen.46 Ähnlich verhält es sich in Südkorea, wo Pfingstbewegung und Wohlstandspredigt zu einem Synonym für Kapitalismus, Kommerzialisierung, Diesseitsreligion und Mittelklasseambitionen geworden sind.47 Für einige sind die koreanischen Megakirchen angetrieben von marktwirtschaftlichen Prinzipien und dem Wunsch nach Reichtum, die ihrerseits der Ausbreitung der Pfingstbewegung dienen.48 Dieser Prozess hat zu einer Rationalisierung gesellschaftskritischer Teilnahme geführt, die sich nicht zuletzt in einer gewissen Berechenbarkeit, Vorhersehbarkeit, Effizienzkalkulierung und Kontrolle innerhalb der Kirchen herausgebildet hat.49 Marktfähigkeit und Erfolgsorientierung ersetzen die traditionelle Minjung-Theologie Koreas und die in dieser üblichen Beteiligung an sozialer und kultureller Verbesserung. In einem Land, das die verheerenden Auswirkungen des Koreakrieges mit Hilfe der Kirchen bewältigte, die Kleidung, Unterkünfte, Nahrungsmittel und geistlichen Rat zur Verfügung stellten, klagt man nun die Megakirchen an, die Armen und Notleidenden, Witwen und Waisen, Alten und Kinder des Landes im Stich gelassen zu haben.50 Die Wohlstandspredigt hat mit zur Modernisierung und Revitalisierung Koreas beigetragen, ohne allerdings gleichzeitig zu einer Mobilisierung von sozialem Aktivismus und der Herausbildung einer eigenen Sozialmoral unter den Pfingstkirchen zu führen. In Lateinamerika hat sich die Wohlstandspredigt in verschiedenen Teilen des Kontinents festgesetzt. In Brasilien z. B. hat sich die Bewegung erfolgreich angepasst, indem sie nicht nur das wirtschaftliche 46 47
48
49 50
Ebd., S. 142-169. Sung-Gun Kim, Pentecostalism, Shamanism and Capitalism within Contemporary Korean Society, in: Spirits of Globalization: The Growth of Pentecostalism and Experiential Spiritualities in a Global Age, ed. Sturla J. Stålsett, London, 2006, S. 23–38. Yong-Gi Hong, Encounter with Modernity: The McDonaldization and the Charismatization of Korean Mega-churches, International Review of Missions 92, 365 (2003), S. 239–255. Cf. George Ritzer, The McDonaldization of Society, Thousand Oaks, 1996. Bong Rin Ro, South Korea: Bankrupting the Prosperity Gospel, Christianity Today 42, 13 (1998), S. 58–61.
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Überleben der Armen, sondern auch den materiellen Erfolg der mobilen Mittelklassen anspricht.51 Pfingstkirchen in allen anderen Ländern des Subkontinents haben sich die brasilianische Art der Wohlstandspredigt in je eigenen nationalen Brechungen rasch zu eigen gemacht.52 Im Herzen dieses Erfolges liegt ein ekklesiales Geschäftsmodell mit einem Prinzip der Gegenseitigkeit: den Zehnten an die Kirche zu bezahlen, um eine gleichwertige Antwort von Gott zu erhalten.53 Dieses Prinzip beeinflusst nicht nur die triumphalistische Kultur von Geben und Erhalten im christlichen Leben, sondern auch die weltweite Perspektive der Integration von Glauben und wirtschaftlichem Bewusstsein.54 Während einige diese Entwicklung als Veränderung der Kirche zu einer „enormen Geldmaschine“55 ansehen, betrachten andere die dadurch geschaffenen Tatsachen als unerlässliche Bestandteile einer Kirche, die die heutige Welt für Jesus Christus erreichen will.56 Erstere beklagen den Rückzug der Kirchen aus der aktiven Mitwirkung an sozialer Gerechtigkeit; Letztere bestehen darauf, dass ihre Absichten das genaue Gegenteil sind. Dieser Gegensatz muss noch genauer in die Theologie der Wohlstandsbewegung eingebunden und innerhalb dieser untersucht werden. Die Gegensätze zwischen Wohlstandspredigt und sozialem Aktivismus sind theologisch verankert. Grundlegend findet sich hier eine Lehre Gottes, eine theologische Lehre und nicht eine sozialökonomische Theorie oder Geschäftspraxis. Die Wohlstandspredigt basiert auf einer Identifizierung mit Gott und Gottes Beziehung zu Wohlstand und Heilung. Die Wurzeln dieser Verbindung können auf E. 51 52
53 54 55 56
Cf. David Lehmann, Struggle for the Spirit: Religious Transformation and Popular Culture in Brazil and Latin America, Cambridge, 1996, S. 205ff. Ari Pedro Oro and Pablo Séman, Brazilian Pentecostalism Crosses National Borders, in: Between Babel and Pentecost: Transnational Pentecostalism in Africa and Latin America, ed. André Corten und Ruth Marshall-Fratani, Bloomington, 2001, S. 181–195. Richard Shaull und Waldo Cesar, Pentecostalism and the Future of the Christian Churches: Promises, Limitations, Challenges, Grand Rapids, 2000, S. 28–31. Yong, In the Days of Caesar, S. 17f. Berge Furre, Crossing Boundaries: The „Universal Church“ and the Spirit of Globalization, in: Stålsett, Spirits of Globalization, S. 46. Manuel Silva, A Brazilian Church Comes to New York, in: Pneuma: The Journal of the Society for Pentecostal Studies 13, no. 2 (1991), S. 161–165.
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W. Kenyon (1867–1948) als „Großvater“ des Wohlstandsevangeliums zurückgeführt werden, auf dessen theologischer Grundlage die Wohlstandspredigt basiert.57 Aufgewachsen unter dem Einfluss der Heiligungs- und Heilungsbewegungen, unterstrich Kenyon als Vertreter eines Quasi-Pfingstlertums die Bedeutung des Erlösungswerkes Jesu Christi.58 Der Sohn Gottes steht zentral als die prinzipielle Manifestierung des Charakters Gottes, als Urheber eines erlösten, erfolgreichen und erfüllten Lebens des Christen in dieser Welt. Materieller Reichtum und körperliche Gesundheit sind demnach das Versprechen Gottes, das sich in Christus erfüllt.59 Kenyons Anthropologie beruht auf dieser Christologie, vor allem auf dem „Gesetz der Identifizierung“ des Menschen mit Christus.60 Ausgehend von Christi Identifizierung mit der Menschheit in Inkarnation und Kreuzigung, ist der Mensch automatisch mit Christus identifiziert und nimmt so am Sieg Christi teil. Diese Identifizierung umschließt auch den realen, materiellen und körperlichen Sieg des geisterfüllten Christen, der so in der „Vollkommenheit Christi“ ein „spiritueller Riese“ und „Superman, erfüllt mit Gott“ geworden ist.61 Das Ebenbild Christi im Christen konkretisiert sich im Bild des Reichtums, nicht der Armut, durch Erfüllung, nicht Leere, Triumph, nicht Niederlage. Diese Redeweise unterstützt eine Lebenspraxis, die nicht nur Recht und Autorität des christlichen Lebens unterstreicht, sondern auch die Möglichkeit aufzeigt, auf alle Dinge „im wundervollen Namen Jesu“ Anspruch erheben zu können.62 Das Gesetz der Identifizierung erfüllt
57
58 59 60 61 62
D. R. McDonnell, A Different Gospel: A Historical and Biblical Analysis of the Modern Faith Movement, Peabody, 1995, S. 3–14 (dt. u. d. T. Ein anderes Evangelium? Eine historische und biblische Analyse der modernen Glaubensbewegung, Hamburg, 1990). Robert M. Bowman Jr., The Word-Faith Controversy: Understanding the Health and Wealth Gospel, Grand Rapids, 2001, S. 57–84. E. W. Kenyon, The Father and His Family: The Story of Man’s Redemption, Lynnwood, 1937. Ders., Identification: A Romance in Redemption, Lynnwood, 1941. Douglas Jacobsen, Thinking in the Spirit: Theologies of the Early Pentecostal Movement, Bloomington, 2003, S. 348–352. E. W. Kenyon, The Wonderful Name of Jesus, Lynnwood, Kenyon‘s Gospel Publishing Society, 1964.
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sich durch das Wort des Glaubens und das Versprechen Gottes, das durch Christus für den Christen greifbar geworden ist. Das Verbindungsglied zwischen Christus und dem Christen ist das Wort des Glaubens. Während Gotteslehre und Menschenbild oft in die Theologie des Wohlstandsevangeliums eingebunden sind, handelt es sich bei der Wort-des-Glaubens-Theologie um das sichtbarste und kontroverseste Element der Wohlstandsbewegung. Das Herzstück dieser Theologie bildet die Überzeugung, dass der Glaube eine aktive Praxis und nicht lediglich eine geistliche Einstellung des christlichen Lebens ist. Mit anderen Worten, der Christ besitzt nicht einen Glauben – der Glaube ist die Handlung des Christen.63 Im Zentrum dieser Handlung steht das sogenannte Prinzip der „positiven Bezeugung“. Die positive Bezeugung des Glaubens beinhaltet die Idee, dass der Glaube immer eine verbale Erklärung miteinbezieht und der Christ aufgrund seiner verbalen Verlautbarung erhält, was er bezeugt. Diese Theologie des „Benennens und Erhaltens“ von materiellen, geistigen oder körperlichen Geschenken vollzieht sich in vier Phasen: 1. Der Glaubende findet die gewünschte Verheißung Gottes in der Heiligen Schrift. 2. Der Glaubende bezieht dieses Versprechen auf sich selbst. 3. Der Glaubende erklärt seinen Glauben an den Erhalt des Erbetenen. 4. Der Glaubende lebt unmittelbar in dem Erhalt des Versprochenen (selbst wenn die Resultate noch nicht sichtbar sind).64 Das Wort des Glaubens manifestiert sich in dieser Bewegung vom Benennen zum Erhalt (nicht nur der hoffenden Erwartung) von Gottes Geschenken als Besitz des Christen. Wenn die Erwartung dann doch enttäuscht wurde, wird dies auf einen verfehlten Glauben des Christen zurückgeführt.65 Das Wohlstandsevangelium führt so oft zu einem Triumphalismus, der negative Bezeugung, entmutigende Gedanken und Handlungen, Selbstmitleid und Konzentrierung auf äußere Merkmale 63 64 65
Ebd., S. 69 f. Ebd., S. 35-41. Cf. Bruce Barron, The Health and Wealth Gospel, Downers Grove, 1987, S. 108–111.
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als Verfehlungen eines erfüllten Lebens ablehnt.66 Das erhoffte Resultat positiver Glaubenserklärung ist ein Leben in Reichtum und Gesundheit, in dem sich die Fülle des göttlichen Lebens widerspiegelt. In ähnlicher Weise geht auch die klassisch-pfingstlerische Heilungsverkündigung in der Wohlstandspredigt auf. Während Heilung, Genesung und sogar Totenauferstehung als göttliches Versprechen eine alltägliche Praxis in der Pfingstbewegung darstellen, lehnen einige Gruppierungen des Wohlstandsevangeliums medizinische Hilfe in jeglicher Form traditionell ganz und gar ab, auch wenn diese Einstellung heute moderater ausfällt.67 Über die in der Pfingstbewegung weitverbreiteten Praktiken des Gebets, der Ölsalbung und der Handauflegung hinaus ermutigen die Wohlstandsgruppierungen zu ungewöhnlichen Handlungen, wie z. B. dem Kauf und der Verwendung von Taschentüchern oder Salböl zur Erlangung von Gesundheit und Reichtum. Besondere Heilungs- und Genesungsgottesdienste werden genutzt, um die Kraft des Glaubens und der Erlösung zu demonstrieren, oft begleitet von zahlreichen Glaubenszeugnissen und Heilungsbeweisen, die als Wunder deklariert werden.68 Gott und der Gläubige stehen nach dieser Perspektive in einem Bundesverhältnis, in dem die Fülle Gottes dem Christen zugänglich gemacht wird. Gottes Wort ist somit die Versicherung der Erlangung aller göttlichen Versprechen der Heilung. Natürlich stehen viele Aspekte dieser Glaubenspraxis im Widerspruch zur traditionellen christlichen Lehre und zum christlichen Engagement für soziale Gerechtigkeit. Kritik an der Wohlstandsbewegung zielt nicht nur auf deren einseitige Gotteslehre und Christologie, sondern richtet sich auch gegen eine ausschließlich auf den Menschen bezogene Theologie, die nicht zuletzt die Vergöttlichung des Gläubigen, eine verfehlte Offenbarungstheologie und eine einseitige Schrifthermeneutik einschließt.69 Eine eingehendere Bewertung, als sie hier geboten werden kann, würde mit Sicherheit ein weites Spektrum von Glauben 66 67 68 69
Harrison, Righteous Riches, S. 10–11. Kimberly Ervin Alexander, Pentecostal Healing: Models in Theology and Practice, Blandford, 2006. Miller and Yamamori, Global Pentecostalism, S. 149–154. J. N. Horn, From Rags to Riches: An Analysis of the Faith Movement and Its Relation to the Classical Pentecostal Movement, Pretoria, 1989, S. 85–112.
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und Praxis des Wohlstandsevangeliums zeigen, das sich in manchen Fällen an die klassische Pfingstbewegung anschließt und in anderen Bereichen dem New-Age-Denken und den Neugeistbewegungen zuneigt.70 Selbst wenn wir über die Extreme der Wohlstandspredigt hinwegsehen, hat das Wohlstandsevangelium die christliche Einstellung zu sozialer Gerechtigkeit weitgehend negativ beeinflusst. Das Bild eines triumphalen christlichen Lebens legt größeren Wert auf die kurzzeitigen Veränderungen, die durch Reichtum ermöglicht werden, als auf die langzeitigen und anstrengenden Formen sozialer Hilfe, Dienste und Programme. Individueller Reichtum und Gesundheit stehen vor gesellschaftlicher Wohlfahrt und sozialer Genesung. Solidarität mit den Armen und Unterdrückten beruht, wenn überhaupt, auf Eigeninteresse und Selbstschutz. Gesellschaftliches, wirtschaftliches und politisches Engagement existiert zumeist nur auf der Grundlage von Gruppeninteressen und nicht im Interesse der Gesellschaft an sich. Im Ergebnis hat die Wohlstandspredigt den Pentekostalismus wie die evangelische Welt insgesamt und die ökumenische Bewegung vor unlösbare Probleme gestellt. Die Befürwortung sozialer Gerechtigkeit und das Wohlstandsevangelium stehen an gegensätzlichen Enden einer sozialen Ethik in der heutigen Pfingstbewegung.
4 Soziale Ethik in der Pfingstbewegung Die breite Palette der Pfingstbewegung mit den unbestreitbaren Spannungen zwischen sozialem Engagement und Triumphalismus ergibt kein klares Bild des sozialen Bewusstseins im Pfingstlertum des 21. Jahrhunderts. Jedweder Versuch, ein homogenes Bild pfingstlerischer Sozialethik zu zeichnen, führt unweigerlich zu der falschen Annahme, dass entweder eine der beiden Seiten den Vorrang hat oder die Spannungen zwischen beiden Polen unerheblich sind. Darüber hinaus muss man die Perspektiven, die in diesem Aufsatz im globalen Horizont aufgezeigt wurden, durch lokale und ins Einzelne gehende Umstände 70
Mitchem, Name It and Claim It, S. 37–103.
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ergänzen, die oft weder sozialen Aktivismus noch die Wohlstandspredigt bevorzugen. Auf der anderen Seite gibt es auch aufseiten des Wohlstandsevangeliums Pfingstler, die soziales Engagement zeigen und an Bürgerbewegungen und Freiwilligengruppierungen teilnehmen.71 Was sich in der gegenwärtigen Pfingstbewegung zeigt, ist nicht nur eine breite Palette gesellschaftlicher Anteilnahme, sondern auch ein kritisches Sozialbewusstsein in der Übergangsphase, die man als charakteristisch für die weltweite Pfingstbewegung ansehen kann. Diese Übergangsphase zeigt eine dynamische, nicht statische Einstellung der Pfingstbewegung zu sozialem, politischem und wirtschaftlichem Engagement. Die Bewegung als solche ist in hohem Maße von existierenden Bedingungen, vorherrschenden kulturellen Sichtweisen, wirtschaftlichen Entwicklungen, politischer Führung und religiösen Umständen sowie Beispielen und Vorlieben im engeren Umfeld abhängig. So zeigt sich im Pfingstlertum sowohl ein radikaler Umbruch im Verhalten zu sozialer Gerechtigkeit als auch ein langsamer Übergang zu neuen Verhaltensweisen. Die Widersprüche im Sozialverhalten von Pfingstlergruppen sind vor allem in den USA zu bemerken, wo das klassische Pfingstlertum einen eindeutigen Umbruch zu Wohlstand, Konsumismus und Kapitalismus schon nach der ersten Generation im frühen 20. Jahrhundert erfahren hat. Die sozialökonomischen Veränderungen im Lande haben mit dazu beigetragen, dass die Pfingstbewegung in ihrer sozialen Mobilität zu einer der sichtbarsten religiösen Bewegungen weltweit geworden ist. Ursprünglich waren die Pioniere der klassischen Pfingstbewegung von starken Zügen des Antimaterialismus und einer eschatologischen Eindringlichkeit derartig beeinflusst, dass ihnen wenig daran lag, am Konsumismus der Gesellschaft teilzunehmen.72 Angesichts der Erwartung einer unmittelbaren Rückkehr Jesu Christi sprachen sich die Leiter der Pfingstgruppierungen eindeutig gegen Kapitalismus und Konsum aus.73 Die starke Missionsorientierung des Pfingstlertums hätte schnell zu einem Misstrauen gegen jegliche Ver71 72 73
Yong, In the Days of Caesar, S. 265–268. Horn, From Rags to Riches, S. 1–68. Anderson, Vision of the Disinherited, S. 209f.
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suche geführt, imperialistische und kapitalistische Werte dem Evangelium entgegenzusetzen.74 Theologische Überzeugungen überwogen in der klassischen Pfingstbewegung. Das Wohlstandsevangelium war die Ausnahme. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt eine eindeutige Veränderung in der Sozialethik der klassischen Pfingstbewegung und eine Ausweitung in Richtung des Wohlstandsevangeliums. Neue eschatologische Überzeugungen legten größeren Wert auf sozialökonomische Bedingungen und die Anforderungen einer sich rasch ausbreitenden Bewegung als auf Evangelisierung und göttliches Gericht.75 Die Anlehnung an das evangelikale Christentum Nordamerikas führte zur Identifizierung mit dominanten Mittelklasseambitionen und weniger mit den gegenkulturellen Einstellungen des klassischen Pfingstlertums. Der Aufschwung von Massenmedien und neuer Technologie trug zusätzlich zu Erfolg und Verbreitung des Wohlstandsevangeliums bei. Die Verankerung weiter Teile der Pfingstbewegung in der amerikanischen Überflussgesellschaft hat allmählich die ursprüngliche Skepsis gegenüber dem Einfluss materieller Besitztümer unterminiert.76 Die Anziehungskraft, die der „amerikanische Traum“ auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Stabilität suchende Bevölkerungsschichten ausübte, und das Scheitern dieses Traumes in anderen Sektoren der Bevölkerung hat zu zwei sehr unterschiedlich akzentuierten Ausprägungen der nordamerikanischen Pfingstbewegung geführt: einer progressiven Bewegung mit deutlichem sozialen Aktivismus und einer triumphalistischen Gruppierung mit Anlehnung an die Wohlstandspredigt und geringem gesellschaftskritischen Engagement. Die Spannungen zwischen beiden Gruppen können nicht einfach neutralisiert werden, indem man diese Gruppierungen vermeintlich eindeutig bestimmten gesellschaftlichen Formen zuordnet. Vielmehr finden sich beide Ausprägungen vermischt innerhalb vieler Bevölkerungsgruppen. Viele dieser gegenläufigen Tendenzen 74 75 76
Ders., Spreading Fires, S. 31–35. D. William Faupel, The Everlasting Gospel: The Significance of Eschatology in the Development of Pentecostal Thought, Sheffield, 1996, S. 307ff. Horn, From Rags to Riches, S. 69–84.
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finden sich z. B. im Afro-Pentekostalismus und der lateinamerikanischen Pfingstbewegung in den USA.77 Die Verschiebungen im sozialkritischen Bewusstsein und gesellschaftlichen Engagement sind symptomatisch für einschneidende Veränderungen in der klassischen Pfingstbewegung auf anderen Gebieten, wie der Einstellung zu Pazifismus, Alkoholkonsum, Kleiderordnung oder Unterhaltung und Freizeitbeschäftigung.78 Zum Ende des 20. Jahrhunderts hat die klassische Pfingstbewegung weitgehend die Werte der amerikanischen Gesellschaft angenommen.79 Dadurch ist das Pfingstlertum weniger eindeutig vom Sozialbewusstsein der allgemeinen Bevölkerung und anderen religiösen Bewegungen unterscheidbar, obwohl es zugleich eine Gegenbewegung gibt, die die traditionellen Werte der klassischen Pfingstler wiederentdeckt und mit einer Erneuerung des Wertesystems der amerikanischen Gesellschaft gleichzusetzen versucht.80 Diese Ausprägung einer sozialen Ethik an beiden Enden des Spektrums kann im weitesten Sinne auf die globale Pfingstbewegung übertragen werden und markiert somit das Pfingstlertum als stark abhängig von kontextueller Geschichte und der jeweiligen Entwicklung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Umstände. Die Sozialethik der Pfingstbewegung sollte somit nicht schlicht in ein zweifaches Klischee gezwängt werden, das auf der einen Seite von sozialkritischem Engagement und auf der anderen Seite von regressiver Zurückhaltung spricht. Eine einseitige Beurteilung wird zweifellos einen breiten Bestandteil der Pfingstbewegung abdecken können, aber eine derartige Einschätzung versäumt es, die Gegenkräfte und Veränderungen sowie die fassbaren Unterschiede und gegensätzlichen Modalitäten der sozialen Ethik im heutigen Pfingstlertum in eine Gesamtbeurteilung einzubeziehen. Ein Blick auf diese Gegensätze kann 77
78
79 80
Siehe Cheryl J. Sanders, Empowerment Ethics for a Liberated People: A Path to African American Social Transformation, Minneapolis, 1995; Eldin Villafañe, The Liberating Spirit: Towards an Hispanic American Pentecostal Social Ethic, Grand Rapids, 1993, S. 1–132. Paul Alexander, Peace to War: Shifting Allegiances in the Assemblies of God, Telford, Cascadia, 2009; Charles W. Conn, Like a Mighty Army: A History of the Church of God 1886-1995, Cleveland, 1990, S. 71–193. Marion Dearman, Christ and Conformity: A Study of Pentecostal Values, Journal for the Scientific Study of Religion 13, 4 (1974), S. 437–453. Ebd., S. 452–453.
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es sich nicht erlauben, von einer einzigen Sozialethik im Pfingstlertum zu sprechen. Stattdessen ist es vorteilhaft, von drei Aspekten einer notwendigen und komplementären Beschreibung auszugehen, die das gesellschaftskritische Bewusstsein der Pfingstbewegung in ihren Anfängen als gegensätzlich, mehrdeutig, und vielgestaltig bewertet. Die Beschreibung der pfingstlerischen Sozialethik als gegensätzlich ist ein hilfreicher Anfangspunkt für die zukünftige Diskussion. Die junge Pfingstbewegung, noch in ihren Anfängen steckend, besitzt kein einheitliches lokales oder globales Sozialbewusstsein. Als eine tief mit lokalen Angelegenheiten verbundene religiöse Bewegung bleibt das Pfingstlertum unbeständig und abhängig von gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Veränderungen. Dass man die Antworten auf derartige Veränderungen als gegensätzlich einschätzen muss, sollte allerdings nicht zur Diskreditierung der Pfingstbewegung führen. Die Wirksamkeit gegensätzlicher Strömungen sozialer Ethik in derselben Bewegung zeigt den Übergangscharakter des Pfingstlertums im Ganzen. Die gegenwärtige Pfingstbewegung ist sozusagen auf dem Weg, sich selbst zu finden und zu definieren, inmitten der sozialpolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umstände, die noch immer auf die junge Bewegung einwirken. Es wird oft angenommen, dass die etablierten christlichen Traditionen diese Anfangsphase ihrer Entwicklung lange hinter sich gelassen haben und deshalb eine feste Einstellung zu sozialethischen Fragen besitzen. Das Aufbrechen von Widersprüchen, die die Christenheit im 20. Jahrhundert gespalten haben, zeigt allerdings in den Debatten über Abtreibung, Apartheid, Homosexualität, Genmanipulierung, Pazifismus oder moderne Strafgesetzgebung, dass die Pfingstbewegung in ihrer Gegensätzlichkeit lediglich ein sichtbarer Ausdruck der inneren Gegensätze heutiger christlicher Sozialethik geworden ist.81 Die Beschreibung der Pfingstbewegung als mehrdeutig überschneidet sich mit der Charakterisierung als in sich gegensätzliche soziale Bewegung.82 Mehrdeutigkeit beinhaltet einen gewissen Mangel 81 82
John Jefferson Davis, Evangelical Ethics: Issues Facing the Churches Today, Phillipsburg, 2004. Martin, Pentecostalism, S. 169–176.
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an Klarheit, sowohl für die Pfingstbewegung als auch für ihre Beobachter, ohne dadurch sofort innere Gegensätze zu markieren oder auszuschließen. Wenn man die Pfingstbewegung als mehrdeutig einschätzt, ist damit nicht ein Mangel an Entscheidungskraft gemeint, sondern ein Mangel an richtungweisender Führung innerhalb der Bewegung als Ganzer. Weder der soziale Aktivismus noch die Wohlstandspredigt sind mehrdeutig; was man als mehrdeutig bewerten kann, ist die Unentschlossenheit, die eine oder andere Seite als entscheidendes Merkmal des gesamten Pfingstlertums oder der vielschichtigen Pfingstbewegungen anzuerkennen. Die individuellen Gruppierungen innerhalb der Bewegung sind so eng in ihren jeweiligen sozialen Kontext eingebunden, dass sie „ausreichend anpassbar sind, um Verbindungen mit sehr verschiedenen sozialen Formationen zu schmieden“83. Diese Mehrdeutigkeit ist das Ergebnis einer organisatorischen Dynamik, die oft mehr in den Händen kleiner Gruppierungen, Gemeinden und pastoraler Führung liegt als bei den Konfessionen und nationalen oder internationalen Institutionen.84 Mehrdeutigkeit ist wichtig für eine weltweite Bewegung wie das Pfingstlertum, das nicht bereits als globales System existiert, sondern erst in der Entwicklung hin zu einer der einflussreichsten weltweiten Bewegungen des Christentums steht, und zwar, indem sie sich „immer wieder erdet“85, also den jeweiligen Umfeldbedingungen anpasst. Diese Anpassungen haben die Pfingstbewegung zu einer funktionellen Bewegung werden lassen, ohne dadurch die pragmatische Einstellung der Pfingstler in eine bestimmte Richtung zu drängen. Eine dritte Beschreibung der Pfingstbewegung als vielgestaltig zeigt sich in der Bewertung des gesellschaftskritischen Bewusstseins der Pfingstler als geprägt von „vielen Zungen und vielen Praktiken“86. Dieses Motto umfasst die Widersprüche und Mehrdeutigkeiten der Pfingstbewegung, ohne die Phänomenologie des Pfingstlertums in eine einzige, normative Praxis zu zwängen. Stattdessen nimmt man die 83 84 85 86
Ebd., S. 169. Miller and Yamamori, Global Pentecostalism, S. 184-210. Martin, Pentecostalism, S. 170. Yong, In the Days of Caesar, S. 109ff.
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Mehrdeutigkeit bereits als Voraussetzung für die biblische Darstellung des Pfingsttages, von dem sich die heutige Pfingstbewegung ableitet und der die Grundlage pfingstlerischer Spiritualität und Weltanschauung darstellt. Diese Vielfalt findet ihre Entsprechung in den verschiedenen Antworten der christlichen Welt auf den Kampf für soziale Gerechtigkeit.87 Eine absichtliche Vielfalt von Antworten und Anwendungen ist deshalb als ein wesentlicher Beitrag der Pfingstbewegung zur christlichen Welt anzusehen.88 Diese Perspektive interpretiert die „vielen Zungen und Praktiken“ nicht als vorübergehend, sondern als eine feste Einstellung, die auch bald das zukünftige Gesicht der Christenheit weltweit darstellen könnte. Gegensätze und Mehrdeutigkeit sind ein Bestandteil der pfingstlerischen Überzeugung, „sich der Öffentlichkeit auf eigener christlicher und nicht weltlicher Grundlage entgegenzustellen“89. Sowohl soziales Engagement als auch Wohlstandspredigt sind Bestandteile einer vielgestaltigen christlichen Existenz, die im vieldeutigen Echo des Hl. Geistes zu Pfingsten steht und somit die pfingstliche Welt von heute darstellt. Wenn diese Charakterisierung zutrifft, ist die gegensätzliche, mehrdeutige und vielgestaltige Sozialethik der Pfingstbewegung ein bleibender und nicht vorübergehender Bestandteil. Selbst wenn sich zeigt, dass sich die soziale Ethik der heutigen Pfingstbewegung auf einigen Ebenen konsolidiert, vor allem durch den Druck von Prozessen der Sozialisierung, Institutionalisierung und Säkularisierung, können die Ergebnisse doch nicht als normativ für die gesamte Pfingstbewegung angesehen werden.90 Diese pluralistische Identität sollte nicht unmittelbar als Relativismus abgetan werden, sondern kann unter vielen Umständen und vor allem aus der Sicht der Pfingstbewegung selbst als eine Art prophetischer Aktivismus angesehen werden, der sich mittlerweile in vielen Bereichen christlichen sozialen Wirkens gezeigt hat.91 Als prophetisch ist das Sozialbewusstsein der Pfingstbewegung 87 88 89 90 91
Ebd., S. 110. Ebd., S. 121–358. Ebd., S. 360. Vgl. Wolfgang Vondey, Beyond Pentecostalism: The Crisis of Global Christianity and the Renewal of the Theological Agenda, Grand Rapids, 2010, S. 182–191. S. Helene Slessarev-Jamir, Prophetic Activism: Progressive Religious Justice Movements
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in den Grenzbereichen der Globalisierung, Internationalisierung, Urbanisierung und Industrialisierung anzusiedeln.92 In diesen Bereichen sind die Formen des sozialen Engagements so vielschichtig wie die Herausforderungen. Die Pfingstbewegung ist immer noch im Prozess der Selbstfindung auf dem Weg zu einer ethischen Methode, die nicht nur der zentralen Identität der Pfingstler, sondern auch der Realität des 21. Jahrhunderts entspricht.93 Der weltweite wirtschaftliche Abschwung und weitreichende sozialökonomische und politische Veränderungen haben zu einer Ausweitung dieser Grenzbereiche geführt. Die entsprechende Herausforderung, auf derartige Probleme einzugehen, lässt erwarten, dass die Pfingstbewegung in ihren verschiedenen Antworten vom prophetischen Aktivismus bis zum Triumphalismus auch weiterhin breiten Anklang finden wird.
92 93
in Contemporary America, New York, 2011. Ebd., S. 22–26. Vgl. Nimi Wariboko, The Pentecostal Principle: Ethical Methodology in New Spirit, Grand Rapids, 2011.
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Auszug aus:
Leitungsdienst in der Gemeinde Biblisch-Theologische Reflexionen zu Amt, Charakter und Charisma von Marcel Locher, M.A.
FThG – Systematisch-theologische Beiträge: Band 6.2
© 2014 Copyright Forum Theologie & Gemeinde (FThG) im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden KdöR, Erzhausen ISBN der Printausgabe: 978-3-942001-69-4 ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-942001-25-0
Leitungsdienst in der Gemeinde – von Marcel Locher, M.A. | 51
1
Einleitung
Eine Redensart sagt: „Der Fisch stinkt vom Kopf her“. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass mancher Missstand in einer Gemeinschaft mit deren Leitung zusammenhängt. Hierin ist viel Wahres enthalten. Tatsächlich ist es so, dass auch in christlichen Gemeinschaften und Gemeinden1 mancher Missstand auf deren Leiterschaft zurückzuführen ist. Andererseits besteht natürlich die berechtigte Frage, was denn den Leiter an sich ausmacht. Oder noch konkreter: Wer ist für den Dienst in der Gemeindeleitung geeignet? Hierbei reicht die Bandbreite von dem Ruf nach dem sogenannten „starken“ Leiter bis hin zur Ablehnung jeglicher Leiterschaft innerhalb der christlichen Gemeinde. Da Leitungspersönlichkeiten sich gerade dadurch kennzeichnen, dass sie leiten und Einfluss nehmen, haben sie stark prägende Wirkung auf die Gemeinschaft. Diese Wirkung kann für die Gemeinschaft aufbauend und fördernd sein, kann aber auch zerstörerische Tendenzen für die Gemeinschaft haben. Daher ist die Frage, wer für den Gemeindeleitungsdienst geeignet ist, eine für die Gemeinde existentiell wichtige Frage. Die folgende Arbeit beschäftigt sich im Kern mit der Frage nach dem Verhältnis von Charisma – Charakter – Amt im Dienst der Gemeindeleitung. Hierbei wird das Amtsverständnis an sich und darin enthalten das Leitungsverständnis mit reflektiert. Dies wird auch Licht auf die Frage werfen, wer für den Dienst in der Gemeindeleitung geeignet ist und wie Leitung an sich verstanden werden soll. Zentral geht es mir bei dieser Arbeit aber darum, die oben genannte Verhältnisbestimmung zu definieren. Dahinter steht die Annahme, dass dies die zentrale Frage in Bezug auf Amts- und Leitungsverständnis ist. Erst wenn das Amtsverständnis reflektiert und definiert ist, können daraus die Konsequenzen für das Leitungsverständnis gezogen werden. Persönlich beschäftigt mich diese Frage, weil ich selbst ordinierter Pastor bin und in Leitungsverantwortung diene. Für mich ist es von großer Bedeutung, eine theologisch reflektierte Position bezüglich meiner Tätigkeit als geistlicher Leiter zu haben. Diese Arbeit dient mir 1
Darunter wird die Gemeinschaft und Versammlung der Christen vor Ort verstanden.
Einleitung | 53
persönlich als theologische Selbstreflexion meiner Tätigkeit als ordinierter geistlicher Leiter im BFP2. Die Beschäftigung mit dieser Thematik geht aber über das persönliche Interesse hinaus. Gespräche innerhalb der eigenen Denomination und verschiedene Beobachtungen, die ich auf Leiterschaftsebene machen durfte, führten mir die Dringlichkeit einer theologischen Reflexion des Amtsverständnisses vor Augen. Es erscheint mir auch im Kontext des BFP notwendig, über die Thematik des Amtes und des darin enthaltenen Selbstverständnisses von Leiterschaft neu zu reflektieren. Hierzu soll diese Arbeit einen Beitrag leisten. Weiter hat die Beschäftigung mit dieser Thematik auch ihre Bedeutung über den Rahmen der eigenen Denomination hinaus. Denn gerade das Amtsverständnis ist ja für das gesamte ekklesiologische Verständnis von Bedeutung. Hierbei geht es mir nicht darum, anderen zu sagen, wie man theologisch das Amt zu sehen hat. Es geht mir vielmehr darum, auf der Grundlage meiner eigenen theologischen Reflexion mit Geschwistern aus anderen Denominationen ins Gespräch zu kommen, um durch ihre Sicht bereichert, bestätigt oder auch korrigiert zu werden.
1.1
Fragestellung
Die vorliegende Arbeit versucht das Verhältnis zwischen Charisma – Charakter – Amt in Bezug auf den Dienst in der Gemeindeleitung zu bestimmen und die daraus folgenden praktischen Konsequenzen zu ziehen. Daher lautet die zentrale Fragestellung dieser Arbeit: Welches Verhältnis besteht zwischen Charisma – Charakter – Amt und welche praktisch-theologischen Konsequenzen folgen daraus? Um dies zu klären, werden folgende Fragen zu beantworten sein: •
2
Welche Positionen wurden in Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von Charisma und Amt bereits bezogen? (Punkt 2.1)
BFP ist die Abkürzung von “Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden“ in Deutschland und ist die Denomination, der ich verbunden bin und in der ich als ordinierter geistlicher Leiter diene.
54 | Leitungsdienst in der Gemeinde
•
•
•
Welche Position wird aus dem Pastorenleitbild, den Richtlinien und der Verfassung des BFP in Bezug auf das Verhältnis von Charisma – Charakter – Amt ersichtlich? (Punkt 2.2) Zu welcher Schlussfolgerung können wir aufgrund der Pastoralbriefe im Kontext der paulinischen Schriften in Bezug auf das Verhältnis von Charisma – Charakter – Amt kommen? (Punkt 3) Welche praktischen Konsequenzen folgen aus dieser Verhältnisbestimmung für den Dienst in der Gemeindeleitung? (Punkt 4)
1.2
Ziel
Ziel dieser Ausarbeitung ist, eine eigenständige, exegetisch fundierte theologische Position in Bezug auf das Verhältnis von Charisma – Charakter – Amt zu bekommen. Diese theologische Position soll als Grundlage für eine praktisch-theologische Reflexion im Kontext des BFP führen und hier die Diskussion um die Fragestellung des Verhältnisses von Charisma – Charakter – Amt befruchten.
1.3
Methodik
Zunächst wird die theologische Diskussion um das Verhältnis von „Charisma und Amt“ dargestellt, um den Stand der Forschung zu dieser Frage festzuhalten. Die unterschiedlichen Positionen, die hierbei bezogen wurden, sollen für die theologische Grundlegung sensibilisieren (Punkt 2.1). In diesem Zusammenhang werden dann auch das Pastorenleitbild3, die BFP-Richtlinien4 und die Verfassung des BFP5 reflektiert, um festzuhalten, was hierin in Bezug auf die Fragestellung nach dem Verhältnis von Charisma – Charakter – Amt auszusagen ist (Punkt 2.2). Danach werden einzelne Textstellen, die für die Fragestellung relevant erscheinen, exegetisch untersucht (Punkt 3). Dazu wird der Fokus vor allem auf die Pastoralbriefe gelegt. Im Kontext der Pastoralbriefe werden folgende Texte näher beleuchtet: 1Tim 3,1–13; Tit 1,5–9 (Amt 3 4 5
Vgl. BFP 2004. Vgl. BFP 2007. Vgl. BFP 2010.
Einleitung | 55
und Charakter); 1Tim 4,12–15; 2Tim 1,6–7 (Charisma, Ordination, Amt). Hierbei werden die exegetisch notwendigen Schritte durchgeführt6. Da von einer paulinischen Verfasserschaft der Pastoralbriefe ausgegangen wird7, werden die Ergebnisse der exegetischen Betrachtung auch in den weiteren Kontext der paulinischen Briefe gesetzt. Ebenso wird eine Verbindung zur Apostelgeschichte gezogen werden, da auch hier Aspekte der Ältestenschaft (Gemeindeleitung) im missionarischen Dienst des Paulus sichtbar werden. Der Schwerpunkt liegt auf der exegetischen Reflexion der Pastoralbriefe, da in der Diskussion um die Frage nach Charisma und Amt die These vertreten worden ist, dass gerade die Pastoralbriefe eine Entwicklung von einer pneumatisch-charismatischen hin zu einer amtlich-institutionellen Strukturierung der Gemeinde sichtbar werden lassen. Die exegetische Reflexion soll von der Schrift her für die Fragestellung sensibilisieren und für die persönlich theologische Positionierung Wegweisung geben (Punkt 3.5). Die persönliche theologische Positionierung ist das Ergebnis aus Punkt 2 und Punkt 3, wobei die exegetische Reflexion die theologische Position bestimmen soll8. Die persönliche theologische Positionierung wird dann als Grundlage für die praktisch-theologische Reflexion dienen (Punkt 4). Methodisch wird daher folgende Grundlinie vertreten: Die exegetische Reflexion soll zur theologischen Positionierung in der Fragestellung führen, welche dann die Grundlage für die praktisch-theologische Reflexion sein wird. 6
7 8
Methodenbücher dazu: vgl. Söding/Münch und Neudorfer/Schnabel. Hermeneutisch wird eine, wie es Maier nennt (:332ff.), „biblisch-historische Auslegung“ vertreten. Aufgrund der Umfangsbegrenzung, welcher diese Arbeit unterliegt, werden vor allem die Ergebnisse der Exegesen in die Arbeit einfließen. Im Anhang werden aber Textschaubilder, grammatisch-wörtliche Übersetzungen und Hinweise zur Texterhellung angefügt, woraus die in dieser Arbeit aufgeführten Ergebnisse nachvollziehbar werden sollen. Vgl. 3.1. Vgl. Ordinationsfragen Punkt 3. Hierbei ist sicherlich das reformatorische sola scriptura das Ideal der theologischen Entscheidungsfindung. Dennoch ist uns bewusst, dass unsere theologische Prägung auch unsere Schriftinterpretation mitbestimmt. Die hier angestrebte Vorgehensweise beansprucht nicht den Status der wissenschaftlichen Objektivität, da diese nicht erreicht werden kann, bildet aber den Schutz vor Willkür und dem Fall in die Subjektivität der Interpretation.
56 | Leitungsdienst in der Gemeinde
1.4
Vorläufige Definition der Begrifflichkeiten
Da in der Arbeit die Begriffe Charisma, Charakter und Amt von zentraler Bedeutung sind, soll schon im Vorfeld eine kurze Definition dieser Begriffe erfolgen. Es gilt aber, diese Begriffe im Laufe der Arbeit noch konkreter zu definieren, ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen und in Bezug auf den Leitungsdienst hin zu reflektieren. Die vorläufige Definition der Begriffe lautet: •
•
Charisma: Betrifft die göttliche Begabung des Leiters, die durch den Dienst an der Gemeinde und der Welt im Leben des Leiters sichtbar geworden ist. Dies bedeutet, dass der hier verwendete Charismabegriff nicht soziologisch, sondern theologisch verstanden wird9. Charakter: Betrifft die Persönlichkeit des Leiters. Der Begriff wird hier ethisch mit dem Begriff Tugend verbunden verwendet. So schreibt Höffe (:317): Tugend ist eine durch fortgesetzte Übung erworbene Lebenshaltung: die Disposition (Charakter) der emotionalen u. kognitiven Fähigkeiten u. Kräfte, das sittl. Gute zu verfolgen, so daß es weder aus Zufall noch aus Gewohnheit oder sozialem Zwang, sondern aus Freiheit, gleichwohl mit einer gewissen Notwendigkeit, nämlich aus dem Können u. der (Ich-) Stärke einer sittl. gebildeten Persönlichkeit heraus geschieht.
•
•
9
Somit sind Tugenden verinnerlichte Verhaltensformen (wie im Gegensatz dazu auch das Laster), welche den Charakter des Menschen ausmachen bzw. kennzeichnen. Daher spiegeln die sichtbaren Verhaltensweisen des Leiters seinen Charakter wider, welcher aus der persönlichen Beziehung und Nachfolge Christi erwachsen ist. Amt: Betrifft die Setzung des Leiters, also die Leitungsposition eines Gläubigen in der Gemeinschaft der Glaubenden. In diese Position wird jemand von der Gemeinschaft der Gläubigen (Gemeinde/Bewegung/Kirche) offiziell zum Leitungsdienst eingesetzt (Ordination). Dadurch erhält diese Person eine offizielle, von der Vgl. Liebelt (2000:152–188).
Einleitung | 57
Gemeinde, Bewegung oder Kirche legitimierte Position, die ihm auch den Raum und die Autorität zum Leitungsdienst zugesteht und ermöglicht.
1.5
Eingrenzung der Arbeit
Da es sich im Kern der Arbeit um das Verhältnis, die Beziehung und die Bedeutung von Charisma – Charakter – Amt in Bezug auf den Dienst in der Gemeindeleitung handelt (vgl. Punkt 1.1), werden wichtige Punkte zum Thema Gemeindeleitung nicht behandelt werden können. Ebenso muss sich aufgrund der vorgegebenen Rahmenbedingungen sowohl im theologischen Überblick (Punkt 2), der exegetischen Reflexion (Punkt 3) als auch der praktisch-theologischen Reflexion auf das Wesentliche beschränkt werden. Was die theologische Grundlegung anbelangt, wird die geschichtliche Entwicklung und Bewertung der unterschiedlichen Gemeindemodelle (kongregationalistische, presbyterale und episkopale Gemeindeverfassung) nicht behandelt werden können. Was die exegetische Reflexion anbelangt, wird eine umfassende Behandlung der Einleitungsfragen in Bezug auf die Pastoralbriefe, die übrigen paulinischen Briefe sowie die Apostelgeschichte nicht geleistet werden können (hier wird auf die entsprechende Literatur zu verweisen sein). Das Verhältnis des sogenannten vier- bzw. fünffältigen Dienstes (Eph 4,11ff) zum Ältestendienst/Vorsteherdienst (1Tim 3,1ff; Tit 1,5ff), also die Frage, inwieweit sich der vier- bzw. fünffältige Dienst in der Gemeindeleitung vor Ort widerspiegelt, wird nicht ausführlich reflektiert; dies wird von der Fragestellung her „nur“ berührt werden. Weiter wird die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem allgemeinen Priestertum und dem gesetzten Amt nicht in der Tiefe behandelt werden können; dies wird von der Fragestellung her „nur“ berührt. Was die praktisch-theologische Reflexion anbelangt, so werden Fragen zum pastoralen Management, den pastoralen Aufgabengebieten heute (wie z. B. Seelsorge, Verkündigung, Kasualien usw.) nicht aufgegriffen. Ebenso wird die Frage nach der Multiplikation und Ausbildung von Leiterschaft heute (wie z. B. Coaching, Mitarbeiter-
58 | Leitungsdienst in der Gemeinde
training, theologische Ausbildung und Praxis usw.) nur berührt und nicht ausführlich beantwortet werden können. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der Beantwortung der in Punkt 1.1 dargestellten Fragen. Dies wird andere Themenbereiche berühren und eine weitere Vertiefung sowohl exegetischer, systematisch-theologischer wie auch praktisch-theologischer Art benötigen, welche aber durch die vorliegende Arbeit nicht geleistet werden kann.
2 Überblick unterschiedlicher Positionen Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Charisma und Amt wurde im letzten Jahrhundert bis heute ausführlich diskutiert10. Diese Frage berührt im Tiefsten auch die Gemeindestruktur und somit die jeweilige Ekklesiologie im Kern11. Daher ist auch in der ökumenischen Diskussion die Fragestellung von großer Relevanz12. Hierbei gab und gibt es vielfältige Ansätze. Es können in dieser Arbeit nicht alle vertretenen Nuancen berücksichtigt werden. Das Ziel dieses Überblicks ist es zunächst, zu systematisieren und zu strukturieren, damit eine Sensibilisierung für die theologische Fragestellung des Verhältnisses von Charisma und Amt erreicht wird13. Ebenso soll es zu einer Sensibilisierung im Kontext der eigenen denominationellen Verankerung 10
11 12 13
Vgl. z. B. schon Brockhaus 1972 und die dort erwähnte Literatur, dann aber auch in neueren Reflexionen in Bezug auf Amt im NT und der frühen Kirche so z. B. Campbell; Dassmann; Lips 1979; Wagner; oder in Bezug auf das Verhältnis von allgemeinem Priestertum und Amt so z. B. Barth; Liebelt 2000. Dies wird auch sichtbar, wenn man die entsprechenden Lexikonartikel zu Amt, vgl. Kertelge (545–547); Lips 1998 (:424–426); Roloff 1993 (:509–533), oder zu Charisma konsultiert, vgl. Dauzenberg (:1014–1015); Ebertz (:113–115); Schütz (:688–693) und die dort erwähnte Literatur. Vgl. Frieling. Vgl. ÖRK 1984 und die Stellungnahmen dazu ÖRK 1990 sowie ÖRK 2005, oder das umfassende Werk von ÖAK Bd.1–3. Der Begriff Charakter wird hierbei noch nicht miteinbezogen. Wenn wir jedoch, was weiter unten in dieser Arbeit der Fall sein wird, der Frage nach dem Dienst der Gemeindeleitung nachgehen, werden wir auf die Bedeutung des Charakters in Bezug auf Gemeindeleitung stoßen.
Überblick unterschiedlicher Positionen | 59
kommen. Beides ist wichtig, da unsere exegetischen Reflexionen immer auch von der theologischen Grundlegung mit beeinflusst werden. Wir werden in diesem Überblick daher wie folgt vorgehen: Zuerst sollen grundsätzliche Thesen zum Verhältnis von Charisma und Amt festgehalten werden (2.1), danach soll der Unterschied zwischen einem soziologischen und einem theologischen Charismaverständnis14 aufgezeigt werden (2.2), um abschließend verschiedene Dokumente des BFP15 (2.3) auf die Fragestellung hin zu reflektieren.
2.1 Grundsätzliche Thesen zum Verhältnis von Charisma und Amt Unter diesem Hauptpunkt wird nun versucht, die vielfältigen und differierenden Positionen zu systematisieren. Dabei muss generalisiert werden, um einen Überblick zu bekommen, der auch systematisch erfasst werden kann. Es versteht sich von selbst, dass man damit den einzelnen Vertretern und ihren Positionen nicht im Detail gerecht werden kann. Es ist mir bewusst, dass hierdurch eine gewisse „Schubladisierung“ erfolgt. Um eine Sicht über die Positionen im Detail zu erlangen, muss sich über diese Darstellung hinaus mit den erwähnten Personen und ihren Positionen auseinandergesetzt werden. Zunächst aber ist festzuhalten, dass im Neuen Testament der Begriff Amt im herkömmlichen Sinne für die Gemeindeorganisation fehlt. Auch die dafür im Umfeld des NT gebräuchlichen Begriffe werden für Leitungsfunktionen in der ntl. Gemeinde nicht verwendet. Ebenso fehlen die dafür gebräuchlichen kultischen Begriffe16. Es ist hierzu bezeichnend, wenn Roloff (:510) schreibt: Der einzige Begriff wiederum, den das Urchristentum hierfür kennt, διακονία17, hat einen völlig anderen Bedeutungsradius als unser Wort ›Amt‹ … Auch die meisten im Neuen Testament gebräuchlichen Bezeichnungen kirchlicher Funktionsträger, wie ἀπόστολος, ἐπίσκοπος 14 15 16 17
Dies geschieht, damit der Charismabegriff in seiner Verwendung differenzierter verstanden wird. Dies geschieht, damit die Position der eigenen Denomination deutlicher vor Augen steht. Vgl Frieling (:22); Gnilka (:274); Lips 1998 (:424–425); Roloff 1993 (:509–510). Vgl. Bauer (:369).
60 | Leitungsdienst in der Gemeinde
und διάκονος, sind nicht aus der zeitgenössischen administrativen und kultischen Sprache entnommen, sondern aus terminologisch weitgehend offenen Wortstämmen entwickelt worden.
Allein von dieser Feststellung her wird ersichtlich, wie wichtig es ist, sich zum einen der theologischen Tragweite des Amtsverständnisses bewusst zu werden und zum anderen sich den Quellen zuzuwenden, um die gelebte Gegenwart darin wenn möglich kritisch zu hinterfragen. Aber gerade die Quellen ergeben kein klares und eindeutiges Bild der Entwicklung des Amtes im ersten Jahrhundert. „Manches von dem, wie sich Gemeindeleben entwickelte, liegt für uns aufgrund der spärlichen Quellenlage im Dunkeln“ (Schnackenburg :274). Die Frage ist, ob man von einer Entwicklung des Amtes im NT sprechen kann. Hierzu wurden unterschiedliche Thesen vertreten, die zu einem recht konkreten Amtsverständnis führen. Es werden nun zunächst 3 Thesen formuliert, die generalisierend die unterschiedlichen Positionen zum Verhältnis von Charisma und Amt widerspiegeln. Im jeweiligen Fazit zu den Thesen wird dann auch versucht, die den Thesen entsprechenden Leitungsstrukturen zuzuordnen. So ergeben sich aus diesen Thesen Zuordnungsmodelle, die als Grundlage für die Orientierung in der Fragestellung hilfreich sein sollen.
2.1.1 These 1: Amt contra Charisma Die erste These lautet: Das kirchliche Amt steht im Gegensatz zu einer pneumatisch-charismatischen Gemeindeordnung und das Amt hat die ursprüngliche pneumatisch-charismatische Gemeindeordnung verdrängt18. Gemäß dieser Position war die ursprüngliche Gemeinde durch charismatische Leiterschaft organsiert. Die Gemeinde ist Leib Christi (vgl. 1Kor 12,27ff.; Röm 12,4ff.) und somit vor allem eine pneumatische Wirklichkeit. Hier wird von einer anfänglich pneumatisch-charismatisch strukturierten Gemeindeordnung ausgegangen. Gemäß dieser Grundthese wurden ursprünglich keine Personen offi18
Der exemplarische Vertreter dieser These wäre Rudolf Sohm, weitere Vertreter, die hier grob eingeordnet werden können, vgl. Brockhaus (:15ff); Campbell (:5ff).
Überblick unterschiedlicher Positionen | 61
ziell in Dienste eingesetzt, sondern sie sind durch das Charisma von Gott gesetzt. Campbell (:8) schreibt: „Such people are not elected: their gifts are simply recognized and lovingly followed.“ Somit ordnet der erhöhte Christus durch den Heiligen Geist die Gemeinschaft der Glaubenden, indem er Menschen zum Aufbau der Gemeinde begabt und damit durch das vorhandene Charisma einsetzt. Der zentrale Dienst dabei war die Wortverkündigung, die durch die Apostel, Propheten und Lehrer geschah (1Kor 12,28). Durch die pneumatisch inspirierte Wortverkündigung wurde die Gemeinde gegründet, geleitet, geordnet und gebaut. Die Aufgabe der Episkopen19 bestand ursprünglich vor allem in der Leitung der Abendmahlsversammlung und anderer administrativer und caritativer Aufgaben. Dabei hat sich mit der Zeit die von der jüdischen Synagoge übernommene Ältestenstruktur mit der hellenistischen, aus dem griechischen Vereinswesen übernommenen Episkopenstruktur verbunden20. Diese Entwicklung wird in den Pastoralbriefen bereits sichtbar, welche als pseudepigraphische Schriften verstanden und in die nachapostolische Zeit datiert werden. Harnack geht von mehreren nebeneinander bestehenden Organisationsstrukturen aus. Wagner schreibt (:23)21: Er unterscheidet die geistliche oder religiöse Organisation (Apostel, Propheten, Lehrer), die patriarchalische Organisation (Presbyter…), die administrative Organisation (Episkopen und Diakone) und die aristokratische Organisation (Ehelose, Märtyrer, Konfessoren).
Nach Harnacks Ansicht übernahmen nach dem „Aussterben“ der Apostel, Propheten und Lehrer die Bischöfe deren Funktion. Das Besondere dabei ist, dass sie gewählt wurden und somit das charismatische Element in den Hintergrund trat. Hierbei ging das Ansehen, welches die frühkirchlichen Charismatiker genossen, auf sie über, da sie nun nicht mehr nur die administrative Funktion, sondern vor allem die
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ἐπίσκοπος: Apg 20,28; Phil 1,1 im Pl.; 1Tim 3,2; Tit 1,7 im Sg. und 1Petr 2,25 auf Christus bezogen. Zur Wortbedeutung vgl. Bauer: 606; Beyer: 604–619; Rohde: 89–91. Dabei wird von zwei Organisationsformen ausgegangen, die sich dann verbunden haben, so z. B. Harnack vgl. Brockhaus (:10ff.). Vgl. Brockhaus (:13).
62 | Leitungsdienst in der Gemeinde
Lehrautorität wahrnahmen22. Sohms Sicht war hierzu noch etwas radikaler. Brockhaus schreibt (:17) bezüglich Sohms Sicht im Gegensatz zu Harnack: Die Episkopen haben nicht die Lehrfunktion der Apostel, Propheten und Lehrer zusätzlich zu ihren eigenen Aufgaben übernommen, sondern waren von Anfang an Ersatzmänner für den Notfall.
Die ursprünglich pneumatisch-charismatische Grundstruktur wurde dadurch verlassen, dass das Amt des Bischofs institutionalisiert wurde und er somit kraft seines Amtes bleibende und auch rechtliche Autorität bekam. Dies drängte die charismatische Leiterschaft zurück und führte zu einer Institutionalisierung der Kirche. So schreibt Sohm23: „Das bischöfliche Lehramt stellt den Gegensatz des apostolischen Lehramts dar.“ Fazit: Die Quellen werden hier im Schwerpunkt so gedeutet, dass die Gemeinden anfänglich durch pneumatisch-charismatische Persönlichkeiten geleitet wurden. Diese wurden von Gott gesetzt und durch das Charisma bestätigt (Apostel, Propheten und Lehrer). Es gab aber daneben unterschiedliche ordnende Funktionen (Episkopen und Presbyter), die aber vor allem administrative Aufgaben erledigten. Als die Naherwartung zurückging und die Gemeinde nach ihrem pneumatischen Aufbruch eine feste Größe in der Gesellschaft wurde, wurde auch diese ordnende Funktion wichtiger. Nach dem „Aussterben“ der Apostel traten immer mehr die Episkopen und Presbyter an deren Stelle und übernahmen auch deren geistliche Leitungsfunktion (hier wären wohl gemäß dieser Sicht die Pastoralbriefe anzusiedeln). Der nächste Schritt in dieser Entwicklung war nun die Institutionalisierung der Kirche durch feste Ämter, die dann zum dreigliedrigen Amt (Bischof - Priester - Diakon) und dem Monepiskopat führten24. Das Ideal dieser 22 23 24
Vgl. Brockhaus (:14). Sohm, Kirchenrecht I (:113), zitiert aus Brockhaus (:18). Hauschild schreibt (:426): „Voraussetzung dafür war die Änderung der älteren Presbyterialverfassung durch Profilierung des Bischofsamts als Monepiskopat im späten 2.Jh., dem die übrigen Ämter ekklesiologisch, rechtlich und organisatorisch zuge-
Überblick unterschiedlicher Positionen | 63
Deutung ist die pneumatisch-charismatische Gemeindeordnung. Gesetzte Ämter werden hier abgelehnt, den pneumatisch-charismatischen Diensten zu- und untergeordnet oder als spätere Entwicklung hin zur Institutionalisierung der Kirche gesehen. Dies würde, wie Erickson (:1093f) es nennt, einer Gemeindeordnung des „Nongovernment“ entsprechen. Hier sind christliche Gruppierungen wie ursprünglich die Quäker25 oder die Plymouthbrüder26 einzuordnen.
2.1.2 These 2: Charisma führt zum Amt27 Die zweite These lautet: Charisma und Amt sind keine Gegensätze, denn die Ämter beruhen auf den Charismen. Auch hier wird von einer ursprünglich pneumatisch-charismatischen Gemeindeordnung ausgegangen, welche aber nicht den institutionell-rechtlichen Aspekten, welche durch gesetzte Ämter gegeben sind, widersprechen. Der Unterschied zur These 1 liegt darin, dass das Amt von Anfang an zur urchristlichen Gemeindeordnung zugehörig gesehen wird. So ist z. B. entsprechend Otto Michel28 davon auszugehen, dass eine Ordination der Charismatiker und somit die offizielle Einsetzung in den Dienst zur ursprünglichen Gemeindeordnung dazugehörten. Obwohl zwar alle Christen an Christus Anteil haben und somit theoretisch an den Charismen29, bekleiden nicht alle Christen ein Amt30. Die Charismen
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30
ordnet wurden. Bei den – nun als Beraterkollegium des Bf. verstandenen – Presbytern dominierten die geistl. Funktionen … Als Helfer des Bf. für Armenfürsorge und Finanzverwaltung nahmen die Diakone eine Schlüsselstellung ein.“ Diese Entwicklung ist gemäß Sohm der Sündenfall der Kirche, vgl. Brockhaus (:17). Vgl. Ingle (:1853–1857). Vgl. Callahan (:579–581). Vgl. Detaillierte Darstellung bei Brockhaus (:47–60). Vgl. Brockhaus (:49f). Der Charismabegriff wird hier stark christologisch/soteriologisch verbunden gesehen (vgl. Röm 5,15; Röm 6,23). Dies bedeutet, dass durch die Erlösung in Christus jeder Christ an Christus Anteil hat. Hier leuchtet sicherlich das reformatorische „allgemeine Priestertum“ aller Gläubigen auf, welches prinzipiell eine Unterscheidung zwischen Klerus und Laien in der Kirche ablehnt. Das Amt erwächst hier aus dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen (vgl. Frieling:30). Dennoch könnten von dieser Grundthese aus zwei Linien gezogen werden, die zu unterschiedlichen Gemeindeordnungen führen würden. Denn einerseits könnte man hier alle Christen als Amtsträger bezeichnen, da alle an Christus Anteil haben,
64 | Leitungsdienst in der Gemeinde
dienen alle zur Auferbauung der Gemeinde, dennoch sind sie nicht alle gleichrangig. Hierbei haben die Charismen, die mit der Wortverkündigung in Zusammenhang stehen, spezielle Bedeutung, da sie für die Leitung der Gemeinde wesentlich sind. Diese Dienste hatten dann auch Amtscharakter und waren durch Einsetzung unter Handauflegung in den Dienst begleitet31. Fazit: Die Quellen werden hier nun so gedeutet, dass Charisma und Amt sich nicht widersprechen. Von Anfang an gab es durch Handauflegung eingesetzte Ämter, die aus den Charismen erwuchsen. Durch die Anteilhabe an Christus haben auch alle Christen Anteil an den Charismen, die Gott in Christus durch den Geist zum Aufbau des Leibes gegeben hat32. Obwohl soteriologisch alle Christen auf derselben Ebene stehen, ist aber in Bezug auf die Funktion der Christen im Leib Christi zu unterscheiden. Denn diejenigen, welche zur Leitung befähigende Charismen hatten33, wurden auch zur Leitung entsprechend ihres Charismas unter Handauflegung eingesetzt. Wesentlich hierbei ist, dass das Amt vor allem funktional gesehen wird und eine Unterscheidung zwischen Klerus und Laien dadurch grundsätzlich verwehrt ist. Die Leitungsstruktur, welche diesem Ansatz am ehesten entspricht, ist eine kongregationale34 oder presbyteriale35 Gemeindeoder Kirchenverfassung.
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33 34 35
anderseits könnte dies auch zu einem hierarchischen Amtsverständnis führen, da das entsprechende Charisma auch die Bedeutung und dementsprechend die Autorität des charismatischen Amtsträgers kennzeichnet (vgl. hierzu die Darstellung von Brockhaus zu Graus und Friedrichs Position :50–55). Zu den Personengruppen, die im Kern mit den Wortcharismen dienten, gehören die Apostel, Propheten, Lehrer, vgl. 1Kor 1,28, weiter entsprechend Eph 4,11, aber auch die Evangelisten, Hirten und Lehrer und in diesem Zusammenhang dann ebenfalls die Episkopen und Presbyter, da für diesen Dienst die Lehrfähigkeit eine Voraussetzung war, vgl. 1Tim 3,2 und Tit 1,9. Hier spiegelt sich der Ansatz des „allgemeinen Priestertums“ aller Gläubigen (vgl. 1Petr 2,5.9; Off. 1,6; 5,10; 20,6) und das Bild des „Leibes Christi“ (1Kor 12,12f.; Röm 12,4f.) als zu betonende Akzente wider. Hier speziell dann eben die Wortcharismen, die in Bezug auf Verkündigung und Lehre stehen. Vgl. Erickson (:1089ff.); Ritter (:248ff.); Shoemaker (:1582f.). Vgl. Erickson (:1085ff.); Hollerbach (:539).
Überblick unterschiedlicher Positionen | 65
2.1.3 These 3: Charisma begründet das hierarchische Amt Die dritte These lautet: Das Charisma begründet nicht nur das Amt, sondern führt zum hierarchisch gegliederten Amt. Der Leib Christi ist hierarchisch gegliedert und durch die gesetzten Ämter strukturiert. Christus erwählte die Apostel, die wiederum andere in das Amt der Leitung einsetzten. Brockhaus (:71) beschreibt dies folgendermaßen: Der Schritt vom Apostolat zum apostolischen Bischofsamt vollzog sich so, daß die Apostel – wie aus der Apostelgeschichte und Tit. 1,5 hervorgeht – in den von ihnen gegründeten Gemeinden Episkopen und Presbyter eingesetzt haben, die die Gemeinden leiten und selbst wieder von Stadt zu Stadt Älteste aufstellen sollten. Für die Erfüllung dieser Aufgaben empfingen diese Vorsteher durch Handauflegung eine übernatürliche Kraft.
Hier wird von einer Kette der Einsetzung ausgegangen, die von den Aposteln zu den Apostelschülern hin zu den Episkopen und Presbytern reicht und den Bestand der Kirche durch die Zeiten gewährleistet36. Dabei wird bei der Einsetzung durch Handauflegung das „Amtscharisma“ verliehen (vgl. 2Tim 1,6). Hierbei wird ebenfalls von einer Entwicklung innerhalb der ntl. Schriften ausgegangen. Diese Entwicklung führt von einer eher pneumatisch-charismatischen Struktur37 hin zu einer mehr amtlich-institutionellen Struktur (dies wird in den Pastoralbriefen bereits sichtbar38). Diese Entwicklung wird aber nicht wie in These 1 negativ bewertet, sondern als durch den Heiligen Geist 36 37
38
Vgl. hierzu den Gedanken der Apostolischen Sukzession (Beinert:1081ff.; Wohlmuth:1859f). Wobei auch diese hierarchisch zu verstehen ist, denn die Apostel, Propheten, Lehrer usw. waren überörtliche Autoritätspersonen, so wie auch die Episkopen und Presbyter durch die apostolische Einsetzung zu örtlichen Autoritätspersonen wurden. Beispiele dazu vgl. Brockhaus (:72ff.). Dabei habe sich auch der Charismabegriff inhaltlich in Bezug zu Paulus (1Kor 12) gewandelt. Oberlinner schreibt beispielsweise in Bezug auf den Charisma-Begriff in den Pastoralbriefen: „Zwei Zusammenhänge kennzeichnen jetzt den Begriff: Er wird nur noch bezogen auf den Amtsträger, und das Charisma ist verknüpft mit dem Akt der Handauflegung. Es ist deshalb gerechtfertigt, bezogen auf die Past von ‚Amtscharisma‘ zu sprechen“ (2002:28–29). Auf die Frage, wie nun dieses „Amtscharisma“ vermittelt wird, schreibt Oberlinner (2002:29): „Die Antwort darauf lautet V. 6: der Apostel, durch das Auflegen seiner Hände. Der Verfasser läßt „Paulus“ exklusiv sich selbst als Mittler des Charismas nennen.“
66 | Leitungsdienst in der Gemeinde
initiiert und begleitet gesehen. Dies führt dann zum dreigliedrigen Amt (Episkopos – Presbyter – Diakon), welches schon in den Pastoralbriefen angelegt ist, aber sich dann bei den Apostolischen Vätern bestätigt und konkretisiert39. In Bezug auf die Ergebnisse der Schriftauslegung spielt hier natürlich auch der konfessionelle Hintergrund eine beachtliche Rolle. So schreibt Frieling (:25): Der Gedanke einer durch die Handauflegung verliehenen besonderen Amtsgnade (1Tim 4,14) wird freilich heute von den Exegeten konfessionell unterschiedlich interpretiert. Evangelischerseits sieht man hier eine „frühkatholische“ Ämterkonzeption40, die sich von der paulinischen Charismenund Ordnungslehre unterscheidet, während katholischerseits eine „innere Entelechie“ (griech. „das, was sich von innen heraus auf sein eigenes Ziel hin entwickelt“) behauptet wird, welche für den Glauben und die Ordnung der Kirche durch die Jahrhunderte hindurch konstitutiv ist.
Fazit: Die Quellen werden hier so gedeutet, dass das Amt nicht als Gegensatz zum Charisma verstanden wird. Im Gegenteil: Das Charisma führt zu einem hierarchischen Amt. Das zum Leitungsamt notwendige Charisma wird in der Einsetzung empfangen. Das Amt gewährleistet dadurch die Einheit und Kontinuität der Kirche von ihren Anfängen her41. Hierbei geht die Kirche auf Jesus Christus zurück, der die Apostel einsetzte, welche wiederum Amtsträger zum Dienst bestellten. Der Gedanke der sog. apostolischen Sukzession ist darin von Bedeutung42. Obwohl die Vorstellung von einer ungebrochenen Ämterkette bekannterweise der historischen Prüfung nicht standhält43, resultiert daraus doch ein klares Amts- und Kirchenverständnis. Das Amt bekommt hierbei eine zentrale Stellung und die Unterscheidung von Klerus und 39 40 41
42 43
So dann bei Ignatius, vgl. dazu Wagner (:259ff.); Frieling (:26). Dies würde in etwa der Position von These 1 entsprechen. Beinert schreibt (:1080): „Leitprinzip ist die unverfälschte Bewahrung des Sendungsauftrags des Vaters über den eigtl. Apostel u. Hohenpriester Christus (Hebr 3,1) u. die Seinen (Joh 17,18; 20,21; vgl. 1Kor 1,17; Gal 4,6) in der ganzen Kirche durch alle Zeiten (Mt 28,19f.).“ Vgl. RKK 2005 (:861–862; 1087; 1576). Vgl. Pesch 2008 (:283f.).
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Laien ist unausweichlich. Die Leitungsstruktur, die diesem Verständnis am ehesten entspricht, ist die episkopale Kirchenverfassung44. Am deutlichsten wird dies in der römisch-katholischen Kirche sichtbar45.
2.1.4 Schlussbemerkungen Die drei oben dargestellten Thesen zeigen die unterschiedlichen Deutungsweisen der biblischen Quellen in Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von Charisma und Amt auf. Dabei wurde deutlich, dass je nach Schlussfolgerung unterschiedliche Amtsverständnisse und dementsprechende Gemeinde- und Kirchenverfassungen daraus resultieren. Wie schon eingangs erwähnt, sind die oben dargelegten Thesen generalisierend verfasst, um einen systematischen Überblick zu erhalten. Natürlich gibt es hier auch Mischformen, die aber aufgrund der Begrenzung dieser Arbeit nicht aufgeführt werden können46. In Bezug auf den BFP wird dies ebenfalls sichtbar. So kann man auf der Homepage des BFP lesen, dass der BFP eine „kongregational-synodale Struktur mit der Bundeskonferenz als zentrales Entscheidungsgremium47“ hat. Gemäß dieser Aussage bewegt sich der BFP zwischen einer kongregationalen und presbyterialen Leitungsstruktur, lässt sich aber generell der These 2 zuordnen. Der oben dargestellte Überblick ist trotz und gerade wegen der Generalisierung sinnvoll, da wir dadurch die markanten Unterschiede in Bezug auf die Frage nach Charisma und Amt vor Augen haben. Somit können wir auch bestehende Leitungsverständnisse und Kirchenverfassungen schwerpunktmäßig einer der dargestellten Thesen zuordnen, auch wenn es sich dabei um Mischformen handeln sollte. Dies ermöglicht zunächst die Wahrnehmung des eigenen denominationellen Standorts und sensibilisiert für das überdenominationell-ökumenische Gespräch.
44
45 46 47
Vgl. Erickson (:1081ff.); Wickert (:773ff.); Link (:1376f.). Grudem schreibt (:924): „The argument for the episcopalian system is not that it is found in the New Testament, but that it is a natural outgrowth of the development of the church which began in the New Testament, and it is not forbidden by the New Testament.“ Hier mit dem auch im Vat II bestätigten Primat des Papstes, vgl. Wolf (:1664). Vgl. z. B. Artikel Kirchenverfassung RGG4. Bd. 4 (:1307–1359); Frieling (:29–114). Vgl. www.bfp.de/pages/wir-ueber-uns.php
68 | Leitungsdienst in der Gemeinde
2.1.5 Der soziologische und theologische Charismabegriff Eingangs wurde schon eine vorläufige Begriffsdefinition (vgl. 1.4) unternommen. Wir haben auch festgehalten, dass das NT keinen Amtsbegriff im herkömmlichen Sinne verwendet und wir vom Begriff Dienst (διακονία vgl. 2.1) aus zu reflektieren haben. Nun wollen wir uns als Ergänzung kurz dem Charismabegriff zuwenden. Hier gilt es sich zu positionieren, da auch dieser Begriff mit Vorverständnissen belastet ist. Im Zuge von Max Webers Arbeiten wurde dieser Begriff im soziologischen Sinne verstanden48. In Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von Charisma und Amt schreibt Lips (:197–198) : Sehe ich recht, dann liegen die Differenzen zu einem guten Teil darin begründet, daß der Begriff Charisma undifferenziert verwendet wird. D. h. es wird nicht klar unterschieden zwischen dem soziologischen Begriff „Charisma“ als Bezeichnung eines (außergewöhnlichen) Phänomens und der Verwendung des Begriffs χάρισμα bei Pls als theologischem Interpretament.
Im soziologischen Sinne wird der Charismabegriff Persönlichkeiten zugesprochen, die durch die Ausstrahlung ihrer Persönlichkeit andere Menschen faszinieren und dadurch als Führungspersonen anerkannt werden. Somit wird der Begriff profanisiert49. Es geht um das Phänomen der subjektiven Anerkennung charismatischer Leitungspersönlichkeiten. „Wie die tatsächliche Kompetenz der Persönlichkeit objektiv richtig zu bewerten wäre, erscheint dabei gleichgültig“ (Liebelt 2000:156). Leitung geschieht hierbei im sozialen Gebilde nicht aufgrund eines gegebenen Amtes, sondern kraft der eigenen charismatischen Persönlichkeit. Das soziale Gefüge unter dieser charismatischen Persönlichkeit zerfällt, wenn der durch die charismatische Persönlichkeit versprochene Erfolg ausbleibt oder wenn die charismatische Persönlichkeit stirbt50. Dies ist ein soziologisch wahrnehmbares Phänomen und in diesem Sinne wird der Charismabegriff verstanden51. 48 49 50 51
Vgl. Liebelt (2000:153–171). Vgl. Baumert (:213). Vgl. Liebelt (2000:161ff.). Das Phänomen solcher charismatischen Leiterpersönlichkeit tritt gemäß Weber auf „politischer, wirtschaftlicher, kultureller, philosophischer oder religiöser“ (Liebelt
Überblick unterschiedlicher Positionen | 69
Der theologische Gebrauch52 des Charismabegriffs orientiert sich hierbei am biblischen Verständnis53. Der Begriff χάρισμα kommt im NT 17 mal vor und bedeutet gemäß Bauer (:1752) allgemein die „(wohlwollend gespendete) Gabe, d. Gnadengeschenk“ und wird im NT nur „V. Zuwendungen der göttl. Gnade“ verwendet. Schütz schreibt (:689): Charisma ist eine Art Geschenk, entweder als Gnadengabe oder als Wohltat. Es wird häufig als Ausdruck der Gnade Gottes (χάρις) angesehen ... Als Begabung gehört es zur christlichen Existenz notwendig hinzu, wobei die einzelnen Christen mit ihm [sic] unterschiedliche Fähigkeiten erhalten.
Grundsätzlich ist hierbei also festzuhalten, dass der theologische Gebrauch des Charismabegriffs nicht von der Gnade, die in Christus empfangen wird, getrennt gesehen werden kann. Hierin unterscheidet sich der theologische Charismabegriff fundamental vom soziologischen Gebrauch des Begriffs. Liebelt schreibt (:188): „Diese soteriologische Grundbestimmung findet sich in allen ntl. Verwendungen des Charismabegriffes unter je unterschiedlichen Aspekten wieder.“ Die theologische Verwendung des Charismabegriffs wird in Bezug auf die Frage nach dem Dienst der Gemeindeleitung von Bedeutung sein. Denn eine im soziologischen Sinne charismatische Persönlichkeit entspricht nicht unbedingt den Anforderungen, die für den Leitungsdienst biblisch-theologisch erforderlich sind54.
2.2
BFP-Dokumente
Wir wollen uns nun, unter Berücksichtigung der Fragestellung, zwei Dokumenten des BFP55 zuwenden. Das Ziel hierbei ist es, die Frage
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2000:164) Ebene auf. Hierbei wird deutlich, dass der Charismabegriff soziologische Phänomene beschreibt und nicht theologisch verstanden wird. Die unter diesem Begriff beschriebenen Phänomene sind auch pfingstlich-charismatischen Gemeinden und Bewegungen nicht unbekannt. Zum theologischen Charismabegriff und dessen ekklesiologischen Konsequenzen vgl. Liebelt (2000:178–286). Vgl. Baumert (:117–122). Hierbei wird dann eben auch der Begriff „Charakter“ mit zu reflektieren und biblisch-theologisch zu definieren sein. Es wird sich schwerpunktmäßig auf diese Dokumente bezogen, da sie offiziellen Charakter und für den pastoralen Dienst im BFP bindende Bedeutung haben. Dies gilt erst recht für die dann noch zusätzlich in die Reflexion miteinfließende Betrach-
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nach dem Verhältnis von Charisma-Charakter-Amt anhand dieser Dokumente zu reflektieren. Dazu werden wir zunächst die zwei Dokumente auf die Fragestellung hin analysieren (2.3.1–2.3.2), um daraus dann ein Fazit zu ziehen (2.3.3).
2.2.1 BFP-Richtlinien (2007) Zunächst ist auffallend, dass unter Punkt 156 sich neben dem Bekenntnis zum trinitarischen Gott (:1.1–1.4) zur Gemeinde bekannt wird (:1.5). Dadurch wird die Bedeutung der Gemeinde akzentuiert. In diesem Zusammenhang wird das „allgemeine Priestertum“ betont. Denn es wird hervorgehoben, dass die Gemeinde „der Leib Jesu außerdem der Ort des gegenseitigen Dienstes, zu dem Gott alle Glieder beruft und befähigt“ (:1.5) ist. In diesem Zusammenhang wird noch nicht von Leiterschaft gesprochen. Unter Punkt 257 wird darauf verwiesen, dass der Bundesgedanke bewusst gewählt ist und auf „den biblischen Grundsatz der verbindlichen Zusammengehörigkeit und Zusammenarbeit“ (:2.1.2) verweist. Hierbei ist der BFP: „eine Gemeinschaft von Gemeinden und ihrer geistlichen Leiter“ (:2.1.2). Dabei kommt nun zum Ausdruck, dass der gegenseitige Dienst aller durch den „speziellen“ Dienst der Leiter ergänzt wird, ohne zu erwähnen, worin dieser besteht. Es geht dem BFP um Gemeinschaft nach ntl. Vorbild und dem Ziel der „Gewinnung biblischer Leitlinien für Berufung, Dienst und Gemeinde“ (:2.1.3). Hierin wird auch der Dienst der Leiter mitangesiedelt sein. Dabei sind die BFP-Gemeinden: selbstständig, aber nicht unabhängig. Lokale Selbstständigkeit und übergemeindliche Verpflichtungen ergänzen und befruchten einander. Dazu gehört auch die Förderung und Anerkennung der gesamtgemeindlichen Dienste (Eph 4, Vers 11 u. a.), die als Geschenk Gottes an alle Gemeinden gesehen werden. (:2.1.4)
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tung der Verfassung des BFP von 2010. Überschrift: Wir glauben und lehren. Überschrift: Selbstverständnis und Aufgaben.
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Inwieweit nun diese gesamtgemeindlichen Dienste mit den in 2.1.3 genannten Leitern identisch oder darin mitenthalten sind, wird hier nicht erörtert58. Unter dem Hauptpunkt 3.259 wird festgehalten: Grundlage und Voraussetzung für einen geistlichen Mitarbeiter ist eine innere Berufung von Gott. Diese findet ihre Bestätigung durch die lokale Gemeinde. Die Vielfalt der Berufungen Gottes von Männern und Frauen aus allen Schichten des Volkes haben zur Gestaltung von unterschiedlichen Ausbildungswegen geführt. (:3.2.1)
Daraus werden folgende Punkte sichtbar: a) Es wird von einer Dienstberufung ausgegangen, die von Gott empfangen wurde und mit einer inneren Gewissheit des Berufenen einhergeht. b) Die empfangene Dienstberufung wird durch die lokale Gemeinde bestätigt, was nur bedeuten kann, dass sie im Leben des Berufenen (durch Dienst in der Lokalgemeinde) sichtbar wird. c) Die Dienstberufungen sind vielfältig und benötigen daher auch unterschiedlicher Förderung durch Ausbildung.
Durch die Ordination wird jemand vom Bund her offiziell in den Dienst der Gemeindeleitung eingesetzt. Ordination ist dabei: „die Einsegnung zum Dienst – nicht Abschluss einer Ausbildung. Mit ihr erhalten die Berufenen die Anerkennung zum geistlichen Dienst durch den Bund“ (:3.2.2). Was bei der Ordination geschieht, wird hier nicht erörtert. Von einer durch die Ordination vermittelten „Amtsgnade“ wird aber mit Sicherheit nicht ausgegangen. Interessant ist dabei, dass die Ordination „durch ein Mitglied des Bundesrates60 durchgeführt“ (:3.2.2) wird. 58
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Dabei ginge es um die Frage, ob und wenn ja inwieweit sich der vier- bzw. fünffältige Dienst aus Eph 4,11 mit dem Gemeindeleitungsdienst der Pastoralbriefe deckt (Verhältnis von Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer und den Episkopen und Presbytern). Diese Verbindung wird dann aber im Pastorenleitbild gezogen (vgl. 2.2.2). Überschrift: Mitgliedschaft der Pastoren und geistlichen Mitarbeitern. „Der Bundesrat setzt sich zusammen aus dem Präsidium, den Leitern der Bundeswerke, den Leitern der Gemeindeverbände, den Ehrenmitgliedern und für die jeweilige Wahlperiode vom Präsidium berufenen Mitgliedern.“ (:8.1) Dies sind Leiter, die von der Bundeskonferenz gewählt, durch langjährigen Dienst bewährt (betrifft Ehrenmit-
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Damit wird deutlich, dass nicht die Ortsgemeinde, sondern der Bund als solcher die Ordination vollzieht. Auch hier wird deutlich, dass der BFP nicht rein kongregationalistisch strukturiert ist. Dies wird auch aus folgender Aussage ersichtlich (:3.2.2): Mitarbeiter/-innen im BFP im hauptamtlichen geistlichen Dienst können nach Beendigung ihrer Ausbildung … auf Antrag der Dienststelle (in der Regel die örtliche Gemeinde) und nur mit Empfehlung der Region bzw. des Gemeindeverbandes ordiniert werden. Die Entscheidung darüber hat das Präsidium61.
Weiter ist auch folgende Aussage von Bedeutung (:4.1.3.1): „Die Leitung der örtlichen Gemeinde geschieht durch Älteste, wobei der Pastor bzw. einer der Pastoren in der Regel der leitende Älteste ist“. Damit wird zum einen die Leitung der Gemeinde als Team betont und zum anderen wird hierbei der Pastor als einer der Ältesten definiert. Somit wird angezeigt, dass eine Unterscheidung zwischen ordinierten und nichtordinierten Ältesten in Bezug auf die Gemeindeleitung nicht grundsätzlich besteht. Dennoch muss zur Kenntnis genommen werden, dass der Pastor in der Regel62 der primus inter pares ist.
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glieder) oder vom Präsidium berufen worden sind. Dies bedeutet interessanterweise auch, dass theoretisch nicht ordinierte Personen eine Ordination durchführen können. „Das Präsidium hat die geistliche Verantwortung und geschäftliche Leitung für den Gesamtbund wahrzunehmen.“ (:7) „Das Präsidium setzt sich zusammen aus mindestens 7 von der Bundeskonferenz gewählten Mitgliedern …, den von den Regionalkonferenzen gewählten Regionalleitern und den jeweiligen Vertretern von Gemeindeverbänden, sofern dies vereinbart wurde.“ Die von der Bundeskonferenz gewählten Mitglieder bilden den geschäftsführenden Vorstand des BFP (:7.2). Hier soll gemäß Richtlinie Folgendes beachtet werden: „Bei der zu wählenden Person soll ein entsprechendes Charisma für den erforderlichen Dienst im Vorstand zu erkennen sein.“ Worin dieses Charisma besteht, wird nicht definiert. Die hier aufgeführte Definition bleibt tendenziell offen und die konkreten Gegebenheiten vor Ort werden zeigen, wie sich das Ältestenteam letztlich formieren wird. Einfluss darauf wird sicherlich auch die Gemeindeprägung sowie die Persönlichkeit und das Gabenprofil des Pastors sowie seiner Mitältesten haben. Das Pastorenleitbild hingegen hält fest, dass der Pastor primus inter pares ist, hat also die hier verwendete Offenheit nicht (vgl. 2.2.2).
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2.2.2 Pastorenleitbild (2004) Bei diesem Dokument sind vor allem Punkt 163 und 264 in Bezug auf die Fragestellung ergiebig. Punkt 365 enthält einzelne Aspekte, die für die Fragestellung relevant sind, der Schwerpunkt hierbei liegt aber auf formalen Punkten in Bezug auf den Pastorendienst. Schon an den Überschriften wird ersichtlich (vgl. Fußnote 64–66), dass hierbei mehr vom Dienst als vom Amt des Pastors ausgegangen wird. Unter Punkt 1.1 lesen wir: Pastoren im BFP sind Personen, die aufgrund 1. ihrer erkannten und nachgewiesenen Berufung, 2. ihrer wachsenden Kompetenz im Leitungsdienst, 3. ihres bewährten Charakters, 4. ihrer Bevollmächtigung und Begabung durch den Heiligen Geist und 5. ihres frischen geistlichen Lebens gemeinsam mit den Ältesten die Gemeinden des Bundes leiten.
In diesem Satz kommt im Wesentlichen das zum Ausdruck, was danach entfaltet wird. Die Berufung soll sichtbar werden, was nur durch den Dienst und Bestätigung des Dienstes in der lokalen Gemeinde erfolgen kann (vgl. :1.2.1). Darin werden auch gewisse Kompetenzen, die für den Leitungsdienst erforderlich sind, sichtbar, welche aber auch weiter entwickelt werden müssen (vgl. :1.366). Der Charakter des Leiters ist in Bezug auf den Dienst von Bedeutung (vgl. :1.367). Es zählt also nicht nur die Leitungskompetenz (Charisma), sondern auch die charakterlichen Eigenschaften des Leiters sind wichtig68. Der Leiter muss durch den 63 64 65 66
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Überschrift: Selbstverständnis und Voraussetzung des Pastorendienstes. Überschrift: Aufgaben und Verantwortung des Pastorendienstes. Überschrift: Dienstordnung – Die Einbindung des pastoralen Dienstes im Bund. Unter diesem Punkt werden unterschiedliche Kompetenzen hervorgehoben, die als Voraussetzung für den pastoralen Dienst vonnöten sind: Einfluss (Leitungskompetenz), soziale Kompetenz, theologische Kompetenz, seelsorgerliche Kompetenz. Ähnliches auch unter 2.2.7 unter der Gesamtüberschrift: Spezielle Aufgaben eines Pastors. Hierbei wird darauf verwiesen, dass er für: die „Förderung und Aufsicht“ der Lehre, Mitarbeiter- und Leiterentwicklung, Seelsorge, evangelistische Aktivität und Integration der Neuen verantwortlich ist. Hier lesen wir (:1.3.2): „Der Charakter des Pastors stellt sicher, wie er seine Fähigkeiten, seinen Einfluss ausübt. Die Heiligung des Charakters bleibt eine ständige Herausforderung.“ Hier besteht offensichtlich eine innere Verbindung zwischen Begabung (Charisma) und Charakter. Dies wird auch aus 1.2.2 deutlich, wo in Bezug auf 1Tim 3,1–7 und Tit 1,5–9 festgehalten wird: „Die obigen Bibeltexte führen uns eine charakterfeste, hingegebene
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Heiligen Geist bevollmächtigt und begabt sein (Charisma); worin diese Begabung und Bevollmächtigung besteht, bleibt hierbei noch offen69. In Bezug auf die Fragestellung nach dem Verhältnis von Charisma und Amt ist folgende Aussage interessant (:3.3.1): Pastoren des Bundes führen die Dienstbezeichnung „Pastor“ bzw. „Pastorin“. Unter dieser einen Dienstbezeichnung gibt es unterschiedliche Beauftragungen und Ausformungen des Dienstes, wie z. B. in 1Korinther 12,28 und Eph 4,11 aufgeführt.
Durch diese Aussage wird nun ersichtlich, dass davon ausgegangen wird, dass a) der vier- bzw. fünffältige Dienst weiterhin besteht und b) einzelne Dienstaspekte des vier- bzw. fünffältigen Dienstes im Leitungsdienst des ordinierten Pastors sichtbar werden. Dass hier eine Verbindung zwischen den Pastoralbriefen und 1Kor 12,28 sowie Eph 4,11 hergestellt wird, wird schon daraus deutlich, dass unter 1.2 bezüglich neutestamentlicher Kriterien für den Pastorendienst auf 1Tim 3,1–7 sowie Tit 1,5–9 verwiesen wird. Dass dieser Leitungsdienst begabungsspezifisch und daher nur in Ergänzung geschehen kann, wird aus anderen Punkten des Dokumentes ersichtlich70. Dabei hat der Pastor innerhalb des Ältestenteams eine spezielle Stellung inne. Er leitet gemeinsam mit den Ältesten, aber als „primus inter pares71“ die Gemeinden des Bundes. Dabei muss der Pastor auf sein persönliches Leben achten und die Beziehung mit Gott im Gebet pflegen72.
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Person vor Augen, die sowohl im Alltag, in der Familie als auch in der Gemeinde stimmig lebt.“ Ebenfalls lesen wir unter 3.2.2 als Voraussetzung der Berufung zum Pastorendienst: „Zum Pastor des Bundes kann nur berufen werden, wer in Leben, Lehre und Dienst an die Heilige Schrift (Bibel) gebunden ist und der Verfassung und den Richtlinien des BFP zugestimmt hat.“ Punkt 1.4 könnte hier mitgemeint sein, wobei der Bezug auf den Heiligen Geist fehlt. Bezüglich des notwendigen Begabungsprofils werden folgende Begabungen aufgeführt: „Leitungsfähigkeit in Hirtengesinnung, Verkündigungsgabe, geistliche und administrative Verwaltungsverantwortung, Gabe, andere zu fördern und zu befähigen.“ So steht unter 1.5.1, dass die Pastoren: „ein team- und gabenorientiertes Selbstverständnis“ haben und „sie sich als gegenseitig ergänzende Glieder an einem Leib verstehen.“ Auch aus 2.2.4 ersichtlich. Interessant ist unter Punkt 2.2 der dreifache Aufruf zum Gebet: Gebet als persönliche Gemeinschaft mit Gott, Gebet für die Gemeinde und Gebet und Gemeinschaft mit den anderen Leitern der Gemeinde. Dies erinnert stark an die Ermahnung des
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Bevor wir nun ein Fazit zu den Ergebnissen ziehen, soll hier noch eine Beobachtung bezüglich der Begrifflichkeiten festgehalten werden. Im Pastorenleitbild von 2004 lesen wir von dem Pastorendienst73. Die einzige Stelle, in welcher der Amtsbegriff vorkommt, ist 3.6.2 in Bezug auf das Ausscheiden aus dem Dienst. An dieser Stelle ist Folgendes zu lesen: „Der Pastor scheidet damit auch aus allen Ämtern im Bund und in der Region aus.“ In den Richtlinien von 2007 lesen wir von geistlichen Leitern der Gemeinde und die Ordination wird als „Einsegnung zum Dienst“74 verstanden. Wir lesen unter 3.4.1: „Alle persönlichen Mitglieder des BFP erhalten einen Amtsausweis ...“75. Weiter lesen wir in 6.1.4 vom Amt des Regionalleiters und in 8.1 wird von einer Amtsperiode des Vorstandes gesprochen. Generell kann man bezüglich dieser zwei Dokumente aber festhalten, dass der Amtsbegriff sehr spärlich vorkommt. In Bezug auf den ordinierten Pastor ist von Dienst und nicht von Amt die Rede. In der Verfassung des BFP aus dem Jahre 2010 hat sich offensichtlich ein begrifflicher Wandel vollzogen, denn die Pastoren werden hier als „geistliche Amtsträger“76 bezeichnet. Dieser Wandel ist umso auffallender, wenn die Verfassung im Kontext des Pastorenleitbildes und der Richtlinien gelesen wird77. Der Amtsbegriff wird in diesen drei Dokumenten zwar aufgegriffen, inhaltlich aber nicht weiter definiert.78
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Paulus an die Ältesten in Ephesus (Apg 20,28). Vgl. BFP 2004 (:1.; 2.; 3.). Vgl. BFP 2007 (:2.1.2; 3.2.2). Interessant ist, dass dieser Ausweis im Pastorenleitbild als Dienstausweis (:3.3) bezeichnet wird. Hier wird von der Ausbildung „geistlicher Amtsträger“ (:3.1) gesprochen und Pastoren werden als „geistliche Amtsträger“ (:4.4; 7.1) bezeichnet. Interessanterweise ist hier aber wiederum von einem Dienstausweis (:4.6) und nicht von einem Amtsausweis die Rede. Natürlich kann man sich hier die Frage stellen, ob und inwieweit sich durch diesen Wandel auch das Verständnis des Pastorendienstbildes an sich verändert hat. Dies kann durch diese Arbeit nicht beantwortet werden, da dafür Feldstudien nötig wären, die durch qualitative und/oder quantitative Interviews wissenschaftlich auswertbare Ergebnisse liefern (zur Methodik vgl. Flick). Vgl. Anhang Leitungsstruktur im BFP und Organigramm (A.1/A.2).
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2.2.3 Fazit Aus der Reflexion der oben genannten Dokumente ergibt sich folgendes Bild in Bezug auf die Fragestellung (vgl. 1.1): • Ein hierarchisches Verständnis des Dienst- bzw. Amtsbegriffs wird durch die Betonung des allgemeinen Priestertums verneint, wobei es sehr wohl unterschiedliche Kompetenzbereiche auch auf der Leiterschaftsebene gibt (z. B. geschieht die Zustimmung zur Ordination und der Vollzug der Ordination auf der Präsidiumsoder Bundesratsebene). • Der Charismabegriff wird nicht explizit verwendet oder reflektiert, kommt aber durch die Ausführungen zum Vorschein. Denn zum Leitungsdienst sind entsprechenden Begabungen notwendig. Diese Begabungen müssen vorhanden sein, sichtbar werden und durch die Bruderschaft bestätigt werden. • Der Charakter des Pastors muss der Berufung entsprechend integer sein. Hier wird auf 1Tim 3,1ff. und Tit 1,5ff. verwiesen. Somit muss die Begabung zum Dienst mit dem Charakter des Berufenen einhergehen. Dabei wird keine Gewichtung zwischen Charisma und Charakter vollzogen, beides ist für den Pastorendienst essentiell. • Der Pastorendienst wird auf derselben Ebene eingestuft wie der Ältestendienst und ist somit ein Leitungsdienst im Team. Der Pastor wird in der Ältestenschaft als der primus inter pares gesehen. • Der Amtsbegriff wird vor allem in der Verfassung von 2010 verwendet. Im Pastorenleitbild (2004) und den Richtlinien (2007) wird er spärlich verwendet, hier dominiert die Begrifflichkeit des Pastorendienstes. In keinen dieser Dokumente wird der Amtsbegriff definiert. • Unter dem Pastorendienst wird ein Leitungsdienst verstanden, der die in 1Kor 12,28 und Eph 4,11ff. enthaltenen Dienstgaben mit einschließt. Somit wird hierbei kein Widerspruch zwischen den „charismatischen Leitern“ (Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer) aus 1Kor 12,28, Eph 4,11ff. und den Episkopen und Presbytern der Pastoralbriefe gesehen. Daraus schließe ich, dass eine Entwicklung von einer eher charismatischen Struktur hin zu einer eher amtlichen Struktur nicht vertreten wird. Dies entspricht wiederum der oben aufgeführten These 2. Überblick unterschiedlicher Positionen | 77
Auszug aus:
Stimmt’s noch? – Wie mein Dienst wieder Schärfe gewinnt Verschiedene Bereiche von Mitarbeit und Leiterschaft unter die Lupe genommen von Matthias C. Wolff
FThG – Material zum geistlichen Dienst: Band 20
© 2014 Copyright Forum Theologie & Gemeinde (FThG) im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden KdöR, Erzhausen ISBN der Printausgabe: 978-3-942001-70-0 ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-942001-26-7
Stimmt’snoch?–WiemeinDienstwiederSchärfegewinnt – vonMatthiasC.Wolff | 79
II. Segeln: „Wie leite ich?“ – Der Leiter mit einem Ziel vor Augen Über auftragsbestimmte Leitung und den richtigen Kennerblick Häufig sieht man sie nicht mehr: große Segelschiffe, die Hunderte von Quadratmetern Leinwand über drei, vier oder sogar fünf Masten in den Wind halten. In Hamburg zählt die Segelschiffparade beim alljährlichen Hafengeburtstag zu den besonderen Attraktionen. Vor 150 Jahren führten diese Segler ihren letzten Kampf in Konkurrenz mit der neu aufkommenden Dampfschifffahrt. Weite Strecken unabhängig vom Wind zurücklegen zu können, das war der Traum vieler Reeder, deren Gewinne bislang immer auch von den Launen des Windes abhängig waren. Wie bei jeder neuen Technologie kam es zu einem Aufbäumen der bisherigen Industrie. Die Kapitäne und Werftbesitzer für Segelschiffe wollten beweisen, dass ihr Schiffstyp überlegen und jeder Herausforderung der Zukunft gewachsen war. So wurden die Masten höher, die Rahen breiter, die Rümpfe schlanker, die Materialien stabiler und die Schiffe schneller – viel schneller, als man es bei Segelschiffen bisher für möglich gehalten hatte. Ein neuer Schiffstyp entstand, der „Klipper“. Tatsächlich konnten diese Schiffe, entsprechenden Wind vorausgesetzt, Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 18 Knoten erreichen und damit die frühen Dampfschiffe hinter sich lassen. Klipper wurden vor allem für weniger haltbare Waren eingesetzt, die schnell ihren Bestimmungsort erreichen sollten. Chinesischer Tee war damals ein wertvolles Luxusprodukt, für das in Europa hohe Preise erzielt wurden. Aus wirtschaftlicher Notwendigkeit wurde sportliche Herausforderung. Besondere Aufmerksamkeit galt dem Schiff, das mit dem ersten Tee der neuen Ernte den Hafen von London erreichen würde. Auf Kapitän und Mannschaft wartete ein Extrabonus aus dem teuren Verkauf der frischen Ware. Zudem konnten – noch heute typisch für Engländer! – Wetten mit hohem Einsatz abgeschlossen werden. Überblick unterschiedlicher Positionen | 81
Berühmt wurde das „Große Teerennen von 1866“1. Die britischen Teeschiffe „Taeping“ und „Ariel“2 verließen den Hafen von Futschau in China zur selben Zeit am 30. Mai. Ihr Ziel war London – 25.750 km entfernt. Die „Taeping“ erreichte das Ziel nach 102 Tagen nur 20 Minuten vor der „Ariel“ und ca. 90 Minuten vor der ebenfalls am 30. Mai gestarteten „Serica“. Über drei Monate waren diese Schiffe in Sichtweite gesegelt. Man kann sich vorstellen, wie die Mannschaften auch noch den letzten Fetzen Leinwand irgendwie in den Wind gehalten haben, um einen klitzekleinen Vorsprung zu gewinnen. Die Anspannung muss hoch gewesen sein, und das über einen so langen Zeitraum.
»» Die Gemeinde – ein Segelschiff Ein Segelschiff ist ein gutes Bild für eine Gemeinde. Der Antrieb kommt nicht aus eigener Kraft, sondern vom Wind des Heiligen Geistes. Es kommt nicht darauf an, selbst viel Wind zu machen, sondern die Segel richtig in den Wind zu stellen. So wirken Gottes Handeln und menschliche Verantwortung zusammen. Der Vielzahl von Segeln entspricht die Vielzahl an Gaben. Wer nicht gerade Seemann ist, steht ratlos vor dem Gewirr von Groß-, Fock-, Top-, Klüver-, Mars- und Was-weißich-noch-Segeln an den Masten eines Klippers. 60 bis 70 einzelne Segel werden gespannt, um den Wind in optimaler Weise auszunutzen. Um vorwärtszukommen würden auch weniger reichen. Doch um zur Höchstform aufzufahren, muss jedes Segel gesetzt sein – jedes. Das Gleiche gilt für die Gemeinde. Sie kann auch stattfinden, wenn nur wenige die Arbeit tun. Sie wird auch laufen, wenn viele passiv dabei sind. Doch wenn sie in ihre Bestimmung hineinkommen will, dann muss jeder sich beteiligen. Es kommt auf jeden Mitarbeiter an. Keine Gabe ist entbehrlich. Bei einem Schiff gibt es große und kleine Segel. Manche tragen mehr, manche weniger zum Fortkommen des Schiffes bei. Ebenso ist es mit den verschiedenen Diensten in einer Gemeinde. Nicht jeder Dienst hat das gleiche Gewicht. Doch jeder einzelne ist bedeutungsvoll, wenn es darum geht, die Gemeinde zur Entfaltung ihres vollen Potenzials zu bringen. 1 2
http://de.wikipedia.org/wiki/The_Great_Tea_Race_of_1866, 22.7.2010. http://en.wikipedia.org/wiki/Ariel_(clipper), 22.7.2010.
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Das ist die Herausforderung der Leiterschaft. Wenn die Bibel die Gemeinde mit einem Leib vergleicht, dann hängt die Gesundheit davon ab, dass alle Organe und Glieder richtig funktionieren. Wem es gelingt, nicht nur selbst fleißig zu arbeiten, sondern auch die Mitchristen zur Entdeckung ihrer Gaben und zur Entfaltung ihres Potenzials zu bringen, der kann seinen Einfluss als Leiter vervielfältigen. Die Gemeinde transportiert etwas Wertvolleres als chinesischen Tee. Sie umfasst Menschen, die einem Ziel entgegenlaufen. Mit dem Wind des Heiligen Geistes kann sie rechnen. Doch die Segel in den Wind Gottes zu halten, das bleibt die Verantwortung der Christen. Wer als Leiter dient, hat hier eine große Herausforderung vor sich.
»» Was zu guter Leitung gehört Einige Merkmale sind für alle Leiter wichtig, egal, in welcher Situation sie sich befinden. Es gibt Kennzeichen, die einen Leiter auszeichnen und an deren Entwicklung er arbeiten muss. Diese Aussage macht schon deutlich, dass Leitungsqualitäten nicht nur Schicksal sind; man kann es oder man kann es eben nicht. Sicherlich spielt Persönlichkeitstypus und Begabung eine Rolle, nicht zuletzt auch die Gaben, die Gott in einen Menschen hineingelegt hat. Aber in den Gaben gibt es ein Wachstum und im Leben ein ständiges Dazulernen. Leiterschaft ist eine Kunst, die mit Fleiß und Einsatz entwickelt und verfeinert werden kann. Im Folgenden sollen einige Elemente gezeigt werden, die zu guter Leitung gehören.
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Gute Leiter beweisen Weitblick
Leiter sehen in die Zukunft. Sie haben ein Bild vor Augen, das sie antreibt und andere begeistert. Sie halten nicht nur den Kopf hoch und den Betrieb am Laufen. Ihnen reicht es nicht, wenn alles gut läuft und jeder freundlich mitmacht. Der Leiter schaut nach vorne und arbeitet für Fortschritt und Entwicklung in seinem Werk. Die Vision einer wachsenden Gemeinde dürfte der Traum eines jeden Pastors sein. Oder etwa nicht? Man kann sich auch mit der Verwaltung des Mangels abfinden und den Trend des Niedergangs für unausweichlich Gute Leiter beweisen Weitblick | 83
halten. „Wir erwarten keine Trendwende“. Wenn ein Bischof das über seine Kirche sagt, dann wirkt es so, als hätte er aufgegeben. Es mag ja stimmen, dass Deutschland momentan nicht das beste Klima für Bekehrungen und Gemeindewachstum bietet. Es ist auch kein Zeichen von Glauben, sich diesen gesellschaftlichen Trends zu verschließen. Aber so lange es noch Menschen gibt, die Jesus Christus nicht kennen, so lange noch weite Teile der (neu eingewanderten) Bevölkerung eine Vorstellung vom christlichen Glauben haben, die über gelegentliche Medienberichte oder Spielfilmsequenzen nicht hinausgeht, so lange gibt es noch einen riesigen Markt – oder sollte man lieber vom Erntefeld sprechen? – der auf das glaubwürdig gelebte christliche Zeugnis wartet. Leiter setzen sich mit Hoffnung dem Pessimismus entgegen. Sie sehen da Chancen, wo andere Gefahren sehen. Sie klagen nicht über den Verfall der Moral, sondern sehen die Menschen auf der Suche nach neuer Orientierung. Sie stöhnen nicht über den Niedergang der Kirchen, sondern suchen nach neuen Wegen, den Menschen die einzigartige Botschaft des Evangeliums in der Sprache der Gegenwart nahezubringen. Sie maulen nicht über die Beliebigkeit der Postmoderne, sondern erkennen hinter aller Gleichgültigkeit und Relativität die bleibenden Fragen nach einem festen Grund für das eigene Leben. Des Menschen Suche nach Sinn und Bedeutung ist nicht zu Ende. Sie ist nur anders getönt. Ob das Christentum in Deutschland vor einer Renaissance steht, kann bestenfalls eine prophetische Aussage sein. Doch es wird Zeit, die Chancen zu sehen, die auch der gegenwärtige Trend bietet. Wir leben in der schlimmsten aller Zeiten – zumindest in geistlicher Hinsicht. Diesen Eindruck bekommt man, wenn man manche Menschen reden hört und Einschätzungen über die Entwicklung des Christentums in unserem Lande folgt. Wirklich? Wenn unsere Großväter das gesagt hätten, als ihnen die braune Brühe bis zum Hals stand und selbst viele Kirchen die Wahrheit des Evangeliums kompromittierten – aber wir? Wenn unsere Ahnen im 17. Jahrhundert das empfunden hätten, als ein nicht enden wollender Religionskrieg ganze Gegenden entvölkerte und Landstriche für Generationen verwüstete – aber wir? 84 | Stimmt’s noch? – Wie mein Dienst wieder Schärfe gewinnt
Wenn jene Männer das gedacht hätten, die vor über 1.000 Jahren in den dunklen Wäldern Germaniens auf ein wildes, unkultiviertes und streitlustiges Volk stießen, ängstlich und abergläubisch im Dienste ihrer kriegerischen Götter – aber wir? Manchmal entsteht der Eindruck, „früher“ sei alles besser gewesen. Die Männer waren stärker, die Frauen schöner, die Kinder gehorsamer und das Wetter besser. Es wird Zeit, den Blick nach vorne zu wenden. Jede Epoche hat ihre Chancen und Risiken. Niemals hat es die Welt den Christen leicht gemacht. Kaum mal wurde ein Missionar mit offenen Armen empfangen. Selten sind Menschen bereit, ihre Einstellungen und überkommenen Lebensgewohnheiten einfach in Frage zu stellen. Schon immer musste die christliche Botschaft sich gegen Widerstände behaupten. Königlicher Unwillen, intellektuelle Hochnäsigkeit, bürokratischer Stumpfsinn, religiöse Verbohrtheit, abergläubische Angst, spöttisches Desinteresse – das Kaleidoskop menschlicher Reaktionen auf die göttliche Botschaft ist fast unerschöpflich. Doch gerade hierin zeigt sich die Kraft des christlichen Glaubens. In zahllosen Kulturen, so unterschiedlich sie sein mögen, ist das Christentum heimisch geworden. Trotz vielfältiger Widerstände konnte die Gute Nachricht Menschen erreichen und Herzen verändern. Selbst gegen scharfen Widerstand und Verfolgung hat sich das Evangelium gehalten und den Herzen der Suchenden mitgeteilt, manchmal sogar nicht trotz, sondern wegen der Schwierigkeiten. Der Weg der Kirche unter dem Kommunismus ist dabei genauso faszinierend wie das, was heute aus der islamischen Welt an die Öffentlichkeit dringt. Ein Leiter im Auftrag Gottes lässt sich nicht von den Umständen abschrecken. Schon gar nicht von den Rahmenbedingungen in Deutschland, die immer noch viel besser sind, als unsere Glaubensgeschwister sie in den meisten Ländern der Erde und zu den meisten Zeiten der Geschichte vorgefunden haben. Leiter machen Mut, die Chancen zu wittern, wo andere die Schwierigkeiten sehen, die Gelegenheiten zu erkennen, wo andere den Niedergang beschwören, vor allem den Auftrag Gottes da zu leben, wo die Not der Menschen förmlich danach ruft. Bekannt ist die Geschichte von den beiden Schuhverkäufern, die mit dem Auftrag, neue Absatzmöglichkeiten zu erkunden, nach Afrika Gute Leiter beweisen Weitblick | 85
geschickt werden. „Keine Chance“, telegrafiert der erste nach Hause, „hier trägt man keine Schuhe.“ „Hervorragende Aussichten!“, meldet der zweite. „Hier sind noch alle barfuß!“ Ein blinder Optimismus ist dabei nicht unbedingt hilfreich. Da gibt es die Propheten, die uns immer kurz vor der nächsten Erweckung wähnen. Oder die Experten, die genau wissen, mit welcher Methode, welchen Maßnahmen, welchen Mitteln die Lage im Lande rasch zu wenden wäre. Würden die Christen doch nur mehr beten, mehr bekennen, mehr zeugen, mehr glauben. Gut, wenn der Wunsch nach Wachstum sich jeder Lethargie in den Weg stellt. Immerhin geht es um Menschen, die für Gott wichtig sind. Dennoch gibt es leider eine wachsende Anzahl erschöpfter Christen in unserem Land, die nach all den Appellen und Prognosen, nach all ihrem Arbeiten, Spenden, Beten, Glauben nichts mehr hören wollen, weil sich so viele vollmundige Ansagen als haltlos erwiesen haben. Das Verständnis einer wachsenden Gemeinde – Wer eine Gemeinde leitet, der wünscht sich, dass neue Menschen zum Glauben finden (und die alten trotzdem bleiben). Es gibt eine ganze Reihe erprobter und bewährter missionarischer Methoden, um Menschen für Jesus Christus zu gewinnen. In manchen begegnet uns ein zeitloses Prinzip, in anderen zeigen sich eher Maßnahmen, deren Wirkung auf ein bestimmtes Umfeld beschränkt ist. Nie aber wird Gemeindebau gelingen, wenn nicht diejenigen, die schon Christen sind und dazugehören, ihre Verantwortung wahrnehmen. Ein Grundgesetz beweist sich immer wieder: Eine Gemeinde wächst nicht durch neue Besucher und Mitglieder, sondern durch neue Leiter und Mitarbeiter. Egal, wie viele Evangelisationen wir machen, wie brillant unsere Suchergottesdienste ablaufen, wie vielen Leuten unsere Werbung auffällt – am Ende wächst die Gemeinde doch nur um die Menschen, die wir zu Jüngern machen können, und dazu braucht es Jünger, Mitarbeiter, Leiter. Ein Schwerpunkt unseres Dienstes als Leiter muss daher die Entwicklung von Mitarbeitern sein. Zu viele Pastoren stecken in ihrer Routine und wickeln Amtshandlungen ab. Zu wenigen gelingt es, den Kopf über das Gestrüpp des gerade Notwendigen zu erheben und auf das weite Ziel zu schauen. Doch Wachstum wird nur gelingen, wenn 86 | Stimmt’s noch? – Wie mein Dienst wieder Schärfe gewinnt
man eine Vision davon vermitteln kann und die Multiplikation des eigenen Dienstes Erfolg hat. Die Vision einer gesunden Gemeinde – Dass Zahlen nicht alles sind, das haben wir schon gehört, haben wir uns von Kollegen schrumpfender Gemeinden sagen lassen müssen oder es uns selbst zur Beruhigung zugesprochen. Aber dass hinter Zahlen Namen stehen und dass diese Namen zu Menschen gehören, die Jesus Christus unendlich liebt und am liebsten noch heute unter die zahlreichen anderen ins Lebensbuch einschreiben will, das macht uns klar, wie sehr es doch auf Zahlen ankommen kann. Beides darf man nicht gegeneinander ausspielen. ‚Wir müssen erst mal eine Grundlage legen, dann können wir evangelisieren.‘ Der Grund ist bereits gelegt, und Mission gehört zum Lebensauftrag jedes Christen und jeder Gemeinde. ‚Unsere Kapazität reicht nicht für Outreach!‘ Unsere auch nicht. Wer hat schon Geld und Mitarbeiter übrig? Vielleicht haben sich Prioritäten in die falsche Richtung verschoben. Der Missionsauftrag ist hinter dem inneren Wohlfühlbedürfnis verblasst. ‚Bei uns müssen wir zunächst interne Probleme lösen!‘ Die hat man immer. Man ist in der Gemeinde nie aus dem Gröbsten raus. Gesund ist eine Gemeinde vor allem dann, wenn ihre Lebenskraft andere anzieht. Menschen kommen nicht nur, sondern erleben Veränderung und Erneuerung. Reproduktion ist das Merkmal gesunden Lebens. Tatsächlich ist Gesundheit auch wichtiger als Wachstum, denn eine wachsende Gemeinde ist nicht unbedingt eine gesunde Gemeinde, aber eine gesunde Gemeinde ist (in aller Regel) auch eine wachsende Gemeinde. Wir brauchen als Leiter eine Sicht, was aus der Gemeinde werden soll. Wir brauchen die Schau einer besseren Zukunft für unsere Gemeinde. Wir brauchen den Glauben an Jesus Christus, dass er diese Zukunft möglich macht. Gute Leitung bedeutet Weitblick. – Das bist du deiner Gemeinde schuldig.
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Gute Leiter beweisen Rundblick
Bei Weitblick denken wir an die Zukunft. Ziele stehen uns vor Augen. Das, was wir erreichen wollen, belebt unsere Motivation. Gleichzeitig brauchen Leiter aber auch ein Verständnis dafür, was sie vermeiden wollen. Immerhin hat Leiterschaft auch immer etwas mit Bewahrung und Schutz zu tun. Man darf nicht allein auf die Vision fixiert sein und dabei die Gefahren am Rande übersehen. Gute Leitung bedeutet auch Rundblick, ein umsichtiges Führen mit einem wachen Blick auf Gefahren und Hindernisse.
»» In die richtige Richtung schauen Der Nahostkrieg vom Juni 1967 ging als „Sechstagekrieg“ in die westliche Geschichtsschreibung ein. An seinem Beginn stand ein spektakulärer Angriff der israelischen Luftwaffe auf die ägyptischen Stützpunkte. In den Monaten zuvor war die Kriegsrhetorik des ägyptischen Präsidenten Nasser immer aggressiver geworden. Durchdrungen von seiner panarabischen Einigungsvision brauchte er ein durchschlagendes Erfolgserlebnis, um sich unwiderruflich an die Spitze der arabischen Völker zu setzen und die zögernden Machthaber anderer Araberstaaten, z. T. Feudalherrscher, die durch die Kolonialherren eingesetzt worden waren, auszubooten. Als er die Meerenge von Aqaba, einziger Zugang zu Israels südlichem Hafen, für israelische Schiffe sperrte, war ihm klar, damit einen Krieg zu provozieren. Die militärische Auseinandersetzung entwickelte sich aber innerhalb weniger Stunden zur Katastrophe. Naheliegenderweise waren alle ägyptischen Luftabwehrsysteme gen Osten gerichtet. Dort lag Israel. Von dort wurde der Feind erwartet. Und dort würde man ihn bekämpfen. Doch die israelischen Angriffsflugzeuge flogen zunächst einen weiten Bogen gen Westen über das Mittelmeer, drangen dann von Norden in den ägyptischen Luftraum ein und griffen die Luftwaffenstützpunkte von Westen statt von Osten her an. Die Ägypter waren völlig überrumpelt. Fast die gesamten Luftstreitkräfte wurden am Boden zerstört, ohne auch nur einmal zum Ein-
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satz gekommen zu sein. Ägypten hatte den Krieg verloren, bevor die meisten Ägypter überhaupt gemerkt hatten, dass er begonnen hatte.3 Der Blick in die richtige Richtung kann kriegsentscheidend sein. Wohin blickst du als Leiter und Verantwortungsträger? Manchmal will es scheinen, dass die großen Herausforderungen an vielen Christen vorbeigehen. Da wird diskutiert über Flaggentanz und NewAge-Spielzeug, Frauenordination oder Ökumenismus; da entfalten sich gewaltige Hoffnungen angesichts sportlicher Großereignisse oder einzelner Evangelisationsmaßnahmen; da ereifert man sich manchmal mehr an den Fragen von gestern als an den Herausforderungen von heute. Wissen Leiter, worauf es ankommt? Paulus betet um Liebe und Erkenntnis für genau dieses Ziel: prüfen können, worauf es ankommt (Phil 1,10). Rundblick bedeutet, Gefahren zu erkennen und Chancen zu sehen. Wo liegen die wirklichen Herausforderungen für deine Gemeinde? Finden die Veränderungen durch Säkularisierung, Islamisierung und Bevölkerungsrückgang Eingang in die Gemeindestrategie? Finden Christen Antworten auf die neuen sozialen Fragen von Migration und Bildungsarmut? Werden die wirklichen Gefahren erkannt, die christliche Gemeinden in unserer Zeit unter Druck bringen? Wieso wird immer noch so viel gegen Gesetzlichkeit geschossen, wo die Anpassung doch viel mehr zum Verschwinden von Christen aus den Kirchen beiträgt? Wo sind gesellschaftliche Trends, die unsere Gemeindearbeit begünstigen werden? Aber auch: Was könnte unserer Arbeit schaden oder unseren Mitgliedern gefährlich werden? Wo passieren geistliche Aufbrüche, wo führen gute neue Ideen zu Gemeindewachstum oder Glaubensfortschritt? Und: Wie verhindere ich Einseitigkeit oder Methodengläubigkeit in meiner Arbeit? Ein rundblickender Leiter nimmt die Entwicklungen und Strömungen in seiner Umgebung wahr. Er erkennt, worauf die Gemeinde sich einstellen muss und bereitet seine Mitarbeiter darauf vor. Er verschreibt sich auch nicht einem Erfolgsmodell, das sich woanders unter ganz anderen Umständen bewährt hat, sondern er bringt die Breite der biblischen Prinzipien in seinem Dienst zur Anwendung. Gerade von einem vollzeitlichen Leiter wird 3
Konzelmann, Gerhard.
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etwas von der Umsicht erwartet, die ein Schäfer für seine Schafe hat. Er nutzt seine Zeit auch, um sich einen Überblick zu bewahren, den das einzelne Gemeindemitglied oft gar nicht gewinnen kann. Nicht zuletzt spielt das Thema falscher Lehren oder theologischer Irrtümer eine Rolle. Die leichte Zugänglichkeit durch Internet, Zeitschriften oder Bücher spült manch eine exotische Strömung ehe man sich versieht an den Strand der Gemeinde und verwirrt Christen, weil es sich zunächst gut anhört oder Erfolg verspricht. Hier ist das Urteilsvermögen eines Leiters gefragt, problematische Inhalte zu erklären, Verführungen zu demaskieren und Menschen vor Fehlentscheidungen zu bewahren.
»» Demotivation verhindern Die Frage nach dem Rundblick betrifft nicht nur die äußeren Faktoren im Umfeld einer Gemeinde oder eines Werkes. Es ist auch wichtig, das Arbeitsumfeld des einzelnen Mitarbeiters im Auge zu behalten. Denn auch hier können sich Entwicklungen ergeben oder Unzufriedenheiten aufbauen, die sich am Ende auf das Beziehungsklima oder die Arbeitsproduktivität auswirken. Gute Leiter wissen, wie sie ihren Mitarbeitern ein qualitätsfähiges Umfeld schaffen und demotivierende Faktoren von ihnen fernhalten. Man spricht hier von Hygienefaktoren.4 Gemeint sind extrinsische Effekte, die die Arbeitsunzufriedenheit beeinflussen. Sie unterscheiden sich von den sogenannten Motivationsfaktoren, die von innen kommen müssen und die Arbeitszufriedenheit prägen. Motiviert ist ein Mitarbeiter von selbst und durch die Arbeit, die er tun darf, die Verantwortung, die er trägt, und den Erfolg, den er erntet. Es kann nicht Aufgabe eines Leiters sein, Leute durch ständiges Motivieren oder Loben bei der Stange zu halten, so gut und wichtig das auch ist. Insofern kann Loben auch abhängig machen von Menschen und Stimmungen. Wenn jemand nicht von innen heraus motiviert ist, Spaß an seiner Arbeit hat und den Blick für die Vision teilt, dann wird auch motivierende Personalführung diesen Mangel nicht heilen können. Bestenfalls und immer nur vorübergehend wird sie ihn übertünchen 4
Herzberg, Frederick [1968] 2003. Was Mitarbeiter in Schwung bringt. In: Harvard Business Manager 4/2003, S. 50ff.
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können. Leiteraufgabe ist es also weniger, unentwegt zu motivieren, als Demotivation zu verhindern. Das geschieht durch einen wachen Blick in Umfeld und Situation der Mitarbeiter. Was macht ihm Freude? Was tut sie gerne? Wo blühen sie auf? Und auf der anderen Seite stehen die Fragen nach der Demotivation. Was bereitet ihr Frust? Was hindert den Mitarbeiter an guten Leistungen? Wofür muss ich sorgen, damit die Begeisterung nicht leidet? Das erfordert Umsicht. Dadurch kann ein Leiter verhindern, dass seinen Mitarbeitern die Motivation abhandenkommt. In manchen Situationen ist es wichtig zu differenzieren, ob es sich um einen Motivationsfaktor oder Hygienefaktor handelt. Wie ist es z. B. mit Geld und Gehalt? Die meisten Menschen tun ihre Arbeit gerne und nicht wegen des Geldes allein. Eine Gehaltserhöhung wirkt nur für etwa zwei Wochen als neue Motivation. Zu wenig Geld wirkt aber ständig demotivierend. Geld ist also ein Hygienefaktor. Ähnlich auch das Verhältnis zum Vorgesetzten. Ist es schlecht, dann demotiviert das, ist es gut, führt das noch lange nicht zu besseren Leistungen.
»» Leiter brauchen Froschaugen Ein Froschauge steht nicht gerade für Scharfblick. Froschperspektive gilt als eng. „Ich wünsche dir Froschaugen!“, wäre kein Kompliment. Es ist Zeit, die Augen des Frosches theologisch zu rehabilitieren. Das optische Wahrnehmungsfeld eines Frosches ist wie eine leere Tafel. Der Frosch nimmt darauf nur die Dinge wahr, die ihn unmittelbar etwas angehen, etwa seine natürlichen Feinde oder die Nahrung, die er zum Überleben braucht. Anderes entgeht seiner Aufmerksamkeit. So wird ein Frosch niemals durch unwichtige Dinge abgelenkt. Stattdessen nimmt er immer sofort wahr, was bedeutungsvoll oder gefährlich für ihn ist. Der Vergleich mag wenig schmeichelhaft sein, und doch trifft er zu. Leiter brauchen Froschaugen!
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Gute Leiter beweisen Einblick
Gemeint ist hiermit eine realistische Sicht der eigenen Möglichkeiten. Leiter gewinnen, wenn sie die eigene Kraft und die ihrer Gemeinde richtig einschätzen können. Es ist wichtig, die eigene Kraft und die eigenen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen. Manchmal gewinnt man den Eindruck, Gott solle durch möglichst hochfliegende Ziele beeindruckt werden. Doch Gott wird durch Glauben geehrt, nicht durch Erweckungsrhetorik oder Wunschträume. Wer sich ihm zur Verfügung stellt, der wird erleben, wie Gott ihn ausstattet und gebraucht. Der Blick auf andere kann motivieren, der Bericht aus anderen Orten kann inspirieren, doch darf das nicht zu Nachahmung und Fehleinschätzung der eigenen Möglichkeiten verleiten. „Unser Maßstab ist der Wirkungskreis, den Gott uns zugemessen hat“, schreibt Paulus im Zusammenhang mit seinen Reise- und Dienstplänen (2Kor 10,13). Um große Pläne war er nie verlegen. Doch hat er lernen müssen, dass nicht alle seine Ideen auch Gottes Ideen waren. Gott hat ihm einen Wirkungskreis zugeteilt, ihn mit bestimmten Gaben ausgestattet und mit einem besonderen Maß des Glaubens versehen (siehe 1Kor 12-14, Rö 12,3). Er konnte nicht alles tun oder erreichen, nur weil er als Christ und Apostel im Namen des Herrn unterwegs war. Wenn wir schnell voraussetzen, das, was wir planen, wird gewiss schon in Gottes Interesse liegen – wieso sollte er da nicht Gelingen schenken? – dann mag uns überraschen und sogar enttäuschen, wenn sein Segen wider Erwarten ausbleibt. Manche beginnen an dieser Stelle mit Gott zu hadern. Andere werden misstrauisch gegenüber Gott. Im schlimmsten Fall erleiden Christen im Glauben Schiffbruch. Zu viele Menschen haben sich von Gott abgewandt, nicht, weil er ihnen etwas Schlechtes getan hätte, sondern weil er die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt hat. Wie viele Ent-täuschungen hätten vermieden werden können, wenn ein gesunder Einblick in Gottes Willen und unsere Möglichkeiten uns vor überhöhten Erwartungen geschützt hätte?5 Über den Erfolg unseres Dienstes und unseres Lebens entscheidet nicht die 5
Mehr zu diesem Thema gibt es vom selben Verfasser in: Voller Einsatz, Neukirchen 2010.
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Kühnheit unserer Pläne, sondern unsere Berufung und unsere Stellung in Jesus Christus. Was er uns aufträgt, das können wir ausführen; was er uns schenkt, das können wir anwenden. Es ist kein Zeichen fehlenden Glaubens, eine realistische Sicht von sich selbst zu haben.
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Gute Leiter beweisen Aufblick
Früher war es der Polarstern. Im Zeitalter der Satellitennavigation in fast jeder Hosentasche gerät leicht in Vergessenheit, was für ein Abenteuer Standortbestimmung und Richtungsfindung früher auf See – und nicht nur da – bedeutete. Kein Wunder, dass man zuerst nur in Sichtweite der Küsten segelte (terrestrische Navigation). Die Phönizier waren die Ersten, die sich aufs offene Meer wagten und anhand der Sterne ihren Weg suchten (Astronavigation). Der Polarstern eignete sich als Ortungsmarke deswegen besonders, weil er seine Position am nördlichen Sternenhimmel so gut wie nicht verändert, während andere Sterne und Bilder über den Himmel wandern und manche zu bestimmten Jahreszeiten auch gar nicht zu sehen sind. Eine klare Sicht nach oben ist nicht nur für den vormodernen Seefahrer wichtig. Jeder christliche Leiter braucht ihn auch. Fixstern alles Handelns ist Jesus Christus. Wenn sich das Universum des Leiters um etwas anderes dreht als um ihn, dann gerät es vom Kurs ab. Wer sich an etwas anderem orientiert als an ihm, der wird vom richtigen Weg abweichen. Die Mitte im Leben eines Leiters ist seine Beziehung zu Jesus. Dabei muss ständig nachkorrigiert werden. Während man tagsüber den Polarstern nicht sehen kann, wenn bedeckter Himmel ihn auch des Nachts verhüllt, wenn aus irgendeinem Grund vorübergehend keine Ortung möglich war, dann kann es zu Abweichungen vom Kurs kommen, unbemerkt und ungewollt. Man hat nicht am Ruder gedreht, kein Segel verstellt und Experimente unterlassen. In bester Absicht hat man versucht, den Kurs beizubehalten. Dennoch kann es leicht zu Divergenzen kommen. Man versuche nur mal, mit geschlossenen Augen auf freier Fläche geradeaus zu gehen. Ist die Positions- oder Kursbestimmung bei nächster Gelegenheit wieder möglich, fällt diese Gute Leiter beweisen Aufblick | 93
Veränderung auf und erfordert eine Kurskorrektur. Nicht anders ist es in Leben und Dienst. Der Kurs ist eingestellt, die Richtung stimmt, die Segel sind gesetzt und der Wind weht. Wir arbeiten und handeln, planen und setzen um. Kein Navigator starrt ununterbrochen auf den Polarstern. Und wir, geben wir es ruhig zu, haben unsere Augen eben auch nicht pausenlos auf Jesus Christus gerichtet. Mal hängen sie an den Menschen, die uns beschäftigen, mal an dem Projekt, das wir vorantreiben. Die Arbeit entwickelt ihre eigene Dynamik und beansprucht unsere Aufmerksamkeit. Mal sind es Wolken der Sorge oder die Nacht der Verzweiflung, die uns den Blick rauben. Deshalb sind Pausen nötig. Nicht nur zum Erholen oder Regenerieren, sondern auch zum Aufblicken „zu Jesus Christus, dem Anfänger und Vollender unseres Glaubens“ oder „dem Wegbereiter, der uns ans Ziel vorangegangen ist“, wie die Neue Genfer Übersetzung es ausdrückt (Hebr 12,2). Dabei geht es nicht nur um die Bewertung unserer Maßnahmen, ob wir immer noch das Richtige richtig machen. Vor allem muss die persönliche Haltung vor Gott stimmen. Die Gewissheit seiner Berufung; das Leben in seiner Gnade; das Wissen um unsere Abhängigkeit von ihm. Auch die kritische Frage ist erlaubt, ob wir immer noch sein Reich und nicht vielleicht unser Fürstentum bauen. Christlicher Dienst kann viele Gesichter haben. Was wir tun, wie wir es tun und ob es funktioniert, sagt uns nichts darüber aus, ob wir noch richtigliegen. „Haben wir nicht in deinem Namen …“, beginnt die Selbstrechtfertigung des erfolgreichen Jüngers, als er merkt, dass er zwar die oberste Sprosse erklommen hat, die Leiter aber an der falschen Wand steht. Jesus kennt am Ende nur die, die in demütiger Haltung die Abhängigkeit von ihm bewahrt und seinen Willen umgesetzt haben. Dieses Jesus-Wort – sicherlich eines der unangenehmsten – erinnert somit daran, dass Glaube und Gehorsam wichtiger sind als alle Resultate und Erfolgsbilanzen (Mt 7,22-23). Wer aufblickt zu Jesus, der bleibt in seinem Leben auf Kurs. Auch in seiner Arbeit für Gott. Von dieser Mitte aus gelingt es ihm, seine Lebensprioritäten im Gleichgewicht zu halten. Es gibt nur einen, der uns jederzeit zurechtbringen kann – Jesus Christus. 94 | Stimmt’s noch? – Wie mein Dienst wieder Schärfe gewinnt
Zurück zum Bild: die Gemeinde – ein Segelschiff. Setzt die Segel! Ein guter Kapitän schafft es, alle Segel zu setzen. Jedes Mitglied, jeder Dienst ist ein Segel. Wer nicht dient, hat sein Segel gerefft; das Schiff wird langsamer. Doch wenn alle Segel gehisst sind und auch richtig im Wind stehen, kann das Schiff sein volles Potenzial entfalten und Höchstleistungen sind möglich. Gut, wenn einer Gemeinde das gelingt.
Übersicht zu Kapitel II – Segeln: „Wie leite ich?“ – Der Leiter mit einem Ziel vor Augen
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Über auftragsbestimmte Leitung und den richtigen Kennerblick 1. Gute Leiter beweisen Weitblick. 2. Gute Leiter beweisen Rundblick. 3. Gute Leiter beweisen Einblick. 4. Gute Leiter beweisen Aufblick.
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Vier Punkte, die zu persönlichen Fragen herausfordern • • • •
Welches Bild kannst du den Menschen in deinem Leitungsumfeld vor Augen malen? Wie behältst du die Übersicht für dein Werk und deine Mitarbeiter? Wie bewahrst du einen realistischen Blick für deine Arbeit und deine Möglichkeiten? Wie schärfst du deinen Blick für den Auftrag Gottes?
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