Dare contemporary art and thought
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eur 9,80 | sfr 15,00 a 10,20 € | lux 9,60 €
Editorial Nach einem ausgedehnten Moratorium freuen wir uns ausgelassen über die neue und achte Ausgabe von DARE. Konzeptuell haben wir uns vom Monothema verabschiedet, begrüßen aber dennoch ein Hauptthema in unserer Heftmitte, um das einige Beiträge in diesem Magazin kreisen: Neue Praktiken und Entwicklungen in Kunst und Kultur erkennen wir zumeist erst, wenn wir ihre Erzeugnisse nach Ursprung und Herkunft befragen. Wenn wir genealogisch die Einzelheiten und Kontingenzen vermeintlicher Endpunkte wie naher Anfänge nachverfolgen, die unser Leben bestimmen oder deren Kontur sich gerade erst abzuzeichenen beginnt. Die neue Ausgabe von DARE richtet daher nicht exklusiv, aber dezidiert einen Blick auf die 90er Jahre. Eine Dekade, die zwischen Aufbruch und Auflösung, zwischen Kalkül und Leidenschaft pendelt. Nicht nur topographische Grenzen verlieren in dieser Zeit zunehmend ihre Bindekraft, auch Hoch- und Popkultur werden zu Komplizen. Ihre Gegensätze verschwimmen, gehen zuweilen ineinander über, und so markiert das letzte Jahrzehnt des vergangen Jahrhunderts eine Epoche, deren Beschreibungen in unbestimmten Zuschreibungen zu kulminieren scheint. Gesellschaften differenzieren sich weiter in kleinteiligere Milieus und Gruppen, das Individuum konstituiert sich aus mannigfaltigen Identitätssplittern. In diesem Konnex ringt der Autor Carl von Siemens in seinem literarischen Beitrag um die Lesart seines eigenen Schaffens im Lichte des Vergangenen, begibt sich auf Spurensuche in einem nur vermeintlich abgeschlossenen Jahrzehnt. Die Globalisierung entwickelt in den 90er Jahren eine allumfängliche Sogkraft, etabliert neue Paradigmen, wird zu einem dominierenden Phänomen. Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski bestimmen essayistisch Folgeerscheinungen dieser übergreifenden wie übergriffigen Entwicklung, machen auf Nachwirkungen einer Zeit aufmerksam, die anfänglich noch als Ende der Geschichte bezeichnet wurde. Das Porträt der Design-Unternehmer Michael und Christian Sieger zeichnet vor diesem Hintergrund weitere Verbindungslinien nach, zeigt auf wie aus Tendenzen Potenzen wurden, sodass Gestaltung im Wandel der Zeit anschaulich wird. Der Einzug des Internets und die Digitalisierung eröffnen neue Spielarten der Kommunikation. Einerseits manifestiert sich in den neuen Medien die Verheißung einer freiheitlichen, grenzübergreifenden Duchdringung der Welt, andererseits verändern die scheinbar unbegrenzten Möglichkeitshorizonte dieser Technologien das Denken und Empfinden der Menschen nachhaltig – der Schriftsteller Lorenz Schröter traf für DARE den Erfinder der MP3 Karlheinz Brandenburg. Besonders die kulturelle Produktion begreift sich in den 90er Jahren als spannungsreiches Experimentierfeld und die eindringlichen Künstlerporträts von Angus Fairhurst oder Francensco Vezzolli bezeugen stellvertretend die Wandlungsprozesse dieser Zeit. DARE fragt in dieser Ausgabe nach Verfasstheiten der 90er Jahre – worauf Sie gründeten und für was sie den Boden bereiteten.
Wir wünschen viel Spaß bei der Lektüre ! Die DARE-Redaktion
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Inhalt
Editorial 002 Inhalt 004 Contributors 006 IMPRESSUM 116
Michael Conrads 010 Text: Isa Maschewski
ohne ende wahlgeschichten 058 Text: Anna-Verena Nosthoff & Felix Maschewski
Asco 020 Text: Nicole Büsing & Heiko Klaas
angus fairhurst 066 Text: Anna Sabrina Schmid
Nilbar Güreş 026 Text: Merve Ünsal
Weltberühmt in ilmenau: Karlheinz brandenburg, erfinder von mp3 Text: Lorenz Schröter
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Filmen gegen den Stillstand 034 Gustav Hofer und Luca Ragazzi Interview: Benjamin Fellmann
anna steinert 086 Text: Sandra Buergel | Interview: Isa Maschewski
Quos vult perdere deus 042 Text: Carl von Siemens
francesco vezzoli Text: Benjamin Fellmann
Schnecke stolpert nicht Text: Ingo Niermann
zeit formen 104 Text: Frank Steinhofer
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gernot faber 050 Gernot Faber
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11-14 SEP 2014 P R O D U Z E N T E N
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K U N S T M E S S E
Contributors
Carl von Siemens Carl von Siemens ist Schriftsteller und Journalist. Er beschäftigt sich mit der Juxtaposition von Identitäten. In seinem 2010 erschienenen Debütroman „Kleine Herren“ erzählt er von den Missgeschicken eines deutschen Studenten in Oxford, der versucht, englischer als die Engländer zu sein. Für DAS MAGAZIN des Züricher Tagesanzeigers bereiste er 2011 die Siedlung Orania in Südafrika, um aus den Reaktionen marginalisierter Buren ein Porträt der Hip-Hop-Band DIE ANTWOORD zu konstruieren; die Reportage entstand in Zusammenarbeit mit dem Fotografen Roger Ballen. Seine Reportage über den Besuch einer Gruppe von Aborigines in einem weißen Haushalt in Australien erschien 2012 in der Zeitschrift Lettre International. 2013 erkundete er für DIE WELT die Verbindung zwischen Reiseschriftstellern und Spezialeinheiten der britischen Armee. In seinem Text für DARE „Quos vult perdere deus“ – wen Gott verderben will, verblendet er zuvor" – erinnert sich der Autor an eine Nacht im Tränenpalast in den 90er Jahren, die eine Fluchtlinie zu seinem jetzigen Schaffen schlägt. Darin wirft er seine ganz persönliche Daseinsfrage auf: „Wie ist er eigentlich zu dem Menschen geworden, der er heute ist?“ Foto ©: Franziska Sinn
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Merve Ünsal Merve Ünsal, geboren 1985 in Den Haag, ist Künstlerin und lebt in Istanbul. Gegenwärtig gilt ihr Hauptinteresse dem Nachvollzug künstlerischer Produktion im Format der „lecture“. Diesen Gegenstand hat sie bisher in Formen des Schreibens, der Bearbeitung sowie visueller und textlicher Collagen, die Automatisierung und gefundenes Bildmaterial einsetzen, untersucht. Sie ist Mitbegründerin von m-est. org, einem auf Künstler konzentrierten Online-Projekt, das künstlerische Arbeiten, Studiobesuche und Artikel, die auf Gesprächen über visuelle Praxis basieren oder auf sie Bezug nehmen, veröffentlicht. Sie ist zweifache Teilnehmerin der Banff Centre Visual Arts Residencies und hat für eine Reihe von türkischen und internationalen Publikationen geschrieben, darunter Flash Art, Art Agenda und XXI. Ihren MFA in Photography and Related Media erhielt sie an der Parsons The New School for Design, New York, und ihren BA in Kunst und Archäologie an der Princeton University. Für DARE portraitiert Merve Ünsal die türkische Künstlerin Nilbar Güreş, Jahrgang 1977, die in Wien, New York und Istanbul lebt und arbeitet. Teilnehmerin einer Vielzahl von Ausstellungen in Europa, den USA und Mexiko, ist Güreş in der Türkei spätestens seit ihrer großen Einzelausstellung 2011 in der führenden Galerie für zeitgenössische türkische Kunst, RAMPA Istanbul, eine der prominentesten Vertreterinnen einer neuen Generation von Künstlerinnen. In Deutschland waren ihre Arbeiten u.a. 2011 in ihrer Einzelausstellung im Künstlerhaus Stuttgart, auf der 6. Berlin Biennale 2010, 2012 in der Kunsthalle Tanas, Berlin und zuletzt 2014 in der Ausstellung One Night Stand, KW Institute for Contemporary Art, Berlin zu sehen.
Lorenz Schröter Lorenz Schröter (links im Bild mit Karlheinz Barandenburg), geboren 1960 in München, ist Weltreisender, Schriftsteller und Journalist. Er schrieb u.a. regelmäßig für TEMPO – eine der prägendsten Zeitschriften der 80er und 90er Jahre, radelte in zwei Jahren um die Welt, veröffentlichte Bücher und verfasste zwei Opern. In den 90ern lebte er drei Jahre auf einer Insel vor Hongkong, begeisterte sich für Marathon, Triathlon, Bergsteigen und weiterhin für seine große Leidenschaft: das Reisen. Der publizistische Tausendsassa hat mittlerweile Reportagen, Essays und Texte in vielfältigen Magazinen und Zeitschriften veröffentlicht, darunter der Süddeutschen Zeitung, NZZ Folio, Der Freund, dem Magazin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Für DARE besucht er mit dem Fotograf Fabian Zapatka den Erfinder der MP3, Karlheinz Brandenburg, im Frauenhofer Institut in Illmenau. In einer lebendigen Reportage lernt er einen Star der deutschen Forschung kennen – und schreibt darüber, was nach der Entwicklung des MP3-Formats sein zweiter Welthit werden könnte. Foto ©: Fabian Zapatka
ingo niermann Ingo Niermann wurde 1969 geboren, ist Schriftsteller und lebt nach Bielefeld, Berlin, London und New York nun in Basel. Niermann studierte Philosophie, feierte 2001 sein Romandebüt mit dem Buch „Der Effekt“ und war Initiator des Projektes „Die Große Pyramide“. Die Ausgangslage: In Ostdeutschland müssten mehr Arbeitsplätze entstehen. Warum nicht eine gigantische Pyramide bauen, als symbolischer „kollektiver Kraftakt“? Ein potentiell größtes Gebäude der Welt, mögliche Grabstätte für Jedermann und internationale, glaubensübergreifende Infrastrukturmaßname für Streetz in Sachsen-Anhalt, wo 2007 auf einem Acker auch die symbolische Grundsteinlegung erfolgte. Bis heute arbeitet Ingo Niermann an der Realisation dieser sympathisch größenwahnsinnigen Idee. Außerdem ist er Herausgeber der spekulativen Buchreihe Solutions, in der zuletzt ein Sammelband zur Zukunft der Liebe (Solution 247-261: Love) erschien. 2013 startete er den digitalen Modellverlag Fiktion (fiktion.cc), in dem er gemeinsam mit Mathias Gatza, Henriette Gallus, Elfriede Jelinek, Tom McCarthy, Douglas Coupland u. a. neue Formen literarischer Distribution erforscht. In DARE veröffentlicht er mit „Schnecke stolpert nicht“ ein im Auftrag eines chinesischen Regisseurs geschriebenes Treatment über einen rebellischen Punker aus der DDR, der sich nach dem Mauerfall als Gebrauchtwaren-, Drogenhändler, Burgherr und Dieb durchschlägt. Eine Odyssee gen Westen. Foto ©: edisonga.de
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Contributors
Anna Sabrina Schmid Anna Sabrina Schmid (*1983, Hamburg) studierte Kunstgeschichte, Film- und Theaterwissenschaft in Hamburg und London. Nach der freien Mitarbeit an verschiedenen Ausstellungsprojekten war sie von 2011 bis 2013 erst als Direktionsassistenz, dann als Kuratorin am Westfälischen Kunstverein Münster beschäftigt. Dort arbeitete sie mit KünstlerInnen wie Simon Denny, David Jablonowski, Yorgos Sapountzis, Petrit Halilaj, Oliver Laric oder Liz Magic Laser zusammen. Bei der Mitarbeit an einer umfassenden Retrospektive begegnete sie den Arbeiten des bereits verstorbenen Briten Angus Fairhurst. Dieser produzierte einen Großteil seiner Arbeiten in den neunziger Jahren und folgte an der Seite der Young British Artists seinem eigenen künstlerischen Interesse. Um eine andere Perspektive auf den damaligen Boom der Londoner Kunstszene zu geben, haben wir Anna gebeten, ihren Blick auf die spannenden und in Deutschland weniger bekannten Arbeiten von Fairhurst mit uns zu teilen. Seit 2014 ist Anna Sabrina Schmid zurück in Hamburg und als künstlerische Leitung im Kunstverein Harburger Bahnhof tätig.
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Gernot Faber Als wir Gernot Faber erstmals fragten, ob er Contributor für DARE sein wolle, kippte seine Stimmung. Wie er vorher gelaunt war lässt sich kaum bestimmen, unmöglich erschien sodann sein Zustand. Nun ist das Jahre her und geändert hat sich nur, dass er geliefert hat: einen überarbeiteten Lebenslauf. Das machen doch alle haben wir gedacht. Dennoch haben wir ihn gelesen und nach Hinweisen gesucht, die Rückschlüsse auf seine Zuständigkeit zulassen. Diese bleibt weiter ungeklärt – er bleibt eine Figur ohne Grund.
Felix Kiessling / Christian Rothmaler / Olaf Wolters Erรถffnung: 11. September. 2014 Ausstellung: bis 30. Oktober. 2014
kunsthaus jesteburg
com pulsory pilot age
Michael Conrads Text: Isa Maschewski
Die Gegenwart, so scheint es, ist geprägt durch sich überlagernde, multioptionale Wahlmöglichkeiten, alltäglich wechselnde Bastel-Identitäten und eine florierende Referenzhölle – ein Komplexitätsgemisch, das in seinen verschiedenen Ausdifferenzierungen nur Fragmente hinterlässt und in dem Haltung unflexibel wirkt. Gerade diese Welt, die nicht selten einen müden Kulturpessimismus erzeugt und in der das sehende Auge allzu leicht einem der Oberfläche verpflichteten Nihilismus verfallen kann, „verarbeitet“ Conrads, der in Berlin und Mexico City lebt und arbeitet, in seinen Werken, spiegelt sie mitunter in seinen komplexen Bildwelten und bedient sich wohl überlegt und selektiv der allgegenwärtigen Überfülle an Vorbildern. Sein Schaffen ist der produktiven Suche nach neuen, künstlerischen Ausgangspunkten verpflichtet, wobei er sich darin übt, ein eigenes Mosaik aus vorgefundenen, zurechtgestoßenen und selbst erschaffenen Fragmenten zusammenzusetzen – die Motivation dabei wird sicher auch ein lautes, vielleicht ein hintersinnig leises, aber in jedem Fall gewissenhaftes „Wider alle Müdigkeit“ des Künstlers sein. Für die Ausstellung Masters Of Reunion entstand 2012 die Werkserie der Exzentrischen Dreieckskompositionen (Zygoten). Dabei handelt es sich um mittel- bis großformatige Arbeiten, auf denen jeweils ein schematisches Mandala zu sehen ist. Sie Serie wird vom Künstler auch aktuell weiter fortgesetzt und um neue Genres und Teckniken erweitert. Mit My love is my engine and you might be fuel (2014) präsentiert Conrads das Motiv auch als Wandarbeit und mit Round and Round (2014) experimentiert er mit dem Bildthema im Genre der Hinterglasmalerei. Michael Conrads ist mit der Motivwahl eine Geste gelungen, die in vielen Richtungen lesbar ist. Das Bildmotiv ist eine klare Referenz an die Arbeit Kreis Mo (1963) des Künstlers Manfred Kuttner, mit dessen Werk sich Conrads bereits 2010 in der von ihm kuratierten Ausstellung ph-levels of juices auseinandersetzte. Kuttner, der Anfang der 60er Jahre in informeller Künstlergemeinschaft Ausstellungen mit Gerhard Richter, Konrad Lueg und Sigmar Polke bestritt und so kurzzeitig mit „Deutscher Pop-Art“1 assoziiert wurde, verpflichtete sich in seiner Malerei deutlich dem Ungegenständlichen. Die Verbindung von Kuttners Interesse an einer abstrakten Malereiauffassung, sein reduzierter, forscher Umgang mit dem gewählten Sujet und die Zergliederung der Strukturierung der Bildfläche in konstitutive geometrische Raster lassen das Werk Manfred Kuttners zu einem geeigneten Gegenstand der Auseinandersetzung für Michael Conrads werden. Der serielle Ansatz ermöglicht Conrads Bild für Bild variierende malerische Interpretationen des Grundmotivs, Kreis Mo dient hier nicht als Vorlage, sondern eher als Ausgangspunkt einer eigenen Untersuchung des Motivs. Dessen Grundkonstruktion wird in jeder Arbeit durch abwechselnd feinen und stellenweise rauen Umgang mit Malmitteln wie Gesso, Arcyl, Pigment, Öl, Bitumen und Schellack, sowie unter Verwendung von FarbdunkelKontrasten aufgebrochen, so dass sich das schematische Mandala an einigen Stellen bis hin zur Unkenntlichkeit dekorativ zersetzt. Des Weiteren arbeitet der Künstler in jedes Werk unterschiedliche Materialien wie Stoff, Zeitungs- oder Sandpapier ein und collagiert den Malgrund auf diese Weise zu einer heterogenen Fläche, innerhalb derer das Farbannahmeverhalten variiert, was Conrads kompositorisch gewandt auszunutzen vermag. Werden andere Malereien Michael Conrads optisch von Komplexität und variationsreicher Formensprache definiert, findet sich durch die vorgegebene Komposition in den Arbeiten der Serie Exzentrische Dreieckskomposition (Zygoten) ein Ansatz zur Konzentration. Abhängig von welchem Standpunkt aus man auf die Welt und auch auf die Kunstwelt schaut, kann selbige wie ein verworrenes Netzwerk aus Orten, Akteuren
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Exzentrische Dreieckskomposition (Zygote) N° V 2014, Gesso, Acryl, Pigment, Öl, Sprühfarbe und Schellack auf Karton und Leinwand 165 x 125 cm, courtesy Produzentengalerie HH © Peter Sander
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links oben: Frieze, 2007– heute, verschiedene Maße, 65 x 50 cm, Acryl, Lack, Öl und Bitumen auf Leinwand © Felix Krebs
vorherige Seite links: Exzentrische Dreieckskomposition (Zygote) N° IV, 2014,
links unten: The Muses (12 von 12), 2011/12, glasiertes Porzellan, Maße jeweils etwa 70 x 15 x 15 cm, © Felix Krebs
vorherige Seite rechts: My love is my engine and you might be fuel,
und Ereignissen anmuten. Vieles geschieht zeitgleich und dank medialer Vernetzung haben auch wir die Möglichkeit, gleichzeitig an verschiedenen Orten zu sein. Das Verschwimmen von Grenzen kann segensreich sein, aber eben auch zu Unübersichtlichkeit führen – die Enden unserer Wahrnehmung fasern auf. Das Ausmalen eines Mandalas ist in vielen Kulturen eine Form der Meditation. Auch diese Referenz greift Michael Conrads, besonders im gewählten Titel, auf zweierlei Weise auf: Mit Masters Of Reunion wird einerseits auf Zentrierung verwiesen, die wie eine Gegenbewegung zur fortschreitenden „Zerfaserung“ wirken kann, andererseits wählt Conrads, vielleicht auch ein wenig ironisch, statt eines religiösen Mandalas die Arbeit eines mit „German Pop“ assoziierten Künstlers als Ausgangsmotiv. Die hier leise anklingende „Pop“-Referenz mag als Seitenkommentar auf die in der westlichen Welt gänige Praxis zu lesen sein, sich der Verwirrungen einer Unterhaltungsgesellschaft, die sich in Mitten der genialen Belanglosigkeiten unzähliger, ineinander verlaufender Stile fast zu Tode amüsiert, zeitweilig mittels Meditationstechniken zu erwehren. Eine weitere Werkfamilie in Michael Conrads künstlerischer Arbeit bildet die Skulpturen-Serie der Musen. Der Künstler wählte hier Constantin Brâncusis Skulptur Die endlose Säule (1937), die in ihrer Formensprache bis heute vielerlei Interpretationen in Kunst und Design fand, als Gegenstand künstlerischer Untersuchung und Ausgangspunkt für seine eigene skulpturale Arbeit. Conrads fertigte eine Serie von 12 Musen, die schon in ihrem Titel auf das Sich-inspirieren-lassen verweist. Jede Skulptur ist ein aufwendig in Handarbeit angefertigtes Unikat, das sich, im Brennofen später mit den unterschiedlichsten Lasuren übergossen und sich selbst überlassen, am Ende als ein in seiner Unperfektheit hoch dekoratives Einzelstück wieder findet. Allzu glatte, überästhetisierte Oberflächen zieren Musen nicht. Die Entscheidung, eine künstlerische Arbeit, die bereits unzählige Male zitiert, umgearbeitet und variiert wurde, zum Ausgangs- und Ansatzpunkt seines eigenen Schaffens werden zu lassen, wirkt wie ein relativierender Randkommentar auf den in einer hyperkomplexen Welt voller Copyright-Diskurse allgegenwärtigen Umgang mit Vorbildern und Referenzen oder die gängige Praxis des Sampelns und Kompilierens. Dieser Kommentar wird durch die für Conrads typische gestische Lässigkeit, die im Stehenlassen von Drippings in der Lasur und Abdrücken der papiernen Gußform im Porzellan ihren Ausdruck findet, noch unterstrichen. Für Michael Conrads ist die Auseinandersetzung mit künstlerischen Vorbildern etwas in seiner Arbeit Grundsätzliches, bringt ihn allerdings nicht in die Nähe der Appropiation Art. Es gelingt ihm, während künstlerischer Konfrontation mit formalen Vorgaben stets eine sehr eigene
Gesso, Acryl, Pigment, Öl, Sprühfarbe und Schellack auf Karton und Leinwand 165 x 125 cm, courtesy Produzentengalerie HH, © Peter Sander
2014, Bleistift, Kreide, Wasserfarben, Durchmesser 310 cm, Galeria Marso, Mexico D.F. © Andrea Martinez
Sprache in Form und Anmutung zu entwickeln, die trotz großen Arbeits- und Zeitaufwands niemals bemüht wirkt. Bei Kleiner Fries handelt es sich um acht einzelne, unabhängig voneinander entstandene Leinwände gleichen Formats, die von Michael Conrads auf Zeit zu einer kompositorischen Einheit zusammengefasst wurden. Taxativ miteinander verbaute Parallelogramme, Dreiecke, Rauten und asymmetrische Vierecke bevölkern die gänzlich abstrakte Malerei. Trotz der Zusammenfügung zu einem Fries behält jede der gerahmten, parallel gehängten Arbeiten für den Künstler Gültigkeit als Einzelwerk. Alle Arbeiten folgen einer eigenen Gesetzmäßigkeit und selbst sporadisch vorhandene Analogien im Bildaufbau können hier niemals auf bloße, schablonenhafte Serialität zurückgeführt werden, was speziell in der für den Betrachter so spannungsreichen, anreihenden Präse tation deutlich wird. Die Präsentation seiner Arbeiten als Fries kann als eine, für Conrads Haltung als Maler durchaus signifikante Untersuchung gesehen werden, deren Gegenstand es ist, die feststehende Struktur, die Ordnung des Werks, durch eine die Bildgrenzen überschreitende Hängung visuell und konzeptionell in Frage zu stellen. Kleiner Fries wirkt bezüglich Michael Conrads künstlerischen Fragestellungen fast wie ein Konzentrat und richtet das Augenmerk des Betrachters auf Zusammenhänge, die für das Gesamtwerk des Künstlers wesentlich sind: Die Herstellung von kompositionellen Bezügen zwischen freien und festgelegten Formen, oder die immer neue Beantwortung der Frage nach dem bestmöglichen Umgang mit der Leinwand als Projektionsfläche und Begrenzungsrahmen, auch für Conrads die Bildfläche durchwachsenden Pattern-Strukturen, die auf seinen Bilder nicht selten in entropischer Kraft ins scheinbar Grenzenlose wuchern. Kleiner Fries macht gerade in seinen vielschichtigen, optischen Brüchen, dem in kurzen Intervallen eintretenden Wechsel von Rhythmus, Geschwindigkeit, Farbe und Klangart deutlich, wie der Künstler selbst erdachte Formeln für seine Bildfindung, immer wieder subjektiv aufbricht. Großformatigen Arbeiten wie, Die große Utopie (2010), Tropic of Cancer (2012), Another fool on the hill (2013) oder Rubik City (2014) oder liefern ebenfalls repräsentative Beispiele für Michael Conrads malerische Ästhetik und machen bei genauerer Betrachtung deutlich, wie sehr seine Arbeiten dem Phänomen der Entropie untergeordnet zu sein scheinen – die Malereien, nicht selten dominiert durch Farbwerte, die an verrottende Pflanzen oder oxidierende Metalloberflächen erinnern, entstehen in einem dynamisch-schöpferischen Prozess des Durcharbeitens, in dem streng und strukturiert Geplantes immer wieder von spontan
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Another fool on the hill, 2013 テ僕, Lack, Schellack, div. Papiere, テ僕kreide, Pigment, Bitumen und Aquarell auf Leinwand 250 x 540 cm, dreiteilig ツゥ Tim Schrテカder 17
Rubik City 2014, Acryl, Oel, Bitumen, Spray und Kaugummi auf Leinen 255 x 180 cm courtesy Galeria Marso, Mexico D.F © Andrea Martinez
und subjektiv Hervorgebrachtem überwuchert und verunklärt wird. Conrads Motive konstituieren sich aus der Fläche heraus, werden aber durch gezielte Farbsetzungen und unter Anwendung isometrischer Strukturen immer wieder ins (Schein-)Dimensionale gekippt, so dass sich das feine, instabile Gefüge der Malerei in unterschiedlich verflochtene Wege des Blicks zerlegen lässt. Sein bisher größtes Bild Another fool on the hill (2013) mag für den Betrachter zunächst wie ein vieldimensionales, topografisches Portrait unserer, durch ineinandergreifende Multiple-Choice-Szenarien geprägte, globalisierte Gegenwart erscheinen. Eine Architektur aus geometrisch-abstrakten, fabelhaften Fragmenten lässt hier eine entropisch um- und durchwucherte Urbanität voller Konnotationen und Attribuierung entstehen, die den Betrachter auf immer neue gedankliche Wegstrecken geleiten. Illusionistische Treppenkonstruktionen, vektorisierte Eiskristalle, antike Fußbodenornamente, maurische Stalaktiten, Säulen, scheinbar dem surrealistischen Garten Eden Las Pozas bei Xilitla (Mexiko) des britischen Exzentrikers und Sammlers Edward James entnommen, eine Shiva-Skulptur und Zitate aus Zeichnungen des in Mexiko heimischen Künstlers Pedro Friedberg: Conrads bildet ab was ihn während des Malprozesses gedanklich umgibt, womit er sich beschäftigt, was er sieht und gesehen hat. Mit Mexico City als gewähltem Arbeitsort finden sich daher auch Einflüsse der visuellen Ästhetik der lateinamerikanischen Moderne und deren Überdauern in der zeitgenössischen städtischen Umwelt in seinen Arbeiten wieder. Allerdings lässt sich im Bild ausmachen, dass der Künstler seine Motive eher auf Grund ihres formalen, bildnerischen Potenzials auswählt als auf Grund ihres verschiedentlich ausdeutbaren symbolischen Gehalts. Conrads Arbeiten entfalten eine unaufdringliche Kraft, die den Blick des Betrachters in ein komprimiertes Labyrinth des Sehens hineinzieht, auf dessen konfusen Wegen man sich auf mehr als eine Weise verlieren kann. Der Künstler löst das Maschenwerk aus rationaler Planung und irrationaler Verfransung allerdings nicht auf, sondern erweitert es noch – hinein in vieldeutige Bildräume und in eine spannungsreiche Unübersichtlichkeit. Durch zahlreiche, variierende Farbdunkel-Kontraste erzeugt Conrads ein intendiertes Kippmoment, das an die düsteren Architekturfantasien Giovanni Battista Piranesis, optische Effekte Victor Vasarelys oder an die abstrusen Raumornamente M.C. Eschers erinnert und gleichzeitig einen Wechsels von Flächen- in Raumeindruck erzeugt. Abstrakte Darstellungen von Pflanzen, die Verwendung von Mustern, den Arbeiten des japanischen Künstlers Hokusai entlehnt und schlierige Farbverläufe, die zu einem gegenständlich anmutenden Wasserfall werden, erscheinen spontan als Anhaltspunkte in der wuchernden Unübersichtlichkeit, tragen in letzter Konsequenz aber nur noch zur Steigerung der Komplexität der Malerein bei: Lässt man den Blick auf einer Arbeit wie Tropic of Cancer, Another fool on the hill oder Rubik City verweilen, erscheint sie immer schwerer zu durchschauen, wird aber auch immer wieder für kurze Momente erstaunlich klar. An der Oberfläche erscheinen kontinuierlich neue formale Relationen, die das Bild im Prozess des Ansehens augenblickhaft zu einem anderen werden lassen und es auf diese Weise beinahe aus dem Inneren heraus zu entgrenzen scheinen. Conrads gibt hier, eine eigene, subtile und zugleich grundsätzliche Antwort auf die Frage, wie die Idee eines offenen Bildraums mit Form als dem Prinzip von Begrenzung zusammenzuführen sei. Das ist eine der Kernfragen in Conrads Malerei und gleichzeitig auch ein zentrales Thema der abstrakten Malerei. ____________________ Formulierung entnommen aus dem Pressetext zur Ausstellung in der Kaiserstraße 31A, gerichtet an die Fox-Tönende-Wochenschau, ein Exemplar im Nachlass Luegs erhalten.
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ASCO Text: Nicole Büsing & Heiko Klaas
Wenn eine Gruppe von drei jungen männlichen Künstlern mitten in der Nacht auf ein Museumsgelände stürmt, um seine Namen im Stil von Signaturen direkt auf eine Fußgängerbrücke am Eingang zu sprayen, dann kann das aus Naivität, Dummheit oder Dreistigkeit geschehen. Im Falle von Harry Gamboa Jr., Gronk und Willie F. Herron III war es ein politisch motivierter Akt ästhetischen Widerstands, ein konzeptuelles Kunstwerk und mutige Institutionskritik zugleich. Mit ihrer Aktion Spray Paint LACMA eroberten sie sich 1972 zumindest für wenige Stunden die Definitionsmacht über eine Institution, die durch ihre restriktive Ausstellungspolitik stark umstritten war. Der nächtlichen Intervention vorausgegangen war die Behauptung eines am Los Angeles County Museum of Art (LACMA) beschäftigten Kurators, wonach Amerikaner mit mexikanischem Migrationshintergrund bloß dazu in der Lage wären, Graffiti und Wandgemälde hervorzubringen, niemals jedoch „richtige“ Kunst. Gemeinsam mit ihrer Künstlerkollegin Patssi Valdez bildeten die drei das zwischen 1972 und 1987 in Los Angeles aktive Künstlerkollektiv Asco. Zusammen mit Valdez kehrte Gamboa am nächsten Tag auch noch einmal an den „Tatort“ zurück, um das einzige weibliche Mitglied der Gruppe in extravaganter Aufmachung vor den Signaturen zu fotografieren. Im Laufe des Tages wurden sie wieder übertüncht. Hervorgegangen ist Asco aus der Chicano-Bewegung, einer in den 1960er Jahren entstandenen Bürgerrechtsbewegung von Amerikanern mit mexikanischen Wurzeln, die die stereotypen, von der weißen Mehrheit, der Politik und Massenmedien wie der im Besitz des ultrakonservativen Hearst-Konzerns befindlichen Los Angeles Times benutzten Bezeichnungen „Latinos“, „Hispanics“ oder „Mexikaner“ als diskriminierend ablehnten, sich aber auch nicht nur „Amerikaner“ nennen wollten. Die Selbstbezeichnung „Chicano“ ist Ausdruck eines durch blutige Konflikte mit der Polizei von Los Angeles (LAPD) gestärkten ethnischen Selbstbewusstseins. Mittlerweile ist die Hochkonjunktur des Begriffs „Chicano“ vorbei. Er wird jedoch in Künstler- und Intellektuellenkreisen weiterhin bevorzugt verwendet. Der Name der Gruppe „Asco“ bezeichnet im Spanischen Gefühle wie „Ekel“, „Abscheu“, „Widerwille“ und gibt damit eine Stoßrichtung vor, die sich vornehmlich gegen die weiße Dominanz in Politik, Polizei, Kultur und der Filmindustrie Hollywoods richtete. Harry Gamboa Jr.: „Das einzige Feld, auf dem wir den Kampf gewinnen 20
konnten, war das der Kreativität: Bilder gegen die überall auf den Straßen sichtbaren Waffen.“ Noch bevor die Gruppe mit Aktionen im Stadtraum auf sich aufmerksam machte, gründeten sie die radikale Avantgarde-Zeitschrift Regeneración, die sich mit kulturellen Aspekten des Chicano-Aktivimus in Los Angeles beschäftigte. Triangle France und Le Cartel zeigen jetzt im Kunstzentrum Friche Belle de Mai in Marseille die in Zusammenarbeit mit dem UCLA Chicano Studies Research Center in Los Angeles entstandene Schau ASCO and Friends: Exiled Portraits, die sich mit den vier Mitgliedern der Gruppe, aber auch einigen anderen Künstlern aus deren Umfeld beschäftigt. Ascos künstlerische Praxis verband Elemente von Performance Art, GuerillaTaktiken, Travestie, Happening und Aktionskunst. Die weitaus meisten ihrer Arbeiten waren ephemer. Sie kamen in Form von inszenierten Mikro-Situationen daher, die sich auf kurzfristig besetzten Aktions- und Erlebnisinseln im Stadtraum Sichtbarkeit verschafften. Sie fanden meist im Schutz der Dunkelheit oder im frühen Morgengrauen, entweder an stark exponierten oder auch schwer zugänglichen Orten statt. Die Gruppe war einem starken Verfolgungsdruck durch die Polizei ausgesetzt und hatte meist nur wenige Minuten Zeit, sich für die Kamera in Szene zu setzen. Dennoch entstanden oft Bilder von großer suggestiver Kraft und Schönheit. So mimte etwa in der Performance Decoy Gang War Victim von 1974 Asco-Mitglied Gronk ein auf der Straße liegendes Opfer der Bandenkriminalität. Fast wie auf Hans Holbeins Gemälde Der tote Christus im Grabe (1521/22) liegt der Performer, der ganzen Länge nach ausgestreckt und die Arme parallel zum Körper, auf dem Asphalt. Die Grundfarbe des Bildes ist ein nächtliches Blau, akzentuiert durch rote Lichtpunkte mit Aureolen. Das bei näherer Betrachtung also gar nicht so realistisch wirkende Foto wurde mit dem Hinweis, es handele sich um das „letzte Opfer der Bandenkriege“ an Printmedien und TV-Sender verschickt, und mehrmals in den Massenmedien veröffentlicht. Es erfüllt damit alle Kriterien eines klassischen Hoax, einer perfekt lancierten Falschmeldung also. Die weitaus meisten Asco-Aktivitäten fanden für die Kamera statt. Wenn sie überhaupt Wirkung entfalten oder erinnert werden wollte, war die Praxis der Gruppe auf Medien der Dokumentation angewiesen. Asco richtete sich gegen Polizeigewalt, den Krieg in Vietnam, aber ebenso auch gegen den Krieg auf den Straßen, gegen weiße Vorherrschaft ebenso wie gegen den Machismo in der eigenen
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Community. Was ihre interventionistischen Operationen an den unterschiedlichsten Orten der Stadt auszeichnete, war eine zutiefst künstlerisch und oft bildgewaltige Form des zivilen Ungehorsams. Harry Gamboa Jr.: „Anstatt jedoch eine sozialrealistische Protestkunst zu etablieren, ging es uns viel mehr darum, so etwas wie einen sozialen Surrealismus herauszuarbeiten.“ Institutionelle Räume waren ihnen ohnehin versperrt. Was blieb, waren also die Straße und der Widerhall ihrer Kunst in den Massenmedien. Sie benutzten ihre Körper und ihre coolen Posen als visuelle Zeichen im öffentlichen Raum von Los Angeles. Dabei agierte Asco nie pädagogisch, didaktisch oder um jeden Preis belehrend. Der von Guy Debord diagnostizierten „Gesellschaft des Spektakels“ hielten sie einfach den Spiegel vor, indem sie sie durch ihre parodistische Praxis erfahrungsorientierter statt objektfixierter Kunst ad absurdum führten. Mimikry in Form glamouröser Kleidung, perfekt sitzender Frisuren, passender Accessoires und der Imitation elitärer Verhaltensmuster statt plumper Protestgesten und pseudorevolutionärer Akte. Eine weitere ikonische Arbeit stellt das Foto Asshole Mural von 1975 dar. Die vier Mitglieder von Asco posieren vor dem durch menschliche Exkremente braun gefärbten Ausfluss einer mannshohen Abwasserleitung in Malibu. Ihre glamouröse Aufmachung erinnert an ein Fashion Shooting. Der ausgewählte Ort unterhalb der von den Stars bewohnten Villen stellt gewissermaßen den sonst unsichtbaren Anus des nach außen hin so sauberen HollywoodSystems dar. Ein Un-Ort, den Asco mit dieser Aufnahme stellvertretend für alle vom hermetischen System der Filmindustrie Marginalisierten sichtbar macht. Gabriele Klein, Direktorin des Center für Performance Studies an der Universität Hamburg, schreibt über politisch motivierte Performance-Kunst: „Politische Tätigkeit ist demnach als eine sinnliche Praxis des Sichtbar-Machens und Verschiebens kultureller und sozialer Codes zu verstehen – und zwar in der Weise, dass sie in Dissens geraten zu der, wie Rancière es nennt, »polizeilichen Ordnung«.“ (Kunstforum, Bd.224, S. 156). Eine Aussage, die sich zwar eher auf aktuellere Entwicklungen eines politisch motivierten künstlerischen Aktivismus, namentlich der Occupy Bewegung etwa in der heutigen Türkei und westeuropäischen Großstädten, bezieht, die aber dennoch auch das beschreibt, worum es Asco schon vor 40 Jahren ging. Die tagtägliche Begegnung mit dem Glamour und Talmi der Filmindustrie findet im Werk von Asco einen vielfältigen Widerhall. In ihrer zwischen 1973 und 1978 entstandenen Serie mit dem Titel No Movies inszenieren sie sich in Film Stills selbst erfundener Produktionen des Hollywood-Mainstream-Kinos vor der Kulisse von Los Angeles. Für First Supper (After a Major Riot) (1974) okkupierten die Gruppenmitglieder eine Verkehrsinsel, die drei Jahre zuvor Schauplatz einer tödlichen Auseinandersetzung zwischen der Polizei und Demonstranten gewesen war. Unter dem Straßenschild „Whittier Boulevard“ inszenierte das maskierte Quartett eine Art Leichenschmaus mit Toten- und Skelettdarstellungen in Anspielung auf den unverkrampften Umgang der Mexikaner mit den Themen Tod und Jenseits. Im protestantischen Amerika an sich schon eine Provokation. Anschließend klebte Gronk Patssi Valdez und den mit der Gruppe assoziierten Humberto Sandoval für eine Stunde mit Klebeband an eine Mauer. Auch das eine 22
vorherige Seite oben: Ricardo Valverde, Teresa de Paper (Paper Fashion Show), 1982, black and white photograph, 28 x 35,5 cm Courtesy of Esperanza Valverde and Christopher J. Valverde vorherige Seite unten: Asco, Title unknown, Performance by Patssi Valdez, 1981 colour photograph, Courtesy of the artist and The UCLA Chicano Studies Research Center rechte Seite oben: Asco, First Supper (After a Major Riot), detail, 1974, colour photograph by Harry Gamboa, Jr., Copyright: Harry Gamboa, Jr., courtesy of The UCLA Chicano Studies Research Center rechte Seite unten: Harry Gamboa, Jr., No Movie: Chicano Cinema,1976 colour photograph, Courtesy of the artist
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linke Seite oben: Exhibition view, Asco and Friends: Exiled Portraits, Triangle France, Marseille (March 8 - July 6, 2014) with detail of Asco, Decoy Gang War Victim, 1974, photograph by Harry Gamboa, Jr., Courtesy of Harry Gamboa, Jr., Photo credit: Aurélien Mole.
Art Persiflage auf den mit Mexikanern assoziierten Muralismo. Die damals entstandenen Aufnahmen haben übrigens frappante Ähnlichkeit mit Maurizio Cattelans 2008 durchgeführter Performance, während der er seinen Mailänder Galeristen Massimo de Carlo für einen ganzen Tag mit Duck Tape an die Wand geklebt hat. Asco gelang es immer wieder, mit Bildern wie diesen Mainstream-Publikationen, aber auch den Unterricht in Schulen oder Colleges subversiv zu infiltrieren. Die im Rahmen von No Movies enstandenen Aufnahmen brachten sie in Form täuschend echt aussehender Filmplakate in Umlauf. Den Mechanismen des Kunstmarktes hat sich die Gruppe jederzeit konsequent verweigert. Kommerziell verwertbare Artefakte für den Galerie- oder Sammlermarkt hat sie nie produziert. Im Gegenteil: Als der Mainstream begann, Asco aufgrund der extravaganten Kostüme und der sexy Posen von Patssi Valdez Interesse an den Aktivitäten der Gruppe zu zeigen, entzog sich Asco auf seine Weise. „Als Chicano Art drohte, ‚fashionable‘ zu werden, haben wir all unsere Kostüme und Requisiten einfach verbrannt“, erzählt Harry Gamboa Jr. noch heute mit Stolz. In ihrem 1981 entstandenen Dokumentarfilm Mur Murs über Muralismo und Underground Art in Los Angeles hat die französische Filmemacherin Agnes Varda diesen fast orgienhaften Akt der Befreiung von jeder Form der Vereinnahmung durch das Establishment festgehalten.
linke Seite unten links: Exhibition view, Asco and Friends: Exiled Portraits, Triangle France, Marseille (March 8 - July 6, 2014). From left to right, top to bottom: Patssi Valdez, Cyclona and Victor Herrera, 1980, courtesy of the artist; Ricardo Valverde, Dia de los Muertos (Paper Fashion Show) with Diane Gamboa, 1983; Lotería de los Muertos, 1983/1993; Teresa de Paper (Paper Fashion Show), 1982/1991, all courtesy of Esperanza Valverde and Christopher J. Valverde. Photo credit: Aurélien Mole. linke Seite unten rechts: Exhibition view, Asco and Friends: Exiled Portraits, Triangle France, Marseille (March 8 - July 6, 2014). Foreground: No Movie Award, 1975, courtesy of Gronk. Photo credit: Aurélien Mole.
Lange Zeit waren die Gruppe und ihre Bildproduktion jedoch aus dem allgemeinen visuellen Gedächtnis verschwunden. Mit der großen Retrospektive Asco: Elite of the Obscure 2011 ausgerechnet im LACMA, dem Ort also, wo man ihre Kunst einst aussperren wollte, wurde Asco als lange vernachlässigtes „missing link“ der jüngeren kalifornischen Kunstgeschichte neu entdeckt. Die Oktober-Ausgabe 2011 des renommierten Magazins „Artforum“ widmete dem Thema „Art in L.A.“ ein ganzes Heft. Als Titelfoto diente nicht etwa ein Bild von Ed Ruscha oder John Baldessari sondern das poetisch-verstörende Decoy Gang War Victim von Asco. Die von der französischen Kuratorin Céline Kopp in Zusammenarbeit mit den Kaliforniern Chon Noriega und Pilar Tompkins Rivas entwickelte Ausstellung in Marseille wagt es jetzt, über den engen Kreis der Gruppe hinauszublicken und auch Arbeiten aus deren Umfeld mit einzubeziehen. Asco wird also erstmals nicht nur als isoliertes Phänomen sondern als multidisziplinäres Künstlerkollektiv vorgestellt, das viele andere Künstler beeinflusst hat und durch seine aktuelle Renaissance wieder stark beachtet wird. Angesichts der fast flächendeckenden Privatisierung des öffentlichen Raumes und dem paramilitärischen Auftreten der Polizei in Los Angeles und anderen amerikanischen Städten, rät Harry Gamboa Jr. jungen Künstlern allerdings zu größter Vorsicht: „Wenn du das heute dreimal machst und erwischt wirst, wanderst du für den Rest deines Lebens ins Gefängnis. Unter den aktuellen Bedingungen wären wir alle sofort hinter Gittern gelandet und nie Künstler geworden.“
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Nilbar Güreş Text: Merve Ünsal
Nilbar Güreş‘s works can perhaps best be defined as interventions; their relationship with the world disrupts a/their own narration and this disruption is precisely the material for her works. In other words, the artist positions her works—and herself, due to the self-reflexive nature of her practice – between things that are and things that could be. Güreş's politically charged works are fragmented, producing diminutive accounts that are perhaps more representative and "truthful" than major portrayals. An acute observer, Güreş's practice employs the slippage between the documentary and the fictional to produce an inherently ambiguious position, both as an author and as an individual, charging the works with a quotidian ideology that can be interpreted as a proposal of action for those of us who struggle with the same social, political, cultural hierarchies that threaten the individual's integrity. One of Nilbar Güreş's most recent projects, Open Phone Booth, is revealing of what could be dubbed the artist's spontaneous, daily politics. Open Phone Booth is based on the artist's research in the Kurdish Alevi village in Bingöl, a city in Eastern Turkey. The photography-based work was first shown in Frieze Frame in 2011 and the artist considers the project as in-progress. The work is essentially rooted in this village's reality; if the conditions shift, the work will shift. Each exhibition of the work is both a response to the time and a record of what Güreş has been observing in this village for most of her life. It is important at this point to situate Bingöl in the context of the politics of the Republic of Turkey in the last thirty years as well as in Güreş's personal history. Bingöl is located in the southeastern part of Turkey, an area that has been plagued by armed conflict. In 1984, PKK [Kurdish Workers' Party] made official their movement to establish independent Kurdistan. Adnan Yildiz, in his article on this project, cites 46 declarations of state of emergency in this region between 1982 and 2012. Bingöl is thus located both in and outside of Turkey; the heterotopia of Bingöl, and specifically this village, hold within everything that is outside while the inside is governed by rules and conditions that are removed from the outside. Güreş's familiarity stems from a most intimate relationship as her father is from here. The village, one of the nine Alevi villages in Bingöl and many more that belong to other cities in Eastern Turkey—is both Kurdish and Alevi, ethnic and religious minorities, respectively. These villages remain outside of the state's infrastructural reach. Promised infrastructure that the villagers have requested and paid for never made it to the village. The doubly "minor" population of the village is left suspended in this peculiar territory of belonging without the benefits of belonging. The very basic privileges of being a part of a by-now prospering state seems to be deferred, when identities, ideologies, and geographies diverge. The state's specific "insufficiency" for the populations in question is a form of discrimination is that is made easy by the geographic conditions of the region and the distance from major cities such as Istanbul, Ankara, Izmir, and Adana, while the contrast between neighboring villages exposes the idiosyncrasies of a state that is anything but weak, in areas and situations that are aligned with the current political authority. 26
rechte Seite oben: BERF from the series open phone booth, 2011, C-print, 112.5 x 154.5 cm (çerçeveli / framed) rechte Seite unten: POLE THAT IS TO SAY SCULPTURE-1 from the series open phone booth, 2011, C-print, 52 x 72 cm (framed)
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linke Seite oben: STILL LIFE-1 from the series open phone booth, 2011, C-print, 52 x 72 cm (framed) linke Seite unten: HAYDAR AND HIS FRIENDS from the series open phone booth, 2011, C-print, 112.5 x 154.5 cm (framed)
Open Phone Booth's constituents include constructed scenes of people interacting, individual portraits, still lives of both what Güreş found and what she suggests she could have found, a threechannel video, the readymade of a phone pole. The phone pole that was erected years ago is a lonely monument to the absence of what could potentially make life "normal" in this village. Without any other poles or phone lines to connect the poles, the pole serves as a testament to the absurdity of the quotidian life here. The exposed lack of something creates a tension that lurks under the surface of the images. This is precisely where the works claim some authority that is humbled by what is being witnessed while also being offered as an unpresuming solution that could potentially make a difference. Güreş's mixture of documenting what she sees—in the images of the phone pole and of villagers outside to find the best signal for their cell phones and connect with loved ones far away—and creating what she observes through still lifes—in the image of the phone buried in the snow and of the plumbing in the middle of a flowing body of water—precisely, humorously, gently identify the self-empowering, self-organizing nature of the individual. While Güreş's personal relationship with the village helps explain her intimate relationship with the place, Open Phone Booth goes beyond a family story: in the artist's improvised research methods and combination of various strategies, as if to test out what would work best and then using all of her unfinished tests to stitch together a story that was both self-contained and gave references to the reality of the village. Güreş integrates strategies of documentation, fiction, and performance in a seamless web of images, images of actions and images of acts. Güreş's distinctive juxtaposition of different media, approaches, and sensibilities can also be seen in her earlier body of work, TrabZONE (2010). Perhaps not coincidentally, TrabZONE is also deeply entrenched in Güreş's memory, as her grandmother is from Trabzon, a city in the northern part of Turkey, in the Black Sea region. Güreş's matriarchal relationship with the city informs her photography-based works in the series, in which Güreş interrogates various dimensions of female identity, in the specific context of this city. The tensions, confessions, and identifications, produced in the images in a most sincere manner, invite the viewer to an experience that is deceptively fictional. In other words, the fictional world that Güreş has created in the TrabZONE series
is so deeply rooted in the artist's observations and perceptions of her childhood that the fictional world has become somewhat more real than other expressions of familiar concepts such as conservativeness and gender divides. The women in Güreş's images desire each other in the most unexpected locale of the mosque, two become one through a scarf that is taut yet intact, they literally cover each other to conceal, and house chores do not require any effort any more. In the larger context of Güreş's practice, it is thus possible to read TrabZONE as a prelude to Open Phone Booth for not only formal reasons, but also for reasons of scale. TrabZONE—an reinterpretation—fictionalizes that she knows to comment on the place from the position of a woman. This woman has a permeable relationship with the place as she has been able to not participate in the daily life that governs and perpetuates the conditions of the women. On the other hand, Open Phone Booth is a more genderless, political story that is of a much smaller place. While TrabZONE confronts the viewer with the women that we know, Open Phone Booth is a portrayal of a place that most choose not to know. The levels of "expose" differentiate the two bodies of work, pointing to the common usage of forms of construction that can be constantly re-negotiated to reveal the new and the old, the familiar and the unfamiliar. Open Phone Booth is about the subversion of basic expressions of power. Communication is an articulation of power as it gives individuals agency, connectedness, and the state, by controlling the distribution of communication, claims this very territory. The body of work exposes that infrastructure is power and impersonates the very structure it is revealing by staging new forms infrastructures for the camera. This portrayal of the villagers' self-empowerment is not dissimilar to an earlier, formative work by Güreş. Self-Defloration (2006) was an image of the woman's self-empowerment. In a patriarchal culture in which the woman's virginity is fetishized to the point of absurdity, "a" woman—faceless and deformed, perhaps as a stand-in for all women and no woman—de-flowers herself. The gush of blood has a violent connotation that is furthered by a subtle reference to self-mutilation, reflected in the woman's form and the title of the work. The impetus for Open Phone Booth is comparable to Self-Defloration in that while the woman in SelfDefloration, by her eponymous act, claims power over her own body and life, the villagers that Güreş portrays in Open Phone 29
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linke Seite und diese Seite oben: PATTERN from the series TrabZONE, 2010, C-print, diptych, 103 x 152 cm, 103 x 103 cm (framed) linke Seite unten: THE GRAPES from the series TrabZONE, 2010, C-print, 103 x 152 cm (framed) 31
Booth have found subtle ways of empowering themselves, en face with a state that selectively inclusive. The individual's claim to self-govern is mirrored in the collective's determination to selfsustain.
confusion. If Güreş's images are of what is there and what could be there, then the viewer can also create an imaginary space of what they could be doing—an alternative reality afforded by the artist's slight of hands.
The villagers exhibit an Antigone-like impetus and Güreş, in turn, mimics this impetus in her own constructed scenes. The slippage between the documentary and the fictional is quite essential in this body of work as Güreş proves that she has gone beyond observation and now partially embodies the very creativity, acceptance and defiance through action that the village breathes and lives every day. Antigone blurs the distinction between the state and the individual through the defiance of an individual of another individual, who is deemed the state. Open Phone Booth is the artist's participation in a collective of individuals who fail to conform to the given order—lack thereof—by both passive resistance and the active act of living.
Creating a context for Güreş's works—even within the framework of this article—requires thinking about the challenge of placing the works in a social, cultural, political, historical context, without stealing from their aesthetics. Or, to put it bluntly, is there a possibility of drowning the work of a woman artist from Turkey, due to the sheer appeal of their identity?
-Nilbar Güreş's practice holds a specific spot in the narration of contemporary art in Turkey as the artist's works are seductively poetic, but are rooted in the social, cultural, and political issues that remain under-discussed. While her concerns and working methods are reminiscent of socially-engaged art, the consequent works are permeable. In other words, while Güreş makes very clear statements through her work, the rendition of these critical ideas is such that it is impossible to ever fully disagree with her. The use of humor is quite apt in that the artist both undermines and opens up her work to a wider reception through recognizing that many of the things that she is commenting on are daily, commonplace, and almost boring. Instead of glorifying her observations, she instead deeply entrenches these perceptions in what the viewer can recognize as the quotidian, no more, no less. The artist's positioning herself as an observer is also a conscious form of drawing the viewers into the work. Instead of looking from above or beyond, the artist is situated right next to the viewer and by mirroring the viewer's own thoughts and own hesitations in figuring out whether what they are seeing is real or not, she also suggests that her criticality does not stem from a meticulously constructed, scholarly perspective, but rather things as they can be seen if only the daily was a little more twisted. The slight twist and the constant back and forth with between the documentary and constructed leaves the viewer with a satisfying 32
The answer to this question is perhaps two-fold. The first part is that Güreş's works are very much rooted in the specific context that is both her home and site of inspiration. Knowing more about her context reveals deeper layers of meaning that might not have been possible without this knowledge. So, information is important when looking at the artist's work. However, the second part of the answer, is hidden in the inventive nature of Güreş's work. In order for her works to survive in larger frameworks, perhaps unconsciously, perhaps consciously, Güreş has produced images and objects that not only speak to each other across projects and time, but also to the outside-of-Turkey viewers through their humanness. In that sense, Güreş has happened upon a strategy to escape cultural stereotypes that the global art world seems to be more and more prone to by defying a linear narrative. From Trabzon, where her mother is from, she has moved onto Bingöl; while both of the projects utilize photography and both are superficially related in that the two places are familiar to Güreş since childhood, she played completely different roles. The fictional scenes produced in the very specific landscape of the Black Sea Region are in clear contrast to the social researcher, innovator between the different media employed to represent the Open Phone Booth at a remote village in Bingöl. As Güreş disrupts her own narrative, one can't help but wonder about the potentialities liberated by multiple narratives in an artist's practice. (All images: courtesy of the artist Nilbar Güreş and Rampa Istanbul.)
SELF-DEFLORATION, 2006 Mixed media on fabric, 193 x 270 cm (framed) 33
Filmen gegen den Stillstand Ein Gespräch mit Gustav Hofer und Luca Ragazzi über ihren neuen Film WHAT IS LEFT?, die Arbeit an ITALY LOVE IT OR LEAVE IT, zeitgenössischen Dokumentarfilm und Authentizität in Zeiten politischer Krisen.
Interview/ Dokumentation : Benjamin Fellmann | fotos : Gustav Hofer und Luca Ragazzi
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Die Italiener Gustav Hofer und Luca Ragazzi gehören einer Generation junger, engagierter Intellektueller an, die an die aufklärerische Kraft des Films glauben. Mitte Juni kommt ihr neuester Film „What is Left?“ in die bundesdeutschen Kinos, der nach „Italy: Love it, or Leave it“ und „Suddenly last winter“ ihre ‚Italian Triology‘ abschließt. Er stellt die Frage, was eigentlich aus der politischen Linken in Italien wird, die bei den Wahlen 2013 und der Europawahl 2014 vom Aufstieg des Populisten Beppe Grillo und dem immer noch präsenten Berlusconis schockiert wurde. Die Frage, was aus den politischen Kräften links der Mitte wurde, ist nicht nur in Italien zentral, wie sich uns durch das Ergebnis der Europawahl gerade mit dem Erstarken antieuropäischer, populistischer und rechtskonservativer Lager in ganz Europa zeigt. Hofer und Ragazzi gelingt es in ihren Filmen auf faszinierende Weise, politisch höchst relevante Themen mit sehr viel Fingerspitzengefühl zu beleuchten. Ihr vorausgegangener und international ausgezeichneter Erfolgsfilm „Italy: Love it, or Leave it“, kam hierzulande Ende 2012 in die Kinos und erschien jüngst auf DVD. Hier stellen sie sich die für viele Italiener in Zeiten der Krise immer noch aktuelle, wie einfache Frage: Bleiben wir in Rom, oder ziehen wir nach Berlin, wie so viele unserer italienischen Bekannten? Gibt es Gründe, als junger, engagierter Mensch in Italien zu bleiben, an dessen gesellschaftlichen und strukturellen Problemen man regelmäßig schier verzweifeln möchte? Und: Liegen die Dinge tatsächlich so im Argen, wie man meint? Seit den Nachwirren von „Tangentopoli“ Anfang der 1990er Jahren ist Italien von einer wechselhaften Politik bestimmt, die in Gegensatz zur menschlichen, kulturellen und landschaftlichen Schönheit dieses europäischen Kernlandes zu stehen scheint. Der italienische Film war über viele Jahrzehnte hinweg international so einflussreich wie in Europa vielleicht nur der Französische, mit Strahlkraft und Auswirkungen bis nach Hollywood. Mit ihren Dokumentarfilmen knüpfen Hofer und Ragazzi in gewisser Weise an sozial engagierte Filme der 1950er und 1960er Jahre an; und sie werden international wahrgenommen und ausgezeichnet. Ihr erster Film „Improvvisamente l’inverno scorso – Suddenly last winter“ hatte 2008 auf der Berlinale Premiere. Darin portraitierten Hofer, Italien-Korrespondent von ARTE, und Ragazzi, Journalist und Filmkritiker, – zum Zeitpunkt des Films seit acht Jahren ein Paar – ihren Versuch die Beweggründe eines Landes in Aufruhr nachzuvollziehen: Die Regierung Prodi hatte seinerzeit versucht, ein erstes Gesetz zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in Italien einzuführen. Nach öffentlichem Widerspruch unter anderem durch Papst Benedikt XVI brach sich eine Welle der Ablehnung und Homophobie Bahn, die in dieser Form nach den paneuropäischen Entwicklungen seit den 1990er Jahren nicht für möglich gehalten worden wäre. „Suddenly last winter“ wurde international auf mehr als 200 Festivals gezeigt und vielfach ausgezeichnet, darunter mit einer special mention der 58. Berlinale, als bester Dokumentarfilm in Tel Aviv und einem special jury award des EBS International Documentary Festival Seoul 2008, und gewann den nastro d’argento der italienischen Filmkritikervereinigung für den besten Dokumentarfilm. Auch ihr letzter Film „Italy: Love it, or Leave it“ wurde auf Festivals in zahlreichen europäischen Ländern, Russland, Australien, Amerika und Asien gezeigt und ausgezeichnet. Derzeit sind sie rund um die Welt eingeladen, ihren neuesten Film „What is Left?“ auf diversen Festivals vorzustellen. In „Italy: Love it, or Leave it“ begeben sie sich wie einst Pier Paolo Pasolini in die geographischen und metaphorischen Randgebiete im Grenzland der italienischen Großstädte und spüren der Seele des italienischen Staates im heutigen Europa der Wirtschaftskrisen nach. Sie reisen gemeinsam durch Italien und stellen sich die Frage, weshalb es sich lohnt, dieses Land nicht, wie so viele gut ausgebildete und intelligente junge Menschen ihrer Generation, gen Berlin, New York, Buenos Aires oder Neuseeland zu verlassen. Ihr Film dokumentiert die Geschichten von zwölf Personen, die sie für den Film recherchiert haben, und zeigt, wie diese auf positive Veränderungen hinarbeiten. Filme wie Rossellinis neorealistisches Meisterstück „Europa 51“ kommen in den Sinn, wo sie 35
Menschen portraitieren, die trotz aller Widrigkeiten gegen strukturelle und gesellschaftliche Probleme angehen – weil sie an die Pflicht des Einzelnen und die Macht der Tat glauben. Dem italienischen Erfolgsautor Andrea Camilleri kommt gegen Ende des Films die Rolle des mahnenden Gewissens zu: Es wäre zu einfach, sich zu entziehen. Mit Pasolinis oder Rossellinis Spielfilmen verbindet ihre Dokumentarfilme, dass sie auch eine persönliche Geschichte entfalten. Gustav und Luca nehmen sich auch selbst auf, sie zeigen, wie sie beide eine innere Entwicklung durchlaufen. Und sie zeigen mit ihren Filmen nicht nur ein problematisches, sondern auch beispielhaftes Italien, und ihre eigene Arbeit leistet ihren Beitrag. Engagierter Film, der nicht nur spannend erzählt, sondern zeigt, dass auch Dokumentarfilme über Identifikation eine Katharsis im Zuschauer herbeiführen können. Luca und Gustav sind in allen Filmen ihrer Italien-Trilogie Teil des Inhalts und ihrer dokumentarischen Herangehensweise, persönliche Veränderungsprozesse in der Dynamik des Duos werden ebenso gezeigt wie die Menschen, denen sie begegnen. Für DARE stellten die beiden persönliche Fotos zur Verfügung die sie bei ihren Reisen rund um den Globus zu Festivals voneinander aufgenommen haben. Wir sprachen nach einem Brunch im römischen Viertel Pigneto in ihrer Wohnung über „Italy: Love it, or Leave it“, Italien, und weshalb ihre Filme international so erfolgreich sind: Je lokaler der Blickwinkel sei, umso mehr Menschen erreiche man. Die strukturellen Probleme unserer Zeit scheinen sich landesunabhängig sehr zu ähneln. Bundesstart von „What is Left?“: 12.06.2014 www.whatisleft.it “Italy: Love it, or Leave it” ist in Deutschland auf DVD erschienen und im Online-Shop von déjà-vu film erhältlich: www.silvercine.de | www.italyloveitorleave.it “Suddenly last winter” ist ebenfalls auf DVD erschienen, mit einem Begleitbuch der Autoren. www.suddenlylastwinter.com. _________________________ The enormous success of Matteo Renzi and his center-left party (41% at the European election) in Italy seems to bring an unexpected stop to the lost years of the Berlusconi era and to the new populist movements of the comic Peppe Grillo (m5s = movimento 5 stelle – “5 star movement”). Does this change the question “What is left”? L: We try to describe what may mean ‘left’ today in a socio-political context on the basis of the historically fundamental concepts of the left. We are not sure whether Matteo Renzi has a similar idea of what is left but we are curious to see what will happen. And what is your idea of what is left? G: If we were to name only six terms, we would say: equality, human rights, work, secularism, ecology and education. The vivid discussions of Thomas Piketty’s Capital in the Twenty First Century may demonstrate the necessity to ask what is left. Did your film anticipate the 2014 Zeitgeist? L: When we decide to make a documentary, our starting point is always something autobiographical. After we did “Italy: Love it, or leave it”, we tried to come up with a new subject and thought about making a film about the – at the time – possible victory of the political left in the February 2013 elections in Italy. However, as we were shooting the film, it became clear it became rather a film about their shortcomings as it was then sadly evidenced in the election results. As you know, on the title of the last DARE, the famous phrase "The law is the same for everyone" could be read in the image of a work by Aernout Mik. Both of your last films
“What is left?” and "Italy Love it or Leave it" lead us to hope that Italy is also about to change in this sense. What do you think and - more importantly - will you remain in Italy? L: The truth is that it is difficult to make predictions in Italy, because it is impossible to understand in advance what will happen since every day the scenario changes. So, one tries to make predictions but it is pure speculation. The references change, something else might have happened tomorrow. It is precisely because of this that we are staying, because we are living during a time of great historic change so that it is very interesting to follow it. Often these days, there is the feeling that Italy is being "rebuilt" and the comparison is made with the postwar period. G:Certainly that is slightly exaggerated, however in some ways it is also true. It is a country which must absolutely reinvent itself, which must find a new path. Recently the "General States of Culture" were held (note: cultural event held in November 2012 in Rome under the auspices of the Italian President, Giorgio Napolitano), during which it was stated that culture should be returned to the centre of Italy's development and I believe that there are many new avenues. Turning more in detail to “Italy: Love it, or Leave it”, in your opinion, is the answer that Andrea Camilleri gives at the end of your film true, i.e. "one must not run away but stay and defend one's own ideas"? G: Yes, it is fundamental, absolutely. And maybe Italians have forgotten this for years. L: Terrible things have happened in Italy in the last ten years. And Italians have become very cynical. Maybe it was also a defence mechanism to be able to survive everything that was happening: being slightly detached and believing that basically "this doesn't affect me personally, so I am not interested". But we were still quite all right economically. In reality, however, it did affect us personally. For years, we pretended that that was not the case. And today we can see the results. G: All the cultural barbarization and then the response of the historical-artistic heritage which literally started to collapse, almost as if to remind us: "Look, you have to take care of us, otherwise we will collapse!". So, it was like a large earthquake, if you want. Metaphorical at first and then unfortunately real as well because then the real earthquake also came. L: However, what Camilleri in fact says, that maybe now awareness is starting to wake up, is certainly positive; also because, especially among the youngest of us, we feel that there is great discomfort, but also a great demand. The new generations are not standing back watching. They go to the square, they demonstrate, occupy theatres and cinemas. They want to be part of active politics, maybe in an infantile and superficial or over idealistic way, but positive nonetheless. So, what Camilleri says is certainly true. [Editor’s note: The famous Teatro Della Valle di Roma has been occupied as a protest since 14 June 2011 by the show business workers – www.teatrovalleoccupato.it] G: With Beppe Grillo’s m5s unexpectedly high results in last Italian elections in February 2013, especially the young generations expressed their dissence with the traditional parties and politics. Unfortunately Grillo proposes once again a system where there is one man leading and all the others are following blindly – but he covers it with the idea of “direct democracy”. I don’t see a lot of democracy in that movement. Those who have tried to criticize Grillo have been thrown out from the party. The last elections offered the chance to create a government of change, putting the ideas of the democrats and the m5s together, but the Grillini declined it and so another possibility to get out of the marsh has been wasted. At the 2008 Berlinale, we often heard that in your first film "Suddenly last winter" there is a Moretti-type irony. Maybe the same happens with "Italy: Love it, or Leave it", for example when you want to give a Bialetti to George Clooney in front of his building on Lake Como, as a symbol of this change between Italian image and reality: Clooney does the advertising for Nespresso while the historic Bialetti coffee makers are now produced abroad...
L: I grew up with the films of Nanni Moretti, for example, therefore it is obvious that my irony is drawn somewhat from what I saw in his films. Sometimes I am told that my irony seems like that of Woody Allen, and that is normal because I grew up with these films. It is not a conscious thing. Obviously, I do not want to imitate Woody Allen or Nanni Moretti, but we realize that very often we are compared. - They are great masters, therefore it is flattering for us, but it is unconscious. Seeing "Italy: Love it, or Leave it" a second time, it seemed to us that there were a lot of small tributes to Italian cinema. But probably, we did not fully understand the wealth of the small quotes. G: There is the obvious tribute to Ettore Scola and his "A Special Day" in the terrace scene. And then also the fact that the Fiat 500 changes colour is a tribute to Monicelli's "The Incredible Army of Brancaleone", where the horse changed colour. Then there is the beginning of "8 1/2" by Fellini and a small tribute to Visconti, a small tribute to Rossellini... L: It is an internal game for us, but we do not want to appear to be "know-it-all"; let's just say that we thought it was important to make a reference to what is rightly considered "the golden age" of our cinema, between the Fifties and Seventies. G: Usually abroad they do not get them easily because they do not know these particular film scenes well. However, there have been a few people who have said to us that that terrace scene is their favourite scene of the film, even if they did not understand that it was a quote. L: Ettore Scola is a director whom we absolutely love precisely because he has this capacity, typical of the Italian comedy, of handling serious subject with an ironic, light and even grotesque approach. It is not easy to carry off grotesque. G: Obviously, if we had done "Italy: Love it, or Leave it" in a serious way, it would have become so deadly boring, that all you would want to do is get out of the cinema and commit suicide.... Speaking of references, there is also a tribute to Sofia Loren. First, we see your book on her, Luca, and then she returns as symbol of an Italian legend. What does Sofia Loren mean to you? G: She is his favourite actress. L: I adore Sofia Loren because I believe that she is maybe the only actress in the history of cinema who has been capable of being good both in comedy and in drama. A very dramatic nature, but then she also has formidable comic moments. And these are two things that do not often go together. There are great comic actresses, there are great dramatic actresses, but it is difficult to find actresses who are incredible in both roles. And then she is a woman who from nothing, from the province of Naples, managed to get to Hollywood, to win two Oscars, and playing in several languages, always driven by her discipline and her talent but also with humility. For me, it is incredible that one person managed in a single lifetime to do all this. G: Then in the film, obviously this attachment that Luca has for these "Italian icons" is the way to show that we Italians too often look back. Strengthened by this past that we have found to be very cumbersome, but also very glorious, therefore it is somewhat a guarantee. We can say: we are the Italians, we are the ones who did this, this, and this... We have had Leonardo, Michelangelo, the Roman Empire; we have had Fellini, Sofia Loren, we have Bialetti, we have fashion, we have Valentino and Armani. And one says: “I understand. But then, looking forward, what’s ahead�? L: In the film, he makes me change perspective. He says to me at a certain point: "Stop looking back, now we have to reinvent this country". Sofia Loren is now 80 years old, Fellini is dead, Pompei is falling to pieces, so: what are we talking about? Therefore, it is really the desire to play with the fact that we Italians are a little lazy and
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are afraid to look forward. Because in front of us there is a long tunnel with just a small light at the end of it. And that light is very faint and comes and goes. [Editor's note: "There is the light at the end of the tunnel", phrase of Mario Monti repeated several times regarding Italy's economic situation during the crisis]. G: There is a wonderful comic - it is completely black and one person says: "We have come out of the tunnel but maybe it is night-time." L: We have had enough of this attitude, it is ridiculous. We decorate ourselves with something which in fact is not ours. I am not Fellini, I am not Sofia Loren... I am a person of the 21st century who must invent a new country. G: In the film we have in fact these two roles which then are also ours in real life. In the film we only exaggerated slightly, we only slightly pushed on the accelerator. L: I am the romantic one, he is the pragmatist. The film shows us some extraordinary characters of Italy today such as Lorella Zanardo, the author of the documentary "Women's Bodies" and the book by the same name, which talks about Italian television. There is Carlo Petrini and his Slow Food movement trying to change the people’s attitude to relate to daily nutrition. Also, there is Nichi Vendola, who has been Governour since 2005 of the Puglia Region, self-professed gay, originally Communist and Catholic... G: Let us say that the idea was to find those people who represent somewhat the metaphor of all those Italians who have stopped complaining, and who have started to try to change things. Because in fact, as Luca said, Italians are very good in complaining. However few then change their attitude and try to work for this change. The idea of the film was to inspire those watching it to change their attitude. L: In the film Gustav and I are only the leitmotiv; the real protagonists are those 12 stories which we found after months of research: the environmentalist in Caserta, the actress, the monk, the politician, the sociologist, the labourer. Precisely because each of them, in a different way, is trying to improve Italy. G: It’s a small tribute to all this Italian civil society, which is very aware and very strong. I believe that in few other European countries exists a similar kind of tendencies to form associations (associazionismo) in any fields. If Italy is no worse off than it is after 20 years of Berlusconi, it is thanks to them. It could have been much worse if this civil society had not embanked a river which otherwise would have destroyed everything. Just think of the attempts by Berlusconi and Lega Nord regarding the immigration policy. They wanted doctors to report illegal patients because in Italy there is this wonderful thing that, even if you are an illegal immigrant, you still have the right to free public health and if you have a problem, even without documents you can be treated free-of-charge. There was a very strong mobilization in the civil society against this proposal by the Lega and Berlusconi. This happened not only on the subject of immigration but also in many other fields and this
engagement, in my opinion, should also make us proud. L: Obviously, this commitment by the citizen is so strong precisely because the state is, for the most part, absent. So, we Italians have always had to learn to manage ourselves in our own small way, because we have never trusted our politicians. However, the serious thing that is happening is that up to now this social system was the family. Now, for the first time in the history of our country, the younger generation is poorer than their parents. G: In the future we will not be able to guarantee this social security which our family, in the absence of a government, could guarantee us. These are strange contradictions, which you talk about also in a very intelligent way, for example when you show Italian TV and the reactions. How can you explain that in such a Catholic country there is such a serious violation of the rights of women, such as the presentation of nude girls on TV shows and things of that kind? L: Well, that is easy to explain because the Catholic religion is a very misogynist religion, which profoundly hates women and therefore the fact that women are not respected is not a serious problem; and Italy is a Latin and profoundly patriarchal country. You are also talking a little about Italian men. We learned through your film that Italians are too effeminate - or as you, Gustav, say in the film, "they are all gay", is that true? L: There are two here. G: There is a lot of narcissism among the so-called "heterosexual" men in Italy. I am always convinced that they are all gay, then instead I am always mistaken because I see these boys shaping their eyebrows, depilating, putting on night creams but then they have a fiancée. L: Our female friends are desperate because in fact they cannot find an Italian boy who is attractive, intelligent, pleasant and straight. No, all these things together are hard to find. If he is straight, he is probably ugly, overweight, spoiled, with a mother who washes his socks. If instead he is attractive, you know he is a narcissist, goes to the gym... So you end up taking a gay man and "oh well", at least he will be a good father for your children... G: And in fact, the thing that strikes me most of all when I go abroad, to France, Germany or England is that heterosexual men are “reconciled” to their feminine side. So they do not feel threatened, they do not constantly have the problem of having to express their masculinity. But why is there such a fear here of appearing gay? G: Exactly, here the heterosexual male is terrified that someone would think he is gay, just if he associates with a gay person, therefore even the friendship between a heterosexual and a gay is not very usual here, even if in the younger generations I think things are going better. L: There has always been an insane anti-gay campaign on television, actually... in recent years in fact and always because we have the Vatican on our home ground and Berlusconi's television. G: The fact of homosexuals was always a problem. Always seen as a threat, even if then actual society is very different from the society shown on TV. It is just that in fact these homophobic voices find 39
an amplifier on television so that the impression that you get is that the country is much more homophobic than it actually is. L: I do not know, look... sometimes I am surprised to discover that it is. Sometimes I am surprised to discover that it is not. I do not know. I am no longer able to tell. In your film, you talk about many major problems of today's Italy, Berlusconi, nude women as objects on Italian TV, organized crime, the bribe, immigration, unemployment, illegal labour, unauthorised building, the return of Fascism… Methodically, is there a resemblance with the literature-journalism of Roberto Saviano? G: Well, in fact even if we are flattered by the comparison with Saviano because we admire him a lot, the thing that what we have in common if you will is the desire to talk about our country a little in terms of its most problematic issues and this I think is the calling of both the documentary and the essay. Obviously, ours is not a film produced by the Ministry of Tourism which must talk about the beauty of Italy, we already have postcards for that. We wanted to make a film that showed the problems. Unfortunately, in one and a quarter hours we could not talk about ALL the problems, just a few. We would like to have talked about the Lega Nord and we did not. We could have talked about the problem of schools or medical malpractice, separate documentaries could be made on each of these subjects. L: And we, because of time, could only tackle those subjects which we have just mentioned. But there are many more. Saviano, who is a writer whom we admire a lot, describes something that he knows well and which is the so-called vote trading which in the South always determines the victory of Berlusconi's party. Maybe there is a key phrase at the end of the film. You, Gustav, say "It is really incredible that 500 metres from ugliness, there is absolute beauty." It seems to be a truth that is found – one would dare to say in terms of beauty - only in Italy. L: I believe that is a rather unique trait of Italy, because it has an absolute beauty, absolutely obvious and unique. That is to say, a richness. Think of Venice, think of the Valley of the Temples of Agrigento, the Cinque Terre... there is no need to list the entire artisticcultural heritage of Italy. The sad thing is that unfortunately because of poor management of public matters and Mafia infiltration, so much ugliness has been created. G: And Italians do not like to talk about it because for them this will always be the "Bel Paese". However, the truth is that while we were talking here about how beautiful this country is, they were destroying it. So today, fortunately not everywhere, but often especially alas in the South, often next to beauty there is real horror! The whole area around Naples, the whole Caserta area, Calabria, places forgotten by God, which have very little that is beautiful. L: Well, Caserta for example is always very lovely. G: Caserta is very beautiful. But ten minutes from Caserta you are where we were: dumps out in the open, there is a stench that is awful to smell. So it is like that, especially in that area there is the Mafia, there is the Camorra, who evidently do not care much for beauty. To talk more about beauty - the eternal city, Rome remains the absolute beauty… G: They want to destroy Rome as well, and they are succeeding. Because they are building many "satellite neighbourhoods" (new suburbs) which are really ugly, they are inhuman neighbourhoods built as they were during the Sixties, neighbourhoods of mass building speculation. In conclusion: the only thing on which we do not agree is the hypothesis that a good coffee can be found everywhere... L: And Gustav who in the film tells me "coffee is also made well in Berlin". Today you can say you were wrong. Today you can admit that when we are abroad the coffee is disgusting. The coffee they drink abroad is terrible (laughing) ...
Übersetzung aus dem Italienischen durch elativum Hamburg und B. Fellmann. 40
Text: Auszüge, 16 Jahre
1998 – 2014 1998 Ich glaube, alle sind auf unserer Seite. 1998 Warum nur immer so schnörkellos? 1999 Lass mich dich im Auge behalten. 2001 Mittlerweile bin ich davon überzeugt.
1999 Wir sind alle etwas gewachsen und haben das allen bewiesen. Auch der Polizei.
2003 Habe meine Seite des Jochs gesprengt, 2003 Ich habe mir Mühe gegeben, ich habe versucht es richtig zu machen, ich habe ein einsames Leben geführt, ich habe in meinem eigenen Bett geschlafen. 2004 Ich denke nicht, dass Du richtig für ihn bist. Ich denke wir sollten gemeinsam Bus fahren. 2004 Die selbe Melodie. Seit Jahren schon. 2004 Das weiß ich nicht, ich hoffe sie wird neben mir stehen. 2005 Ja, ja "Meet me in Chinatown". 2005 Du erzähltest von Orten an denen ich nie und Du ständig warst. 2005 Du hast viel gesagt, unter anderem ich sei wie das Tote Meer. 2006 Ich hatte das Gefühl es wäre Zeit. 2006 Ich habe stattdessen hier geschlafen. 2006 Du hast diese Karte auf meine Hand gezeichnet. Ich habe meine Hände gewaschen bis sie nicht mehr zu sehen war. 2007 Liebstes Mädchen, bitte geh nicht. Liebstes Mädchen, bitte geh nicht. Liebstes Mädchen, bitte geh nicht. Ich war bisher blind. Ich war bisher blind. Ich war bisher blind. Liebstes Mädchen, bitte geh nicht. Liebstes Mädchen, bitte geh nicht. Liebstes Mädchen, bitte geh nicht.
2008 Schönheitsköniginnen. Sie sind überall. 2008 Ich habe alles rot gemalt. Ich habe wirklich alles rot gemalt. 2009 Ich dachte ich würde mindestens in der 5. Runde zu Boden gehen. 2009 Ich möchte dich abholen. 2010 Oh ja, da geht er hin, der Mann des neu gewonnenen Glaubens. 2010 Hast Du denn gezögert? 2010 Ich warte hier bis alle weg sind. 2010 Es sah die ganze Zeit nur so aus als würde ich geradeausgehen, ich bin noch nie in so schlechter Form gewesen. 2011 So hast Du mich also gefunden, vom Regen durchnässt. 2011 Ich habe mich in einer Sprache verfangen, in der ich nur höflich sein kann. 2011 Vielleicht nennt man soetwas nicht beim Namen. 2012 Ich dachte wirklich, ich hätte gerade genug um dich hier zu behalten. 2012 Hinter der Fassade ist es leer. Scheiß Facebook. 2013 Wie wird man zu jemandem von Deiner Art? 2014 Sollte ich lügen, indem ich sage es kann so bleiben wie es ist? 2014 Alle haben immer gesagt wir stünden uns so nah. (Wir bestehen nicht aus Handlungen. Wir sind unsere Kommunikation.)
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Text: Carl von Siemens
Quos vult perdere deus Warum sind wir so, wie wir sind? Werden wir frei geboren, oder bestimmt eine planetarische Konstellation unser Leben bis zum Ende? Müssen alle Dinge so kommen, wie sie kommen werden? Haben wir die Wahl? Können wir uns ändern? Es geht um folgende Geschichte: An der Universität von Oxford erhält ein junger Deutscher eine Ausbildung zum Technokraten. Er lernt, Informationen in kurzer Zeit zu verarbeiten, zu einer These zu verdichten und diese selbst dann zu verteidigen, wenn er nicht an sie glaubt. Man präsentiert ihm volkswirtschaftliche Modelle und zeigt ihm, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, will man Wachstum, Arbeitslosigkeit oder Inflation um einige Prozentpunkte nach oben oder nach unten verschieben. Wie seine Freunde spielt auch er mit dem Gedanken, sein Geld als Unternehmensberater oder Investmentbanker zu verdienen. Wenn er träumt, dann träumt er von den 20er Jahren. Er ist stolz und kalt; das übrige England, das sich außerhalb der Universitätsmauern abspielt, findet für ihn und seine Freunde nicht statt. Auch der „Second Summer of Love“, der von Manchester aus die Clubkultur revolutioniert, geht spurlos an ihnen vorüber, sie haben nicht einmal davon gehört. Nach seiner Graduierung zum Bachelor of Arts wechselt er an die London School of Economics. Er erlebt den Rücktritt von Margaret Thatcher und sieht marxistische Professoren im Walzerschritt durch die Korridore tanzen. Mit dem Fall der Berliner Mauer beginnen die 90er Jahre, die bis zu den Anschlägen vom 11. September andauern werden; vielleicht nur aus Hilflosigkeit wirft Großbritannien seinen Blick zurück auf die sechziger Jahre. In Kensington erwirbt der Technokrat ein Batikhemd, setzt sich auf eine Wiese und versucht, Zigaretten zu drehen. Dabei reift in ihm der Entschluss, über Land durch die zerfallende Sowjetunion, China und Nepal nach Indien zu reisen. Eine Freundin rät ihm, die Reise in Goa zu beenden. Er wird es nur bis Bombay schaffen und Asien mit dem unbestimmten Gefühl verlassen, eine Mission nicht vollständig zu Ende gebracht zu haben. Dennoch ist etwas mit ihm geschehen: Während seine Freunde von den Bürotürmen der City of London verschluckt werden, sitzt er auf einem Kissen in Camden Town, liest Bücher von Hunter S. Thompson, hört Platten von Lou Reed und zieht nach Berlin. Seine Mission gibt sich weiterhin neoliberal, doch ist sie nun auch von Neugierde getrieben: Er promoviert über die Restrukturierung planwirtschaftlicher Betriebe; in Berlin, so glaubt er, werden Ost und West zu einer neuen Identität zusammen wachsen. Erst 42
später wird er erkennen, dass seine Dissertation nicht das Protokoll einer Hochzeit, sondern das einer Unterwerfung sein wird. Ein junger Hanseat vermietet ihm sein Zimmer im Stadtteil Moabit; das Zimmer ist Teil eines Netzwerks von Wohngemeinschaften, die Betriebswirte und Juristen aus der norddeutschen Tiefebene als Einflugschneise in die Hauptstadt benutzen. Das Eigentum der DDR wird in Görings ehemaligem Ministerium mit seinem Paternoster verscherbelt, Hasen jagen sich über den Potsdamer Platz, in Charlottenburg tragen Immobilienspekulanten blaue Hemden mit weißen Krägen und glauben, dass Berlin über Nacht wie London oder New York werden wird. Für den jungen Hanseaten jedoch hat sich die Stadt in der Gestalt eines riesigen Abenteuerspielplatzes entfaltet, sein Credo sind Techno und House. Er verwahrt Flyer, Bootleg-Tapes von Westbam und Marusha und unscharf geschossene Polaroids, die er von seinen Expeditionen vom Osten nach Hause bringt, in einem Konvolut aus vierzig Aktenordnern, die wie Botanisiertrommeln den Sockel seines Bettes bilden. Darauf liegt nun der Technokrat; seine Erinnerungen gewinnen an Pathos: „Die Tage verbrachte ich in der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz oder führte Interviews mit Mitarbeitern ehemals Volkseigener Betriebe in Treptow oder Marzahn. Menschen, die dabei waren, ihren Boden unter den Füssen zu verlieren, luden mich zu „Beratungen“ in Zimmer mit ledergepolsterten Türen, in denen Zigaretten der Marke Cabinet in Buketts auf dem Sofatisch standen. An den Abenden lag ich über dem Kuriositätenkabinett des Hanseaten auf einer Ikea-Matratze, studierte das Gesicht des Manns im Mond, der über dem Moabiter Gefängnis durch die Dachluke spähte, und hörte Tom Waits’ „Waltzing Matilda“ in einem nicht enden wollenden Loop. Ich kannte in Berlin nur wenig Leute, und das, was ich in England an sozialen Fähigkeiten erlernt hatte, erwies sich an Turmstraße und Kottbusser Tor als vollkommen nutzlos. Die in den Aktenordnern enthaltenen Zeichen waren die einzigen Wegweiser, die ich hatte, um mich in dem neuen Umfeld zurecht zu finden. So begann ich, alleine auszugehen. Das war für mich eine große Veränderung. Früher hatte ich das Haus nur verlassen, um Freunde zu treffen; nun befand ich mich in einer Stadt, in der Urbanität an sich ins Zentrum des Interesses gerückt war. Und das Berlin dieser Zeit war größer und düsterer als das Berlin der heutigen Tage. Es war das Berlin der Unterver-
Text: Anna Nosthoff & Felix Maschewski Text: Carl von Siemens
sorgung, das Berlin des Filmemachers Fred Kelemen, ein Berlin, in dem man immerzu das Gefühl hatte, kilometerweit zu laufen, zu frieren, keine Gaststätte zu finden und irgendwann vergewaltigt zu werden. Die Stadt, so schien es mir, hatte sich im Stolz auf die eigene Härte verbunden, kaufte in einer Supermarktkette namens „Bolle“ ein, rasierte sich den Schädel, frequentierte Darkrooms und torkelte morgens um acht Uhr aus Eckkneipen am Hermannplatz, um die Kinder zur Schule zu bringen. Ich hatte mir ein Fahrrad gekauft, auf dem ich in der Nacht Runden um den verwaisten Reichstag zog; dann bog ich nach Norden, Osten oder Süden ab, um dem Ruf der Botanisiertrommeln zu folgen. All das spielte sich vor der Zeit des Internets ab, und so war es die größte Herausforderung, an Hinweise auf eine gute Party zu gelangen. Die beste Informationsquelle waren Handzettel, denen es in den interessanteren Fällen gelang, durch den Samisdat-Charme des Amateurhaften um sich herum ein gewisses Geheimnis zu erzeugen. Sie wurden entweder in den Clubs selber verteilt und richteten sich dann nur an Insider, die ihre Initiierung in die Mysterien des Nachtlebens bereits erfahren hatten. Oder sie lagen auf den Theken von Geschäften wie denen in der Schöneberger Goltz Straße aus, wo man Clubmusik und dazu passende Leibchen kaufen konnte, die ein findiger Fabrikant mit den Logos von Waschmitteln und Handcremes bedruckt hatte. Ich möchte an dieser Stelle gestehen, dass Musik für mich bis zu dieser Zeit kein Identifikationsmittel gewesen war. Ich hatte mich niemals des Besitzes einer Plattensammlung gerühmt, ich hatte niemals Luftgitarre gespielt, und ich hatte gerade erst gerade gelernt, was „auflegen“ bedeutet. Nun drehte sich alles um Rave; seine Bedeutung bestand darin, dass das Publikum nicht mehr den Musiker, sondern sich selber feierte. Der Sommer wurde lang und heiß, die Love Parade kam. Am 1. Juli 1995 verabredete ich mich mit Bekannten aus meiner Wohnung in der Akba Lounge am Prenzlauer Berg. Je mehr sich der Club füllte, desto enger rückte meine Gruppe zusammen; je lauter die Musik spielte, desto schriller wurden ihre Stimmen. Ich erkannte eine unangenehme Koketterie in dem kollektiv gefällten Urteil, man sei für den Abend „falsch angezogen“. In ihm offenbarte sich nicht nur das Eingeständnis von Menschen, die sich alle eindeutig für „wohlerzogen“ hielten, mit einer Etikette gebrochen zu haben und diesen Fehler beheben zu wollen – vielmehr stand dahinter die unausgesprochene Haltung, dass es in Wahrheit nicht sie waren, die sich falsch gekleidet hatten, sondern der Rest der Welt um sie herum. Erst später sollte ich lernen, dass in Deutschland nicht nur Wessis lieber unter Wessis und Ossis lieber unter Ossis bleiben, sondern dass Honoratioren vorwiegend nur mit Honoratioren verkehren, Landwirte nur mit Landwirten, stellvertretende Bereichsleiter nur mit stellvertretenden Bereichsleitern, Grüne nur mit Grünen und Kreative nur mit Kreativen; die damals in den Feuilletons herausposaunte Hoffnung, dass sich die Berliner Republik zu einem Salon entwickeln würde, in dem sich verschiedene Milieus miteinander vermischten, erwies sich aber bereits schon an diesem Abend als Illusion. Ohne mich zu verabschieden, stand ich auf und stürmte wütend aus dem Lokal.“
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Text: Carl von Siemens
Hoppla! Was geschieht? Wenige Augenblicke später sehen wir den Technokraten auf seinem Mountainbike über das Kopfsteinpflaster die Prenzlauer Allee hinunter hoppeln. Die mürben Häuser mit ihren Balkonen sind abgedunkelt wie im Krieg, nur in einem Fenster brennt Licht, drei Lesben sitzen im Unterhemd um den Abendbrottisch, in der Ferne blinkt der Fernsehturm. Ein Wind bläst, der Technokrat dreht sich nicht um, er fühlt sich verloren und allein. Tatsächlich befindet er sich zwischen den Zeiten, in dem köstlichen Moment einer totalen Freiheit, in dem das Alte aufgehört, das Neue aber noch nicht begonnen hat. Er erwägt, ob er nach Hause fahren oder, einmal mehr, dem Ruf der Botanisiertrommeln folgen soll. Auf der Rampe des verwaisten Reichstags bringt er sein Fahrrad zu einem abrupten Halt. Über seinem Kopf versprechen Buchstaben düster: „Dem Deutschen Volke“. „In meiner Tasche befand sich ein Flyer: Auf einer Bergkuppe beteten drei Menschen zu einem schwarzen Mond, der sich in einer Korona aus Licht vor die Sonne geschoben hatte. DJs waren Sangeet, Marcos Lopez, Digital Joy und Goa Gil, es würde eine Tanzvorstellung von Lalitâ Sana Dance & Evalution Morgana geben, und darüber hieß es in roten Lettern: „The Moon & The Sun. Psychedelic Summer Event.“ Diese Worte riefen in mir Erinnerungen an Batikhemden wach, an selbstgedrehte Zigaretten und eine Wiese in Kensington. Der Ort, auf den der Flyer verwies, war ein Gebäude am SBahnhof Friedrichstraße, in dem man zu DDR-Zeiten dem scheidenden Westbesuch hinterhergewinkt hatte. Der Volksmund nannte ihn deswegen den „Tränenpalast“. Die Frau an der Kasse hatte sich ein Ornament von der Größe eines Fingernagels zwischen die Augenbrauen geklebt, das indische Bindi. Es roch nach Räucherstäbchen und Patschuli, und durch den Vorhang dahinter knatterte eine mir unbekannte Musik. Ich teilte den Stoff und trat in die Bahnhofshalle. Ihre Wände waren aus Glas und wirkten auf mich wie Kirchenfenster. Alles in dieser Kathedrale befand sich in konstanter Bewegung. Mädchen in Schlaghosen hatten einander Blumen ins Gesicht gemalt und stapften nun mit weichen, fließenden Bewegungen über die Tanzfläche. Männer mit Zöpfen und Vokuhila watschelten und wuselten zwischen ihnen hindurch; einer von ihnen verriet mir im Laufe der Nacht, er sei zu DDR-Zeiten Mitglied der Kampfschwimmer gewesen. Doch es gab auch Greise und Kinder und einen Tisch in der Ecke, hinter dem eine Frau am Boden saß (wie im Aschram) und milchigen Tee, Kuchen und Bananen verkaufte. Unter einer Lichtprojektion erhob sich der DJ, ein älterer Mann mit Dreadlocks bis zum Po, der Bewegungen machte, als stünde er bis zu den Hüften in Teig. Zu einem warmen Bass legte er Tonspur um Tonspur übereinander, setzte sie für einige Takte aus und ließ sie dann mit einem Knalleffekt in Kaskaden wieder über den Raum hereinbrechen, der jede neue Idee mit Trillerpfeifen und Jubelschreien feierte. Am dessen hinteren Ende saß ich zunächst nur mit einer Flasche Becks auf der Treppe, doch dann stand ich auf, und es war um mich geschehen. Beim Teutates! Mir war, als würden sich die Wolken teilen und als würden dort, über sich drehenden Fetzen von Nebel und Rauch, Streitwagen direkt in die Sonne hinein 44
Text: Anna Nosthoff & Felix Maschewski Text: Carl von Siemens
Staubnomaden geworden bin. Ich müsste erzählen von Olivenbäumen, von Dixieklos und von indischen Wellen am Strand. Ich müsste erzählen von der Nachbarschaft auf einem Festivalgelände, von Stiernackenprolls, Feuerwerkskörpern, Regen und zusammen brechenden Zelten. Vielleicht müsste ich auch erzählen, dass am Ende nicht alles so geklappt hat, wie ich es mir vorgestellt habe, und dass ich mich eines Tages fragen würde, ob die Dinge so haben kommen müssen, wie sie gekommen sind. Irgend jemand hat einmal behauptet, man hätte mir in dieser Nacht etwas ins Glas gegeben, doch das entspricht nicht den Tatsachen. Ich war damals nicht mehr und nicht weniger als dies: Ein stocknüchterner BWLer auf den Treppenstufen des Tränenpalasts in Berlin. Ich hielt eine Flasche lauwarmes Bier in der Hand, und in der Nahrungskette des Rock ‚n‘ Roll kam ich nicht an erster Stelle. Doch die Musik jazzte, und sie schmetterte, und sie sengte vom Himmel herab, und ich lag niedergestreckt unter ihr, und es gab nichts mehr, was ich gegen sie auszurichten vermochte.“
galoppieren. Ich sah Astarte und Nebukadnezar und Thor und Odin mit aufgestellter Lanze, um dessen Schaft die Raben Hugin und Munin flatterten. Manchmal donnerte die Musik, doch dann war es auch eine sanfte Musik, Musik wie ein Netzwerk aus Laserstrahlen, Musik fast sichtbar und greifbar. Musik, über die man klettern konnte, bei der man über Neonfarben stieg und durch dreidimensionale Computerräume, in denen die Temperatur über die Haut perlte und die Luft voll wunderbar fiepender Gerüche war. Und was man zu dieser Musik nicht alles machen konnte! Es gab Hände, Händchen und liebe, lustige, flirrende Finger, Finger wie Bienen und süße Insekten, die vor dem Gesicht durch die Luft flatterten. Man konnte die Fäuste ballen vor der Stirn, es war ein Knubbeln und Knobeln und Klopfen an verschlossene Türen, und hatte man sich mit jemandem verbunden, dann ging die Türe auf, Pupillen tauchten ineinander und Menschen fielen sich in die Arme, um dann über reines Land weiter durch den Tränenpalast zu marschieren. Die Musik war leicht, leicht und schwebend wie Vogelzwitschern und Schmetterlinge und kleine, schmatzende Seifenhändchen, nun gut; – doch es gab auch andere Momente, in denen alles Mythos war, in denen es keine Melodien mehr gab, und man nur die rhythmisch am Boden aufschlagenden Füße zu hören glaubte mit ihrem gleichmäßigen „Scharr, Scharr, Scharr“, „Scharr, Scharr, Scharr“, „Scharr, Scharr, Scharr“… Irgendwann, es war Morgen geworden, wurden die Rollos der Fenster gehoben. Die Strahlen der aufsteigenden Sonne fluteten den Raum, ein Schrei zerriss die Menge, und alle tanzten nun dem Licht entgegen. Ich muss gestehen, dass ich bald nach dieser Nacht meine erste Reportage schrieb und veröffentlichen durfte. Es war ein Text über zwei BWLer in Prag, die in Clubs gehen und sich gegenseitig Dinge sagen, die eigentlich niemanden interessieren. Sie wurde in der deutschen Ausgabe des Musikmagazins „Rolling Stone“ veröffentlicht, und ich war darauf mächtig stolz. Vielleicht müsste ich jetzt auch erzählen, wozu ich mich später alles habe hinreißen lassen für die wenigen Reportagen, die ich geschrieben habe, und für die vielen Reportagen, die ich nur habe schreiben wollen. Ich müsste erzählen, wozu ich mich alles habe verführen lassen, durch die Musik und diese Mädchen mit den Blumen im Gesicht. Ich müsste erzählen, was mir dabei widerfahren ist, welche Berge ich bestiegen und welche Wüsten ich durchquerte habe, als ich, für verrinnende Zeit, zu einem der sinnlos vor sich hin tanzenden
Wer stiehlt hier wessen Biografie? Vereinnahmt der Autor das Leben des Technokraten, oder obsiegt der Technokrat über den Autoren? Es gibt zwei Arten, diese Geschichte zu lesen. Eine Art ist diese: Diese Geschichte ist die Geschichte eines Aufbruchs. Der Technokrat ist das Produkt eines Systems, er ist Form ohne Inhalt. Sein eingesperrtes Herz such einen Ausweg und findet, in der seltsamen Ökologie der Dinge, was es nun mal finden muss. Der Kampf um die eigene Seele beginnt, er wird ihn ein Leben lang begleiten. Im Konflikt beginnt er zu schreiben, irgendwann wird er zum Dichter. Die andere Art ist jene: Seit dem Abend im Tränenpalast ist es um die Karriere des Technokraten geschehen. Die inneren Welten haben obsiegt, er wird nie wieder festen Boden unter die Füße bekommen. Zwanzig Jahre später vagabundiert er noch immer durch die Welt, um dem Ruf der Botanisiertrommeln zu folgen. Er schreibt selten, keiner liest’s. Seine Geschichte ist die Geschichte einer Verwirrung. Quos vult perdere deus, prius dementat1 .
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„Wen Gott verderben will, verblendet er zuvor.“
Text: Ingo Niermann
Schnecke stolpert nicht Harry rebelliert als Punk gegen das Regime der DDR. Nach dem Fall der Mauer irrlichtert er mit seinen Freunden tapfer umher. Sie versuchen ihr Glück als Gebrauchtwaren- und Drogenhändler, als Burgherren und Diebe, suchen ihr Glück im Luxus, im Rausch und in der Liebe. Eine Odyssee gen Westen.
trag wird Anfang 1989 stattgegeben. An seinem 18. Geburtstag stellt auch Harry einen Ausreiseantrag. Abschied von Sandra am nächsten Morgen. Harry bleibt in ihrer Wohnung einfach wohnen. Wegen seines Ausreiseanstrags fliegt Harry aus dem Sportverein und wird bei der Arbeit zur Rede gestellt. Er erklärt, dass er ausreisen wolle, um die sozialistische Idee in den Westen zu tragen und die Arbeiter dort aufzuklären. Man weiß, dass er sich lustig macht, kann aber nichts dagegen sagen. Stattdessen erhalten seine Kollegen Redeverbot mit ihm.
Harry (Harald) ist 17 und lebt in einer Großstadt der DDR. Er ist mehrfacher Jugendmeister im Judo. Der Sportverein, bei dem er täglich trainiert, gehört der Stasi. Harry hat begonnen, sich für Musik zu interessieren: zunächst Depeche Mode, dann Punk. Seine Haare hat er wasserstoffblond gefärbt, vorne reichen sie ihm tief in die Stirn, hinten und an den Seiten hat er sie kurz rasiert. Gewöhnlich trägt er ein schwarzes Hemd, eine alte Reithose und einen Gürtel mit selbstangenähten Nieten. Seine U-Boot-Lederjacke aus dem Zweiten Weltkrieg luchst er einer alten Witwe für 30 Ostmark ab, indem er behauptet, er brauche sie für eine Brecht-Inszenierung der Jugendorganisation FDJ. Mit befreundeten Punks veröffentlicht Harry ein kleines Literaturjournal (Geschichten à la Miller, Bukowski und Baudelaire), das wegen seiner geringen Auflagen (unter 30 Stück, hektographiert) offiziell keiner Genehmigung bedarf. Wegen seines Aussehens und des Journals hat Harry Probleme in der Lehre, an der Schule (Erweiterte Oberstufe = Kombination aus Abitur und Lehre) und im Sportverein. Ihm wird damit gedroht, dass er auch bei dreijähriger Verpflichtung zur Armee keinen Studienplatz bekommen wird. Nachts laufen Harry und seine Freunde diagonal über eine menschenleere Kreuzung und werden daraufhin von der Polizei aufgegriffen. Ihre Ausweise werden so lange in den Regen gehalten, bis sie unleserlich und damit ungültig sind. Über Nacht werden sie im Revier festgehalten. Harry erhält den PM-12, einen Ersatzausweis, mit dem er sich nicht mehr frei bewegen und insbesondere nicht mehr nach Berlin reisen darf. Am nächsten Tag werden sie bis an den Stadtrand gefahren. Zu Fuß müssen sie zurück in die Stadt.
Ein kirchlicher Untergrund-Club in einem Dorf nahe der Stadt. Es läuft Musik wie Feeling B aus dem Osten, „Hubschraubereinsatz“ von Foyer des Arts aus dem Westen, und man tanzt mit ausladenden Gesten. Vor dem Club herrscht großes Gedränge. Eine Gruppe rechtsradikaler Glatzen taucht auf und beleidigt den farbigen und schwulen Lucky. Harry und seine Freunde drohen den Glatzen Schläge an. Harry wird wegen seiner Statur kräftemäßig unterschätzt. Als er warnt, dass er Judoka ist, wird er ausgelacht. Schon hat er den Anführer der Glatzen zu Fall gebracht und hebelt und würgt ihn im Wechsel. Lucky macht Harry flirtend Komplimente und erzählt von Parties in der Theater- und Schwulenszene. Er trägt Westjeans und Adidas Allround und bittet ihn, am nächsten Tag zum zentralen Kaufhaus zu kommen. Dort gebe es für ihn zum Dank ein Geschenk. Am nächsten Tag: Lucky steht bereits vor dem Kaufhaus und zeigt Harry eine mit einem Sony-Walkman dekorierte Schaufensterpuppe. Das Preisschild sagt: 1150 Mark. Lucky holt zwei weiße Kittel aus seiner Tasche, hält Harry den einen hin und zieht sich den anderen selbst über. Dann geht er mit ihm ins Kaufhaus, um der Puppe den Walkman abzunehmen und das Kaufhaus geradewegs wieder zu verlassen. Anschließend erzählt Lucky, dass er auch in Wohnungen einbreche und bei Bohème-Parties begehrte Westplatten und –bücher mitgehen lasse. Luckys kriminelle Energie schreckt Harry ab. Er will ausreisen, nicht in den Knast. Lucky beruhigt, er erfahre eine gewisse Protektion, da seine Mutter eine angesehene Journalistin sei. Harry zieht ihn auf: Ob es nicht eher ältere Liebhaber seien.
Harry hat zwar noch ein Zimmer bei seinen Eltern, lebt aber praktisch bei Sandra, seiner ersten großen Liebe. Sandra ist tablettenabhängig: Appetitzügler, Aponeuron und zum Schlafen Faustan (Diazepram). Die Medikamente bekommt sie von ihrer Mutter, einer Chefärztin, und Sandra betreibt damit auch Handel unter den Punks. Sie ist ein Jahr älter als Harry, und ihrem Ausreisean-
Harrys zwei Jahre jüngerer Bruder Jakob träumt davon, Unternehmer zu werden, und treibt bereits einen regen Handel mit von ihm selbst zusammengebauten Halogenlampen, für die er in Kleinanzeigen wirbt. Bald lässt er Mitschüler für sich arbeiten. Es 46
Text: Ingo Niermann
mittlerweile offen zu Tage tritt. Ihre Wohnung wirkt verwahrlost. Harry ist weiterhin verliebt, aber sie reagiert abweisend, und er weiß nicht, wie er ihr helfen soll. Bleibt aber erstmal bei ihr wohnen und fährt nur weiter nach Marienfelde, um sich sein Tagegeld zu holen und auf „Ost-Macke“ krankschreiben zu lassen. Harry möchte Abitur machen, aber erfährt, dass er die gesamte Oberstufe noch einmal nachholen müsste. Ihm wird zum Fachabitur geraten, das immerhin „nur zwei Jahre“ dauert.
kommt zu ideologischen Rangeleien zwischen Harry, der sich als Anarchist versteht, und Jakob, der sogar die westdeutsche soziale Marktwirtschaft als „im Grunde sozialistisch“ ablehnt, Nietzsche liest und Zeitungsfotos von Margret Thatcher und Ronald Reagan über dem Bett hängen hat. Jakob: „Du taugst eh nicht zum Unternehmer, dafür bist du zu ungeduldig.“ Harry: „Ich bin neugierig. Ich will teilhaben, ich will bei etwas Großem dabei sein.“ Jakob: „Und dazu gehört in erster Linie Geld. Früher hat man gezaubert. Dann wurde das Geld erfunden. Aus Magie wurde Geld.“
Harry gibt das Abitur auf, beantragt Arbeitslosengeld und sucht sich ein eigenes Zimmer. Der Hauptmieter Hank und seine Freundin Bea schlottern, angeblich wegen einer Erkältung, doch sie sind Junkies. Die Küche haben sie mit der Bild-Zeitung tapeziert. In der Spüle liegt ein angerußter Löffel, und die Wohnung ist zugemüllt. Immerhin ist das zu vermietende Zimmer ausgeräumt. Harry muss lachen. Der Westen stellt sich ihm tatsächlich, ganz wie in der DDR-Propaganda, als ein Drogen-Moloch dar. Der Kühlschrank ist von Schimmel zugewachsen, und Hank und Bea haben ein kleines Kind, das auf einer vollgepinkelten Matratze schläft. Einmal gehen sie Heroin kaufen und schieben die Matratze vorher an den heißen Ofen, damit das Kind nicht friert. Die Matratze fängt an zu schmoren. Als Harry es merkt, ist die ganze Wohnung bereits voller gelbem Qualm und er kann das Kind gerade noch retten. Harry faszinieren die Junkies, weil sie sich ganz einer Sache – der Droge – verschreiben. Zumindest füllt das ihren Tag aus, während für ihn die Stunden quälend langsam verstreichen. Westfernsehen konnte er auch im Osten. Er versucht zu schreiben, aber kennt niemandem, der daran interessiert sein könnte. Soll er seine Geschichten fotokopieren und in der U-Bahn verteilen? Aber selbst das wäre eine Belästigung.
Bei der einjährigen Hochzeitsfeier eines Kollegen macht dessen Frau Claudia – Ingenieurin und frische Mutter – Harry Avancen. Kurz darauf ruft sie ihn bei der Arbeit an und verabredet sich mit ihm in einem Café. Es beginnt eine Affäre mit schnellem, heftigem Sex. Harry ist aber weiterhin in Sandra verliebt, sagt das auch. Sie können nur auf dem Sofa miteinander schlafen, nicht auf Sandras Bett. Claudia muss sich ein eigenes Handtuch mitbringen - Harry hat ihr verboten, Sandras zu benutzen. Claudia wird dennoch immer häuslicher und bringt, wenn sie ihn besucht, eine Salatschüssel mit. Ihr Mann spielt verrückt, es gibt noch mehr Ärger bei der Lehre, und Claudia wird wegen Geschlechtsverkehrs mit einem Ausreisewilligen das Sorgerecht entzogen. Im Mai 1989 darf Harry ausreisen. Er verpasst damit seinen ohnehin fraglichen Schul- und Lehrabschluss um zwei Monate und lässt Claudia zurück. Ausreise mit nur einem Koffer. Harry wird im Berliner „Tränenpalast“ von den DDR-Grenzbeamten genauestens durchsucht. Sie stoßen auf die Manuskripte seiner Kurzgeschichten, die sie komplett durchlesen, bevor sie ihn gehen lassen. Harry nimmt die S-Bahn und steigt einfach irgendwo im Westen aus. Setzt sich in ein Café und wundert sich, dass es dort Milchkaffee gibt – im Osten der Name für Kaffeeersatz. Was ist ein Cappucino? Danach fährt Harry ins Notaufnahmelager Marienfelde. Ein 50erJahre-Bau, der ihn sehr an die DDR erinnert. Er bekommt einen Laufzettel, mit dem er sich zunächst bei der Sichtungsstelle, der Weisungsstelle und der Bundesaufnahmestelle anstellen muss. Beim BND und den drei alliierten Geheimdiensten muss er nacheinander immer wieder dieselben Fragen beantworten: Waren Familienangehörige bei der Stasi oder hatten eine höhere Position in Armee, Polizei oder Partei? Hatte er selbst Kontakt zur Stasi? Es ist offensichtlich, dass alle Fragen am besten einfach verneint werden. Harry bekommt einen Aluminium-Pfeifkessel, eine Steppdecke, Besteck und Geschirr und wird einem Zimmer mit zwei Doppelstockbetten zugewiesen. Er bekommt einen BVG-Freifahrtausweis, von der Kirche gibt es 100 Mark, außerdem vom Staat täglich oder alle zwei Tage 15 D-Mark. Harry macht sich auf den Weg zu Sandra, deren Drogensucht
Noch in der Nacht des Mauerfalls steht Claudia vor Harrys Tür. Sie wirkt abgekämpft und um Jahre gealtert. Harry tut sie zu sehr leid, um sie abzuweisen, und so haben sie Sex, während aus dem Nachbarzimmer das Baby schreit. Danach gehen die beiden auf den Ku’Damm. Harry ist angeekelt von den konsumgeilen Ossis in ihren häßlichen Stone-Washed-Jeansmonturen, die sich um einen LKW tummeln, aus dem heraus sie zur Feier des Tages mit Coca-Cola-Dosen beworfen werden. Plötzlich rennt Harry los und lässt Claudia einfach stehen. Am Bahnhof Zoo, vor der Wechselstube, stößt Harry auf seinen Bruder Jakob, der sich dort bereits wie ein paar andere Jungs als Geldwechsler für Ost- und D-Mark betätigt. Jakob, der aus seinen Lampenverkäufen über große Barreserven verfügt, heuert Harry an, für ihn auf Provisionsbasis zu arbeiten. Harry verzählt sich und hat am ersten Tag 100 Mark Miese gemacht. Aber immerhin hat er wieder etwas zu tun. In ihm erwacht der Ehrgeiz, die Tagesgewinne von Jakob, die bei mehreren Hundert D-Mark liegen, zu überbieten. Doch Harry hat nicht die Geduld. Nach jeder größeren Transaktion geht er erst einmal zu
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Text: Ingo Niermann
Brot und lassen es sich in eine Tüte stecken. Auf das Brot lassen sie dann lautlos einen Hunderte Mark teuren Wein fallen. Obenauf noch eine Leckerei für die vor dem KaDeWe bettelnden Punks. Harry begreift die Diebstähle als antikapitalistische Aktion.
McDonald’s oder in das Tropenhaus im Zoo, um sich aufzuwärmen. Eines Tages erscheint Lucky bei den Geldwechslern am Zoo. Er trägt teure Klamotten und hat eine Tasche voller Ostmark dabei, die er umtauschen will. Das Geld stamme von Goldverkäufen an die Staatliche Münze der DDR. Lucky redet von der Differenz zwischen dem Ankaufspreis von Gold in der DDR und dem steuerbefreiten Verkaufspreis in Holland, den er sich zunutze gemacht habe. Er fragt, ob Harry ihn nicht in seiner riesigen AltbauWG besuchen wolle, dort sei auch gerade ein schönes Zimmer mit Parkett frei geworden. Harry packt seine paar Sachen und zieht kurzentschlossen bei Lucky ein. Dessen zwei männliche Mitbewohner sind ebenso schick gekleidet. Ihre Zimmer sind weitgehend leer. Bei einem der Mitbewohner stehen einige Gemälde an der Wand, mit denen er angeblich handelt. Der andere stellt sich als Immobilienmakler vor. Lucky zieht aus einem Haufen neuer Kleider, der in seinem Zimmer einfach auf dem Boden liegt, ein paar Designer-Teile hervor, die Harry anprobieren soll. Harry erfährt, dass die WG den Großteil ihrer Einnahmen und ihres Besitzes durch Diebstähle im Kaufhaus KaDeWe und am Ku’Damm generiert. Abends arbeitet Lucky manchmal als Türsteher in einem Club – vor allem, um dort nebenbei die erbeutete Ware zu verticken.
Harry schaut bei Sandra vorbei und schenkt ihr eine Lederjacke von Moschino. Sie schlafen miteinander, aber er hat das Gefühl, sich den Sex nur erkauft zu haben, und verlässt überstürzt die Wohnung. Er geht in einen Supermarkt, schnappt sich die nächstbeste Flasche Weine und eine Dose Thunfisch, die er ganz normal kaufen will. In der Kassenschlange verliert er jedoch die Geduld, sackt die Sachen ein und wird beim Herausgehen zum ersten Mal erwischt. Danach hat er seine Selbstsicherheit verloren. Beginnt, sich vor der Tat mehrfach umzuschauen – und wird erneut erwischt. Auf der Suche nach einer neuen Einnahmequelle schaut Harry bei seinem Bruder Jakob vorbei. Seit der am 1. Juli 1990 vollzogenen Währungsunion ist es mit dem Geldwechsel vorbei. Jakob versucht sich mittlerweile im Gebrauchtwagenhandel. Er kauft alte Autos im Westen, um sie an die ahnungslosen Ostler teuer weiterzukaufen. Doch Jakob ist den Raffinessen der westdeutschen Händler nicht gewachsen, und auch Harry kennt sich mit Autos zu wenig aus. Jakob beginnt eine Lehre als Bankkaufmann bei der Sparkasse. Harry findet das entsetzlich spießig, aber Jakob erklärt, dass er so endlich professionell ins Aktiengeschäft einsteigen könne. Dank Standleitung habe er immer die aktuellen Börse auf dem Schirm und könne seine Aufträge mit nur 15-minütiger Verzögerung umsetzen. Für Bankkunden dauere das einen ganzen Tag.
Harry lässt es sich in der WG gut gehen. Der große Kühlschrank ist immer gefüllt mit Champagner, Kaviar und Serrano-Schinken. Jede Nacht ist Party, und zwischendurch stählt man sich an einem im Flur angebrachten Punching Ball. Doch eines Tages heißt es: „So, Harry, heute müssen wir dich erstmal einkleiden. Es kann ja nicht sein, dass du ständig unsere Klamotten trägst.“ Lucky drückt Harry 50 Mark in die Hand, um sich beim Friseur einen ordentlichen Haarschnitt verpassen zu lassen. Dann geht es ins KaDeWe. Mehrmals. Einer probiert verschiedene Sachen an, lässt sie wieder zurücklegen, und der nächste sackt die passende Größe schnell ein. Ein anderer bleibt draußen und hortet die Beute. Die Ladendedektive sind daran zu erkennen, dass sie keine Taschen tragen und recht ziellos durch den Laden gehen. Luckys Clique macht sich einen Spaß daraus, so nah wie möglich bei den Dedektiven zu klauen. Die Kameras sind groß und deutlich sichtbar. Bei der letzten Tour ins KaDeWe lassen sie die erbeuteten Sachen an und nehmen sich danach eine teure Boutique vor. Stufenweise geht es in immer teurere Läden. Im letzten klauen sie Hemden für 1700 Mark. Einer von ihnen flirtet derweil mit dem schwulen Verkäufer. Die Diebstähle werden immer gewagter. Sie gehen ins BMWHaus und klauen 3000, 4000 Mark teure Mountainbikes vom Dachgepäckträger eines ausgestellten Autos. Zwei lenken die Verkäufer ab, ein dritter demontiert die Räder vom Dach. In der Delikatess-Abteilung des KaDeWe kaufen sie zunächst ein
Lucky hat indes seine Betrügereien ausgeweitet und versucht den Verkäufern der Edelboutiquen, während er klaut, auch noch fingierte Kapitalanlagen aufzuschwatzen. Er ist kaum mehr in der WG, sondern reist von einem Luxushotel zum nächsten – auch innerhalb Berlins - und versucht in der Hotelbar und beim Frühstück weitere Kapitalanlagen zu verkaufen. Nach ein paar Tagen verlässt er, ohne zu zahlen, das Hotel. Harry lässt sich als Lockvogel anheuern, aber geht dann doch lieber aufs Sozialamt. In Armani und Versace sitzt er zwischen Alkis und Pennern. Die Sachbearbeiterin sieht ihn schief an in seinen teuren Sachen und findet ihre schlechte Meinung über Ossis bestätigt. Der angebliche Immobilienmakler aus der WG stellt Harry für den ostdeutschen Vertrieb einer großen Zigarettenmarke ein. Während der Makler mit riesigen Präsentkörbern in die Zentralen von Konsum und HO fährt und hohe Provisionen kassiert, muss Harry – ohne Führerschein – die Supermärkte alle einzeln abfahren, um die optimale Platzierung der Marke an der Kasse zu überwachen. Als Harry beim Abfahren der Supermärkte in seine Heimatstadt
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Text: Ingo Niermann
weg vom Club und das Ecstasy unter einer ganz anderen Bezeichnung und in ganz anderen Zusammenhängen verkaufen – etwa in Altenheimen. Dann auch noch sehr viel teurer.
kommt, hört er sich nach seinen alten Punk-Freunden um. Die wohnen mittlerweile in einem besetzten Haus, in dem sie sich gegen die rechtsradikalen Glatzen wie in einer Festung verbarrikadiert haben. Gerade planen sie, ihren antifaschistischen Widerstand auszuweiten und ihren ersten Telefonmasten umzusägen. Außerdem planen sie einen Anschlag auf ein Schickimicki-Restaurant, das Lucky in einer vor der Stadt gelegenen Burg eröffnen will.
Erst einmal nutzen sie den Vorrat jedoch nur für den privaten Gebrauch. Sie steigern die tägliche Dosis auf zehn Pillen und mehr. Hacken sie auf einem großen Badezimmerspiegel zu Pulver, das sie sich mit Speed vermengt durch die Nase ziehen. Sie haben die Idee, die Burg als Gotcha-Parcours zu nutzen und kaufen zwei Paintball-Gewehre zur Probe. Immer im Gefolge: ein paar Jugendliche aus dem Club, die an dem unerschöpflichen Ecstasy-Vorrat teilhaben und mit denen sie rummachen. Ein Mädchen schaut Harry tief an, fährt mit dem Finger über seinen verschwitzten Körper, leckt sich die Lippen und sagt: „Ha, du bist so sexy.“ Harry fragt: „Was für ein Film ist das denn?“ Doch das Mädchen lacht nur auf. Die Räume versiffen. Im Klo schwimmt ein Kondom. Sie beschwören einander: Das muss sich ändern, morgen wird alles anders – und ziehen die nächste Line. Harry will irgendwann nur noch schlafen, aber kann nicht. Carsten macht sich über ihn lustig: „Hey, du Weichei. Der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes.“
Harry fährt raus zu der Burg und trifft tatsächlich auf Lucky, der die gesamte Burg für einen sympolischen Betrag gepachtet hat. Im Gegenzug hat er sich zu umfassenden Renovierungsarbeiten verpflichtet und muss einen seit Ostzeiten bestehenden Jugendclub auf dem Burggelände dulden. Lucky will das Burgrestaurant nicht selber betreiben, sondern lukrativ an den dicklichen Carsten verpachten. Carsten ist ein ehemaliger Beamter. Nach der Wende wurde er von seiner Frau für einen Westler verlassen. Er trägt eine Fielmann-Brille, ein senffarbenes Sakko und in seiner Freizeit einen ballonseidenen Trainingsanzug. Lucky führt Harry und Carsten in den Jugendclub. Es läuft harter, lauter Techno. 16-, 17-jährige tanzen repetitiv auf der Stelle und werfen sich Ecstasy-Pillen ein. Lucky schiebt auch Harry und Carsten eine Pille mit eingeprägtem Dollarzeichen in den Mund. Harry will die Pille zunächst wieder ausspucken, er hat das Bild von Sandra und den Junkies Hank und Bea vor Augen. Aber Lucky lacht nur, und auch Carsten wirkt unbesorgt. Harry wird übel und er versucht sich zu übergeben, aber hat dafür schon zu lange nichts gegessen. Die Kacheln beginnen zu flackern. Zwanzig Minuten später fühlt sich Harry wie der glücklichste Mensch der Welt. Er tanzt exaltiert, so wie er es aus den Ost-Clubs kennt, und wird von den nur wenig jüngeren Besuchern spöttisch beäugt. Bald passt sich sein Tanzstil dem der anderen an. Auch Carsten tanzt. Lucky knutscht. Am nächsten Tag weckt Lucky den auf einem abgewetzten Sofa schlafenden Harry und führt ihn zu einer alten Burgtür, die er vorsichtig öffnet. Sie sehen Carsten, wie er ohne Mundschutz ein ganzes Zimmer mitsamt Möbilar silbern ansprayt. Auch sich selbst, seine Kleider und seine Brille sind bereits silbern bestäubt.
Sie brettern mit dem Trabi über das Burggelände. Veranstalten ein Wettrennen im Rückwärtsfahren. Nehmen halluzinogene Pilze und fahren in den Wald. Im Kofferraum des Trabis der von Estasy und Speed zugestaubte Spiegel. Als die mitgenommenen Pillen alle sind, beugen sie sich über den Spiegel und lecken ihn gründlich ab. Harry blickt sich im gesäuberten Spiegel an. Das Mondlicht schönt, Harry kann nur ahnen, wie fertig er aussieht. Mit einem Mal ist alles Schwarze Dreck. Nicht nur der Boden ist dreckig, auch die Luft. Harry hat Mühe zu atmen, weil es ihn so sehr ekelt. Er vergräbt sein Gesicht im Sand, bis er die Atemnot nicht mehr aushält, den Kopf hochreisst und nach Luft japst. Besser. Es ist jetzt ganz ruhig. Harry weiß, dass die anderen fort sind. Vor seinen Augen kriecht eine Schnecke. Harry spricht aus dem Off: „Ich bin eh schon immer so verwirrt und steh mein ganzes Leben neben mir. Ich hab, glaube ich, so einen Job im Leben, und der ist, einen bestimmten Menschen zu beobachten, also nicht zu observieren, sondern eher zu studieren, und das bin ich selber.“
Lucky, Harry und Carsten fahren in Carstens Trabi nach Holland, um eine ganze Einkaufstüte voll Ecstasypillen zu kaufen – das Stück für eine Mark. Sollten sie erwischt werden, würde jeder den Kauf auf den anderen schieben. Sie glauben, zu dritt sei das leichter. Auch könne man sie beim Kauf nicht so leicht übers Ohr hauen. Alles klappt reibungslos, doch als sie beginnen, das Ecstasy für nur 10 statt der üblichen 15 bis 20 Mark zu verkaufen, gibt es Ärger mit einem Kartell russischer Drogendealer. Die drei nehmen die Warnung ernst. Nur was sollen sie nun mit den Tausenden verbliebenen Pillen anstellen? Carsten hat die Idee, man müsse
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Text: Anna-Verena Nosthoff & Felix Maschewski
Ohne Ende Wahlgeschichten Das Ziel ist nicht weit. Hoch oben, gleich unter dem wolkenfreien Himmel thronen sie, die obersten Geschosse des amerikanischen Business-Towers. Es sind gewinnversprechende Gehäuse – stahlhart, aber immer mit Ausblick. Dort hinzugelangen ist schwer, aber bekanntlich ist nichts undenkbar, im Land der möglichen Unbegrenztheiten. Dies weiß auch der Nachwuchsmanager. Sein klarer Blick lässt, ebenso wie sein glattgebügelter Anzug, keine Chance für Falten. Der unbedarfte Amerikaner will nach oben, in die Türme – der Aufstieg ist eine selbstbestimmte Notwendigkeit. Vielleicht ist er ein freshman, doch sein smarter Habitus verbindet das “Just-finish-High-School”-Gesicht mit einer zielstrebigen Macher-Persönlichkeit. Entschlossen schaut er hinauf zum übermenschlichen Glashaus, an dessen rahmendem Stahl sich die Sonnenstrahlen brechen. Welch Fortschrittsidyll für Visionäre. Es ist immer effektiver, sich seiner Strategie zu versichern, bevor man wegweisende Etagen erklimmt. Auch das weiß der junge Aufsteiger. Mit dieser Klarsicht setzt er sich auf eine makellos weiße Bank. Seine Augen konzentriert auf das Innenleben seines Aktenkoffers geheftet, übersieht er das frischgestrichene Gestell unter ihm – ein Black Swan aus weißklebriger Farbe. Der Maler – mit noch feuchtem Pinsel bei der Arbeit – hatte es früher gesehen. Doch er verbleibt sprachlos im Hintergrund. Sein Zögern versperrt ihm die Möglichkeit für jedes schützende Eingreifen. Weiße Flecken des Entsetzens. Für einen kurzen Augenblick eines jeden dishwashers, der zum millionaire werden möchte. huscht der dunkle Schatten unbeholfener Ratlosigkeit über das Mit der Hilfe zur Selbsthilfe verleiht die Minzpastille nicht nur Gesicht des sträflich Überwältigten. Doch inmitten der aufkomfrischen Atem, sondern verspricht auch das leichte Leben, denn menden Panik offenbart sich eine kurzfristige Lösung. Der Nachdie Bänke streicht der Andere. Mentos ist ein Taschenmotivator. wuchsmanager gewinnt seine Sicherheit zurück, greift geistesgeSein bekömmlich-frischer Konsum bestärkt den Einzelnen im genwärtig in die Tasche und findet eine Minzpastille. Weiß ist sie, autonomen Handeln. Es bedarf keiner komplizierteren Betrachrund und unschuldig. Schnell eingeworfen, befeuert sie spontane tungsweise zum Happy End. Fantasien. Er legt sich auf die Bank, rollt nach links und rechts. Sein Anzug saugt die Farbe auf. Das Produkt überzeugt: NadelEs war einmal... streifen, die wunderbar homogen entlang des Anzugs verlaufen. Das Ende der Geschichte Schnell ist alles wieder cool – in einer Zeit, in der ein Werbe-Jingle nicht lügen kann: „It doesn't matter what comes, fresh goes better Offensichtlich hatte der mentosverschlingende Westen das glückin life, and Mentos is fresh and full of life. Nothing gets to you, liche Ende der Geschichte erreicht. So formulierte es 1992 zuminstaying fresh staying cool, with Mentos, fresh and full of life.“ dest der Wirtschaftsnobelpreisträger Francis Fukuyama, der die Die Prüfung ist bestanden, der Manager fein raus. Und der MaWeltgemeinschaft nach dem Zerbrechen des real existierenden ler? Der zollt standesgemäß lächelnd Tribut für dieses jugendliche Sozialismus, dem Wegfall des großen Antipoden, in einer neuBonmot. Es wird schnell klar, was sie unterscheidet: „Mentos, the en, vergangenheitsunabhängigen Geschichtserzählung wähnte1. Fresh-Maker!“ Zwar hatte Jean-François Lyotard bereits Ende der siebziger Jahre Die demonstrierte Geistesgegenwart wird mit einer wortlosen in seinem berühmten Essay Das postmoderne Wissen ein Ende der Kommunikation zwischen Arbeiter und Jungmanager in Sie„großen Erzählungen“2 der Moderne proklamiert, doch der „Kühlgespose beendet, bleibt in ihrer Bedeutsamkeit aber weniger verschrank des Kalten Krieges“3 hielt das moderne Erzählwerk über schwiegen: Mentos ist – das weiß jetzt hoffentlich auch der Maler sein Verfallsdatum hinweg frisch. Doch spätestens als die Mauer – das klassen- wie grenzübergreifende, konsumierbare Helferlein fiel, wurde auch hier der Stecker gezogen: David Hasselhoff besang an Silvester 1989/90 mit „Looking for Freedom“ die Hymne auf die Freiheit – einstimmig bejubelt in Ost und West. Das Ende der Geschichte konnte – endlich – seinen Anfang nehmen. Ganz 58
Text: Anna-Verena Nosthoff & Felix Maschewski
Im Glauben an das Ende der Geschichte und an die Gültigkeit des einzigen ökonomischen -Ismus machte man sich also bereit für die vielfältig anmutenden, postmodernen Festlichkeiten im Konsumtempel der westlichen Welt. Fromm und innig wurde an das zeitgemäße „Just do it“ -Mantra der „Siegesgöttin“ Nike geglaubt, denn „im Anfang war die Tat“ (V. 1237). So und nicht etwa anders deutete schon Goethes Faust den „Logos“ ganz 90er-kompatibel, übersetzte ihn eben nicht mit Wort oder Sinn, sondern grundierte die faustische Sehnsucht nach vollständigem Wissen mit dem strebsamen Vertrauen in die eigeninteressierten Produktivkräfte. Doch „irrt der Mensch, solang er strebt“ (V. 317) – Auch Faust geriet ob dieser polyvalenten Tatkräftigkeit zwar nicht an das Ende der Geschichte, aber an das seiner Kräfte: „In jedem Kleide werd im hegelschen Sinne hatte Fukuyama Abendstimmung im Abend- ich wohl die Pein / Des engen Erdelebens fühlen./ Ich bin zu alt, land erkannt und im Lichte der Dämmerung auf den neuen, nun um nur zu spielen, / Zu jung, um ohne Wunsch zu sein.“ (V. 1544) anbrechenden Tag verwiesen. Die Feier begann. Entsprechend war man auch in der Posthistorie nicht wunschlos Von der Vergangenheit belehrt, sagte man sich los von den großen, geblieben. Der auf die abendlichen Feierlichkeiten des Sieges allumfassenden Erzählungen, verwies auf die „blühenden Land- folgende Kater war zwar hinauszuzögern – jedoch nur schwer zu schaften“ des Kapitalismus und proklamierte den Pluralismus vermeiden. So wich also das Gefühl des Angekommenseins, des der Meinungen, Moden und Möglichkeiten. Die multioptionale, "Sich-gefunden-Habens" Anfang der 90er nur wenig später einem konsumorientierte Version der Weltdeutung glorifizierte in ihrem heideggerschen „In-die-Welt-geworfen-Sein“. Ohne alternatives eigenen Missverstehen gegenüber dem „anything goes“ eines System, das die eigenen Unzulänglichkeiten rechtfertigte, war man Paul Feyerabend, und so waren die Ein-Heils-Versprechen der zur Selbst-Beobachtung verdammt. So resümiert Lyotard ob des alten Utopien in der postmodernen Vielfalt unzeitgemäß gewor- erzählerischen Endes etwas pessimistisch: „Jeder ist auf sich selbst den. Das gute Leben war klar umrissen: Höher, schneller, weiter zurückgeworfen. Und jeder weiß, daß dieses Selbst wenig ist.“6 sollte es gehen. Der technologische Fortschritt, das ökonomische Wachstumsparadigma, wie auch die stetig voranschreitende wis- Von Freund und Feind 2.0 – senschaftliche Durchdringung der Welt implementierten diese die eigentümliche nur scheinbar antimetaphysischen Glaubenssätze. Angebot und Dialektik der 90er Nachfrage würden schon in das Reich des Equilibriums, kurz: in medias res, führen. Tatsächlich bemerkt man bei genauerer Betrachtung, dass erste Das Eins-gegen-Eins der Ideologien hatte die liberale Demokratie Fassadenrisse schon im unverputzten, konsumistischen SiegestauAnfang der 90er also für sich entschieden und die systemeigene freie mel aufgetreten waren. Wie der Philosoph Robert Pfaller erklärt, Marktwirtschaft das „There is no alternative“ Thatchers bestätigt. hat „in der Kultur westlicher Gesellschaften [...] Mitte der 90er Fukuyama erkannte den Westen auf dem Höhepunkt der Schöpfung: Jahre etwas stattgefunden, das man [...] als einen Wechsel der ‚BeDas fließende Band des Kapitalismus, die Rolltreppe abseits des leuchtung‘ beschreiben möchte.“7 Ganz im Sinne eines zynischen beschwerlichen Weges, führte nach oben, denn am Fortschritt war „they know very well what they’re doing, but still, they are doing aufgrund des Sieges über den Konkurrenten nicht zu zweifeln – er it“8 , hatte man das Offensichtliche zunächst im Unterbewussten verfestigte den Glauben an das diesseitige Paradies. gelassen. Diese Verdrängung brach allerdings allmählich auf. Das, Diese nun augenscheinlich verwirklichte, säkularisierte Reli- was vormals glamourös, anziehend und siegreich gewesen war, gion des Fortschritts hatte dabei fast übermenschliche Tiefen- erschien nach einiger Betrachtungszeit als etwas Überhebliches, dimensionen, die bereits von den Klassikern der Sozialwissen- Abstoßendes und vielleicht systemisch Fragwürdiges. Die Dialekschaften und der Kapitalismusanalyse erkannt wurden: Max tik der 90er wurde erkennbar: Hatte der Marlboro-Cowboy AnWeber sah in der protestantischen Ethik das Schmiermittel der fang des Jahrzehnts noch für Freiheit und Abenteuer gestanden, kapitalistischen Maschinerie, Karl Marx wusste sowieso von war es bereits 1992 sein Lungenkrebs. War die Freude am Fahren den „metaphysische[n] Spitzfindigkeit[en] und theologische[n] Mucken“4 der bunten Waren- bzw. Dingwelt und Walter Benjamin verschärfte den Ton, indem er deutlich machte, dass „der Kapitalismus [...] eine reine Kultreligion [ist], vielleicht die extremste, die es je gegeben hat.“5 So war es also nicht der liebe Gott, sondern das liebe Geld, das die Menschen in Schuldner und Gläubiger unterschied. Voller Vertrauen verfolgte man die Orakelsprüche der Wirtschaftsweisen, und so war die ganze Welt ein wunder-volles Einkaufsparadies, Adam Smiths’ gottgleicher, invisible hand sei Dank. 59
Text: Anna-Verena Nosthoff & Felix Maschewski
individuell erfahren. Es folgte ein solistisches Erwachen aus einer "taken-for-granted" Distinktion zwischen Gut und Böse. Der folternde Amerikaner in Abu Ghraib wurde plötzlich zum Anderen im eigenen Selbst und verursachte ein das Kollektiv umfassendes Unbehagen im bürgerlichen Bewusstsein. Das patriotische Moment Amerikas versiegte, während ein globales Einheitsgefühl ent-zwei-gezerrt wurde; in einer Welt, in der es auf einmal wieder ein Zweites gab – Der klar teilende eiserne Vorhang fand einen schizophrenen, kaum lokalisierbaren Ausdruck in Bush’s Sprech von der teuflischen “Achse des Bösen”. Jetzt war es sicherer, niemandem zu trauen. Denn wohin auch in einer Zeit, in der wuchernde Post-Präfixe nur so aus dem Boden schossen wie modrige Pilze? Noch dazu, wenn deren Sporen fortan auch die bis dato statisch geglaubten Felder der Politik und des Sozialen erreichten? Da wich man lieber mit großen Schritten und leichtem Schuhwerk den befallenen Plätzen aus und trippelte ungebunden auf eigenen Pfaden. Auf diesem sich schlängelnden Weg durch die lange ungetrübt geblieben, wusste man 1995 von Brent Spa. HatPostmoderne war man also vor allem auf sich bedacht. Während te Bill Clinton am 26.1.98 „keine sexuelle Beziehung mit dieser jeder flink und flüchtig reagierte, bespiegelte das Kollektiv – aber Frau“ gehabt, gab er am 17.8.98 zu, Miss Lewinsky doch näher, jeder für sich allein – sein Selbst. aber „nicht angemessen“, zu kennen. Der anfängliche Spaß schien verflogen, denn, um ein kompromisslosen Diktum Adornos und Das schizophrene Selbst: Horkheimers zu bemühen: "Fun ist ein Stahlbad."9 Dies wurde geAuf verlorenem Posten rade in den 90ern immer augenfälliger. Warum damals von ernsteren Glaubenszweifeln allerdings noch Nun vermochte man ernsthafter zu fragen, zu erkennen, zu analykeine Rede sein konnte, erläutert der Soziologe Hartmut Rosa: sieren. Mit dem Blick für eine vermeintlich realere Realität wusste „Der Erfolg des Kapitalismus und der mit ihm verknüpften Proman nun, dass jenes, was in den 90ern wirklich schien, kaum real todefinition des guten Lebens beruht [...] gerade darauf, dass die sein konnte. War nicht auch damals schon einzig das Produkt esentsprechenden Güter nicht artikuliert werden, sondern hinter den sentielle Quelle der Problemlösung und das Leben nicht eben ein liberalen Ideen von Freiheit und Pluralismus und der Neutralität durch reine Humanität und kooperative Zwischenmenschlichkeit des Staates gegenüber Konzeptionen des Guten verborgen und glückendes, sondern vor allem ein Leben im Wettbewerb – ihm geradezu versteckt bleiben.“10 Im Pluralismus einer multioptionagleichermaßen zuträglich wie von ihm abhängig? In Erinnerung len Welt hatten die alten, politischen Utopien und -Ismen – viele an die Werbeszenen vergangener Tage wird jetzt klar, dass der aus gutem Grund – ausgesorgt. Doch war nun an ihre Stelle das Nadelstreifenveteran erst nachdem das Kunststück des lässigen postmoderne Einerlei eines neoliberalen Systems getreten, welMentos-Moves glückte, bereit für die post-philosophisch sperrige ches, trotz tiefer Risse im Gebälk, das bunte Treiben verschiedeReise aus der platonischen Höhle war. Eine Irrfahrt, die eben nicht ner Lifestyles protegierte. Gerade weil es keine feste, abgegrenzte zur erhellenden Erkenntnis einer universellen Wahrheit führte, Definition des guten Lebens gab, war die kapitalistische Kultur sondern vielmehr direkt hinein in die Penetration einer "lichtloein Siegesgarant. So waren zunächst nur leisere Töne der Kritik sen Strahlung"12 der gegenwärtigen, konsumorientierten und nach angebracht. Doch im Laufe der jüngeren Geschichte sollten diese Transparenz strebenden Gesellschaft, die im Kampf um einen fesin ernsthafte, lautere Volumina umschlagen. ten Halt weniger nach würdigem Glauben, als vielmehr nach indiDies geschah spätestens, nachdem das zuvor verdrängte Untervidueller Glaubwürdigkeit verlangt. Das Streben nach Sicherheit bewusste eines verhängnisvoll vorherrschenden hedonistischen führt zum Dogma der allumfassenden, aufklärenden Information, Elements der kurzfristigen Bedürfnisbefriedigung in der Sichtbardem Datensatz, dessen Fahlheit weniger erhellend, als vielmehr werdung des offensichtlich Unheimlichen mündete. 9/11 klopfte seltsam durchdringend ist. In The End of Theory beschreibt der nicht an die Pforte des wolkenlosen Himmels, und während es das Wired-Chefredakteur Chris Anderson euphorisch diesen ZusamReich in ein metallsplitterndes Dunstkleid gehüllt hatte, brach es menhang: „Forget taxonomy, ontology, and psychology. Who mit dem unhinterfragten Gefühl des Fest-Verankertseins im Sysknows why people do what they do? The point is they do it, and we tem, das doch eigentlich alle Tore für unangemeldete Eindringlincan track and measure it with unprecedented fidelity. With enough ge verriegelt hatte. Dem Einsturz der unipolaren, eineiigen Zwildata, the numbers speak for themselves.“13 Klar – with a little help lingstürme folgte weder eine Bipolarität noch eine Multipluralität, vom big brother aka NSA. Dass der gläserne Mensch dabei nicht sondern vielmehr das totale, ideologische Nichts. Das wiederum Substanz, sondern nur die Fassade des Konsumprofils offenbart, sträubte sich gegen den monetär orientierten Wahrheitsimperawird vernachlässigt. Denken verkommt zur Kalkulation. tiv. Zwar wich es zunächst einem intersubjektiv geteilten Moment kollektiver Verletzlichkeit.11 Aber auf längere Sicht wurde die Bewusstwerdung eines Vertrauensverlustes posttraumatisch60
Text: Anna-Verena Nosthoff & Felix Maschewski
Die rückblickende Betrachtung des florierenden 90-er-Jahre Mentos-Traums birgt von einem post 9/11-Standpunkt aus gesehen eine weitere, bittere Gewissheit: Der gute Rat des freundlichen Malers war nie teuer, der fixe Jungmanager war nie auf ihn angewiesen. Auch damals zählte eigentlich nur das Produkt, sodass Zusammenarbeit, oder eine gemeinsame Problemlösung keine Option war, sondern einem Moment des Selbstfokus wich. Man war allein, doch Mensch und Mentos wurden zum unschlagbaren Team. Die pseudo-egalitären Gesten verkehrten in diesen Jahren noch das Bild, man war glücklich im weichgepolsterten, aber doch 'stahlharten Gehäuse'. Nun jedoch wurde man sich einem fast schizophrenen Selbst bewusst, denn in Anbetracht der komplexen Katastrophe vermochte sich das simplifizierte Werbe-Ver-Sprechen nur auf der abendländischen Schattenseite des platonischen Reichs zu verorten. Nach 9/11 mussten vermeintliche Siege also neu bewertet werden. So nützlich, produktiv und effizient der liberale Glaube war, so unsinnig schienen die systemischen Missstände des materialistischen Überflusses. Rudolph Giuliani, damals Bürgermeister New Yorks, verkündete bereits 9/12: „take the day as an opportunity to go shopping“ und offenbarte die tiefe Divergenz zwischen Konsumglauben und Realität. Aus den oberflächlichen Rissen wurden bald schwerwiegendere Baumängel, oder wie Rainer Rothermund erkennt: „Die Problemstellung der Posthistorie-Diagnose ist nicht das Ende von Welt, sondern das Ende von Sinn.“14 Ohne einen weiterführenden Sinn im Handeln zu artikulieren, kamen jenen Zweifel, die im Konsum nicht zwangsläufig eine Problemlösung oder die Definition des guten Lebens erkannten. Dies geschah auch, weil viele Geheimnisse 'aufgeklärt', transparent oder die Gegenspieler besiegt schienen. In der Postmoderne, die aufmal den kantischen Vernunftbegriff als ziellos auffasste, fragte sich der Einzelne: Wo ist ein sinnvoller Fort-Schritt noch zu erkennen? Wo Wider-Stand zu leisten? Was ist stabil, in dieser „flüchtigen Moderne“? Wie baut man, auf sich selbst zurückgeworfen, in einer posthistorischen Gegenwart eine Identität auf?
The Irony of Choice In einer Welt, in der sich vielfältige Wahlmöglichkeiten ständig wandeln, Gruppenzugehörigkeiten und interpersonale Beziehungen einem fast alltäglichen Wechsel unterliegen, Lebensstile ausprobiert werden können, der Beruf ausdauernde Flexibilität fordert und in der der nächste Einkauf ein neues, anderes Lebensgefühl verspricht, fällt es schwer, einer Entscheidung oder einer 'Tatsache' langfristig zu vertrauen. Das Credo lautet: Wenn ich mich schon auf nichts verlassen kann, versuche ich wenigstens meine individuelle Freiheit auszuweiten. Aus diesem Grund wird der Begriff der "autonomen Authentizität" des Einzelnen zum entscheidenden Definitionsmuster des postmodernen Selbst. Das einzelne Individuum bildet dabei den Kristallisationspunkt aller Fortschrittbestrebungen und wird sowohl durch die singulär-persönliche wie kollektiv-gesellschaftliche Steigerungslogik angetrieben und fit gehalten. Die Individualisierung wird total – zum Fresh-Maker. Dieser auffrischend dynamischen Entwicklung wohnt nach Axel Honneth aber „eine prekäre Ambivalenz inne, weil [...] zugleich das äußere Faktum einer Zunahme an individuellen Eigenschaften wie auch das ‚innere‘ Faktum gestiegener Eigenleistung gemeint ist.“15 Der Wettbewerb ist der Taktgeber eines andauernden Rhythmus. Die jahr61
Text: Anna-Verena Nosthoff & Felix Maschewski
zehntelange Prosperität der westlichen Gesellschaften, die grundlegende – wenn auch nicht vollkommende – Bildungsexpansion begründete materielle, soziale und geistige Wandlungsprozesse, die den Ausbau der individuellen Freiheiten förderten. Dieser Freiheitstrieb kulminiert in der übergeordneten Erwartung an jeden Einzelnen, ein authentisches Selbst zu bilden. Dies muss flexibel, produktiv und stetig selbstverändernd sein, sodass es auch den zeitlich wechselnden Standards beruflichen wie gesellschaftlichen Erfolgs standhalten kann. Charles Taylor erkennt, dass dabei das romantische Ideal des authentischen Lebens so trivialisiert wurde, dass es abseits seiner gesellschaftsbildenden Bezüge lediglich zum Abziehbild einer ichbezogenen Perspektive der Selbstfindung taugt.16 Honneth bestätigt dies, denn „die Mitglieder der westlichen Gesellschaften wurden gezwungen, angehalten und ermutigt, sich um ihrer Zukunftschancen willen zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanung und Lebensführung zu machen.“17 Jeder wird zum „Unternehmer seiner selbst“18 – eine ganze Generation von Lebenskünstlern entsteht, von denen in Zeiten erodierender Stabilitäten standardisierte Selbstverwirklichung erwartet wird. Schon Margaret Thatcher wusste, dass es „so etwas wie Gesellschaft nicht“ geben könne. Vielmehr gäbe es nur “einzelne Männer und Frauen und Familien”, und so passt diese neue „Ideologie der Privatisierung“19, wie sie Zygmunt Bauman nennt, ideal zu der westlichen Konsumgesellschaft, in der der „Sinn des Lebens in ‚maximaler Kundenzufriedenheit’ liegt und sich der Erfolg an der Steigerung des persönlichen Marktwerts bemißt.“20 Das Individuum wird langweilig in seiner kontinuierlichen Kurzweiligkeit. Bei all der Quantifizierbarkeit ist relativistischer Schwermut kaum zu vermeiden – man neigt, wenn alles jenseits der Zahlen gleich-gültig ist, zur Gleichgültigkeit, dem Nihilismus, der die subjektive wie kollektive Bedeutsamkeit zu negieren vermag. Doch was passiert, wenn das relativierende Moment den Käufer auch vor dem die absolute Entscheidungsfreiheit garantierenden Warenregal erreicht? Was, wenn die Tyranny of Choice den autonomen Konsumenten zum sensorischen Sklaven lockender Geschmäcker macht und die Überforderung in eine unausweichliche Sackgasse der Indifferenz mündet?21 Nun, an dieser Stelle sollte die kreative Ironie des Laissez-faire nicht unterschätzt werden. Denn es hat sich nur wenig geändert. Man ist heute – mehr denn je – selbst-verantwortlich für das eigene Glück oder Scheitern und bedarf nicht mehr nur der wortlosen, weil selbst-sicheren Kommunikation, sondern präzise formulierter Motivation. Welch herrliches Gefühl platonisch-metaphysischer Gewissheit stellt sich dann ein, sobald man erkennt, dass Mentos offensichtlich – wie in den 90ern – eine neue Lösung parat hat: “UP2U” heisst sie, und stellt sich als silbrig glänzende, das neoliberalistische Versprechen proklamierende Packung klebriger Kaugummis dar – stattlicher Repräsentant einer „Kultur des ALLES IMMER“22 . Beim Aufklappen des Schächtelchens schimmert die linke, westliche Hälfte in berry-fresh-rot, der rechte, östliche Teil in cool-mint-blau, alles geordnet wie damals in der duopolistischen Welt, nur ein wenig durcheinandergewürfelt. Ost ist West und West ist Ost. Und irgendwie ist doch alles einheitlich: Nun ist auch das alte Rot des Kommunismus durchzogen von markttauglichrosafarbenem ‚berry-fresh’ mit Glitzerstreifen. Aber das macht auch nichts – schließlich nimmt es selbst die Philosophie mit der universellen Wahrheit nicht mehr so genau. Da heute schon mehr Zweifel an den konsumistischen Wahrheiten bestehen, wird nicht mehr auf eine übergreifende Einheits-Ideologie mit Siegespose gesetzt. Stattdessen müssen zu jeder Packung literarische Zitate als zeitgemäße Sinnsprüche wie (pseudo-)kategorische Imperative mitgeliefert werden. Das eigene Lebensgefühl wird einem erklärt.
62
Text: Anna-Verena Nosthoff & Felix Maschewski
Vgl. Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man. New York 1992.
1
Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz/Wien 1986.
2
S. 54. Groys, Boris: Leben in der Kältezone. In: DIE ZEIT, 30.8.2012 Nr. 36.
3
Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band (1867). In: Karls
4
Marx, Friedrich Engels. Werke Bd. 23. Berlin 1986. S. 85 Benjamin, Walter: Kapitalismus als Religion. In: Dirk Baecker (Hg.). Kapitalismus als
5
Religion. Berlin 2003. S. 15. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz/Wien 1986.
6
S. 54. Pfaller, Robert: Wofür es sich zu leben lohnt. Und was uns vergessen lässt: Über-Ich,
7
Jedes Kaugummi erscheint im Kontext einer marketinggeformten, übergeordneten Mentos-Lebensphilosophie: „Times change and we with time“, Zeiten in denen gilt: „Nothing is more difficult, and therefore more precious than be able to decide“. Deshalb bietet der Inhalt „a choice for every moment oft the day“, schließlich ist bekannt: „The great source of pleasure is variety“. Es ist also offensichtlich an der Zeit für die käuflich zu erwerbende Möglichkeit, die gegenwärtig wahrgenomme Indifferenz und Unsicherheit zu einer Präferenz umzuformen und im Endeffekt zum universellen Sieg individueller Wahlfreiheit zusammenschmelzen zu lassen. Zygmunt Bauman weiß: „Wahlfreiheit war zu einem Wert an sich geworden; mit Sicherheit zum höchsten Wert.“ Dieser Wert hat zwar hohe Konjunktur, aber nur wenig Kontur, und so bedarf er andauernder Implementierung. Dabei treibt er fragwürdige Blüten: Wir sind einerseits, so paradox es klingen mag, frei dazu, Produkte zu konsumieren; aber andererseits – die Marktlogik ist da ihrerseits unparteiisch – frei als Produkte zu konsumieren. Nichts anderes besagt der Imperativ: „Werde zur unverwechselbaren Marke!“ Als unterworfene Unterwerfer befinden wir uns schnell auf dem Markt der Wahlmöglichkeiten. Auf all jenes passt also die immer gültige Doktrin: Still, we’re Free to Choose.23 Was jedoch, ist aus dem freiheitlichen Versprechen der Moderne geworden, was aus dem Autonomieideal, das offenkundig der umgreifenden Instrumentalisierung einer immanenten Marktlogik folgt? Freiheit, so möchte man meinen, sollte doch mehr sein als die bloße Wahlfreiheit bei gleichzeitigem Sachzwang. Was wird aus der Selbst-Werdung, wenn uns die Fähigkeit zur – Werdung abhanden kommt, wir das Selbst aus vorgeformten Möglichkeiten weniger selbst formen als bereits geformt sehen, wir „immer-schon Subjekte“24 sind? Autonomie, 'auto – nomos', der Sinn der SelbstGesetzgebung, scheint heute seltsam fern von seinem terminologischen und bedeutsamen Wortursprung. Dies gilt insbesondere in Hinblick auf das allsehende Auge einer vermeintlichen Supermacht, denn die Formulierung des Gesetzes, des nomos, verliert sich in einem Zeitalter beschleunigter Reproduktion und Überwachung. Zu fragen, ob es das auch zukünftig sein muss, bleibt unsere Aufgabe. Im reduktionistischen Marketingkauderwelsch, dem semilingualen Slang unserer Epoche, hieße das dann: Fresh-Making ist „Up2Us“. Das Ende der Geschichte bleibt vorerst offen.
Narzissmus, Beuteverzicht. In: Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hg.). Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin 2010. S. 191. Vgl. Zizek, Slavoj: The sublime object of Ideology. London/ New York 1989. S. 33.
8
(mit Bezug auf Sloterdijks ‚Kritik der zynischen Vernunft’). Adorno, Theodor W. und Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische
9
Fragmente. Frankfurt a.M. 2008. S. 149. 10
Rosa, Hartmut: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer
neuen Gesellschaftskritik. Berlin 2012. S. 183. 11
Vgl. Butler, Judith: Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence. London/
New York 2004. 12
Han, Byung-Chul: Transparenzgesellschaft. Berlin 2012. S. 66.
13
Anderson, Chris: The End of Theory: The Data Deluge Makes the Scientific Method
Obsolete. In: http://www.wired.com/science/discoveries/magazine/16-07/pb_theory. 14
Rothermund, Rainer: Jedes Ende ist ein Anfang. Auffassungen vom Ende der Ge-
schichte. Darmstadt 1994. S. 133. Honneth, Axel: Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung.
15
In: Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hg.). Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin 2010. S. 64. Taylor, Charles: Das Unbehagen in der Moderne. Frankfurt a.M. 1995.
16
Honneth, Axel: Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung.
17
In: Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hg.). Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin 2010. S. 70 Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesun-
18
gen am Collège de France. Frankfurt a.M. 2004. S. 314. 19
Bauman, Zygmunt: Wir Lebenskünstler. Berlin 2010. S. 140.
20
Ebd. S. 141.
21
Vgl. Salecl, Renata: The Tyranny of Choice. London 2010.
22
Welzer, Harald: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt a. M.
2013. S. 43. 23
Friedman, Milton: Free to Choose. A Personal Statement. New York 1981.
24
Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. In: Ders.: Peter
Schlötter (Hg.). Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Staatstheorie. Hamburg/Berlin 1977. S. 144.
63
Text: Auszüge, 16 Jahre
1998 – 2014 1998 Ein Mann der brennt? Wer würde so jemandem schon trauen?
1998 Es sollten Fanfaren erklingen. 1998 Was ich alles von Dir lernen kann ?! 1999 Das klingt wie so ein altes Lied. In alten Liedern ist es glaube ich ok wenn jede Zeile ein Klischee ist. 2000 Ich hatte gesagt ich würde Dich einladen. 2000 Ich bin es die wartet, damit Du zu spät sein kannst. 2001 Ich hoffe das Geständnis kommt jetzt nicht zu spät. 2001 Ich bin nur ein paar Tage älter geworden, aber es hat ausgereicht. 2002 Das lässt sich unmöglich fortführen. 2003 Auf keinen Fall deswegen. 2003 Ich glaube seither nicht mehr was ich sehe und ich will nicht mehr, dass mir jemand zusieht. 2004 Pass auf. Ich gehe hier nicht weg. 2004 Der Weg in die Ignoranz ist kurz. 2005 Alles entsetzlich pathetisch und voller falscher Fragen. 2005 Ich fange keine Einhörner. 2006 Ein Koffer stand mir doch immerschon besser zu Gesicht als ein Briefkasten. 2006 Weil Du ein Junge sein musstest um richtig zu leben und weil Du ein Mann sein musstest um vorzugeben Du seist dabei gewesen. 2007 Wenn es kalt wurde haben wir uns noch immer zusammengerissen. 2007 It is well with my soul. It is well with my soul. It is well with my soul. It – is – well. With – my – soul. It is well with my soul. It is well with my soul. It is well with my soul. It – is – well. With – my – soul. It is well with my soul. It is well with my soul. It is well with my soul. It – is – well. With – my – soul. 2009 Ich weiß auch nicht wo er jetzt ist.
2008 Mich überzeugt das nicht, gar nicht, nie.
2009 Ich kann Dir gern einen Clown kaufen. 2009 Ich musste entscheiden nicht darüber nachzudenken. 2010 Was wir da gemacht haben, das kann man doch alles niemandem erzählen, und das kann uns auch niemand nachmachen. 2011 Romantik. Mechanik. 2011 Ich sollte nicht mehr, Du solltest nicht mehr, versuchen aus allem zu lernen. 2012 Ich habe endlich graues Haar. 2012 Dieser Glaube in all das, den wir die ganze Zeit zu haben vorgaben, dieser Glaube ist eigentlich eine Wahl. 2012 Ich kann mich nichtmal erinnern wie ich hier angekommen bin. 2013 Es ist nicht zuviel verlangt, dass dir mal was zu Kopf steigt! 2014 Du dachtest, Du wüsstest, Du würdest wollen was Du hast. 2014 Ich dachte immer, wir würden länger durchhalten. „Now I‘ve ruined it, you sound ages old“ (Wir bestehen nicht aus Handlungen. Wir sind unsere Kommunikation.)
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Morality
Angus Fairhurst The Sound of the Art World Talking to Itself *
Text: Anna Sabrina Schmid
Angus Fairhurst hinterfragt in den 90er Jahren Pop und Kommerz – Strategien, die zur gleichen Zeit sein direktes Umfeld des Goldsmith Colleges London in kürzester Zeit berühmt machten. Er selbst blieb in der internationalen Wahrnehmung hinter anderen Young British Artists zurück. Bedauerlich, angesichts eines intelligenten und humorvollen Werks. (Ringing tone) Hello, Tate Gallery. (Pause) Tate Gallery. Royal Academy, hello? Tate Gallery Hello? Tate Gallery? (Pause) No, Tate Gallery Yes, hello? You rang me, I didn’t ring you.1 Das britische Kunstmagazin Frieze veröffentlichte 1991 in ihrer Pilotausgabe und abermals 2008, posthum anstelle eines Nachrufs, die Transkription der Soundarbeit Gallery Connections. Der gerade verstorbene Künstler Angus Fairhurst, 1966 in Pembury, Kent geboren und Absolvent des seit den 80er Jahren zu Renommee gekommenen Goldsmith Colleges in London, hatte die Telefonleitungen wichtiger Akteure des Kunstbetriebs gekoppelt und deren Gespräche auf Tonband mitgeschnitten. Insbesondere kommerzielle Galerien und Institutionen, die im Verlauf der 90er Jahre am Erfolg der damals jungen britischen Kunst und damit an der Wiederbelebung eines für tot erklärten britischen Kunstmarktes beteiligt sein würden, wurden Opfer von Fairhursts Intervention. [Ringing tone] Hello, Interim Art. Hello, Anthony Reynolds Gallery. Hello? Hello? Can I help you? Sorry? Can I help you? Er, my phone just rang. Oh, no, so did mine, sorry, who are you calling from? I’m not calling from anywhere. (Laughs) I just picked up the phone because it was ringing. Tisch, Glas, Kassette, Audio Equipment – Gallery Connections, inzwischen in der Sammlung der Tate Britain zu sehen, avancierte im Laufe der 90er Jahre zu einer in der Londoner Kunstszene gefeierten Arbeit. Dabei erscheint der verlassene Glastisch mit integriertem Tonträger im Vergleich zu Arbeiten anderer Goldsmith-Absolventen, 66
Angus Fairhurst PietĂ 1996 Cibachrome print 248 x 183 cm / 97 5/8 x 72 in edition of 6, Copyright the Estate of Angus Fairhurst, courtesy Sadie Coles HQ, London
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rechte Seite unten:
rechte Seite oben: Angus Fairhurst Gallery Connections, 1991-6 Metal, wood, glass, walkman, amplifier, speakers, headphones, cables and audio,
Angus Fairhurst Things That Don't Work Properly/Things That Never Stop 1998, video Installation view, Angus Fairhurst, The Missing Link,
70 x 100 x 60 cm Installation view, Angus Fairhurst, Arnolfini, Bristol, 31 January – 29 March 2009 Copyright the Estate of Angus Fairhurst, courtesy Sadie Coles HQ, London
die seinerzeit in der Londoner Szene kursierten, seltsam spröde und unscheinbar. Exponat oder vergessenes Mobiliar? Klingeln, Tuten und Gesprächsfetzen verweben sich zu einer konfusen Geräuschkulisse; Überlagerungen und Wiederholungen erzeugen eine chaotische Kakophonie. Die unheimliche, verfahrene und scheinbar ausweglose, vor allem aber groteske Lage des sich unfreiwillig kontaktierenden Londoner Galeriepersonals steigert sich zu einem kafkaesken Szenario. Jede Form von Inhalt und formaler Gesprächskonvention scheint ad absurdum geführt und in Bedeutungslosigkeit aufgelöst. [Ringing tone] Hello, Lisson Gallery? Hello? Antony D’Offay. Hello? Yes? Hello? Ah, this seems very strange. The phone just rang here and I picked it up. (Pause) Hello? Hello, yes? Sorry, I wasn’t calling anywhere, I was actually answering our phone. Oh, that’s very strange... In dieser einfachen, aber wirkungsvollen und humorvollen Soundarbeit konzentrieren sich wesentliche Aspekte von Fairhursts künstlerischem Interesse. Aspekte, die auch in der Musikperformance Low Expectations, die Fairhurst in wechselnder Besetzung während der 90er Jahre mehrmals aufführte, präsent sind und sich konsequent durch sein medial vielfältiges Arbeiten ziehen. 1995 trat Fairhurst im Vorprogramm der erfolgreichen Band Pulp auf. Zu einem nicht enden wollenden, geloopten Intro, das eigentlich das Sample eines Instrumental-Teils des Pop-Songs All Right von Supergrass war, mimt Fairhurst ein Bandmitglied der Happy Mondays, dessen einzige Aufgabe es war „zu tanzen und mit starrem Vollrausch-Blick den Moment der Seligkeit des anonymen Dancefloor-Kid auf der Bühne selbst zu repräsentieren“2. Die Performances und CD-Veröffentlichungen desselben Jahres nannte Fairhurst Low Expectation, Lower Expectation und Lowest Expectation. Dies steigerte er 1996 analog zu den sich inzwischen zahlreich überlagernden Samples, indem er die Wörter optisch ineinander schob und so bis zur Unkenntlichkeit entstellte. Auch auf musikalischer Ebene hatte er die lineare Anordnung und den Bereich der Wiedererkennbarkeit des Ausgangsmaterials verlassen sowie alle Referenzen in einer lärmenden Synthese gelöscht. Im Hintergrund der Bühnenshow liefen Projektionen von Videoanimationen, die das Prinzip von Wiederholung, Überlagerung und Auslöschung auch visuell vollzogen. Things That Don’t Work Properly, Things That Never Stop, eine ähnliche Videoanimation aus dem Jahr 1998, richtet die Aufmerksamkeit thematisch auf den menschlichen Körper. In einer 4-Kanal-Installation werden Skizzen von Körperfragmenten in verschiedenen Haltungen schnell hintereinandergeschaltet, so dass es durch Überschneidungen zu hyb68
Sadie Coles HQ, London, 28 October – 28 November 1998 Copyright the Estate of Angus Fairhurst, courtesy Sadie Coles HQ, London
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beide Abbildungen oben: Angus Fairhurst, Cheap and Ill Fitting Gorilla Suit 1995, Betacam SP/ DVD supplied 4 mins Copyright the Estate of Angus Fairhurst, courtesy Sadie Coles HQ, London unten: Low Expectations, performance 21 Dean Street, London, 26 November 1996 Copyright the Estate of Angus Fairhurst, courtesy Sadie Coles HQ, London 70
riden Konstellationen kommt, die sich im eigenen Liniengewirr gänzlich aufzulösen drohen. Vergleichbares bei der Serie Underdone/Overdone, Siebdruck auf Zeitungspapier: Britische Waldansichten werden dort vielfach übereinander gedruckt, so dass sich die Bilder in Abstraktion zu verlieren scheinen und schließlich der Monochronie annähern. Mit comichaften Zeichnungen, der Fotografie Pieta (1996) oder der Videoanimation Cheap and Ill Fitting Gorilla Suit (1995) fand Fairhursts Befragung von Mensch, Natur und Identität ihren Anfang. In Cheap and Ill Fitting Suit springt Fairhurst in einem mit Zeitungen ausgestopften Gorilla-Kostüm minutenlang wie einst Bruce Nauman in No No No auf und ab, bis sich aus dem mächtigen Gorilla nach und nach ein schmächtiger Menschen-Körper schält. In den 90er Jahren beginnt sich Fairhurst auch den Motiven von Postkarten zu widmen: Abbildungen von venezianischen Ansichten, idyllische Gärten und folkloristische Landwirtschaftsmotive sind die Schauplätze, aus denen Fairhurst alles Menschengemachte und den Menschen selbst herauskratzt. Er nennt diese Serie bearbeiteter Postkarten treffend All Evidence of Man Removed. Ein konzeptueller Titel, der nicht mehr als die tatsächlich durchgeführte Handlung beschreibt. Die Arbeit Portugal – Drilled von 1996 gehört zu einer weiteren Serie von Postkarten, aus denen Fairhurst Löcher ausstanzte. Das idyllische Urlaubsmotiv des Landes Portugal wird konsequent und brutal durchlöchert, so dass die Karte durch den Materialverlust außerordentlich fragil ist und kaum noch als solche zu existieren scheint. Die medial erzwungene Sicht auf Portugal wird unterlaufen und macht es möglich, die entstehende Leere mit neuen Perspektiven zu füllen. (Ringing tone) Good afternoon, Waddington Galleries. Antony D’Offay. Hello, Waddington Galleries. No, you have the wrong number. OK. (click) (click) Mittels Wiederholung, Überlagerung und Ausschnitten kommt es in Fairhursts Arbeiten konsequent zur Auflösung, Auslöschung oder Entleerung des Ausgangsmaterials sowie zur Generierung von Leerstellen. In der Regel sind die weiterbearbeiteten Vorlagen Teil der populären Kultur, wie Postkarten, Popsongs, Magazine, und von Darstellungskonventionen und Normen bestimmt.
Jene Konventionen prägen nicht nur Landschafts- und Menschenbilder, sondern auch Rollenbilder und Erwartungen (Low Expectations) sowie Gesprächs- oder Vermarktungsstrukturen (Gallery Connections). Durch aktives, ikonoklastisches Eingreifen oder das Initiieren von sich verselbstständigenden, autodestruktiven Prozessen dekonstruiert Fairhurst konsequent jene festgefahrenen oder klischeehaften Bilder und Strukturen. Die durch Wiederholung entstandenen Normierungen löst er durch erneute Wiederholung in Form von Loops und Überlagerungen auf. Körper, Subjekt, Natur, Landschaft – ihre Identität ist nun wieder unbestimmt und kann erneut verhandelt werden. Dieser diskursive Charakter zeigt sich auch in der Medienwahl: Besonders in den 90er Jahren dominiert Ephemeres wie Sound, Video, Fotografie, Zeichnung oder Druck, die etwas Skizzenhaftes, Verhandelbares, Improvisiertes sowie Versuchs- und Experimentcharakter haben. Jene Medienvielfalt sowie ein daran geknüpfter Stilpluralismus erzeugen ein heterogen und disparat wirkendes Werk, das trotz dieser konzeptuellen Dezentrierung doch eine Konstanz in den künstlerischen Strategien und Interessen aufzuweisen hat: Unabhängig von Stil und Medium setzt sich das Auflösen vorhandener, meist populärer Strukturen mit der Konsequenz eines oft tragisch-komischen Charakters als dominante Strategie durch. (ringing tone) Antony D’Offay Good afternoon, Waddington Galleries. Hello? Sorry, this is Antony D’Offay gallery. No, no, it’s not. No, this is ... I ... I don’t know how we’re being connected here. Oh right. Ok. (laughs) OK? Bye bye (click) (click) Der Grund für den Erfolg von Fairhursts Soundinstallation Gallery Connections – besonders unter Künstlerkollegen – ist unter anderem auch der damaligen Situation geschuldet: Ein systemimmanent strukturierter Kunstbetrieb, den Fairhurst im London der 90er Jahre aus erster Reihe und in Hochform erleben durfte, wird mit Gallery Connections humorvoll offengelegt und sukzessive ad absurdum geführt: „The sound of the art world talking to itself “, kommentiert Tom Trevor die Arbeit 2009 in der 71
Angus Fairhurst Five pages from a magazine, body and text removed 2004, cut out magazine on paper 30 x 22.5 cm / 11 3/4 in Copyright the Estate of Angus Fairhurst, courtesy Sadie Coles HQ, London
Zeitschrift The Times treffend3. Die britische und insbesondere ein Teil der Londoner Kunstszene erfuhren in den 90er Jahren einen aufsehenerregenden Boom. Eine Gruppe von Studenten des Goldsmith College, zu denen neben Damien Hirst, Gary Hume und anderen auch Angus Fairhurst zählte, organisierten Ende der 80er Jahre in den Londoner Docklands studentische Ausstellungen. Mit ihrem auffallend provokanten Stil und persönlichem Einsatz erregten sie mit der zweiten Show Freeze die Aufmerksamkeit diverser Londoner Kunst-Promis, insbesondere die des Werbemonguls und Kunstsammlers Charles Saatchi. Norman Rosenthal, ein Kurator der Royal Academy, erinnert sich: „Als die dreiteilige Ausstellung schloß, war sie in Insiderkreisen bereits Legende. Ich selbst bekam sie durch die Beharrlichkeit des jungen Hirst zu sehen, der mich frühmorgens in einem klapprigen alten Wagen abholte und in die Docklands chauffierte, damit ich rechtzeitig um halb elf wieder in der Royal Academy wäre. In der Kunst geht es nicht nur darum, eine Vision zu erzeugen; es geht auch darum, diese Vision anderen aufzudrängen“ 4. Freeze wurde zum Begründungsevent einer Gruppe von Künstlern, die Charles Saatchi fortan unter dem Label Young British Artists (YBA) mit seiner Erfahrung aus der Werbebranche professionell vermarktete. Es dauerte nicht lange und die sogenannten YBAs, von allen Seiten gepushed, dominierten die Kunstszene der 90er Jahre weit über Großbritannien hinaus. Ende der 90er Jahre war von einem „unaufhaltbaren Siegeszug der Young British Artists“ 5, von einem „beträchtlichen Einfluss auf Ausstellungen und Sammlungen beiderseits des Atlantik“, von „Leistungen und Erfolgen, die die Kunst von morgen formen werden“ 6, die Rede. Hirsts spezielles Marketing fand einen seiner Höhepunkte, als er 2008 am Vorabend des Börsencrashes seine Serie Beautiful Inside My Head Forever, eine in Gold wiederaufgelegte Edition von alten Arbeiten, bei Sothebys zu Rekordpreisen verkaufte7. Fairhursts institutionskritischer Eingriff in die Telekommunikation und dessen Präsentation in einem für die Kunstwelt typischen minimalistischen Glastisch traf mitten ins Schwarze. [Ringing tone] Hello, Interim Art. HHello, Karsten Schubert gallery. (laughs) There’s something really weird going on ... um, sorry, l’m calling from Maureen’s. Oh.
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E ... every now and then, our phone rings (laughs) I pick it up and then it starts ringing and then (laughing) another gallery picks up at the other end. Die YBAs fielen also schon Ende der 80er Jahre und erst recht in den 90er Jahren mit ihren provokanten und am Spektakel orientierten Arbeiten auf. Schnell etablierten sich einzelne Werke oder Serien zum wiedererkennbaren Markenzeichen eines Künstlers. Mit häufig ironischem Charakter und einer sehr direkten Attitude wurden ihre Skulpturen oder ihre Malerei mit Themen wie Sex, Leben, Körper und Tod zu Blockbustern der britischen Kunst. Fairhursts Arbeiten waren in den 90er Jahren hingegen weniger explizit oder schnell zugänglich und damit auch weit weniger populär. Seine Arbeit, ebenfalls durch Konzeptkunst und Pop geprägt, mit ihren vielfältigen und flüchtigen Medien sowie dem zurückgenommeneren Ausdruck und disparaten Stil – am ehesten an bestimmten übergreifenden und konzeptionellen Bildstrategien zu erkennen – wurde von der Presse als subtilere und intelligentere Position unter den YBAs klassifiziert. Erfolg brachte diese ehrenwerte Diagnose aber nicht. [Ringing tone] Good morning, Waddington Galleries. Hello, Lisson Gallery. (Pause) Sorry? Hello, Lisson Gallery. Um ... l’m sorry, I just picked the phone up... um, I got an incoming call from Waddington’s. Oh my god, I can’t believe this is happening. Have you told ... the, um Yeah, we’ve told them and told them and told them. In den 00er Jahren folgt eine einschneidende Veränderung. Die Bildstrategien und Verfahren der Wiederholung, Überlagerung und des Ausschnitts verschieben sich merklich zugunsten der Letzten. Die Leere wird noch direkter, ohne den Umweg über das Auflösen von Formen als Konsequenz der Überlagerung, dargestellt. Dominanter noch ist eine programmatische Verschiebung, die Fairhursts Arbeiten der sogenannten ‚Signature Art’ anderer Young British Artists annähert. Insbesondere eine Reihe großer, schwerer Bronzeskulpturen, die an die Gorillamotive der 90er Jahre anknüpfen und diese als tragisch-komisches Markenzeichen etablieren, fallen in diese Kategorie. Aber auch Collagen aus Werbeplakaten oder Modemagazinen, Fortführungen der Postkartenbearbeitungen, trumpfen durch vielfach große
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Angus Fairhurst, Underdone / Overdone Paintings, Haroon Mirza: I saw square triangle sine, 2011 Installation view at Camden Arts Centre Š the artist, Photo: Andy Keate 74
Formate, bunte Hochglanzästhetik und sexy Frauen-Silhouetten auf. Diese Entwicklung lässt Fairhursts Arbeiten im Vergleich zu den 90er Jahren marktkonformer erscheinen, was vielleicht einem gewissen Druck im Umfeld der Young British Artists zuzuschreiben ist. Jedoch ist es Fairhurst gelungen, seinem künstlerischen Interesse, den ikonoklastischen Strategien, der Leere und Dekonstruktion, konsequent zu folgen und auch jenen bestechenden tragisch-komischen Charakter seiner Arbeiten in keiner Weise einzubüßen. (Engaged tone) (Ringing tone) Galerie du Genie. (Background music) AlIo? (Pause) (click) (Engaged tone) Daniel Tempion, bonjour? (Places on hold; plays electronic music version of ‚Alouette’) (Engaged tone) (Ringing tone) Galerie Ghislaine Hussenot. (Pause) Allo? (Pause) Allo? (Pause) (click) Heute, da die alles überstrahlenden Einzelpersonen der Young British Artists, allen voran Damien Hirst, zum Establishment gehören und ihre laute, spektakuläre und in-your-face-attitude oft, wenn nicht gar zu oft gesehen wurde, darf erneut ein Blick auf die 90er Jahre geworfen werden. Es gilt zu fragen, ob es links und rechts der großen Namen und Blockbuster der YBA vielleicht noch andere Positionen gegeben hat, die sich vor zwanzig Jahren aus verschiedenen Gründen nicht gleicherweise durchsetzen konnten, gegenwärtig jedoch für Produktion und Rezeption wieder anschlussfähig und bereichernd sind. Dieser erweiterte Blick bietet außerdem eine Perspektive, die sukzessive eine differenzierte Sicht auf die Kunst der 90er Jahre ermöglicht. Fairhursts disparate Arbeiten erinnern mit ihrem zugleich konsistenten ikonoklastischen, streng konzeptionellen und tragisch-komischen Charakter daran, dass ‚anything goes’ weniger Ausdruck einer allgemeinen Beliebigkeit ist, als dass es beliebiges Leben ernst nimmt.
(Engaged tone) [Ringing tone] Galerie Ghislaine Hussenot. [click]
____________________ * Der Titel enstammt einem Artikel von Tom Trevor, vgl. Anmerkung 3. Slotover, Matthew: frieze blog, 6. Mai 2008, http://blog.frieze.com/angus_fairhurst_obituary/, Stand: 15.05.2014, Slotover veröffentlicht im Rahmen eines Nachrufs die Transkription der Soundarbeit Gallery Connections von Angus Fairhurst. Alle folgenden Passagen sind ebenfalls Auszüge dieser Veröffentlichung. (Erstveröffentlichung Print: Frieze Magazine, Juni 1991) 2 Heiser, Jörg: Trivial Pursuit. In: Angus Fairhurst The Foundation (Ausstellungskatalog). Herausgegeben von Dziewior, Yilmaz für die Ursular Blickle Stiftung, Kraichtal 1999, S. 20 3 Trevor, Tom: Angus Fairhurst: the gorilla in the room, The Times, 14. Januar 2009, http://www.thetimes.co.uk/tto/arts/visualarts/article2423165.ece, Stand: 15.05.2014 4 Rosenthal, Norman: Das Blut muss weiterfließen. In: Sensation (Ausstellungskatalog). Deutsche Ausgabe herausgegeben von Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart. Cantz Verlag: Ostfildern 1998, S. 9 5 Shone, Richard: Von „Freeze“ bis „House“ 1988-1994. In: Sensation (Ausstellungskatalog). Deutsche Ausgabe herausgegeben von Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart. Cantz Verlag: Ostfildern 1998, S. 12 6 Maloney, Martin: Everyone a Winner! In: Sensation (Ausstellungskatalog). Deutsche Ausgabe herausgegeben von Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart. Cantz Verlag: Ostfildern 1998, S. 34 7 Cullinan, Nicholas: Dreams That Money Can Buy. In: Pop Life (Ausstellungskatalog). Deutsche Ausgabe herausgegeben von der Hamburger Kunsthalle. DuMont: Köln 2010, S. 34, 95 1
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Weltberühmt in Ilmenau Karlheinz Brandenburg, Erfinder von MP3 Vorsicht! Das ist ein langer Text. Und schlimmer noch: Es geht um Physik, Huygens-Prinzip, Helmholtz-Integral und so was (muss man nicht verstehen), aber es geht auch darum, warum JPEG so heiSSt, nämlich JPEG, und MP3 eben MP3. Michael Jackson kommt vor und Hermann Göring. Und sehr viel Geld. Vielleicht ändert der Text auch dein Leben, Millionär zu werden statt was mit Medien zu machen.
Text: Lorenz Schröter | Fotos: Fabian Zapatka
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„Was ist hörbar? Das hat mit Gehör und Gehirn zu tun.“ Anfangs wippen seine Hände nervös. Er lächelt einen an, um zu überzeugen, beinahe unsicher, schüchtern. Dabei ist er ein Titan, fast im Alleingang hat er ein Multi-Milliarden-Vermögen vernichtet, förmlich die Musikindustrie zerbröselt und ist selbst dabei sehr reich geworden. Prof. Dr. Dr. hc mult. Karlheinz Brandenburg, 188 cm, 1954 in Erlangen geboren, 91 Facebook-Freunde, hat MP3 erfunden. Ohne ihn kein Ipod und kein BitTorrent, keine Urheberdebatte, kein Internetradio, keine Podcasts. „Ich forsche gerade daran, zu quantifizieren, was im Gehirn passiert.“ Auf Brandenburgs Schreibtisch liegt ein Snickers, im Regal ein paar Auszeichnungen und Ehrendoktorwürden. Einstein in Gips zeigt seine Zunge. Die Sache mit dem Untergang der Musikindustrie wie die Älteren unter uns sie noch kannten, begann 1977. Dieter Seitzer ahnte, dass das herkömmliche Telefonnetz an seine Grenzen gestoßen war und etwas Neues entstehen würde: ISDN. Seitzer, ein Pionier der Datenkompression und Professor in Erlangen, beantragte ein Patent für Musikübertragung über Telefonkabel. Technisch nicht möglich, hieß es. „Völlig korrekt“, meint Brandenburg mit sonnig verschmitztem Gesichtsausdruck. Seitzer suchte sich einen begabten Doktoranden, der tüftelte und programmierte zehn Jahre. Der junge, begabte Doktorand hieß Karlheinz Brandenburg. Er und sein Team analysierten Musik, was hört man und was hört man nicht. Auf was kann man verzichten, ohne es zu merken. Man nennt das Psychoakustik. Tausendfach hörten sie sich dabei Suzanne Vegas A-cappella-Song Tom´s Diner an, komprimiert und unkomprimiert, bis zwischen beiden kein Unterschied mehr zu hören war. Es war der erste Song auf MP3. „Die DAT-Kassette mit dem Suzanne Vega Song muss hier noch irgendwo rumliegen“, meint Brandenburg begeistert. Erstaunlich, dass er nach all den Jahren und all den Interviews die Geschichte immer noch gern erzählt. „Suzanne Vega hat sich die mal angehört, als sie in Erlangen aufgetreten ist.“ Anfang der 90er Jahre wählte die Motion Picture Expert Group (MPEG) aus allen Vorschlägen zur Audiokomprimierung ein Format aus, entwickelt in Erlangen vom Team Brandenburg. Die MPEG ist eine UnterUnterabteilung der Internationalen Organisation für Normierung, also die Vereinten Nationen für Meter, Liter, Größe von Magnetstreifenkarten, Farbfilmempfindlichkeit, Eigenschaften von Linsen-Senkblechschrauben mit Kreuzschlitz usw.
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Solche Expert Groups gibt es für alle möglichen Standards und sie treffen sich zwei, drei Mal im Jahr irgendwo auf der Welt. Eine andere, die Joint Photographic Expert Group, hat übrigens den JPEG-Standard für Bildkomprimierung geschaffen, lizenzfrei, also kostenlos für die Computerindustrie. (Die Rechte für PDF, Photoshop und Flash liegen bei Adobe, Word und Excel bei Microsoft, PNG ist lizenzfrei). Ausgerechnet also die Movie Picture Gruppe brachte den Audio Standard hervor. „Die Geschichte, dass MPEG sich mit Audio beschäftigt hat, geht zurück auf die ersten Treffen unter Leonardo Chiariglione, deren Nahziel war Video auf CD-Rom zu speichern. Da aber auf normalerweise einer CD der ganze Platz für Musik beansprucht wird, muss man, um noch Platz für den Film zu haben, Audio komprimieren.“ Brandenburg reist mit seiner über die ganzen 80er Jahre entwickelten und patentierten Software 1994 auf einen Audio-TechnikKongress, das Datenboard wog ein dreiviertel Kilo, es gab ja noch keinen MP3-Player, eine Minute Musik war da drauf, das Ding hatte noch nicht mal einen richtigen Namen. „Wir hatten gehört, dass ein Vorläufer Format, MPEG Layer 2, auch MP2 genannt wurde. Damals durften File-Endungen nicht mehr als drei Buchstaben haben.“ Brandenburg amüsiert sich mit einem Selbstversicherungslächeln über diese vorzeitlichen Bestimmungen, als würde er einen Witz aus der Steinzeit erzählen. „Nach längeren internen Beratungen haben wir es MP3 genannt. Die Email, die das feststellt, stammt vom 14. Juli 1995 und ist noch erhalten.“ Im digitalen Museum lagern also eine DAT-Kassette mit einem Suzanne Vega-Song und eine Email. Grundig in Fürth, 18 Kilometer entfernt von dem Ort, wo MP3 erfunden wurde, wollte damals keine Lizenz zum digitalen Kodieren und Dekodieren für Musik kaufen, andere Firmen in Ohio und Korea jedoch schon. Es folgten Microsoft und Apple. Ende der 90er kamen die ersten tragbaren MP3-Player auf den Markt und ein übler Student aus Australien, es waren die 90er, hackte den MP3-Code, damit war das Kopieren von Musik für jeden möglich. 2001 erschien der iPod, „erscheinen“ im fast schon religiösem Sinne: Eine neue Sonne am Horizont. Gutes Design, super Marketing und Musik umsonst - die Musikindustrie, wie wir sie heute kennen. Zwischen 2000 und 2011 sanken die CD-Verkäufe um 77 Prozent. Grundig, einst größter Radiobauer Europas, musste 2003 Insolvenz anmelden. Ein schlechtes Gewissen hat Karlheinz Brandenburg deshalb nicht. Der technische Fortschritt ließ sich nicht aufhalten, die Musikindustrie hatte versäumt, sich rechtzeitig auf die Möglichkeiten des neuen Formats einzustellen,
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am Anfang wäre es sogar möglich gewesen, dass die Abspielgeräte eine kopierte Datei anhand von zwei bits, dem serial copy management scheme, hätten erkennen können. Aber die Zeit ist lange vorbei. Karlheinz Brandenburg ist weltberühmt in bestimmten Kreisen. Wie alle Rockstars würde er gerne einen zweiten Hit landen. Brandenburg ist Leiter des Frauenhofer-Instituts für Digitale Medientechnologie (IDMT) in Ilmenau und Professor an der TU im selben Ort einem Städtchen am Rande des Thüringer Waldes. Hier leben Physikstudenten mit Button-down-Hemden, TommyHilfiger-Pullis mit rundem Ausschnitt, Jungs, die Stereoanlagen zusammen löten wie Brandenburg in seiner Jugend. Jetzt will er die Super-Tonanlage bauen. Sein Baby heißt IOSONO. Hörer sollen in einem Raum den Klang stets so hören, als wären sie im Mittelpunkt des Geschehens. Im Kinosaal des Erdgeschosses, das Institut wurde bei der Gründung 2000 großzügig ausgestattet, sind rund um die Wand Lautsprecher aneinandergereiht, nicht besonders große, ungefähr Din A 4. Auf einer Leinwand läuft ein Trailer für das Computerspiel Siedler. Opulente Filmmusik, eine Stimme ertönt: „Länder schlugen Schlachten ...“ Ein Löwe knurrt. „Und wurden zerstört.“ Ein Reiter prescht durch eine Zebraherde, Vogelstimmen von oben, der Reiter erreicht ein Dorf usw. Der Film ist nicht wichtig, es geht um das Klangerlebnis: Wellen branden an den Strand, Regen fällt in der Mitte des Saals. Der Witz ist, dass man im Raum herumwandern kann, ohne dem Löwen näherzukommen, beziehungsweise sich von ihm zu entfernen, auch ganz nah an den Lautsprechern ist das Hörerlebnis zentral. Es liegt nicht an den Boxen, dass solch ein synthetisches Klangfeld entsteht, es ist die Software, die eine herkömmliche Tonanlage ansteuert und damit einen virtuellen akustischen Raum schafft. Das geht nach der Wellenfeld-Synthese, die auf dem HuygensPrinzip beruht, nach dem jede (Schall)welle, genauer gesagt jede Wellenfront, aus sich überlagernden Elementarwellen besteht; und, nimmt man das Kirchhoff-Helmholtz-Integral dazu, dabei geht es um Schalldruck und Schallschnelle, ist es möglich, in einem Raum die perfekte akustische Illusion zu generieren. Brandenburg hat inzwischen Übung, die Wellenfeld-Synthese zu erklären: „Die Grundidee ist, dass nicht wie bei Surround-Technik einzelne Lautsprecher die Lautstärke am Ohr rekonstruieren, sondern dass ich viele Lautsprecher habe die einzeln angesteuert werden. Nach einer ursprünglich komplizierten, dann gar nicht
so komplizierten mathematischen Formel wird so errechnet, dass durch die Überlagerung der Schallwellen der einzelnen Lautsprecher die richtigen Schallwellenformen im ganzen Raum rekonstruiert werden. Die Überlagerung der einzelnen Signale ergibt Wellenfronten, wie in der Natur, auch wenn ich den Kopf bewege, der Schall funktioniert genauso.“ Brandenburg muss diesen leicht unterkomplexen Filmtrailer zu Siedler 7 schon oft gesehen haben, immer noch ist er begeistert vom Tonerlebnis. „Beim räumlichen Hören kommt es darauf an wie wir Schall wahrnehmen, aus welcher Richtung, aus welcher Entfernung. Manche Blinde können Räume nach Gehör aufzeichnen. Wir müssen für ein synthetisches Klangfeld wie es IOSONO produziert, wissen, wann natürliche Reflektionen im Raum die Illusion wieder kaputt machen.“ Das große Problem ist nämlich, nicht nur einen virtuellen Hörraum zu erzeugen, sondern den echten Raum, in dem das Ganze stattfindet, zum Schweigen zu bringen. Das System muss für jeden Raum individuell eingerichtet werden, denn ein Signal klingt in jeder Umgebung anders. „IOSONO macht Fortschritte auf dem Markt, wir haben den kleinen Durchbruch geschafft.“ Brandenburg ist nicht nur Erfinder und Gelehrter, er ist auch Geschäftsmann mit Marketingbewusstsein. „Das Verfahren ist weltweit bekannt, in China, Korea und Deutschland gibt es kommerzielle Anwendungen in Themenparks oder Museen, in München die Bavaria Filmstadt. Wir hoffen noch auf den großen Durchbruch.“ Zweimal traf Brandenburg Michael Jackson in Los Angelas. Er wollte IOSONO für seine Konzerte einsetzen. „Was nicht heißt, dass es manchmal Sorgen gibt. Wenn andere Firmen in den Markt vorstoßen wollen und zehn Mal oder hundert Mal so gut finanziert sind. In der Technologie jedoch haben wir keine Konkurrenz.“ An den Universitäten von Delft, Thessaloniki und Lausanne wird ebenfalls an Wellenfeld-Synthese-Sound-Systemen gearbeitet, aber Brandenburg ist sich sicher, dass sie denen weit voraus sind. „Wir sehen kein Wettrennen, niemand ist auch nur nahe dran. Das System werden Sie nicht für 7,50 am Grabbeltisch kaufen, aber es soll nicht nur für hundert Menschen, sondern für eine breite Zahl von Menschen verfügbar sein.“ ISONO funktioniert bei Kopfhörern nicht besonders gut. „Wir können jetzt erklären, warum es nicht funktioniert. Das Gehirn meint, da stimmt was nicht.“ Im Ilmenauer IDMT wird praxisnah gearbeitet, die Industrie vergibt bezahlte Aufträge an Brandenburgs Ingenieure. Christian Dietmar hat ein Programm entwickelt, das Musik in Noten und 83
Griffen auf dem Bildschirm zeigt. Der Gruppenleiter für Semantische Musiktechnologien spielt auf seiner Gitarre Smoke On The Water. Aus dem Computerlautsprechern klingt das altbekannte Da, da daa, dah dah, Da da daa des Deep-Purple-Songs, die Noten hoppeln auf dem Bildschirm und ebenso die Gitarrengriffe, ähnlich wie beim Videospiel Guitar Hero. Mit dem Songs2SeeProgramm kann man auch flöten, trommeln, singen, Bass, Saxophon, Klavier oder Trompete spielen. Jede getroffene Note wird mit Bonuspunkten belohnt, Abzüge bei Missgriffen gibt es nicht. Seit März 2012 kann man das preisgekrönte Programm als freie Demoversion nutzen oder für 19.90 kaufen. Zwei Zimmer von Christian Ditmar weiter gucken einem zwei Kameras in die Augen. Der Eyetracker verfolgt den Blick, den man auf einen Bildschirm wirft. Werbefachleute können so erkennen, ob man sich nur die hübsche Frau in der Anzeige anschaut oder auch das Produkt. Eine andere Anwendung: Wie viele der unterund übereinander geschachtelten Verkehrsschilder am Straßenrand sieht man eigentlich wirklich? Oder: Der Eyetracker warnt vor dem Sekundenschlaf im Auto. Oder: Was sehen Senioren? Im Laboratorien wird nicht nur programmiert, es liegen Platinen und Lötkolben herum, am Whiteboard stehen geheime kryptische Formeln, kaum Zahlen oder Buchstaben, meist Worte, um sich an etwas zu erinnern. Es ist ein grauer Herbsttag in Ilmenau. Ein bisschen schläfrig, Blätter fallen, Kröten graben sich ein usw. Der Ort erscheint wohltuend langweilig wie Smallville aus dem Superman-Comic. Ein guter Platz für Utopien. „Einer unserer Doktoranden hat sich die Methoden der Lebensmittelindustrie als Vorbild genommen“, erzählt Brandenburg. „Das Problem, den Geschmack von Wein oder Käse festzustellen ist ähnlich wie beim Klang. Das ist ganz nah am Vodoo, Leute meinen etwas zu riechen, zu schmecken, zu hören. Wie bekomme ich zuverlässige und wiederholbare Messungen? Die herkömmlichen Hörtests reichen schon lange nicht mehr aus.“ In naher Zukunft könnte, so Brandenburg, beim Hausbau zusammen mit der Beleuchtung ein Lautsprechersystem mit perfekter Musikwiedergabe in die Wände eingebaut werden, man könnte auch Gegenschall erzeugen, also störende Schallwellen ausblenden und für Ruhe sorgen. „Mit zwei oder drei Lautsprechern lässt sich aber leider nicht der Straßenlärm ausschalten“, meint Brandenburg. „Das ist physikalisch nicht möglich.“ In Drehbuchseminaren lernt man, dass ein Held ein need, einen ihn und damit den Film antreibenden Grund braucht. Das trifft auf Brandenburg zu, 84
in ihm brennt noch ein Feuer. Er kann gut reden, gibt gerne Interviews, kann sich sehr gut über Urheberrechte, Marketing und neue technische Gadgets unterhalten. Ein guter Typ. „Die Akustik in vielen Schulen und Universitäten ist meist sehr schlecht und unser Gehirn muss sich anstrengen, die Störungen und Reflexionen auszublenden. Dabei verlieren wir einen Teil unserer Gehirnkapazität, um den Sinn des Gesagten zu verstehen.“ MP3, der vermutlich wichtigste deutsche Anteil am „Internet“ ist größtenteils vom Frauenhofer-Institut patentiert. 300 Millionen Euro spielen die Lizenzen für das Institut ein, allein Microsoft zahlt 12 Millionen. Jährlich. (Wenn man bedenkt, wie viele Patente in jedem PC stecken, und jeder Rechteinhaber will seinen Teil). Es gibt öfters teuren Rechtsstreit mit anderen Patentinhabern und Software-Produzenten. Nach § 42 des Arbeitnehmererfindungsgesetzes, es wurde übrigens 1942 als Göring-Speer-Verordnung erlassen, um die Beschäftigten zu Kreativität anzuspornen, sind Hochschulangestellte wie unser Prof. Brandenburg zu 30 Prozent an den Lizenzen beteiligt. „Mein Professor Seitzer hat mir geraten, sofort die Erfindung als Patent anzumelden.“ Allerdings sind es sehr viele Patente bei MP3 und dass, was nach dem Anteil für das Frauenhofer-Institut letztlich an die Erfinder ausgeschüttet wird, teilen sich 40 Personen, dem Erlanger-Team von einst. „Ja, nach meinen Maßstäben bin ich reich.“ Als Teamleiter und Inhaber von einem Dutzend Patenten sind 30 Prozent von 300 Millionen, wie auch immer aufgeteilt, eine beneidenswert hohe Summe. Aber ich kann mir nicht jeden Monat einen neuen Porsche leisten, hat Brandenburg mal gesagt. Da fängt man automatisch an zu rechnen: 90 000 für einen Porsche 911 Carrera mal zwölf, das wäre ein bisserl über eine Million. Eine Zeitlang, in den 90ern, spielte er mit dem Gedanken nach Silicon Valley zu ziehen und eine Firma zu gründen, da fehlte ihm jedoch die zündende Idee. Seitdem investiert er seine Patentausschüttungen. „Neben meinen Funktionen als Institutsleiter bei Frauenhofer und als Professor hier in Ilmenau habe ich in vielen Jahren in einige Startup-Unternehmen investiert habe, mehr und weniger erfolgreiche, der Teil des Geldes ist bisher deutlich weniger geworden. Nachdem wir gesehen haben wie schwierig es war für neue Ideen in Deutschland Geld aufzutreiben, habe ich das auch als Verpflichtung gesehen, der nächsten Generation weiter zu helfen.“ Wie gesagt, ein guter Typ.
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Anna Steinert Wilde Stille
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Die Ausstellung Flagge der Lebendigen (2014, Galerie Sandra Buergel, Berlin) von Anna Steinert konzentriert sich auf Masken und Tiergesichter. Ein Portrait im herkömmlichen Sinn gibt es darin nicht. Auch die Züge der einzigen Person, der Großen Raucherin (2014), gleiten ins Tierhafte, und der Mann mit abgerundeten Ecken und Kanten (2013), die maskenhafte Übermalung einer männlichen Steinbüste und seines Blicks mit einer rosa Wolke, ist zuerst begrifflich wenn nicht gar buchstäblich erfasst. Das malerische Werk von Anna Steinert mit so sprechenden Titeln wie Schnabel halten (2013, ein Uhu, der den Betrachter voll des Affekts anschaut) oder Beuteblick II (2014), das abwartende Gesicht eines Braunbären) evoziert eine ganze Bandbreite von Gedanken: zu den Beweggründen der Künstlerin, zu menschlichem Benimm und (A-) Sozialität, zu Projektionen und Reaktionen, zu verloren gegangenen Wissenszusammenhängen wie sie beispielsweise im volkstümlichen Aberglauben stecken. Die Fähigkeit, ein Tier abzubilden – ähnlich verhält es sich mit den Sternen – wird immer seine Grenzen haben, immer nur der vertrauensbildende Versuch einer Paraphrasierung bleiben. Die Werke von Anna Steinert sind auf eine entwaffnende Art nicht das, wonach sie aussehen. Sie selbst spricht in diesem Zusammenhang von ambivalenten Zuständen und ihrer Faszination für den befreienden und widerständigen Charakter der Groteske. Die Groteske verortet sich zwischen dem Grauen und der Komik, zwischen Monstrosität und Zierlichkeit. Ihr wird nachgesagt, dass sie von einem geringer edlem Gemüt ist als ihre Schwester die Tragödie; die Groteske ist eine gröbere, realistischere Gratwanderung. (Bei den Skulpturen von Anna Steinert setzt sich das manchmal bis in den Materialausdruck fort.) Die Ernüchterung wird gelassener genommen, die dargestellten Spaltungen nachsichtiger; die Verwirrung, welche die Arbeiten stiften, ist eine angenehmere. Ein zentrales Werk der Ausstellung ist Wahn der Sinnlichen (2014), eine Primatensippe aus Totenkopfäffchen deren (körperlose) Köpfe uns in schillernden Halskrausen entgegen blicken, jedes ganz eigen und doch kaum vom anderen zu unterscheiden. Nach alter Volkssage sind Affen von Gott verwünschte Menschen. Ich habe ein Bild von Cornelis Corneliszoon van Haarlem, Der Sündenfall (1592), aus dem Rijksmuseum Amsterdam, vor Augen, auf dem im Hintergrund zwischen Adam und Eva ein Affe eine Katze umarmt. Der Affe, sein äffisches ‚Nachmachen’, auch sein ‚Narren’, ist eine Allegorie für künstlerische Produktion. Nietzsche, von dem wir den Vergleich der Angst mit einem bösen äffischen Kobold kennen, hat außerdem über das Äffische im Menschen, also das Nachahmen, gesagt, es sei „das eigentlich und ältest Menschliche“, 86
Sandra Buergel | Interview: Isa Maschewski & Anna Steinert
und ebenso sei es möglich, dass die Empathie, „das menschliche Mitleiden“, dazu gehöre, „sofern es ein unwillkürliches inneres Nachmachen ist“. Eine Maske ist sehr handlich, unter einer Maske zu stecken macht diebischen und kindlichen Spaß. Vielleicht liegt das daran, dass aus dem Maskenspiel ein nicht-gesichtliches Handeln wird, das sich gestisch vergegenwärtigt. Eine Maske ist eine Verkehrung, nicht das Spiegelbild der Existenz. Ich habe gelesen, dass das Prinzip der Frontalität von Gesichtern, Blicken, Masken, Göttern, oder Kriegern in der Antike nicht etwa den Beginn des Sehens beschrieb, sondern es auseinander fallen ließ. Die Frontalität beschrieb einen Bruch zur gemeinsamen, sichtbaren Welt in der sich Blicke kreuzten und austauschten. Erst das frontale Gesicht Christi, Die Erschaffung des Gesichts im Jahre Null (Deleuze/ Guattari), das ungefähr zeitgleich mit dem des Kaisers auf Münzen entstand, verknüpfte die frontale Darstellung mit dem Lebendigen. Es scheint eine lange Linie der ‚Vergesichtlichung’ zu folgen, über die sogenannten Gedächtnistraktate der frühen Renaissance (Darstellungen von Tugenden und Lastern), Dürers Selbstbildnis als Künstler, bis zu den Gesichtsfelderkennungs- und Markierungsfunktionen heutiger digitaler Kameras. Unser Zwang, in Gesichtern zu lesen, sowie die Angst, an ihnen abzuprallen – den anderen und den eigenen! – verraten, vom Sprachtrieb einmal abgesehen, wie groß Wünsche nach Ähnlichkeit (bzw. Unterschiedlichkeit?) sein können. ____________________ Der Titel deiner vorherigen Ausstellung war Wilde Stille. Wie kam es zum Ausstellungstitel? Ich interessiere mich grundsätzlich sehr für paradoxe Erscheinungen, so dass ich „Ambivalenz“ fast als thematischen Hauptgegenstand meiner Kunst bezeichnen könnte. In Wilde Stille bildet sich für mich ebendiese Gleichzeitigkeit ab: Das Archaische, Dionysische und extrovertierte, gemeinsam mit dem Grotesken, eben der „Wildnis“ und dem Animalischen auf der einen Seite und auf der anderen Seite „Stille“. Sie beschreibt für mich den Blick nach Innen, das Introvertierte, Melancholische und Kontemplative. Wenn „Stille“ für einen tiefen Blick nach Innen, für ein „BeiDeinem-Ursprung-Sein“ steht, dann kann es genau diese „Wilde Stille“ ja tatsächlich geben, dann kann auch die Stille etwas wildes, weil etwas ursprüngliches haben.
Wahn der Sinnlichen, 2014 テ僕 auf Leinwand, 30 x 24cm Copyright: Anna Steinert 87
links: Mann mit abgerundeten Ecken und Kanten, 2013, ร bermalung, Collage auf Buchseite, 36 x 26,5 cm rechts: doppelter Vogel, 2013 Gips, Stoff, Bronzevogel Hรถhe 51 cm 88
links: Beuteblick II, 2014, テ僕 auf Leinwand 50 x 44 cm rechts: Schnabel halten III 2013, Gips, bemalt Hテカhe 23 cm 89
oben links: Geschoss (Auge um Auge) 2014, テ僕 auf Leinwand 170 x 140 cm oben rechts: Ausschau halten 2014, テ僕 auf Leinwand 33 x 40 cm unten links: "nur manchmal schiebt sich der Vorhang der Pupille", 2013, Maske, Copyright: Anna Steinert
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Ich bin mir gar nicht sicher, ob es den einen „Ursprung“ überhaupt gibt. Man denkt oft, das Ursprüngliche sei irgendwo tief in einem verborgen. Ich bin mir da nicht so sicher und experimentiere mit dieser Frage nach dem Ursprung, die sich viele Menschen stellen. Das bedeutet für mich allerdings nicht, dass es darauf auch tatsächlich eine Antwort geben muss. Wahrscheinlich gibt es auf diese Frage viele verschiedene Antworten. In deiner Arbeit, deinen Malereien, scheint es um eine immer neue Untersuchung dieses unbestimmten, entrückten oder eben auch ursprünglichen Zustands zu gehen. Die Arbeit Aristotoles und das Problem XXX,1 ist ein gutes Beispiel dafür.
Während des Studiums war ich lange auf der Suche, habe alles ausprobiert und eigentlich jeden Stil durchgearbeitet. Die Beschäftigung mit dem Portrait gehörte dazu, auch weil ich in abstrakten Bildern immer wieder Gesichter gesehen habe. Bald habe ich mich dem Thema Portrait dann ernsthaft gewidmet, mich z.B. mit Tausend Plateaus, daraus insbesondere mit dem Text Die Erschaffung des Gesichts von Deleuze und Guattari auseinandergesetzt. Die Lektüre wirkte für mich wie ein Schock und auch wie eine kolossale Ernüchterung. Sie führte mich an einen wichtigen Wendepunkt, an dem mir klar wurde, dass ich auf gar keinen Fall unwissend mit Gesichtern umgehen möchte. Was bedeutet „unwissend“ für dich?
Bei dem Problem XXX,1 handelt es sich um eine antike Schrift, die lange Aristoteles zugeschrieben wurde, aber eigentlich von seinem Schüler Theophrast stammt – ich bin beim Titel einfach bei dem antiken Irrtum geblieben. In dieser Schrift geht es im Wesentlichen um die Künstlernatur, darum, dass Melancholie fest mit einer genialen Begabung verknüpft ist. Viele Dichter und Philosophen wie z.B. auch Goethe, haben sich sehr oft auf die Grundthese dieser Schrift berufen und manchmal ihr eigenes Selbstverständnis danach modelliert. Für mich war es interessant, dass schon in der Antike über die Natur des Künstlers geschrieben wurde – über den Künstler als Trinker, Melancholiker aber auch als genialen „krassen Typen“. Der Affe, den man auf dem Bild sieht, befindet sich meiner Meinung nach genau in diesem elegischen Zustand, in klarer Melancholiker-Haltung die im Problem XXX,1 beschrieben wird. Der Strohhalm deutet vielleicht einen wunderbaren karibischen Cocktail an, aber anstatt sich zu freuen oder überhaupt irgend einen Gemütszustand preiszugeben, guckt er völlig leer, ist still und apathisch. Jeder, der sich dieses Tierportrait anschaut, wird womöglich etwas anderes in den Blick des Affen hineinlesen. So ist es bei vielen deiner Malereien, sie wirken in gewisser Weise wie ein Spiegel, jeder sieht etwas anderes wenn er sie betrachtet. Der Blick an sich gibt nicht viel preis, jeder muss etwas Eigenes hineinlegen. Grundsätzlich beschäftigst du dich sehr viel mit Gesichtern und damit, was man in sie hineinlesen kann, wie sie wirken und was sie für uns bedeuteten.
Gesichter als Genormte anzunehmen, wie sie in den Medien und der Werbung kommuniziert werden. Das naturalistische Portrait interessiert mich auch überhaupt nicht. Mir geht es um den Ausdruck von Zuständen. Da ist Francis Bacon natürlich ein Thema, in seinen Portraits erreicht er ja bereits eine Gesichtsauflösung – ich nähere mich dem Thema auf eine andere Weise, über die Beschäftigung mit ambivalenten Zuständen, über das Animistische und Grosteke. Es geht mir dabei auch um die Affekte, die durch die Betrachtung von Gesichtern entstehen – man fällt eben sehr schnell auf Gesichter herein. Ich selbst bin auch immer wieder ein Opfer, denn ich befasse mich ja die ganze Zeit nur mit Gesichtern, und zwar isoliert vom Rest des Körpers und von der Umwelt. Das Gesicht-Gegenüber an sich transportiert ja schon eine gewisse Undurchdringlichkeit – das Gesicht lässt sich abbilden und näher beschreiben, aber nicht durchdringen. Ich verstehe deine Arbeit so, dass es dich interessiert, was – in vielfachem Sinne – wirklich hinter dem Gesicht verborgen liegt. Das passt auch sehr gut zu deiner Arbeit mit Masken – in einem Text von Dir hast Du mal geschrieben, dass die Maske die Miene der Miene ist. Es gibt kein maskenfreies Gesicht – höchstens im Moment des Todes oder in Momenten der Ekstase. Das sind dann diese Zustände des „Ausser-sich-Seins“, was ja auch wieder so ein Paradoxon ist, denn im Moment der totalen Ekstase ist man seinem eigentlichen Selbst womöglich näher als zu irgend einem anderen Zeitpunkt. Mich interessiert die Spannung zwischen den entgegengesetzten Zuständen des „In-Sich-Versunken-Seins“ und des „Außer-Sich-Seins“.
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beide Abbildungen nächste Seite: Filmstill aus Mosagrima, 2013, Film, Edition 6+1, Copyright: Anna Steinert
Deine Malereien zeigen oft gegenständliche Portraits mit abstrakten, maskenartigen Elementen, wie dieses hier – ein Mann mit Drei- und Vierecken auf den Augen... Diese Arbeit heißt Mann mit abgerundeten Ecken und Kanten. Ich habe hier versucht mit den Klischees von Männlichkeit im Portrait zu brechen. Es handelt sich um eine Collage, eine Buchseite auf der ein Renaissance Fresko-Portrait zu sehen ist, was von mir mit einer verschnörkelten rosa Wolke umhüllt wurde. Die Augen habe ich mit einem Dreieck und einem Viereck besetzt. Der Mann mit abgerundeten Ecken und Kanten ist für mich manchmal der Mann von heute. Bei der Arbeit Durchdringen geht es auch um Geschlechterverhältnisse – sie zeigt ein männliches und ein weibliches Portrait in einem. Hier geht es mir auch um die Frage nach Rollen: Welche Rolle in der Gesellschaft spielt der Mann, welche die Frau, und wie sind diese Bilder definiert. Für mich ist das Frauenbild, sehr interessant, vielleicht weil ich selbst eine Frau bin. Es gab eine Zeit, in der ich fast nur Männer portraitiert habe, bis dann in mir die Frage nach dem „warum“ aufkam. Natürlich haben männliche Portraits in der Kunstgeschichte bestimmte Attribute transportiert, Attribute, die ich für meine Malerei zunächst interessanter fand, als die Eigenschaften, die weiblichen Portraits zugeschrieben wurden, in denen es ja hauptsächlich um Schönheit ging. Bald habe ich mich dann aber bewusst dafür entschieden, mich explizit mit weiblichen Darstellungen und dem weiblichen Portrait zu beschäftigen. Ich wollte bewusst mit diesem „Schönheits-Zwang“ brechen. Zeitgleich bemühte ich mich auch darum, bei männlichen Portraits eine Weichheit herauszuarbeiten. Dein Findungsprozess, wie du ihn vorhin beschrieben hast, passt sehr gut zu deinem jetzigen Thema – du hast verschiedene Stile ausprobiert – wenn man verschiedene Masken aufprobiert, experimentiert man ja auch mit verschiedenen Rollen und Persönlichkeiten. Als ich begann, mich mit Masken zu beschäftigen, war für mich schnell klar, dass dies ein unerschöpfliches, weites Thema sein wird. Ich finde das Gesicht als Untersuchungsgegenstand auch besonders im Hinblick auf die Maske unglaublich interessant. Es ist die wichtigste Eigenschaft der Maske, animiert zu werden, z.B. im Ritual oder im Spiel. Obwohl die Maske das Gesicht bedeckt, hat sie eher eine Funktion des Aufdeckens, des Herausstellens eines bestimmten Appells oder Zustands. Wenn die Maske abgenommen wird, zeigt sich kein wahreres Gesicht als wenn sie aufgesetzt ist. Sie verursacht sowohl Annäherung, als auch Dis92
tanz und ist in der Lage, eine individuelle Identität in Frage zu stellen. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass die Maske eine Störung und Intervention der gewohnten Gesichterkommunikation ist. Die üblichen Signale des Gesichts werden außer Kraft gesetzt und durch die der Maske ersetzt. Das Thema fühlt sich für mich auch deswegen unerschöpflich an, weil ich mich nicht nur in der Malerei bewege. Die Masken, die ich in der Ausstellung zeige hatten alle bereits ihr Ritual. Sie spielen eine Rolle in meinem neuen Film Dr. Hysterie – am Rande der Gesellschaft. Im Film geht es um Psychologie, rund um das freudsche Behandlungszimmer. In vielen deiner Filme geht es um Masken, wie zum Beispiel auch im Film Mosagrima. Ich habe gelesen, dass dies übersetzt „Moosmaske“ bedeutet. Der Film entstand auf eine ähnliche Weise wie meine Malereien. Die Szenen bauen sich in einer Bildersuche aufeinander auf. Aber natürlich ist der Film keine chronologische Dokumentation meiner Islandreise, weil das Bild im Schnitt nochmal aufs Neue experimentell komponiert wurde. Als Motivation für den Film Mosagrima wirkte für mich ein Zitat des ungarischen Filmkritikers und Autors Béla Balázs „Landschaft ist eine Physiognomie, ein Gesicht, das uns plötzlich an einer Stelle der Gegend wie aus den Wirren eines Vexierbildes anblickt. Ein Gesicht der Gegend mit einem ganz bestimmten, wenn auch undefinierbaren Gefühlsausdruck, mit einem deutlichen, wenn auch unfaßbaren Sinn. Ein Gesicht, das eine tiefe Gefühlsbeziehung zum Menschen zu haben scheint. Ein Gesicht, das den Menschen meint." In Mosagrima wollte ich genau das wiedergeben. Die Physiognomie der Landschaft, ihre Eindrücklichkeit, die Personen in Verbindung mit ihr und das Verschmelzen miteinander. Die Hauptperson trägt plötzlich die Landschaft als Maske im Gesicht. Der Film kann auch wiederum als Portrait verstanden werden. (Alle Abbildungen: Courtesy/Copyright of Anna Steinert)
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Francesco Vezzoli MAXIMIZE ME!
Text: Benjamin Fellmann
Eine Würdigung Francesco Vezzolis und einer Ausstellung, die zwischen Ästhetik und Ästhetisierung, Verliebtheit und Reflexion die Lust und den Intellekt zusammenführen. Das MAXXI in Rom wird in diesem Frühjahr vier Jahre alt. Es drängt zunehmend in die erste Reihe der Museen zeitgenössischer Kunst: Mit der ersten Retrospektive des internationalen Kunst-Stars Francesco Vezzoli behauptete das Haus im letzten Jahr nicht nur seinen neuen Anspruch unter den führenden Ausstellungshäusern Italiens, sondern auch im globalisierten Ausstellungsbetrieb. Seit den 90er Jahren wurde Vezzoli zu einem der erfolgreichsten Gegenwartskünstler. Er ist ein Kind des Zeitgeistes, aber auch Virtuose des Spiels mit Kunstgeschichte und auratischen Erwartungen. Einer der meistgehörten Vorwürfe an das facettenreiche Werk des Italieners und dessen Rezeption ist, dass die Gegenüberstellung von Hoch- und Populärkultur nicht weit führe. Unter den Erben der Pop-Künstler aber sind es seine Arbeiten, die in der Regel noch intelligenter sind, als sie tun. Am 29. Mai 2013 eröffnete in Venedig die Biennale. Am selben Tag eröffnete im MAXXI (Museo delle arti del XXI secolo) in Rom gleichzeitig eine spektakuläre Ausstellung, die mehr als eine Verbindung zur venezianischen Großausstellung enthielt: Francesco Vezzoli, der seinen Aufstieg zur internationalen Kunst-Ikone nicht zuletzt seinen zahlreichen Ausstellungserfolgen in Venedig verdankt, zeigte im MAXXI seine erste große Retrospektive. Pünktlich zum dreijährigen Geburtstag der Eröffnung von Zaha Hadids Museumsbau, dem wohl aufregendsten südlich der Alpen, trumpfte das MAXXI damit mit GALLERIA VEZZOLI, einer Leistungsschau des erfolgreichsten italienischen Künstlers der Gegenwart. Die Retrospektive im MAXXI war Teil einer laufenden internationalen Zusammenarbeit mit dem MoMA PS1 in New York und dem MOCA Los Angeles: THE TRINITY heißt die dreigeteilte Retrospektive. Bis Ende November 2013 war im MAXXI, kuratiert von Anna Mattirolo, eine Auswahl von über 90 Werken des Künstlers zu sehen. Im PS1, dem avantgardistischen Ableger des Museum of Modern Art, sollte im Herbst 2013, kuratiert von Direktor Klaus Biesenbach, THE CHURCH OF VEZZOLI zu sehen sein. Die Ausstellung musste verschoben werden, da Vezzoli eine Ausfuhrgenehmigung für eine kleine süditalienische Kirche vom Ende des 19. Jahrhunderts, in der Videoarbeiten gezeigt werden sollten, versagt wurde. Das Museum of Contemporary Art Los Angeles zeigt, kuratiert von Alma Ruiz, seit Ende April noch bis zum 11. August 2014 CINEMA VEZZOLI, mit dem Schwerpunkt auf Vezzolis Filmarbeiten. Die Ausstellung im MAXXI Rom nimmt damit eine herausragende Stellung ein, denn sie vereinte so viele Werke Vezzolis wie noch nie zuvor und zeigte das gesamte Panorama seines Schaffens, von den Anfängen mit Arbeiten aus dem Jahr 1995 bis zu ungesehenen neuen. Dazu legte sie einen Schwerpunkt beim Thema Selbstportrait – nur konsequent beim Meister der Selbstinszenierung unter den zeitgenössischen Künstlern. Den Retrospektivanspruch erfüllte die Ausstellung durch eine Auswahl von Werken, die geeignet sind, große Linien im dicht gesponnenen Werk Vezzolis zu identifizieren und einzelne Aspekte zu vertiefen. Seinen Arbeiten konnte man bisher in zahlreichen internationalen Ausstellungen begegnen, allerdings oft genug nur einer kleinen 94
rechte Seite, oben: Galleria Vezzoli / Foyer MAXXI – Museo delle arti del XXI secolo, Zaha Hadid Architects,1998-2009. ©Musacchio/Ianniello/Napolitano courtesy Fondazione MAXXI. rechte Seite, unten: Galleria Vezzoli Exhibition view, video installations. ©Musacchio/Ianniello/Napolitano courtesy Fondazione MAXXI.
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linke Seite, oben: links: Galleria Vezzoli. Marlene Redux installation view: Der Bauhaus Engel – Anni vs. Marlene (The Prequel), 2006, poster, digital print on glossy paper, variable dimensions. ©Musacchio/Ianniello/Napolitano courtesy Fondazione MAXXI. rechts: Just a Gigolo, 2011. Silkscreen on paper, variable dimensions.
linke Seite, unten: Galleria Vezzoli. Self-Portrait as Emperor Hadrian Loving Antinous, 2012. Bust of Antinous in Carrara marble (19th c., 46 x 39 x 20 cm), self-portrait as Emperor Hadrian in statuary marble (46 x 39 x 20 cm). ©Musacchio/Ianniello/Napolitano courtesy Fondazione MAXXI.
Courtesy the artist.
Auswahl der zumeist aufwendig konstruierten und installierten Arbeiten. Im MAXXI gab es erstmals die Gelegenheit zu einem Überblick und es ist davon auszugehen, dass diese Dichte die römische Schau unter den drei Stationen von THE TRINITY hervorhebt. Was die Ausstellung leistete, macht der gleichzeitig publizierte Katalog deutlich. Scheinbar zum ersten Mal wird ein kompakter Überblick über Vezzolis schier unübersichtliches Werk gegeben, der Wald aus Bezügen zwischen Werkgruppen und Ausstellungsprojekten gelichtet, und in kurzen Begleittexten das nötige Handwerkszeug zur Decodierung seiner zahlreichen kunst- und kulturhistorischen Referenzen geliefert. Es ist für das internationale Bild des MAXXI Rom mehr als erfreulich, dass es nach zuvor dominanten Fragen der Finanzierung des Hauses und der Sammlungspolitik der eigenen Bedeutung gerecht wird, wo sich die Hauptarbeit der Konzeption von THE TRINITY in Zusammenarbeit mit PS1 und MOCA, des Katalogs und schließlich der Hauptanteil der Retrospektive hier konzentrieren. Die internationale Zusammenarbeit, wie sie schon bei der Übertragung des YAP (Young Architects Program) des MoMA PS1 nach Rom erfolgt, wird damit vertieft. GALLERIA VEZZOLI, so hieß es zur Ausstellung, nehme sich ein Vorbild an den großen Galerien des alten Rom und an der Atmosphäre von Museen des 19. Jahrhunderts. Während sich der Ausstellungsaufbau inklusive antikisierenden Sitzgelegenheiten in rotem Samt und ebensolchen schweren Vorhängen in der Tat des halb öffentlichen, halb privaten Charakters der musealen Interieurs früherer Zeiten versicherte, setzte er gleichzeitig einen überdeutlichen hochkulturellen Referenzrahmen, in dem Vezzolis Grenzübertretungen zum Kitsch einem Spannungsbogen von der Vergangenheit in die Gegenwart folgen. Den Resonanzboden dafür bildet das immer wiederkehrende Charakteristikum der Arbeiten des 1971 in Brescia geborenen Künstlers: Nahezu stets kombinieren sie bruchstückhafte intellektuelle Versatzstücke und Referenzen an die Geschichte der bildenden Kunst mit einer gewollt kunsthandwerklichen oder massenkulturellen Ästhetik, deren Irritationspotenzial sich aus ihrer Geringschätzung in der Gegenwart erschließt. GALLERIA VEZZOLI ist als Titel einer Ausstellung in Rom natürlich auch ein Verweis auf die großen, als Gallerie bezeichneten aristokratischen Sammlungen in den Palästen des römischen Hochadels. Bis heute etwa übertreffen die Gallerie der Familien Doria-Pamphilj, Pallavicini-Rospigliosi und Colonna an Qualität Vieles in der an hochkarätigen Sammlungen in staatlichen Mu-
seen wahrlich nicht armen Stadt. Dass Vezzoli an die Nobilität anknüpfen will, zugleich aber ironisch auch den eigenen Status als erfolgreicher Künstler mit entsprechender Zugehörigkeit zu sozialen Kreisen thematisiert, wurde deutlich, wenn man den Blick nach unten wandte: Der Besucher trat immerfort ein selbst entworfenes Wappen des Künstlers, der Boden der Gallerien 2 und 3 im MAXXI war vollständig mit einem roten Kunststoffboden ausgelegt. Eine an roten Porphyr erinnernde Struktur evozierte den Eindruck von Steinböden in römischen Adelspalästen, das Wappen mit den weit ausschwingenden V und Z durchzogen von einer Sticknadel am Faden. Treffender und einfacher, in der Wahl der Mittel an die italienische arte povera erinnernd, konnte Vezzoli in der Rückschau den eigenen Aufstieg vom stickenden Künstler zum Prinzen der Kunstwelt kaum ausdrücken. Der Ausstellungsrundgang begann entsprechend mit Vezzolis signature pieces aus den 90er Jahren, als er am Londoner Central St. Martins studierte und die Stickerei als künstlerisches Ausdrucksmittel entdeckte. Wiederkehrendes Motiv dieser Arbeiten ist seine Beschäftigung mit Josef Albers‘ Farbstudien im Quadrat. Sowohl die arg aus der Mode gekommene Stickerei, als auch Albers, dessen Frau Anni und ihre bekannten Textildesigns sowie das Bauhaus als Referenzpunkt im Allgemeinen werden in der Folge zu Fixsternen neben anderen im funkelnden und in seinen historischen, ästhetischen und intermedialen (Selbst-) Bezügen scheinbar unendlichen cosmo vezzoliano: Anni Albers ist wiederkehrende Person in Vezzolis intermedialer Arbeit Marlene Redux von 2006, einer fiktiven Reportage über das Filmprojekt eines Künstlers Francesco Vezzoli, der in Hollywood mit einer Dokumentation über Albers und Marlene Dietrich reüssieren möchte, aber scheitert. Im MAXXI wurden verschiedene Filmplakate des Projekts ausgestellt, neben dem Video im Stil der pseudo-dokumentarisch montierten amerikanischen Fernsehserien über „echte“ Hollywood-Schicksale mit „Experten“ und „Zeitzeugen“, das Vezzolis persönlichen Abstieg thematisiert. Wahre und fiktive Fakten über Vezzoli, seine Arbeit, Sexpartner, Projekte werden von nur schwer als pro-filmisch real oder erfunden erkennbaren Weggefährten kommentiert. Die Ebenen des Selbstportraits spielen mit Verbindungen in eine reale Kunstwelt, die eine Trennung von Künstler und Werk schier unmöglich machen. Besonders die Begleittexte und Courtesy-Angaben der Ausstellung machten deutlich, dass Vezzolis Werke und das Universum aus Bezügen, das sie aufspannen, nicht nur Verbindungen in die 97
rechte Seite, oben: Galleria Vezzoli. Le 120 sedute di Sodoma, 2004;
rechte Seite, unten: Greed, the Perfume that doesn’t Exist.
La Fine di Edipo Re, 2004. Fondazione Prada Collection, Milan.
crystal, paper, ribbon, 40 x 27 x 13 cm, 2009.
©Musacchio/Ianniello/Napolitano courtesy Fondazione MAXXI.
Private collection.
reale Glitzerwelt der Film- und Fernsehstars, Chanson-, Schlager- und Pop-Königinnen unterhalten, sondern als Einflussfaktor in dieser realen Welt auch die sehr reale Verbindung von Macht, Geld und Kunst abbilden. Große Arbeiten aus François Pinaults Sammlung waren vertreten, in denen Vezzoli erneut Anni Albers und das Sticken thematisiert. Pinault – selbst legendär spätestens seitdem es ihm gelang, für seine Sammlung nicht nur den venezianischen Palazzo Grassi, sondern auch die exponierte Dogana der Lagunenstadt zu erschließen – ist freilich auch fester Bestandteil des Mythos Vezzoli. Als Vezzoli auf der Biennale von Venedig 2007 den italienischen Nationalpavillon bespielte, erwarb Pinault die gesamte Ausstellung. Democrazy, Vezzolis double-videoInstallation, in der Sharon Stone und der französische Philosoph Bernard-Henry Lévy als Präsidentschaftskandidaten der USA einander gegenüberstehen, sah man dann 2010 als Teil der Eröffnungsausstellung des MAXXI und 2011 erneut in Venedig, im Palazzo Grassi. Die exklusiven Luxuslabels nicht zuletzt aus Pinaults Imperium wiederum bilden den Hintergrund einer heute dominanten Kultur des hochpreisigen Massensektors in der Konsumgesellschaft, die Vezzolis Arbeiten in der ihnen eigenen vielschichtigen Herangehensweise aus Anreicherung und Dekonstruktion immer wieder aufgreifen. Nicht minder legendär ist seine Verbindung zu einer seiner frühesten Förderinnen, Miuccia Prada. Ihrem Namen kann der Besucher in den Danksagungen vieler Arbeiten des Künstlers begegnen, und nicht zuletzt der Zusammenarbeit mit der Fondazione Prada verdanken sich wohl einige seiner eindrücklichsten Arbeiten. Aber auch das wird in dieser Zusammenwirkung der zahlreichen Arbeiten klar: Wohl kaum ein anderer Künstler hat es so verstanden, Stars der Hoch- und Populärkultur zu gewinnen, Teil eines ausgeklügelten Spiels mit den Mechanismen von Massund Celebrity Culture zu werden, und sich an ihrer Seite auch selbst so zu inszenieren, dass bei aller ironischen Brechung und Distanz ein Glanz Hollywoods auch auf ihn fällt. Wie Vezzoli dem Massengeschmack Exklusivität abtrotzt und zugleich intellektuelle Einsichten massentauglich macht, ist manchmal geradezu erschreckend virtuos. So zeigte das MAXXI an zentraler Stelle die wichtige Installation Trilogia della Morte, die erstmals 2004 in der Fondazione Prada präsentiert wurde. Diese Reflexion auf Pier Paolo Pasolinis Arbeiten besteht aus drei Teilen: 120 Sedute di Sodoma ist die Installation eines Zuschauerraums aus zu eng gestellten Stühlen, deren Sitzflächen mit Gesichtern der Protagonisten aus Pasolinis letztem Film, der bestürzenden Reflexion faschistisch-politischer Machtstrukturen Salò, oder die 120 Tage von Sodom (1975), bestickt sind. Ihnen gegenüber ist La Fine di Edipo Re projiziert, das vermeintliche Schlussbild von 98
Pasolinis Edipo Re, das hier nur das statische Wort „Fine“ und Pasolinis Unterschrift zeigt. Bedrückend wirkt die Installation nicht zuletzt, da man einen Zusammenhang zwischen Pasolinis gewaltsamen Tod während der Fertigstellung der 120 Tage von Sodom, seiner steten analytischen Auseinandersetzung mit den politischen und ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft und dem Motiv der Suche nach innerem Frieden in Edipo Re von 1967 herstellen kann. Der dritte Teil, Comizi di Non Amore, wiederum ist eine professionell in Roms Cinecittà produzierte Fernsehshow u.a. mit Catherine Deneuve, Marianne Faithfull und Jeanne Moreau, in der Frauen jeweils nach Vorauswahl durch das Publikum einen von drei männlichen Kandidaten wählen müssen. Als Karikatur des Privatfernsehens und der bigotten Moralvorstellungen der Mediengesellschaft nimmt sie Bezug auf Pasolinis Dokumentarfilm Comizi d’Amore von 1964, in dem dieser in ganz Italien die Menschen über Liebe und Sexualität befragte. Die etwas über einstündige Show entfaltet einen Sog, dem man sich schwer entzieht. Beeindruckend auch, wie Vezzoli das reflektierte Medium in der formalen Anlage der Arbeit bricht: Das Video existiert nur in einer Auflage von 1 (Collezione Prada) und einem artist proof. Der Rekurs auf Pasolini ist heute vielfach selbst zu einer vermeintlich intellektuellen lingua franca geworden, die erlaubt, kritisch zu wirken ohne freilich in die Tiefe gehen zu müssen. Wo Pasolini als Autodidakt mit dem Film zeitlebens auf der Suche nach einer Sprache für die Wirklichkeit war, bedient Vezzoli sich einer Referenz auf Pasolini, die in Einklang steht mit seiner eigenen Untersuchung der oberflächlichen Zeichen unserer heutigen Zeit. Die Verbindung von Insiderwissen, Kunstgeschichte, Provokation und Sexualität thematisiert Vezzoli auch in der in Rom ebenfalls ausgestellten Bruce Nauman Trilogy, der in DARE schon einmal ein Artikel gewidmet war. Marek Bartelik analysierte die Werkgruppe in der DARE-Ausgabe IKONEN. Zentrales Stück ist hier Vezzolis Remake von Bruce Naumans Video bouncing balls aus den 60er Jahren, in der die Hoden eines Pornomodels zu Mozart-Klängen und Bergkulisse schwingen. Mit ähnlicher Prägnanz aus kunsthistorischer Referenz und den Zeitgeist entlarvender Verfremdung überraschte in Rom ein Remake von Umberto Boccionis weltberühmter Skulptur Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum (1913). Vezzolis Version in Stöckelschuhen verweist mit dem minimalen Eingriff auf vielfache Bedeutungsebenen und thematisiert gekonnt das zwiespältige Verhältnis des Futurismus zu Politik und Gewalt und kollektive Rollenvorstellungen der sozialen Masse.
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linke Seite: Jeu de Paume, je t’aime! (Advertisement for an exhibition that will never open). video (16:9), 20". 2009. Collezione Prada Milan. diese Seite, oben: Galleria Vezzoli. Unique forms of continuity in high heels (after Umberto Boccioni), 2012. ©Musacchio/Ianniello/Napolitano courtesy Fondazione MAXXI. diese Seite, unten: Trailer for a Remake of Gore Vidal’s Caligula. Video, 5 min., Production Still. 2005. Courtesy Castello di Rivoli Museo d’Arte Contemporanea, Rivoli (Torino) Foto: Matthias Vriens.
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Self portrait with Vera Lehndorff as Verushka, 2001. Digital print on aluminium, 120x125 cm. AGI Verona Collection. 102
Vezzoli ist fasziniert von der Aura des Exklusiven, sucht das hochkulturelle und die historischen Mythen auch in der Konsumwirtschaft, thematisiert im Vorbeigehen noch den eigenen Narzissmus und hält dem Betrachter doch einen Spiegel vor. Etwa in der jüngeren Arbeit Greed, The Perfume That Doesn‘t Exist von 2009, einem überdimensionierten Flakon, das ein Portrait Vezzolis als Frau ziert. Inspiriert von Duchamps Belle Haleine: Eau de Violette von 1921 und dessen weiblichem Alter Ego Rose Sélavy entwirft Vezzoli hier die Vermarktung der Gier als flüchtigem Medium und reflektiert damit auf pointierte Weise den Zeichenaufwand der Mode. Dass der Duftstoff Parfum visuell in Medien beworben wird, ist für sich schon ein Paradoxon. Spätestens mit Yves Saint Laurents als genial gedeuteter nackter Pose in der Werbung für den eigenen Duft 1971, und seit für Parfums wie Chanels No. 5 Kurzfilme in Kinoqualität gedreht werden, ist dieses Paradoxon aber ein fester Bestandteil der Massenkultur. Vezzoli treibt es auf die Spitze: 2009 lässt er Roman Polanski für Greed ein Video mit Natalie Portman und Michelle Williams drehen, Greed, a New Fragrance by Francesco Vezzoli. Im PopOlymp, wo die Götter stets auch eigene Duftlinien auf den Markt bringen, scheint der Künstler zudem selbst spätestens mit seiner Performance am MOCA 2009 Ballets Russes Italian Style (The Shortest Musical You Will Never See Again) an der Seite von Lady Gaga angekommen zu sein. Auch ein Wiedersehen mit Hollywood-Star Eva Mendes war Teil des Besuchs in der Galleria Vezzoli. Zuletzt begegnete man ihr im Winter 2009/10 im Pariser Jeu de Paume; ihr hingehauchtes „Jeu de Paume... Je t’aime!“, mit dem sie in einem Video Vezzolis Werbung für eine fiktive Ausstellung machte, ging einem danach nicht mehr aus dem Kopf, und auch in Rom klang es einem nach beim Abschreiten einer Reihe von Priesterinnen oder Blumenmädchen, die vom Wind getragen Flachbildschirme in einer Vorwärtsbewegung darreichten. Diese Figuren präsentierten die verschiedenen Videoarbeiten Vezzolis, die in einem genialen inszenatorischen Griff so wieder in die haptische Materialität der Installation als formalem Werk integriert wurden. Tonspuren verdichten und überlagern sich dabei in der engen Präsentation und spiegeln auf akustischer Ebene ihre wechselseitigen Bezüge. Aby Warburgs Sprachformel des „bewegten Beiwerks“ kommt einem hier vielleicht in den Sinn, wo die flatternden Stoffe und Haare der Skulpturen in bester Renaissance-Tradition den Rekurs auf die Antike in der Darstellung gesteigerter Erregung suchen. Vezzoli freilich nimmt die erregte Darstellung der Antike wörtlich, der durchdringende Ausruf „Caliguulaaa!“ etwa aus seinem or-
giastischen Video Trailer for a Remake of Gore Vidal’s Caligula von 2005, schallte immer wieder durch den Ausstellungsraum. Spätrömische Dekadenz findet sich bei Vezzoli als bestimmender Wesenszug der zwiespältigen medialen Inszenierungen der Gegenwart. Eigentlich passte es da auch schon wieder ins Bild, dass Teile des Videos gepixelt worden waren, obwohl schon ein Schild am Eingang warnte, manche Werke könnten als anstößig empfunden werden. Auf Youtube hingegen war es seit längerem unzensiert zu sehen. Kuratorin und Künstler gelang in Rom ein großer Wurf. Der Kontrast zwischen High und Low ist nicht nur Thema in Arbeiten Vezzolis; GALLERIA VEZZOLI dehnte ihn auf die Ausstellungsarchitektur aus und machte ihn so zum formalen Kennzeichen eines Gesamtkunstwerks. Die Reihe der Video-Skulpturen beschrieb den Bogen des Ausstellungsraumes in Zaha Hadids MAXXI, dem nach der Eröffnung nachgesagt worden war, es glänze architektonisch, sei als Museum aber wohl kaum bespielbar. Wenn der Raum als Herausforderung aber solche Ergebnisse bedingt, bleibt zu hoffen, dass mit der verstärkten internationalen Zusammenarbeit, die Fondazione-Präsidentin Giovanna Melandri als Ziel vorgab, das MAXXI sein Programm mit Ausstellungen von Format und internationalem Anspruch der GALLERIA VEZZOLI fortsetzen wird. __________________________________________________
Francesco Vezzoli: Galleria Vezzoli. Herausgegeben von Anna Mattirolo. Electa, 2013. 240 Seiten, 100 Abbildungen. € 40,-. ISBN: 978-88-370-9480-5 Der Katalog, erhältlich in Englisch und Italienisch, ist in einen Werk- und einen Text-Teil gegliedert. Der Werkteil, bearbeitet von Flavia de Sanctis Mangelli, ist in 24 Themenkreise geordnet und dokumentiert alle Werke Vezzolis seit seinem Debüt bis 2012 und ihre Ausstellungen. Textteil: Einleitung von Giovanna Melandri, Katalogtext von Anna Mattirolo, Beiträge u.a. von Donatien Grau: „Francesco Vezzoli and Neo-Neo Classicism“, Chrissie Iles: „The provocative witness: Francesco Vezzoli, Pier Paolo Pasolini and the radical possibilities of cinema“, Gespräch mit dem Künstler, ergänzt durch eine lückenlose Biographie mit Ausstellungen und zugehörigen Veröffentlichungen und Reviews sowie umfassende Bibliographie. (All images via Fondazione MAXXI.)
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Zeit Formen Von der väterlichen Garage zur erfolgreichen Design-Dynastie: Michael und Christian Sieger bringen vertraute Dinge zu gröSSerer Harmonie. Als Büro für Design, Strategie-Agentur und seit 2005 auch unter ihrer Eigenmarke SIEGER. Ihre Serien überzeugen durch archetypische Gestaltung. Ihre Kollektionen vibrieren vor farbiger Extravaganz. In ihren Entwürfen kultivieren sie den Werkstoff Zeit, indem sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Dinge in Einklang bringen. Was bedeutet das? Zu verfeinern, was bleibt. Einblicke in Design, Marken und Luxus – im Wandel der Zeit. Text : Frank Steinhofer
Star Explosion, Handtuft-Teppich aus der Kollektion Annapurna von SIEGER by Kupferoth. 104
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Design-Unternehmer und Markenmacher: Michael Sieger (links) ist der Gestalter und Christian Sieger
Das Wasserschloss Harkotten bei Münster: Seit 1988 Unternehmensitz und Inspirationsort zugleich.
(rechts) der Profi für Markenkommunikation
„Where are you from?“ Ein Besucher hält am Stand von SIEGER auf der Messe Pitti Uomo an, streift mit einer Hand einen Katalog und fragt Christian Sieger neugierig. „Germany“ antwortet dieser freundlich. Der Messebesucher fragt weiter, etwas irritiert: „And where’s your brand from?“ Christian Sieger schmunzelt. Soviel Mut zu Farben und Expressivität hätte man einem deutschen Label anscheinend nicht zugetraut. Wohl wahr. Das Leben ist zu reich, um es mit wenigen Farben zu fassen. So steht es leitmotivisch in dem Band zu den handgefertigten Teppichkollektionen Annapurna und Pari Banu. Lebensfrohe Entwürfe von Mode, Möbel bis hin zu vielfältigen Kollektionen rund um den gedeckten Tisch sind Markenzeichen von SIEGER. Sie haben ihnen in den letzten Jahren den Ruf als „italienischstes Designerduo“ Deutschlands eingebracht. Das Magazin L’Officiel Hommes kürte die beiden Brüder in einem Artikel (2012) zu „Königen der Farben“. Der Designtheoretiker Michael Erlhoff liefert in seinem Buch „Fünfzig Jahre italienisches und deutsches Design“ (2000) erste Anhaltspunkte, was solche Zuschreibungen auf sich haben könnten: „Quasi natürlich sieht italienisches Design einfach bunter aus, wirkt es aufregender, experimenteller.“ Fernab der Frage, ob in Zeiten eines globalisierten Geschmacks nationale Stereotypen noch haltbar sind – Mut zu Farben und visueller Verve stechen bei den Siegers sofort ins Auge. Doch das allein reicht wohl nicht aus, um jahrzehntelang in unterschiedlichen Design-Disziplinen mit Bestsellern zu reüssieren. Worin liegt also das Geheimnis? Das Schaffen der Siegers ist vielschichtig. Der leise Aufstieg zu einem der profiliertesten Designbüros in Europa mit eigener Luxusmarke erzählt eine Geschichte, die geprägt ist von einer Kultur der Kollaboration, von geschicktem Unternehmertum sowie einer sinnlich-forschenden Auseinandersetzung mit Dingen im Panorama von Geschichte, Gebrauch und Gesellschaft. Und nicht zuletzt: Familientradition.
ALLES UNTER EINEM DACH Der Vater Dieter Sieger gründet 1964 ein Architekturbüro. Das eigene Haus verwandelt er mit seiner Frau Fransje Blom zu einem Ort, der Wohnen, Leben und Arbeiten symbiotisch vereint. Die Amsterdamer Kaufmannstochter strahlt Weltoffenheit aus, hilft die Finanzen zu regeln und den Betrieb zu organisieren.
Dieter Sieger plant, zeichnet und baut zunächst Häuser. Mit raschem Erfolg. Doch aus seinem Hobby erwächst mit der Zeit ein neues Geschäftsfeld: Segeln ist seine Leidenschaft. Allerdings lassen all die Segel- und Motorboote den nötigen Komfort vermissen. Es muss doch möglich sein, Hochseetüchtigkeit und Eleganz zu verbinden. Gedacht, angepackt – der gelernte Architekt beginnt Räume in Booten nach seinen Vorstellungen neu zu gestalten. Als er 1981 schließlich eine Segelyacht für die niederländische Werft Anne Meyer aus ’s-Hertogenbosch entwirft, bahnt sich die Zweitkarriere an. Vom Architekt zum Schiffdesigner – mehr als 100 Bauten und mehr als 700 „schwimmende Häuser“ sollte Dieter Sieger bis heute noch entwerfen und ausbauen. Die beiden Brüder Michael und Christian packen dabei früh mit an, basteln in der Garage an Modellen. Ähnlich könnte man sich die Versuchswerkstatt von Carl Benz im Hof seines Hauses vorstellen, in der Ingenieur & Söhne am ersten pferdelosen Wagen tüfteln. Michael und Christian sitzen bei Kundenbesuchen mit im Wohnzimmer: Beide finden von Kindesbeinen an nicht nur Zugang zu Gestaltung, sondern lernen auch gleich den Umgang mit Klienten und Geschäftspartnern. „Unsere Eltern sind ein Motor unseres Schaffens. Die Fusion der Begabung war sozusagen naturwüchsig“, bringt es Christian Sieger auf den Punkt. Michael Sieger tritt dabei in die Fußstapfen seines Vaters und avanciert zum Design-Multitalent. Christian Sieger versteht sich besonders auf die Vermarktung und Kommunikation. Beides Begabungen, die im wachsenden Familienbetrieb auf rege Nachfrage stoßen. Denn die Design-Agentur expandiert. Aus einem Mitarbeiter werden rasch fünf. In den Neunzigern verdoppelt sich die Anzahl. Aktuell bildet ein rund 50-köpfiges Team den gesamten Designprozess interdisziplinär ab. Das Wachstum erfordert neue Räumlichkeiten. 1988 erfüllt sich die Vision eines Domizils, das wieder Wohnen und Arbeiten unter einem Dach ermöglicht. Es ist nicht etwa ein größeres Bürogebäude. Die Familie Sieger zieht in das Wasserschloss Harkotten bei Münster. Eine prächtige Erscheinung aus dem Barock – Historie wirkt hier wie uraufgeführt. Knorrige Eichen säumen den Weg dorthin. Eine Holzbrücke führt über den Graben durch das schmiedeeiserne Tor. Die Siegers übernehmen das Schloss in Erbpacht, investieren viel Zeit und Aufwand, um das ursprüngliche Erscheinungsbild wieder herzustellen. Moderne Kunst und eigene Entwürfe schaffen einen Ausgleich zum historischen Ambiente. Der Garten wächst zu einem Skulpturenpark heran. Stallungen werden zu Wohnungen. 107
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Klare Linienführung – präzise, schlicht und elegant. Die Kreuzgriff-Armatur TARA von Dornbracht aus dem Hause Sieger ist eine der Designklassiker im BadBereich. 1992 kam die Serie auf den Markt und wird bis heute weiter verfeinert und in etwa 60 Ländern verkauft. © Dornbracht
Für die Siegers entsteht ein Kraftzentrum und ein Ort der Inspiration zugleich. Die Vorraussetzung, um „geschichtlich perspektiviertes Verwurzelsein“ – wie es der Journalist W. Thompson in dem Porträtband Strategien des Erfolgs (2001) beschreibt – in die Arbeit einfließen und daraus etwas Neues entstehen zu lassen.
„WIR BRACHTEN DESIGN DAHIN, WO ES KEINER VERMUTETE“ Ein unscheinbarer Zahlencode bahnt in diesen Jahren den Weg zum unternehmerischen Erfolg: 22.512.892. Dahinter verbirgt sich schlicht und ergreifend: Eine Designikone. Viel zitiert, oft kopiert. International erfolgreich. Die Ziffern sind Artikelnummern der Serie „Tara“. Armaturen für’s Bad. Nach Entwürfen der Familie Sieger. Bereits 1985 hatte der Vater Dieter Sieger die Luxus-Armatur Domani geschaffen und damit den Grundstein für eine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit dem Hersteller Dornbracht gelegt. Nach der Gestaltung von Schiffe erobern die Siegers nun die Domäne des Industriedesigns. Mit der Einführung der Kreuzgriff-Armatur TARA im Jahr 1992, die auf einen Entwurf des Vaters zurück geht, untermauerte der Hersteller von Premium-Armaturen Dornbracht seine Pionierrolle auf einem neuen Markt und begründet den Ruf der Siegers als „Lagerfelds des Bad-Designs“. Zuviel der Ehre für einen „Wasserhahn“, mag sich einer denken. Okay, das Bad war Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger nicht unbedingt ein Lebensraum, der ästhetische Adrenalinschübe auslöste. Er befand sich, was Gestaltung anbelangt, im Dornröschenschlaf. Die Serie TARA schürte ein Bewusstsein für Design, wo es schlicht gesagt noch keines gab. „In unserer Anfangszeit brachten wir Design da hin, wo es keiner vermutete“, pointiert Christian Sieger.
ARCHETYPISCHES Doch was war der Clou der Armatur-Serie? Ausgehend von ihrer Funktion als Wasserspender hatten die Siegers nach einer archetypischen Form geforscht und sie gefunden. Michael Sieger beschreibt die Armatur in dem Dornbracht-Band The Spirit of Water als „domestizierten Wasserhahn“. Das Design wirkte, weil es tiefsitzende Bilder, Bedürfnisse und Erwartungen wachrief und veränderte. Bilder, die in diesem Falle die
vertraute Vorstellung eines Wasserhahns an sich in uns anklingen ließen und das Bad als ästhetischen Raum erschlossen. Das macht die Serie so erfolgreich, dass sie seit über 22 Jahren in etwa 60 Ländern der Welt verkauft wird. Eine bemerkenswerte Leistung, denn der Lebenszyklus von Produkten verkürzt sich zusehends. Das Beispiel deutet an, worum es bei den Siegers geht. Visionär ist für sie nie die Form allein. Visionär ist, wenn die Form wie selbstverständlich in sinnlicheren Umgangsformen aufgeht, denen wir Bedeutung beimessen. Es geht um das Erspüren einer emotionalen Logik von Gegenständen, das Ausfindigmachen der narrativen DNA, die in dem zeitgenössischen Horizont seiner Möglichkeiten aufgehen soll. Die Siegers haben den Designwert Archetypik früh in ihrem Schaffen verankert. „Wir wollen Industriedesign eine vertiefende Dimension geben“, beschreibt Michael Sieger zusammenfassend. Mit diesem Anspruch gestalten die Siegers in den Neunzigern zum Beispiel weitere Armaturen für Dornbracht, für Duravit und Alape Badserien, Porzellanservice für Arzberg, Besteck und Kaffeeautomaten für WMF sowie einen Kaminofen für Skantherm. Michael und Christian Sieger übernehmen Mitte der 1990er schrittweise die Führung des Unternehmens. Zusammen bauen sie die Designagentur zu einem ganzheitlichen Dienstleister aus und erweitern ihr Angebot um Public Relations, Markenberatung und Grafikdesign. Ein wichtiger Schritt: Denn die Komplexität des Gestaltens steigt. Das Management von Design gewinnt in fast allen Branchen schnell an Bedeutung. Die Arbeit für den Kunden Ritzenhoff zeigt, wie die neuen Leistungsbereiche ineinander greifen: Als 1992 die erste Milchglaskollektion auf der Frankfurter Ambiente der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, nahm der Siegeszug eines Materials seinen Anfang. In den nächsten Jahren entwerfen sie für Ritzenhoff das Corporate Design, Verpackungen, bauen die Kommunikation mit auf und setzten immer wieder Akzente mit eigenen Produkt-Designs, die Ritzenhoff zum kultigen Hersteller der 90er Jahre machen. 2003 sieht Dieter Sieger das Unternehmen auf Kurs, er scheidet aus der Geschäftsführung aus. Der Generationswechsel vollzieht sich.
„WAS KOMMT NACH DER FORM?“ In den Neunzigern war Design eher reine Formsache. Oberflächenrausch. Von Experimentierfreude geprägt. Und kein allgegenwärtiger Bestandteil in unserer Alltagserfahrung. Sprich: keine Vorraussetzung. 109
Die markentypische Handschrift der Siegers entdeckte man auch beim Dekor-Konzept für die Wiesmann Roadster MF3 final edition by SIEGER, das 2011 für den Premium-Sportwagenhersteller entwickelt wurde.
Gerade im Industriedesign ließ die Technik keine Quantensprünge mehr zu – Gestaltung wurde somit zu einem entscheidenden Teil der Wertschöpfung. Der Entwicklung ist nicht neu. Bereits im Sommer 1946 entsendete der britische Geheimdienst Spezialeinheiten in das kriegsversehrte Deutschland. Darunter auch eine Task Force, die das Geheimnis deutscher Produkte ergründen sollte. Berater der Londoner Regierung und britische Industrielle vermuteten, es könnte an der „Überlegenheit der Form“ deutscher Produkte liegen, schreibt Felix Rohrbeck in dem Artikel Das sieht aber gut aus für Die Zeit (2013). Doch diese „Überlegenheit“ von Form stößt heutzutage an ihre Grenzen. Sie reicht als Alleinstellungsmerkmal nicht mehr aus. Viele Trittbrettfahrer adeln günstig hergestellte Produkte und versehen sie mit der Strahlkraft eines Design-Objektes. Oft kopieren sie nur bereits Bestehendes. Zudem: je mehr sich Dinge in ihrer Gebrauchswertfunktion gleichen, desto größer die Tendenz zu Markenaufbau und Kulturalisierung von Produkten, wie Robert Misik in seinem Buch Alles Ware: Glanz und Elend der Kommerzkultur (2009) veranschaulicht. Wenn Produkte heute nur mit ihrem Gebrauchswert punkten wollen, stoßen sie schnell an die „Sphäre des Unbrauchbaren“. Weitere Werbeversprechen werden nötig. Emotionale Ansprachen. Die Arbeit am Image. Bereits in den Fünfzigern kam der amerikanische Werbekritiker Vince Packard zu dem Schluss: „Je größer die Ähnlichkeit der Produkte, desto geringer ist die Vernunft bei der Markenwahl.“ Dabei steht uns die wahre Revolution noch bevor, wenn es nach Chris Anderson ginge, dem Chefredakteur des technikverliebten Magazins Wired. Was man in Zukunft braucht, macht man selbst, prognostiziert er in seinem Buch Makers – Das Internet der Dinge (2013). Jeder von uns wird sein eigener Designer und gestaltet seine Sachen dank 3-D-Printern einfach selbst. Zur Jahrtausendwende erobert Gestaltung alle Lebenslagen, schön allein reicht nicht aus, Produkte werden kulturalisiert, weil es Image und Umsatz hilft und bald gestaltet vielleicht jeder alles selbst – was reagiert eine Design-Büros auf all diese Entwicklungen? „Für uns ist Design seit jeher mehr als Feilen an der Form, Funktionalität stets eine Vorraussetzung. Heutzutage müssen wir uns noch stärker als zuvor mit der Frage auseinandersetzen: Was kommt nach der Form?“, erklärt Michael Sieger.
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VOM OBJEKT-DESIGN ZUM RAHMEN-DESIGN Michael Sieger holt weiter aus. Ihr Schaffen drehe sich um einen Gedanken: Objekten und ihren Rahmenbedingungen auf den Grund zu gehen. Denn das Dasein der Dinge ist mehr als ihre Anwesenheit. Es ist das Wissen um die Zeitlichkeit von Gegenständen, das Wissen um ihre dreifache Struktur: der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In welchen Kontexten haben wir Objekte genutzt? Welche Kultur haben wir mit ihnen ausgeprägt? Wie können wir diesen gelernten Umgang pflegen? Bestehendes verfeinern, Neues entwickeln, damit alles im Fluss bleibt – so das Credo. Der Philosoph Wolfgang Welsch schildert in dem Ausblick seines Buches Ästhetisches Denken (1991) einen Designansatz, welcher der Philosophie der Siegers nahe kommt. „Der Aufgabenbereich des Designs erschöpft sich nicht im Objekt-Design, sondern bereits bei der Einrichtung der Lebensverhältnisse und der Prägung von Verhaltensformen.“ Ein Rahmen-Designer ist somit jemand, der mit der Gestaltung von Objekten ein Angebot macht, unsere Lebensverhältnisse zu verändern, so Wolfgang Welsch weiter. Die Siegers haben sich über die Jahrzehnte immer mehr zu „RahmenDesignern“ entwickelt.
KULTUR LEBEN Dabei teilen die Siegers ein Verständnis von Kultur, welches über Auratisierung eines Produktes mit Erlebnispointen hinausgeht. Dem ursprünglichen lateinischen Wortsinn der „Cultura“, der „Pflege“, können sie viel abgewinnen. Sie kultivieren eine zukunftsgerichtete Lebenseinstellung, die sich aus der Nachhaltigkeit überzeitlicher Werte speist. Daraus leitet sich ab, ein Bewusstsein für alles zu entwickeln, was von Menschenhand gestalterisch hervorgebracht wurde, Objekte zu verfeinern und eine Philosophie auszuleben. Eine Fallstudie zu dem Besteck WMF Materia verdeutlicht die Herangehensweise. Zuerst beschäftigten sie sich mit der Frage: Was bedeutet Tafeln, wie zur guten alten Zeit? Die Siegers reflektierten den Werdegang von Bestecken, studierten dazu Gemälde altniederländischer Malerei, etwa der Suppenmadonna von Gérard David aus dem Jahr 1520, untersuchten historische Schriften, Anekdoten, Esskapaden und spürten der Handhabung von Besteck im Laufe der Epochen nach.
Hauchdünnes Porzellan, feines Poliergold. Die Kollektion „MY CHINA! Ca’ d’Oro“ (zu deutsch: Das goldene Haus“) von SIEGER by Fürstenberg ist benannt nach dem Palazzo am Canal Grande in Venedig, das für Michael Sieger ein paar Jahre als zweite Heimat diente.
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Für Michael Sieger symbolisiert die Kollektion „Ca ’d’Oro“ aufgehobene Zeit und wertvolle Momente mit Familie und Freunden.
Der Löffel diente einst als Nachbildung der eigenen Hand, das Messer ursprünglich als Waffe. Im Germanischen bedeutete „Mezzer“ noch „Speiseschwert“. Die Gabel setzte sich erst in den letzten drei Jahrhunderten durch und vervollständigte das Tafelbesteck. Heinrich der Zweite führte sie im 16. Jahrhundert in Frankreich bei Hofe ein. Ein Chronist aus Frankreich bemerkte zu der Zeit: „Während ich einen saftigen Braten verzehrte, bemerkte ich vier Herren, die nicht ein einziges Mal das Fleisch mit den Fingern berührten. Sie führten Gabeln zum Mund und beugten sich tief über ihre Teller. Da ich keine Erfahrung besaß, wagte ich nicht, es ihnen nach zutun, und aß nur mit meinem Messer.“ Beim Adel und Bürgertum erlebte das komplette Besteck im 18. und 19. Jahrhundert Verzierungen des Kunsthandwerks und Ausgestaltungen im Gebrauch. Die Bauhaus-Bewegung reduzierte in den 20er und 30er Jahre das Besteck wieder auf das bewährte Trio und schuf Klarheit, während noch zu Beginn der Postmoderne Designer ausloteten, wie weit man die Ver-Formung treiben kann, so dass das Besteck noch als Besteck durchgeht. Solche Entwicklungen zeichnen die Siegers mit archäologischen Gespür nach, tragen behutsam Bedeutungsschichten ab und bohren tief, um in jene Seinsstrukturen eines Gegenstandes vorzustoßen, der die Verhältnisse in unserer Gegenwart prägt. Zum Abschluss ermitteln sie aktuelle Gewohnheiten: Wie wir essen. Wie wir leben. „Gutem Design geht in der Regel ein langer Schaffensprozess voraus. Viele denken, ein Designer setzt einen Strich und es passt“, erklärt Christian Sieger im Porträt von L’Officiel Hommes (2012). Vor der Idee eines Designs, steht für die Siegers also stets zuerst das Design einer Idee. Der historisch gewachsene Kontext schreibt sich in die Anforderungen der jeweiligen Zeit ein. Design als Denken – darin liegt gewissermaßen auch eine Art Kopierschutz. Denn eine Form zu imitieren, heißt noch lange nicht, dass man auch die dahinter liegende Idee eines Gegenstandes verstanden hat und um ihre Zusammenhänge weiß. „Ich schöpfe nicht aus dem luftleerem Raum,“ sagt Michael Sieger im Gespräch mit DARE. Das Design der Sieger ist evolutionär. Es baut auf Bestehendem auf, anstatt mit ihm radikal zu brechen. Es harmonisiert Bedürfnisse, anstatt sie permanent in Frage zu stellen. Dabei ist ihr Vorgehen aber weit entfernt von Neohistorismen und der Wiederkehr des Ornaments, wie sie aus einer oberflächlichen Auseinandersetzung mit der Materie erwachsen. Ebenso haftet ihrem Schaffen kein subversiver Duktus an. Die Siegers sind nicht auf rebellische Provokation aus.
Im Industriedesign auch schwer möglich. Am Ende des Tages dominieren unternehmerischen Entscheidungen: „In der Avantgarde allein kann man kein Geld verdienen,“ stellt Christian Sieger nüchtern fest. Um mehr gestalterische Unabhängigkeit zu gewinnen, heben Michael und Christian Sieger 2005 ihre Eigenmarke SIEGER aus der Taufe.
DIE MARKE SIEGER "Wir entwerfen jetzt die Dinge, nach denen wir selbst schon immer suchten," erklärt Michael Sieger in einem Artikel in Der Welt (2006). Dabei setzen sie wie im Industriedesign auf den Erfolg von strategischen Partnerschaften – mit dem entscheidenden Unterschied: Sie sind nicht mehr Dienstleister, sondern Auftraggeber. So entstand etwa unter der Marke SIEGER by Fürstenberg in Kollaboration mit der Porzellanmanufaktur das Tafelservice MY CHINA!. „Die Gedanken dazu basieren auf 20 Jahren gelebter Tischkultur,“ erklärt Christian Sieger. Die Idee: ein Geschirr in Manufaktur-Qualität, drei Formen, unzählige Kombinationsmöglichkeiten. Denn die Durchmesser und Maße sind so komponiert, dass sich einzelne Bestandteile quasi beliebig kombinieren lassen. Nicht das Geschirr, sondern der individuelle Anlass bestimmt, wann man es wie und wozu verwenden möchte. Daher auch der Name – MY CHINA!. Ein weiteres Herzensprojekt der Siegers ist die Auseinandersetzung mit Mode unter dem eigenen Label SIEGER. Die Kollektion umfasst Anzüge, Sakkos und Accessoires, wobei der Schwerpunkt noch bei den Herren liegt. Im Mittelpunkt steht erneut eine archetypische Form: der klassische Anzug, der seit zwei Jahrhunderten existiert. Wie mühsam ist es da, sich etwas Neues einfallen zu lassen? Für Michael Sieger steht das außer Frage. Der Anzug ist ein unerlässliches Kleidungsstück. Seine Aufgabe sieht er darin, weitere Nuancen zu entwickeln. Revolution – das hat ein Anzug nicht nötig. „Die richtige Passform ist eine Sache von Millimetern“, gibt der Designer zu Bedenken. Bei dem Maß an Qualität und der Auswahl der Stoffe kennt Michael Sieger keine Kompromisse. Die Konfektion erfolgt in einer der letzten deutschen Manufakturen in Handarbeit. Allein für ein Sakko sind 10.000 Handstiche nötig. Jedes Knopfloch wird jeweils 15 Minuten mit Seidengarn umstochen. 113
Expressionismus zum Anziehen Die Excalibur-Kollektion (Herbst/Winter 2014/15) verarbeitet exzellente Stoffqualitäten
Bei der Auswahl der Dessins hingegen setzt Micheal Sieger auf eine kraftvolle Sinfonie von Farben. Alpenglühen, Aquarius, Holi oder Excalibur heißen einige seiner Kollektionen vielsagend. Man muss kein Synästhetiker sein, um sich ein Fest von Farben auszumalen. Doch ist die Mode nicht zu aufregend, ja zu paradiesisch für Männer? Nein, in dem Bekenntnis läge ja die Klarheit eines selbstbewussten Ausdrucks. „Manche Männer vertun einfach eine Riesenchance besser auszusehen“, kontert Michael Sieger. Nach seiner Vorstellung sollten sie mehr Mut wagen, wenn es um Kleidung geht. Und die nötige kreative Leichtigkeit mitbringen, Persönlichkeit und Stil zum Ausdruck zum bringen.
OBJEKTE MIT EIGENSCHAFTEN Sehnsucht nach Differenz und Spiel fordern die beiden Brüder nicht nur für die Mode ein. Eine Sorge treibt sie um. Produkte müssen mittlerweile global gefallen, schnell, günstig und einfach herstellbar sein. Sie haben weniger Zeit zu reifen. Müssen sich widerstandslos in die glatten Ströme der Kommunikation und Vermarktung einfügen. „Ich finde es schade, dass die Dinge immer ähnlicher werden,“ beklagt Christian Sieger. „Als Weltreisender sieht man überall die gleichen Schaufenster.“ Von Ähnlichkeit zur Eigenschaftslosigkeit ist es nicht weit. Eine Entwicklung, die der Architekt Rem Kohlhaas in den Städten der beschleunigten, globalisierten Welt bereits 1995 verwirklicht sah: „Eigenschaftslosigkeit ist ein Verhalten, das eine mächtige Faszination besitzt, weil es eine unbedingte und einheitliche Selbstbehauptung gegen die vielgestaltige Zerrissenheit der Außenwelt und des Ich zu garantieren verspricht.“ Anders gesagt: wer sich nicht festlegt, lässt sich alle Möglichkeiten der Veränderung offen. Macht aber auch nichts falsch.
NOT „ANYTHING GOES“! Gegen diese Art des „Anything Goes“ wenden sich die Siegers in ihrem gesamten Schaffen. Sie verstehen unter gestalterischer Freiheit die Möglichkeit, Werte zu schaffen, die auf Qualität, Pluralität und einer sinnlichen Ästhetik beruhen. Dies geschieht unter traditionellen Vorzeichen: Design als Forstsetzung alter Kunstwerktradition, Verbundenheit zur Familie und der Wille zu einem eigenen Stil. Doch dabei beschränken sie sich nicht auf die Reproduktion von Vergangenem. Vielmehr schöpfen sie daraus, um eine neue, hybride Gestalt zu gewinnen. Der größte Luxus dabei ist und bleibt wohl die Zeit, die sie auf die Auseinandersetzung mit Dingen verwenden. Ein Luxus, dessen Sinn wir in sinnlichen Momenten des Gebrauchs erspüren. Wenn wir erkennen, dass die Serien, Kollektionen und all die kleinen und großen Dinge aus dem Hause Sieger, deren kulturelle Prägung im Objekt sichtbar gemacht wurde, vor allem eines sind: Nicht zeitlos. Sondern voller Zeit. 114
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Impressum REDAKTIONSADRESSE DARE Magazin Prätoriusweg 11 20255 Hamburg
Abbildung Cover: Michael Conrads
My love is my engine and you might be fuel, 2014, Bleistift, Kreide, Wasserfarben, Durchmesser 310 cm, Galeria Marso, Mexico D.F.
daremag.de
HERAUSGEBER/IN Isa Maschewski Benjamin Fellmann REDAKTION Isa Maschewski, isa.maschewski@daremag.de Benjamin Fellmann, benjamin.fellmann@daremag.de Frank Steinhofer, frank.steinhofer@daremag.de BERATUNG & INTERNATIONALE KONTAKTE Mathias Zintler ART-DIREKTION Isa Maschewski, isa.maschewski@daremag.de UNTERSTÜTZENDE BILD-REDAKTION Fabian Zapatka AUTOREN DIESER AUSGABE Nicole Büsing & Heiko Klaas, Carl von Siemens, Ingo Niermann, Lorenz Schröter, Merve Ünsal, Anna Sabrina Schmid, Benjamin Fellmann, Frank Steinhofer, Isa Maschewski, Gernot Faber, Sandra Bürgel, Anna-Verena Nosthoff, Felix Maschewski
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© Andrea Martinez
VERLAG DARE Magazin- und Verlags GmbH DARE Magazin Prätoriusweg 11 20255 Hamburg Isa Maschewski, Benjamin Fellmann ANZEIGEN anzeigen@daremag.de VERTRIEB hei@daremag.de DRUCK Druckerei Weidmann Alsterdorfer Straße 202 22297 Hamburg www.druckerei-weidmann.de ABONNEMENTS: abo@daremag.de
Vielen herzlichen Dank an den/die Kunst beutel tr채ger/in! 118
Vielen Dank auch an die Druckerei Weidmann, die uns bei der Fertigstellung von DARE#8 sehr geholfen hat! 119