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Interview: Andrey Kaydanovskiys großer Schritt

Andrey Kaydanovskiys großer Schritt

ANDREY KAYDANOVSKIY PROBENFOTO “JOLANTHE & DER NUSSKNACKER” © WIENER STAATSBALLETT/ASHLEY TAYLOR

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Lieber Andrey Kaydanovskiy, Sie haben mit Ende der Saison den großen und diesmal endgültigen Schritt vom Tänzer zum Choreographen gemacht. Ich mache diesen Schritt schon zum zweiten Mal, weil ich bereits seinerzeit mit Manuel Legris während seiner Direktionszeit darüber gesprochen habe. Der Spagat zwischen aktivem Tänzer im Ensemble und freischaffendem Choreographen war damals zu groß, sodass ich mich entschlossen hatte den Compagnie-Platz nicht zu halten, um mich 100-prozentig auf die Choreographie zu fokussieren.

2020 kam mit dem Direktionswechsel zu Martin Schläpfer ein neuer Versuch, die richtige Balance zu finden. Jedoch ist in der Corona-Situation die Termin-Planung als Tänzer-Choreograph sehr schwierig geworden, weil sich alle Projekte verschoben haben, und es ist auch für Martin Schläpfer dieser Spagat zu groß geworden. Somit war für mich nun der endgültige Schritt vom Tänzer zum Choreographen logisch! Ich habe diesen Schritt ja seit 2009 vorbereitet, als ich meine Debüt-Choreographie “3 Unbekannte” bei “choreo.lab 09”, der Jungchoreographenschiene des Ballettclub Wiener Staatsoper & Volksoper, gezeigt habe – im Endeffekt war es also ein sehr sanfter Übergang! Aber trotzdem: dieser Cut zum Schluss, auf der Bühne zu sein und zu verstehen: das ist jetzt meine letzte Vorstellung – oder kurz davor: an diesem Datum findet meine letzte Vorstellung mit dem Wiener Staatsballett statt, das ist so, wie zu wissen, wann man stirbt! Man glaubt zwar, dass man sich darauf vorbereiten kann, aber im Endeffekt ist es ein “Click” – und aus! Dieser endgültige Schritt ist für jeden Tänzer schwer. Vor allem, wenn man zwar zu tanzen aufhört, aber nicht deshalb, weil man nicht mehr tanzen kann,

sondern weil es sich zeitlich nicht ausgeht! Ich weiß zumindest nun, dass ich mich nicht kaputt gemacht habe in meiner Tanzkarriere – ich habe einfach nur getanzt!

Was ich bei meinem Tänzerabschied verloren habe, ist mein künstlerisches Zuhause – die Bühne, die für mich das Zuhause ist, und wo ich mich vor der Realität verstecken kann! Ich fühle mich am meisten auf der Bühne frei, weil da kann ich Gefühle zeigen, da kann ich schreiben, sterben – einfach alles. Dort ist das okay und wird akzeptiert – in der Realität nicht mehr, da wird es nicht akzeptiert, wenn man schlecht drauf ist.

Mein Zuhause war die Wiener Staatsoper, denn dort ist meine erste, letzte und einzige Ballettcompagnie. Das war mein Zuhause bereits von der Ballettschule an. Ich war in der Schule und wusste, wo ich tanzen will! Dann war ich in dieser Compagnie und auf dieser Bühne, und dort habe ich meine Tanzkarriere auch beendet. Ich habe einige Direktoren erlebt – die Zeit, in der ich künstlerisch gewachsen bin, war unter Manuel Legris. Auch wenn ich meine ChoreographieProjekte bereits an anderen Bühnen gemacht habe, habe ich immer gewusst: ich komme zurück in die Wiener Staatsoper, in mein Zuhause, und werde dort wieder auf der Bühne sein!

Das Wiener Staatsballett ist sowohl an der Wiener Staatsoper als auch an der Volksoper Wien zuhause. Dort werden Sie die Uraufführung von “Jolanthe & der Nussknacker” gemeinsam mit der neuen Direktorin der Volksoper, Lotte de Beer, kreieren. Kann man es als “Crossover-Projekt” von Piotr I. Tschaikowskis Oper “Jolanthe” und seinem Ballett “Der Nussknacker” bezeichnen? J-ein! Im Grunde ist es die Geschichte der blinden Prinzessin Jolanthe – also grundsätzlich die Oper “Jolanthe”. Und “Der Nusskacker” ist die Seite, die man in der Oper “Jolanthe” nicht zeigt – die Welt von Jolanthe, die nur sie sieht! Sie sieht zwar die Realität nicht, aber sie hat trotzdem ihre Welt, ihr inneres Auge – und die zeigen wir mit “Nussknacker”. Die Geschichten verschränken sich ganz logisch – wie im Leben: Man hat immer Momente, in denen man in sich geht und sich vor der Realität versteckt.

Wie funktioniert das musikalische Verschränken der beiden Werke von Piotr I. Tschaikowkski?

IN “DON QUIXOTE”

IN “LA FILLE MAL GARDÉE”

IN “LA SYLPHIDE” MIT DAVIDE DATO IN “SKEW-WHIFF”

MIT JAKOB FEYFERLIK IN “PEER GYNT”

MIT REBECCA HORNER IN “CACTI”

MIT NINA POLÁKOVÁ IN “CONTRA CLOCKWISE WITNESS” ALLE FOTOS AUF DIESER SEITE © WIENER STAATSBALLETT/ASHLEY TAYLOR

Das Stück beginnt mit “Nussknacker” – mit Jolanthes Welt. Und dann springen wir in die Realität mit der Musik der Oper “Jolanthe”. Das Arrangement haben der neue Musikdirektor der Volksoper Wien, Omer Meir Wellber, und Lotte de Beer gemeinsam vorbereitet.

Mit dem musikalischen Arrangement ist auch das Libretto vorgegeben? Ja, Lotte de Beer wusste von Anfang an, wohin die Reise geht. Somit ist es fast so, dass sie für die “Jolanthe”-Teile und ich für jene aus dem “Nussknacker” dramaturgisch verantwortlich zeichnen. Es gibt aber auch Momente, in denen sich Traum und Realität mehr verknüpfen – einfach märchenhaft. Es ist Musiktheater für die ganze Familie, aber die Realität ist teilweise sehr hart und trocken.

Sie kreieren die “Nussknacker”-Szenen in Ihrer choreographischen Sprache? Ja – aber Lotte de Beer und ich arbeiten gemeinsam mit dem Leading-Team an einem Gesamtwerk und nehmen Rücksicht auf einander und auf das Stück. Das macht Spaß! Wir wissen beide, wo wir künstlerisch hingehen wollen. Es hilft mir die klare Aussage, die Lotte de Beer mit dem Stück macht, denn sie weiß genau, was wann und warum es so passiert. Im Endeffekt haben wir den festen Boden, auf dem wir alles bauen können.

Sind die Gesangsrollen mit Tänzerinnen und Tänzern gedoubelt? Die Rolle der Jolanthe ist gedoubelt – sowie teilweise auch andere Szenen – und natürlich hat der Nussknacker eine Parallele mit Jolanthes Geliebtem. Unmittelbar nach “Jolanthe & der Nussknacker” an der Volksoper Wien beginnen Sie mit Ihren Proben für “Dornröschen” zu Piotr I. Tschaikowskis Musik am Linzer Landestheater. Wie empfinden Sie den Unterschied, wenn Sie dort dann nach Ihrem eigenen Libretto in Ihrer choreographischen Sprache kreieren? Deswegen habe ich für mich das Stück “Der Fall Dornröschen” – in zweideutigem Sinn –genannt, denn in meinem Stück fällt Dornröschen aus der Familien-Bubble heraus. Ich nehme zwar auf jeden Fall das Märchen von Charles Perrault mit. Das Märchen ist altmodisch konstruiert, so wie ein klassisches Familienbild ja auch sehr konservativ ist, und das passt zusammen. Solange diese familiäre Bubble da ist, läuft das Märchen. Aber in der Pubertät, wenn Dornröschen beginnt aus der Familie herauszufallen, dann ist das Märchen auch nicht mehr passend für mich, denn mich interessiert das Thema “Frau” beziehungsweise das “Zur-Frau-Werden“, diesen Prozess finde ich spannender, als das ganze Märchen zu erzählen.

Gibt es in Ihrem Libretto auch Carabosse und die Feen? Die Feen sind für mich die Werte, Tugenden – Menschen, mit denen man als Kind aufwächst und die einem sagen, was richtig und was falsch ist. Carabosse ist für mich ganz klar die Sexualität, die in Ihrem “Spell” verkündet, dass sie zu Dornröschens 16. Geburtstag mit ihrem symbolträchtigen Spindelstich da sein wird. Wenn man ein Mädchen nicht auf die Sexualität vorbereitet, dann fällt es mit Beginn der Geschlechtsreife plötzlich aus seiner bisherigen Welt heraus. In meinem Ballett gibt es keinen 100-jährigen Schlaf, sondern den Schock-Zustand von Dornröschens Familie und Gesellschaft, als sie nach dem Erkennen ihrer Sexualität zur Frau wird, ihre Balance verliert und aus dem Fenster stürzt – sie fällt aus ihrer Bubble heraus und landet auf dem Boden der Tatsachen.

Wie setzen Sie Tschaikowskis Musik um? Ich mache nur zwei Akte von Tschaikowskis Komposition mit dem Bruckner Orchester Linz und werde im zweiten Akt auch elektronische Soundpassagen von Angel Vassilev verwenden, um die Ebene außerhalb zu verdeutlichen: die Selbstfindung von Dornröschen, wenn sie aus der Bubble fällt und damit das Familienbild verlässt.

In welcher Zeit siedeln Sie Ihr “Dornröschen” an? Schon im Original-Libretto gibt es ständig Party: Am Anfang wird Dornröschens Geburt gefeiert, 16 Jahre danach ihr Geburtstagsfest und schließlich die Hochzeit. In meinem Ballett sind wir am Anfang in einer Cocktail-Party der 60er-Jahre. Wenn Dornröschen aus ihrer Bubble fällt, wird es fast apokalyptisch. Den zweiten Akt muss man nahezu “riechen” können, da geht es um Sexualität, Körper, Hormone, Gerüche und da verlieren wir das Zeitgefühl. Bühne und Kostüme machen langjährige Weggefährtinnen von mir: Karoline Hogl und Melanie Jane Frost.

Lieber Andrey Kaydanovskiy, ich danke für das Interview und wünsche Ihnen viel Erfolg!

Very nice memories: Andrey Kaydanovskiys drei Stücke, die er für die Jungchoreographenschiene des Ballettclub Wiener Staatsoper & Volksoper kreiert hat: 2009 sein Choreographie-Debüt “Drei Unbekannte”, 2012 “Dolce Vita” und 2014 “Love Song” – vielfach ausgezeichnet wurde diese Kreation auch vom Ballett am Rhein und dem Bolshoi Ballett getanzt.

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