Nicht einfach ausstellen

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NICHT EINFACH AUSSTELLEN

Kuratorische Formate und Strategien im Postnazismus

curating. ausstellungstheorie & praxis

Herausgegeben von Martina Griesser-Stermscheg Monika Sommer Nora Sternfeld Luisa Ziaja

curating. ausstellungstheorie & praxis, Band 7 Alle Herausgeberinnen der Reihe curating. ausstellungstheorie & praxis sind Trägerinnen des Vereins schnittpunkt. ausstellungtheorie & praxis, eines außerinstitutionellen Netzwerks für Akteur:innen im Museums- und Ausstellungsfeld. Gemeinsam sind sie Leiterinnen und Lehrende von /ecm – educating/curating/making. Studienprogramm für Ausstellungstheorie & -praxis an der Universität für angewandte Kunst Wien.

www.ecm.ac.at, www.schnitt.org

AUSSTELLEN NICHT EINFACH

NICHT EINFACH AUSSTELLEN

Kuratorische Formate und Strategien im Postnazismus

Herausgegeben von Martina Griesser-Stermscheg, Monika Sommer, Nora Sternfeld & Luisa Ziaja

Schriftenreihe curating. ausstellungstheorie & praxis, Band 7

Für Heidemarie Uhl

Zwischen Auseinandersetzung und Entledigung. Fragen, die den Ausgangspunkt dieses Buches bilden

Martina Griesser-Stermscheg, Monika Sommer, Nora Sternfeld & Luisa Ziaja

Leon Kahane  Vom Ich zum Wir, 2023

DIE POSTNAZISTISCHE

Zwischen Versöhnungstheater und neuer Vergessenskultur.

Geschichtspolitische Diskurse und Kunstausstellungen Nora Sternfeld „… ein Graus, eine Zumutung und eine einzige Kränkung der Eigenständigkeit.“ Über einen offenen Prozess und den Versuch der Disruption Mirjam Zadoff

„Ist Linz nicht von Hitler entstanden?“ In einem Stadtmuseum über Nationalsozialismus sprechen Karin Schneider

Ramesch Daha Unlimited History – Sigmund Klein, 2020

NS-Objekte im Spannungsfeld von „einfach ausstellen“ und „einfach nicht ausstellen“. Zur Ausstellung Hitler entsorgen. Vom Keller ins Museum Louise Beckershaus, Stefan Benedik, Markus Fösl, Laura Langeder, Eva Meran & Monika Sommer im Gespräch mit Nora Sternfeld … nicht folgen, nicht nicht zeigen, brechen, herausfordern. Zum geschichts- und institutionskritischen kuratorischen Arbeiten mit einer Sammlung Luisa Ziaja

Das Ausstellen von NS-Provenienzforschung im Technischen Museum Wien und wie das eine zum anderen führt(e)

Christian Klösch im Gespräch mit Martina Griesser-Stermscheg

Immanente Kontextualisierung. Die soziale Dimension in der Kunst selbst aufsuchen: Otto Mueller und Peter Nestler als Bild und Gegenbild im Kölner Museum Ludwig Julia Friedrich

Geschichte bearbeiten, Gegenwart gestalten Hemma Schmutz

Gewalt ausstellen Ljiljana Radonić

Franz Wanner Mind the Memory Gap, 2024

„Die Vergangenheit holt alle doch irgendwann ein.“ Die Gründungsgeschichte der documenta und die Ausstellung documenta: Politik und Kunst im Deutschen Historischen Museum

Julia Voss im Gespräch mit Nora Sternfeld

Im Banne Hitlers und des Nazismus. Ein Wandmosaik und ein Rektorenporträt als kontaminierte Hinterlassenschaften an der Universität Innsbruck Ina Friedmann & Dirk Rupnow

Zur geschichtspolitischen Aufarbeitung der Rolle der Akademie der bildenden Künste Wien in Austrofaschismus und NS. Ein Überblick mit Lücken Jakob Krameritsch & Ruth Sonderegger Forschen – gedenken – ausstellen. „Sonderfall“ Angewandte –die Universität für angewandte Kunst Wien von 1933 bis 1955

Bernadette Reinhold im Gespräch mit Monika Sommer

Die räumliche Verortung der Kunstuniversität Linz in den Brückenkopfgebäuden. NS-Geschichte sichtbar machen Angela Koch & AG Gebäudegeschichte der Kunstuniversität Linz

Sophie Lillie & Arye Wachsmuth Im Schatten der Verdrängung, 2021

Nicht einfach kontextualisieren Martina Genetti & Simon Nagy (Geschichts-)Bilder vom Gelände. Fehlende Fragen zum Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg Inge Manka

Ein „böses Bauwerk“? Karl Mayrs Ausstellungspavillon im Salzburger Zwerglgarten Anselm Wagner

Das „Anschlussdenkmal“ in Oberschützen – „darüber reden ...“?!

Ursula Mindler-Steiner im Gespräch mit Monika Sommer „… der das Pech hatte, in eine turbulente Zeit geraten zu sein.“ Zur Rezeption von Rudolf H. Eisenmengers Werk nach 1945 Veronika Floch

Michaela Melián Aufseherin mit Hund, 2019/2023

Biografien

Nora Sternfeld Nicht einfach ausstellen – der Titel dieses Sammelbandes lässt sich unterschiedlich lesen. Einerseits meinen wir damit, dass es nicht reicht, Bestände und Überlieferungen aus der Zeit des Nazismus1 bloß zu zeigen. Vielmehr wollen wir uns damit auseinandersetzen, was es heißt, mit problematischen Beständen, Materialien und Manifestationen des Nazismus in Museumssammlungen, in den Depots, Archiven und Räumen von Kunstinstitutionen, in Universitäten und im öffentlichen Raum kritisch umzugehen, und welche kuratorischen und institutionellen Strategien dabei wichtig scheinen. Andererseits – und hier kommt die zweite Bedeutung des Titels ins Spiel – wollen wir uns auch vor Augen führen, dass das nicht einfach ist.

Monika Sommer Ausgangspunkt für unser Buchprojekt war eigentlich eine konkrete Frage: Wie mit problematischen Sammlungsbeständen und Kontinuitäten des Nazismus im 21. Jahrhundert kuratorisch umgehen?2

Nora Sternfeld Jahrelang haben geschichtspolitische Aktivist:innen3 und kritische Zeithistoriker:innen dafür gekämpft, dass die Geschichte

1 | In Anlehnung an die Konvention im Englischen und Französischen wählen wir für die Weltanschauung und die politische Bewegung der Nazis die Bezeichnung Nazismus. Neben einer bewussten Entscheidung für die Exil- und alliierte Fremdbezeichnung ist dies auch eine Entscheidung gegen die Selbstbezeichnung der NSDAP und die damit einhergehende scheinbare Verbindung von Nationalismus und Sozialismus. Wir verdanken Ernesto Laclau den Hinweis auf die eigentümliche Beständigkeit der Verwendung des Wortes „Nationalsozialismus“ im postnazistischen deutschen Sprachgebrauch im Gegensatz zu den meisten anderen sprachlichen Kontexten.

2 | Referenzen in diesem Kontext waren der Entstehungsprozess und die Lektüre der Publikation Ingrid Böhler, Karin Harasser, Dirk Rupnow, Monika Sommer, Hilde Strobl (Hg.), Ver/störende Orte, Wien/Berlin 2024, sowie die in diesem Band vorgestellte Ausstellung Hitler entsorgen. Vom Keller ins Museum im hdgö, Wien, 12.12.2021–8.1.2023.

3 | Geschlechtergerechte Sprache und ihre Formen sind aktuell gesellschaftlich umstritten. Die Herausgeberinnen haben sich entschieden, die Vielfalt der Varianten in diesem Band abzubilden.

Zwischen Auseinandersetzung und Entledigung. Fragen, die den Ausgangspunkt dieses

Buches bilden

Leon Kahane Vom Ich zum Wir, 2023

Über die Mixed-MediaInstallation für das

Jüdische Museum

Berlin

Ein wichtiger Aspekt meiner Arbeit Vom Ich zum Wir ist der Ausstellungsraum selbst, der mit dem Void einen starken architektonischen Akzent setzt, der sich nicht zuletzt auf den Holocaust bezieht. Die Betonwand des Void wird in meiner Installation gestützt, ist in Teilen verkleidet, und es sieht so aus, als wäre man auf der Rückseite eines Messestandes oder einer Baustelle – es entsteht der Eindruck einer temporären Architektur. In einer früheren Arbeit habe ich die gestützten, weil vom Zerfall bedrohten Baracken in Birkenau gefilmt. Auch da spielte das Temporäre eine große Rolle, es steht für mich für die Fragilität der Erinnerungskultur, der Aufarbeitungsgeschichte und der Rolle, die diese Fragen für die kulturelle Repräsentation einer Gesellschaft spielen.

Eine stark vergrößerte Fotografie, die 1960 in Neues Deutschland abgedruckt wurde, verbindet die Stützen mit dem Void. Sie zeigt eine künstlerische Arbeit meiner Großmutter: Für den DDR-Pavillon der dritten Weltlandwirtschaftsmesse in Delhi produzierte sie ein Wandmosaik. Das 8,3 × 2,5 Meter große Mosaik wurde vermutlich nach der Messe zerstört, übrig blieb nur ein Kopf. Es scheint, dass die Figur, zu der dieser Kopf gehörte, keinen Platz mehr auf dem Mosaik gefunden hat. Der Kopf ist so eine Art Survivor. Das Mosaik heißt Vom Ich zum Wir, und die Idee dabei folgt einer typischen DDRSicht: Man lässt das Ich hinter sich und fokussiert sich auf ein Wir, auf eine solidarische, eine sozialistische Gesellschaft. Meine Installation hat denselben Titel. Sie bezieht eine kritische Position zu dieser Utopie, die sehr viel Missbrauch und Leid legitimiert hat.

Zum einen deuten sowohl der Titel als auch die Bildsprache des Mosaiks auf die Utopie der DDR und des Sozialismus hin, von der sich meine Großmutter eine bessere und gerechtere Welt erhofft hat. Zum anderen geht es – besonders im Kontext einer Weltlandwirtschaftsmesse – um implizite Kommentare über den Westen und die BRD. Die BRD und die DDR waren NS-Nachfolgestaaten.

Für mich ist das der Punkt, wo meine Arbeit das Historische verlässt und einen Bezug zur Gegenwart einnimmt. Es gab drei postnazistische deutschsprachige Länder mit drei verschiedenen Aufarbeitungsvarianten: in Österreich die Externalisierung,

der Mythos, zu den ersten Opfern des NS zu gehören, und das Abstreiten der eigenen Verwicklung und Verantwortung. In Westdeutschland die Internalisierung, die sehr lange gedauert hat und die darin mündet, dass man jetzt eine Erinnerungskultur hat, die ein zentraler Bestandteil der eigenen Kultur geworden ist und dennoch immer auch als Fremdkörper wahrgenommen wird. Die dritte ist die DDR mit der universalisierenden Erinnerungskultur, die alle gleichermaßen zu Opfern des Faschismus machte, also auch die Deutschen selbst. Der Umgang mit Schuld und Verantwortung wirkt sich in allen Varianten auf die politische Gegenwart und die kulturellen Debatten aus.

Besonders interessant ist für mich dabei immer auch die repräsentative Rolle, die Künstler:innen zugeschrieben wird oder die sie freiwillig einnehmen. Wie oft gibt es das, dass eine Künstlerin einen Staat auf einer Landwirtschaftsmesse vertritt? Das meine ich aber auch selbstkritisch: Nun ist die Arbeit meiner Großmutter durch mich im Jüdischen Museum Berlin angekommen und bekommt dadurch wieder eine ganz andere Funktion. Zur Arbeit gehört auch ein Film, der aus verschiedenen Elementen besteht: Es gibt 8mmFilmmaterial meiner Großeltern aus Indien, in dem auch Otto Grotewohl auftaucht, der schon 1951 gesagt hat: „Literatur und bildende Künste sind der Politik untergeordnet [...]. Die Idee der Kunst muss der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen.“ Es tauchen animierte Figuren

Oben: Wandmosaik Vom Ich zum Wir von Doris Kahane für den DDR-Pavillon der Weltlandwirtschaftsmesse in Delhi 1960

Rechts: Fragment aus dem Wandmosaik Vom Ich zum Wir, 1960, von Doris Kahane

DIE

POST- NAZISTISCHE KONDITION

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