Oyster. Feminist and Queer Approaches to Arts, Cultures, and Genders
Hongwei Bao, Susanne Huber, Änne Söll (Hg.)
Band 2
Advisory Board
Daniel Berndt, Universität Zürich
Cuneyt Cakirlar, Nottingham Trent University
Jill H. Casid, University of Wisconsin-Madison
Brian Curtin, Chulalongkorn University Bangkok
Henriette Gunkel, Ruhr-Universität Bochum
Lisa Hecht, Philipps-Universität Marburg
Antje Krause-Wahl, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Lex Morgan Lancaster, The Cooper Union for the Advancement of Science and Art
Zintombizethu Matebeni, University of Fort Hare
Fiona McGovern, Berlin
POSTHUMANE MÄNNLICHKEITEN Maskuline Cyborgs und queere Körper in der
Kunst seit 1990
Maike Hoffmeister
Diese Publikation wurde im Jahr 2023 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Eingereicht und verteidigt wurde sie unter dem Namen Maike Wagner, der sich in der Zwischenzeit auf Maike Hoffmeister geändert hat. Das Promotionsvorhaben wurde von Prof. Dr. Änne Söll (Ruhr-Universität Bochum) und Prof. Dr. Antje Krause-Wahl (Goethe-Universität Frankfurt am Main) betreut.
ISBN 978-3-68924-129-2
e-ISBN (PDF) 978-3-68924-007-3
ISSN 2940-7265
Library of Congress Control Number: 2024943798
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Einbandabbildung: Ed Atkins, Ribbons, 2014, Video, Film Still, © Ed Atkins, Courtesy of the artist and Gladstone Gallery
Lektorat: Philipp Paul Wendt, Bochum
Gestaltung und Satz: Jan Hawemann, Berlin
Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis
Einleitung – Die Unsichtbarkeit
posthumaner Männlichkeiten
Auf einer Fotografie der Serie Future Plan der japanischen Künstlerin Hiroko Okada aus dem Jahr 2003 sind zwei männlich gelesene Menschen zu erkennen, die mit breitem Lächeln in die Kamera schauen. Sie stehen bis auf die Unterhose unbekleidet vor einem zerschlissenen Paravent und tragen durch ihre stark gewölbten und mit Dehnungsstreifen versehenen Bäuche die körperlichen Merkmale einer Schwangerschaft (Abb. 1). Okada entwirft hier eine queer-feministische Utopie vollständiger Geschlechtergerechtigkeit. Was diese Fotografie, die durch die scheinbare ‚Natürlichkeit‘ der dargestellten Szenerie besticht, jedoch nicht direkt zeigt: Bei den beiden Figuren handelt es sich um Cyborgs, hybride und technologisch modifizierte Männerkörper, die von posthumanen Subjektentwürfen künden.
In diesem Buch geht es um posthumane Männlichkeiten in der zeitgenössischen Kunst. Was aber sind posthumane Männlichkeiten? Wie ich anhand von Werken der 1990er bis 2010er Jahre zeige, sind posthumane Männlichkeiten ein Versuch, die heute bereits allgegenwärtige Hybridität von Mann/Mensch und Technik anhand diverser männlicher und queerer Körperentwürfe zu verhandeln. So wird die gelebte Pluralität von Männlichkeitsvorstellungen in den bisher stark binarisierend geführten Diskurs um die Figur des Cyborgs eingebracht. Dieser Untersuchungsgegenstand setzt folgende Prämisse voraus: Der natürliche Körper ist eine Illusion. Er wurde schon immer bearbeitet, trainiert, optimiert, modifiziert, technisiert, kulturell überformt und gesellschaftlich normiert.1 Dies gilt in besonderem Maße seit dem Beginn der industriellen Revolution und den damit einhergehenden Bestrebungen, auch den Körper zu einer quantifizierbaren Größe zu machen und nach technischen Maßstäben zu messen.2 So wurde der Körper zwar bereits seit Julien Offray de La Mettries L’homme machine von 1747 als Metamaschine verstanden und in den zwei Weltkriegen schließlich selbst zum Teil der
1 Anne Balsamo, „Forms of Technological Embodiment. Reading the Body in Contemporary Culture“, in: Cyberspace/Cyberbodies/Cyberpunk. Cultures of Technological Embodiment, hg. von Mike Featherstone und Roger Burrows, London/Thousand Oaks/New Delhi 2000 [1995], S. 215–237, S. 215; Adam Geczy, The Artificial Body in Fashion and Art, London/New York 2017, S. 13; Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora, „Puppen Körper Automaten. Phantasmen der Moderne“, in: Puppen, Körper, Automaten. Phantasmen der Moderne, hg. von dens., Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Köln 1999, S. 65–93, S. 66.
2 Niall Richardson und Adam Locks, Body Studies. The Basics, Oxon/New York 2014, S. 59.
Kriegsmaschinerie,3 doch erst seit den 1980er Jahren wird der Körper im heute bekannten Maß mechanisiert, cyborgisiert und biotechnologisch hybridisiert.4 Darüber hinaus wird er heute immer mehr zum Austragungsort von Fantasien der Selbstoptimierung und -perfektionierung – sei es durch Wellness, Fitness, ästhetische Chirurgie oder die Inszenierung in den sozialen Medien. 5 Spätestens seit dem Ende des 20. Jahrhunderts kann der Körper daher als ein Projekt im fortwährenden Prozess der individuellen Verbesserung und Anpassung an normative Idealvorstellungen verstanden werden. 6 Im derzeitigen Zustand seiner „technoscientific existence“7 ist der Mensch zu Beginn des neuen Millenniums nicht nur post-natürlich, sondern womöglich bereits posthuman.8
Obwohl der Männerkörper ebenfalls modifiziert, technisiert und gesellschaftlich normiert wird, ist es doch meist der weibliche Körper, der im Zentrum des Diskurses um Körpergestaltung, -optimierung und -technisierung steht. Dies entspricht der bürgerlichen Vorstellung von Männlichkeit als kultur- und aus diesem Grund technikaffiner. Im Gegensatz dazu erscheint Weiblichkeit als naturnäher, reproduktiv und körperlich formbarer.9 Auf diese Weise wird bereits seit dem 18. Jahrhundert der Mann auf der Seite des aktiven Schöpfertums und die Frau als künstlich geschaffenes, passives und zugleich unheimliches Objekt verortet.10 Entsprechend wurde der männliche Körper lange Zeit als scheinbar universeller Standard von der Diskussion um körperliche Optimierung ausgenommen.11
3 Hanne Bergius, „Ambivalente Visionen vom körperlich-technischen Fortschritt in den zwanziger Jahren“, in: Kunst Sport und Körper. 1926–2002. Ge So Lei, hg. von Hans Körner und Angela Stercken, Düsseldorf 2002, S. 279–287, S. 279–280.
4 Geczy 2017, S. 2.
5 Minas Dimitriou, „Der postmoderne Körper im Wandel. Sport, Fitness und Wellness zwischen Gesundheitsorientierung, performativem Zwang und Optimierungslogik“, in: Der Körper in der Postmoderne. Zwischen Entkörperlichung und Körperwahn, hg. von dems. und Susanne Ring-Dimitriou, Wiesbaden 2019, S. 63–92, S. 65.
6 Ders., ebenda, S. 73.
7 Cecilia Åsberg und Rosi Braidotti, „Feminist Posthumanities. An Introduction“, in: A Feminist Companion to the Posthumanities, hg. von dens., Cham 2018, S. 1–22, S. 5.
8 Dies., ebenda; N. Katherine Hayles, How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago/London 1999, S. xiv. Der Begriff des posthumanen Körpers wird im Laufe dieses Buchs ausdifferenziert. Grob zusammengefasst handelt es sich dabei um einen Körper, für den die allgegenwärtige technologische Durchdringung zu einer grundlegenden Existenzbedingung geworden ist und durch dessen Hybridität sich humanistische und universalistische Vorstellungen des abgrenzbaren menschlichen Körpers und Individuums hinterfragen lassen. Pramod K. Nayar, Posthumanism (Themes in Twentieth- and Twenty-First-Century Literature and Culture), Cambridge/Malden 2014, S. 13.
9 Uta Scheer, „Der Geschlechtercode der Science Fiction. Identität und Transformation des Cyborg in Star Trek“, in: Sexualität als Experiment. Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction, hg. von Nicolas Pethes und Silke Schicktanz, Frankfurt/M. 2008, S. 133–152, S. 139.
10 Beate Söntgen, „Täuschungsmanöver. Kunstpuppe – Weiblichkeit – Malerei“, in: Puppen, Körper, Automaten. Phantasmen der Moderne, hg. von Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora, Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Köln 1999, S. 125–139, S. 125; Müller-Tamm und Sykora 1999, S. 80–81.
11 Richardson und Locks 2014, S. 10. Wenn ich im Folgenden die Begriffe ‚Mann‘ oder ‚Männerkörper‘ verwende, bin ich mir der sozialen Konstruiertheit binärer geschlechtlicher Kategorien und der damit einhergehenden Exklusionsmechanismen bewusst. Um jedoch überhaupt besschreiben zu können, inwiefern sich der ‚männliche‘ Körper in zeitgenössischen posthumanen Darstellungen wandelt, verwende ich
Beispiele für diese Rollenverteilung lassen sich, gerade in Literatur und Film, unzählige finden: Von der Puppe Olimpia in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann von 1816, die den Protagonisten in den Wahnsinn treibt und schließlich in den Tod stürzen lässt, über die Maschinenfrau Maria, die im 1927 herausgebrachten Film Metropolis als zerstörerische ‚femme fatale‘ auftritt, bis hin zur Androiden Ava in Ex Machina aus dem Jahr 2015, die ihren Schöpfer ermordet, um den Protagonisten anschließend seinem Schicksal zu überlassen. Stets sind es weiblich gelesene Körper, die, von einem Mann geschaffen, für das Unheimliche, Andere, schließlich für Unglück, Tod und Verderben ihres Schöpfers stehen und am Ende der Geschichte nicht selten von diesem zerstört werden. Im Gegensatz dazu steht der Terminator, der im gleichnamigen Film von 1984 als rationaler und heroischer Beschützer die Hoffnung der Menschheit bewahrt. Ähnliches gilt für Case, der als Konsolen-Cowboy in William Gibsons ebenfalls 1984 erschienenem Roman Newromancer die Weiten der Matrix durchstreift und Neo, der im Film Matrix von 1999 als der Auserwählte gegen die Herrschaft der Maschinen kämpft.
Im Laufe der westlichen Kulturgeschichte haben männliche Schöpfer im literarischen, medialen und künstlerischen Bereich in der Nachfolge Pygmalions immer wieder fiktive ideale Frauen erschaffen, die sie beherrschen können12 oder als das Andere, als Symbol für das Unheimliche und Todbringende inszenieren. Derartige Tendenzen wurden von der feministischen Theorie seit den 1970er Jahren ausführlich kritisiert und diskursiv revidiert.13 Auch in der Kunst ist es meist der passive weibliche Körper, der von fast ausschließlich männlichen Künstlern fragmentiert, modifiziert und technisiert wird. So zum Beispiel in den zahlreichen Kunstwerken zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich des Motivs der Schaufensterpuppe, Gliederpuppe oder Androide bedienen. Hierzu zählen Max Ernsts prothetische schlafende Figur in Die Anatomie als Braut von 1921, René Magrittes halbmechanische Frau in l’âge des merveilles von 1926 14 oder Hans Bellmers surreale, aus anagrammatischen Körperteilen zusammengesetzte Puppe (Abb. 2–4).15 Entsprechende Tendenzen werden, ebenso wie der damit verknüpfte Geniestatus des
weiterhin diese binären Begrifflichkeiten. Es muss dazu angemerkt werden, dass die beschriebenen Männlichkeitsvorstellungen auf einem historisch und geografisch höchst spezifischen Subjektverständnis beruhen, das sich im Zuge der europäischen Moderne etabliert hat und dem entsprechend keine globale Gültigkeit zugeschrieben werden kann. Raewyn Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, 4. aktual. Aufl., Wiesbaden 2015 [1995], S. 120.
12 Yvonne Volkart, Fluide Subjekte. Anpassung und Widerspenstigkeit in der Medienkunst, Diss. Oldenburg, Bielefeld 2006, S. 26–27.
13 Vgl. u. a. Mechthild Fend und Marianne Koos, „Einleitung“, in: Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit, hg. von dens., Köln 2004, S. 1–13, S. 1; Lisa Blackman, The Body. The Key Concepts, Oxford/New York 2008, S. 73.
14 Anna Fricke, „Der montierte Mensch. Körpermaschinen in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts“, in: Der montierte Mensch. The Assembled Human, hg. von Museum Folkwang, Ausst.-Kat. Museum Folkwang, Bielefeld/Berlin 2019, S. 13–31, S. 19.
15 Geczy 2017, S. 73–74. Der Begriff des anagrammatischen Körpers wurde von Peter Weibel als Bezeichnung für künstlerisch fragmentierte und neu zusammengesetzte Körper geprägt. Wenzel Mraček, Simulierte Körper. Vom künstlichen zum virtuellen Menschen (Ars Viva, Bd. 7), Wien/Köln/Weimar 2004, S. 193.
2 Max Ernst, Die Anatomie als Braut, 1921, Collage, 107 × 78 cm, Centre
3 René Magritte, L’âge des merveilles, 1926, Ölmalerei auf Leinwand, 120 × 80 cm, Privatsammlung, © Foto: Photothèque R. Magritte / Adagp Images, Paris, 2024
männlichen Künstlers, der sich das Objekt der mechanischen Frau oder Puppe zunutze macht, auf der feministischen Kritik der 1970er Jahre basierend und verstärkt seit den 1980er Jahren in der kunsthistorischen Forschung reflektiert. Auch feministische Künstlerinnen wie Christina Ramberg, Valie Export, Carole Schneemann und Cindy Sherman dekonstruieren in ihren Werken tradierte Verhältnisse zwischen männlichem Schöpfer und weiblichem Objekt, indem sie die gesellschaftliche Zurichtung des weiblichen Körpers im Patriarchat thematisieren oder ihn zu einem queeren Geschlechtskörper umdeuten.16
Im Gegensatz zu dieser Tradition der Darstellung von Maschinenfrauen existieren in der Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts – vor allem im Surrealismus, Dadaismus und Futurismus – ebenso Beispiele, in denen männliche Körper technisch modifiziert werden. Diese verweisen auf die vom Krieg zerstörten Körper der 1910er und 1920er
16 Amelia Jones, „Paul McCarthy, männliche Body Art und die geschändeten Grenzen der Männlichkeit“, in: Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit, hg. von Mechthild Fend und Marianne Koos, Köln 2004, S. 247–265, S. 251.
4 Hans Bellmer, Les Jeux de la Poupee, Plate II, 1949, handbemalter Gelatinedruck, 14,9 × 17,4 cm, Privatsammlung / Mayor Gallery, London / Bridgeman Images
Jahre und zugleich auf neue Formen von flexibler und krisenhafter Männlichkeit, sie können aber auch für die Hoffnung auf einen neuen, maschinell verbesserten Menschen stehen.17 Beispiele für entsprechende Körper-Neukreationen bieten zwar auch Künstlerinnen wie Hanna Höch,18 zumeist sind es aber männliche Künstler. Darunter lassen sich Otto Dix’ Werke und Raoul Hausmann mit seiner Collage Tatlin lebt zu Hause aus dem Jahr 1921 nennen, die beide den kriegsgeschädigten und durch technische Prothesen wiederhergestellten Männerkörper thematisieren, den sie zu einer monströsen Hybridgestalt werden lassen (Abb. 5–7).19 Während die Beherrschung der Technik
17 Nadine Engel, „Ein mechanisches Imperium. Maschinenmenschen vom Futurismus bis zum Konstruktivismus“, in: Der montierte Mensch. The Assembled Human, hg. von Museum Folkwang, Ausst.-Kat. Museum Folkwang, Bielefeld/Berlin 2019, S. 33–48, S. 36; Änne Söll, Der neue Mann. Männerporträts von Otto Dix, Christian Schad und Anton Räderscheidt 1914–1930, Paderborn 2016, S. 21–23.
18 Karoline Hille, „‚...über den Grenzen, mitten in Nüchternheit‘. Prothesenkörper, Maschinenherzen, Automatengehirne“, in: Puppen, Körper, Automaten. Phantasmen der Moderne, hg. von Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora, Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Köln 1999, S. 140–159, S. 148.
19 Engel 2019, S. 39.
5 Hanna Höch, Hochfinanz, 1923, Collage, 36 × 31 cm, Privatsammlung / Bridgeman Images
in dieser Zeit in der künstlerischen Darstellung primär männlich konnotiert war und in Gestalt der weiblichen Puppe oder Androide allenfalls in stark sexualisierter Gestalt auftrat, scheint der männliche Maschinenkörper nach dem Ende des zweiten Weltkriegs als künstlerisches Motiv vorübergehend in Vergessenheit zu geraten. Gleichzeitig gewinnt der an die bereits in den 1950er Jahren etablierte Kybernetik anknüpfende20 Diskurs um den technisierten Körper sowohl in der Wissenschaft als auch in der Populärkultur seit den 1960er und zunehmend seit den 1970er Jahren an Relevanz. Seit Manfred Clynes und Nathan Klines im Jahr 1960 erstmals den Begriff des Cyborgs prägten, wird darunter ein Hybrid aus organischen und künstlichen Körperbestandteilen bzw. ein vernetzter und digitaler Organismus verstanden.21 Zugleich ist an diesem Punkt ein Wechsel der Zielrichtung und Qualität von körperlichen Modifikationen zu
20 Fricke 2019, S. 22.
21 Vgl. Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline, „Cyborgs and Space“, in: Astronautics, September 1960, S. 29–33.
6 Otto Dix, Kriegskrüppel, 1920, Kaltnadelradierung, gedruckt von Heinar Schilling, Dresden, Platte 25,9 × 39,4 cm, Blatt 32,5 × 49,8 cm, Edition 15 Stück, Museum of Modern Art (MoMa), New York
beobachten, wie Karin Harrasser herausgearbeitet hat: Ging es zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch darum, den vom Krieg zerstörten Körper prothetisch wieder herzustellen, umfasst die Debatte um Cyborgisierung inzwischen eher die Verbesserung und Erweiterung des als posthuman verstandenen Körpers,22 der zugleich die als veraltet empfundene Vorstellung des androzentrischen humanistischen Subjekts aktualisieren soll.23 Die Etablierung des Cyborgbegriffs fällt damit in eine Zeit, in der gleichzeitig hybride kybernetische Verkörperungen erforscht werden und in der Populärkultur ein immer stärkerer Drang zu Fitness und Körpertraining aufkommt, der in den extrem muskulösen Männerkörpern der 1980er Jahre gipfelt.24 Dagegen wird in der Nachfolge von Donna Haraways erstmals 1985 veröffentlichtem Essay Ein Manifest für Cyborgs die Figur des Cyborg als Mittel der feministischen Kritik gelesen, um sich von den patriarchalen und militaristischen Verflechtungen des Cyborgbegriffs der 1960er Jahre loszusagen und stattdessen die Utopie einer weiblichen und zugleich geschlechtslosen Cyborg zu feiern, die sich über alle binären Grenzen erhebt.25
22 Karin Harrasser, Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen, Bielefeld 2013, S. 103; Hayles 1999, S. xiv.
23 Åsberg und Braidotti 2018, S. 5.
24 Melanie Richter und Karin Pöhlmann, „Bodybuilding und Muskelaufbaupräparate“, in: Body Modifikation. Manual für Ärzte, Psychologen und Berater, hg. von A. Borkenhagen, A. Stirn und E. Brähler, Berlin 2014, S. 281–303, S. 287–288.
25 Donna Haraway, „Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften“, in: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hg. von ders., Frankfurt/New York 1995 [1985], S. 33–72, S. 35–36.
7 Raoul Hausmann, Tatlin lebt zu Hause, 1920, Collage, 41 × 28 cm, Moderna Museet, Stockholm / Bridgeman Images
Auffällig ist, dass seit dieser Zeit im populärmedialen Diskurs, insbesondere im Science-Fiction-Genre, durchaus eine große Anzahl männlicher modifizierter und cyborgisierter Körper zu sehen sind. Diese werden aufgrund ihres größtenteils an gesellschaftlichen Idealvorstellungen der 1980er Jahre orientierten muskulösen Körperschemas allerdings meist als identitätslose „Körperpanzer“26 analysiert, ohne differenziertere Männlichkeitsbilder mit einzubeziehen.
Zugleich finden sich in der Zeit der 1970er und 1980er Jahre bereits künstlerische Ansätze, den männlichen Körper in seiner geschlechtlichen Wandelbarkeit und abseits heteronormativer Idealkörper zu thematisieren; in diesem Kontext sind unter anderem Jürgen Klauke und Leigh Bowery zu nennen. Diese mit einem Fokus auf homosexuelle bzw. queere Selbstrepräsentation entstandenen Arbeiten werden jedoch bis heute selten mit der Figur des Cyborgs oder posthumanen Männlichkeiten in Verbindung ge-
26 Klaus Theweleit, Männerphantasien, 1. Aufl., Berlin 2019 [1977/78], S. 299.
bracht. In wissenschaftlichen Publikationen und künstlerischen Darstellungen seit den 1980er Jahren wird dagegen, anknüpfend an die zweite Welle des Feminismus, die feministische Body Art der 1970er Jahre und den Cyberfeminismus, bevorzugt der weiblich oder queer gelesene Körper als Ausgangspunkt für utopische Hoffnungen zur Aufhebung binärer Geschlechtlichkeit aufgerufen. Dies liegt darin begründet, dass in ihm, gekoppelt an die Tradition des weiblich-formbaren und fluiden Körpers, das größere Potenzial gesehen wird, Ungleichheiten zu überwinden und Körper- und Geschlechtergrenzen zerfließen zu lassen.27 Ein Beispiel hierfür liefert neben diversen cyberfeministischen Publikationen28 Victorine Müllers Durchströmung II von 2004, in der sich eine weibliche Cyborg in einem Flüssigkeitsstrom aufzulösen scheint und zugleich bekannte Assoziationen des weiblich Unheimlichen evoziert (Abb. 8).29 Anknüpfend an diese Entwicklungen gewinnt der technisierte Körper in der zeitgenössischen Kunst der 1990er Jahre zusehends an Bedeutung, um daran technische Neuerungen auf dem Gebiet der Prothetik, Chirurgie, Biomedizin und der digitalen Medien zu verhandeln und zu reflektieren. Die zunehmenden Gestaltungsmöglichkeiten des biologischen und technologisierten Körpers bieten dabei einen Anlass, zunehmend auch die Auflösung von Geschlechtergrenzen darzustellen. So beschreibt Karl-Heinz Lüdeking, dass der Gegensatz zwischen „unbesiegbar-gehärteter Männlichkeit und fließend-verweichlichter Weiblichkeit“30 heute kaum noch aufrecht zu erhalten sei.
Es fällt jedoch auf, dass technologische Körper in der zeitgenössischen Kunst, auch wenn sie das Aufbrechen binärer Geschlechtergrenzen darstellen, bis heute in Anknüpfung an die cyberfeministischen Theorien der 1980er Jahre primär im Verhältnis zur „Konstruktion des weiblichen Körpers als Affekt- und Symptomkörper patriarchalisch geprägter Diskurse“31 verhandelt werden. Dagegen werden zeitgenössische Darstellungen des modifizierten und technisierten männlichen Körpers und ihre Implikationen für aktuelle Vorstellungen von Männlichkeit und Queerness selten in den Blick genom-
27 Annette Jael Lehmann, „Entsexualisierung. Der posthumane Körper in Kunst und Medien“, in: Sexualität als Experiment. Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction, hg. von Nicolas Pethes und Silke Schicktanz, Frankfurt/M. 2008, S. 275–290, S. 283; Volkart 2006, S. 9–10.
28 Vgl. u. a. Sadie Plant, „The Future Looms. Weaving Women and Cybernetics“, in: Cyberspace/Cyberbodies/Cyberpunk. Cultures of Technological Embodiment, hg. von Mike Featherstone und Roger Burrows, London/Thousand Oaks/New Delhi 2000 [1995], S. 45–64, S. 99–118.
29 Vgl. Medienkunstnetz, „Victorine Müller. ‚Durchströmung II‘“, o. J., http://www.medienkunstnetz.de/ werke/durchstroemung-ii/ (zuletzt aufgerufen am 25.05.2021). Obwohl auch künstlerische Beispiele existieren, in denen der Zusammenhang zwischen Weiblichkeit und Fluidität nicht forciert oder verunklärt wird, beeinflusst die im Cyberfeminismus und Posthumanismus vorherrschende Tendenz, Werke insbesondere in Hinblick auf ihre Weiblichkeitsdarstellungen zu analysieren, wiederum den künstlerischen Diskurs dahingehend, dass Werke, in denen weibliche Körper reflektiert werden, besonders sichtbar sind, während eine Diskussion um posthumane Männlichkeiten bisher kaum entstehen konnte.
30 Karlheinz Lüdeking, „Vom konstruierten zum liquiden Körper“, in: Puppen, Körper, Automaten. Phantasmen der Moderne, hg. von Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora, Ausst.-Kat. Kunstsammlung NordrheinWestfalen, Köln 1999, S. 219–233, S. 228.
31 Lehmann 2008, S. 283.
8 Victorine Müller, Durchströmung II, 2004, Installation, Holzmasse, fluoreszierendes Acrylglas, Neonröhren, transparente PVC-Folie, Wasserpumpe, Wasser, 150 × 280 × 200 cm
men. Wenn sie Beachtung finden, werden sie lediglich mit dem muskulösen Maschinenkörper in Bezug gesetzt, der vor allem in filmischen Darstellungen der 1980er Jahre dominierte, in der Kunst aber nur eine untergeordnete Rolle spielt. Differenziertere Formen zeitgenössischer und posthumaner Männlichkeiten werden nicht betrachtet. Dies entspricht einer generellen Tendenz der kunsthistorischen Forschung, die Männlichkeiten lange Zeit nicht als potenziellen Forschungsgegenstand ansah.32 Selbst aktuellste Publikationen, die sich mit modifizierten und technisierten Körpern in der zeitgenössischen Kunst befassen, behandeln entweder kaum Darstellungen männlicher Körper oder nehmen diese nicht dezidiert als Geschlechtskörper in den Blick.33 Im Gegensatz zur durch diesen kunsthistorischen Kanon vermittelten Vorstellung existieren in der zeitgenössischen Kunst durchaus Darstellungen technisierter männlich gelesener Körper, deren dezidierte Betrachtung allerdings nach wie vor ein Forschungsdesiderat darstellt.
32 Bettina Uppenkamp, „Kunst und Kunstgeschichte“, in: Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von Stefan Horlacher, Bettina Jansen und Wieland Schwanebeck, Stuttgart 2016, S. 256–269, S. 256.
33 Vgl. u. a. Magdalena Kröner (Hg.), Kunstforum international. Digital. Virtuell. Posthuman? Neue Körper in der Kunst, Bd. 265, 2020; Ann-Katrin Günzel (Hg.), Kunstforum international. post-futuristisch. Kunst in dystopischen Zeiten, Bd. 267, 2020.
Posthumane Männlichkeiten sichtbar machen
Mein Ziel ist es daher, ausgehend von der Figur des Cyborgs als Mittel der cyberfeministischen Kritik, erstmals den modifizierten, technologischen und posthumanen männlichen Körper als Motiv der zeitgenössischen Kunst in den Blick zu nehmen, in seiner Geschlechtskonstruktion und -dekonstruktion zu hinterfragen und kulturhistorisch zu verorten. So sollen zugleich Männlichkeiten als bisher undifferenzierte Kategorie im posthumanistischen Diskurs sichtbar werden. Vor diesem Hintergrund behandele ich die Frage, ob die in der Kunst seit den 1990er Jahren dargestellte Technisierung des Männerkörpers zugleich mit der Auflösung binärer geschlechtlicher Kategorien einhergeht und welche Männlichkeitsvorstellungen darin sichtbar werden. Dabei wird die Auswahl der analysierten Werke bewusst auf die Zeit seit den 1990er Jahren bis in die 2010er Jahre limitiert, um sie mit der ebenfalls seit dieser Zeit entstehenden posthumanistischen Debatte in Bezug zu setzen.34 Ich zeige in diesem Buch, dass durchaus zahlreiche Darstellungen männlicher Cyborgs und posthumaner Männerkörper existieren, die mit der stereotypen Vorstellung des Muskel-Maschinen-Mannes und des ganzen unverletzten männlichen Körpers brechen, weiblich oder queer konnotierte Praktiken des fragmentierten, wandelbaren und fluiden Körpers aufgreifen und binäre Geschlechtervorstellungen hinterfragen. In Anknüpfung an Analysen der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts wird gefragt, inwiefern sich erneut Momente krisenhafter Männlichkeit und flexibilisierter Männlichkeiten in der zeitgenössischen Kunst finden lassen. So gehen Hans-Geert Metzger und Frank Dammasch davon aus, dass im Zuge der globalen medialen Vernetzung und Kommunikationstechnologie als maskuline Tugenden gesehene Eigenschaften wie Körperkraft und Kampfgeist zusehends ortlos erscheinen. 35 Gleichzeitig lässt sich in letzter Zeit verstärkt die Tendenz erkennen, gerade in populären Medien als ‚toxisch‘ gewertete männliche Verhaltensweisen zu hinterfragen.36 Zudem existieren bereits seit den 1990er Jahren Bewegungen, die sich der Aufgabe verschrieben haben, eine essentialistische ‚echte‘ Männlichkeit wiederzufinden und destruktive Formen von Männlichkeit aufleben zu lassen.37 Um so wichtiger ist es, derartigen Versuchen, Männlichkeitsvorstellungen zu retraditionalisieren, die tatsächliche Bandbreite der Erscheinungsformen von Männlichkeiten vor dem Hintergrund eines zeitgenössischen Technologiediskurses entgegenzusetzen. Analysiert werden dabei sowohl Arbeiten, bei denen die Künstler:innen Modifikationen am eigenen Körper oder dessen fotografischer und digitaler Darstellung vollziehen und bei denen insbesondere die
34 Gleichzeitig soll damit keine erst in den 1990er Jahren beginnende und in sich abgeschlossene Entwicklung des technisierten Männerkörpers in der Kunst suggeriert werden, sondern es wird in den folgenden Kapiteln dezidiert auf historische Kontinuitäten der Körper- und Männlichkeitsbilder verwiesen.
35 Frank Dammasch und Hans-Geert Metzger, „Einleitung – Männer und ihre Krisen“, in: Männlichkeit, Sexualität, Aggression. Zur Psychoanalyse männlicher Identität und Vaterschaft, hg. von dens., Gießen 2017, S. 7–17, S. 8.
36 Vgl. u. a. JJ Bola, Mask Off. Masculinity Redefined, London 2019.
37 Fend und Koos 2004, S. 1–2; Dammasch und Metzger 2017, S. 7.
männliche Selbstdarstellung im Vordergrund steht als auch Arbeiten, bei denen die Künstler:innen Darstellungen eines männlichen bzw. queeren Körpers gestalten oder überarbeiten. Ferner wird untersucht, ob, auch wenn heteronormativ-stereotype Bilder des muskelbepackten und emotionslosen männlichen Maschinenkörpers in der zeitgenössischen Kunst kaum zu finden sind, maskulin konnotierte Verhaltensweisen, Körper- und Charaktereigenschaften selbst in posthumanen Darstellungen noch bestehen bleiben. Umgekehrt soll auch darauf eingegangen werden, ob im Zuge der Darstellung neuer Körpermodelle zugleich utopische Geschlechtskörper vorgestellt werden oder ob die Flexibilisierung von Geschlecht nach wie vor anhand des Austauschs biologischer geschlechtlicher Marker exemplifiziert wird.
Anhand der hier erstmals im Kontext posthumaner Männlichkeiten behandelten künstlerischen Entwürfe werde ich zeigen, dass in posthumanen Körperdarstellungen auch der männliche Techno-Körper fragmentarisch, mutierend und expansiv wird, während maskuline ‚Körperpanzer‘ nur selten in Erscheinung treten. Ein Gegensatz zwischen einem ‚weichen‘ und fragmentarischen weiblichen und einem ‚harten‘ einheitlichen männlichen Körper ist entsprechend nicht mehr uneingeschränkt gültig. Dabei wird die Fluidität von Geschlechterrollen und Identitätsvorstellungen im Fall männlich lesbarer und maskuliner Cyborgkörper anders als bei weiblich konnotierten Körperentwürfen meist nicht als unmittelbare körperliche Verflüssigung sichtbar. Stattdessen werden sie als Fragmentierung, prothetische Erweiterung, Flexibilisierung und Remontage des Körpers inszeniert. Zugleich geht auch die visuelle Auflösung des männlichen Körpers nicht immer mit neuen Geschlechtsentwürfen und inklusiveren Männlichkeitsvorstellungen einher, sondern kann ebenso als Verlust der Selbstbestimmung und eindeutiger männlicher Rollenbilder betrauert oder zur Schaffung neuer patriarchaler Männlichkeitsmodelle eingesetzt werden.
Wie ich im Verlauf dieses Buches zeige, arbeiten sich die behandelten Künstler:innen an posthumanen Männlichkeitsbildern ab, die sich grob den folgenden vier Männlichkeitstypen zuordnen lassen und damit deutlich über die bisher oft konstatierte Dichotomie zwischen stabiler und krisenhafter Männlichkeit hinausgehen: Erstens einer krisenhaften Männlichkeit, die ihre körperliche Ganzheit ängstlich zu verteidigen sucht. Zweitens einer patriarchalen Männlichkeit, bei der prothetische Körpererweiterungen letztlich der Wiederaufwertung des eigenen Selbstbilds dienen. Drittens einer queeren Männlichkeit, die sich in einem ambivalenten Geschlechtskörper und einem nichtbinären Subjekterleben äußert. Viertens einer Form fürsorglicher Männlichkeit, welche die geschlechtsspezifische Verteilung von Care-Arbeit zur Disposition stellt. Diese Unterteilung, die am Ende dieser Publikation erneut aufgegriffen und ausdifferenziert wird, ermöglicht es, die Bandbreite der Erscheinungsformen aktueller MännlichkeitEN besser zu fassen, als in bisherigen Ausführungen meist der Fall, die sich oftmals trotz des Ansatzes, Diversität zu beleuchten, weiterhin auf eine Ausprägung von Männlichkeit fokussieren.
Zwar scheint es auch der aktuellen Kunst nahezu unmöglich, ganz neue utopische Geschlechter zu visualisieren, jedoch entstehen diverse Konfigurationen von Geschlecht abseits des eindeutig maskulinen Körpers. Gerade der wiederum stark typisierende Ansatz, fürsorgliche und ‚weichere‘ Männlichkeitsmodelle anhand eines ‚weichen‘, fluiden, weniger muskulösen oder androgyneren Körpers zu visualisieren, kann für die zeitgenössische Kunst nicht bestätigt werden. Viel eher stehen zwar muskulöse Männerkörper meist weiterhin als Symbolbild für hegemoniale und dominante Männlichkeiten und ihr Suspekt-Werden in einem posthumanen Kontext. Gleichzeitig muss aber der flexibler und fluider werdende und weniger muskulöse Männerkörper nicht unbedingt auch für eine ‚weichere‘ Männlichkeit stehen, sondern kann ebenso in Gestalt cyborgisierter Männerfiguren weiterhin das Streben nach patriarchaler Macht verkörpern sowie für queere Identitätserkundungen und neue Vaterschaftsmodelle stehen. Anders als noch im Jahr 2010 von Rocío Carrasco Carrasco dargelegt, ist der Gegensatz ‚harte Männlichkeit in hartem Körper‘ und ‚fluide Männlichkeit in weichem Körper‘38 damit keine ausreichende Kategorisierung mehr, um die tatsächliche Bandbreite visueller Erscheinungsformen posthumaner Männlichkeitsentwürfe in der zeitgenössischen Kunst zu erfassen. Zugleich kann eine eindeutige Tendenz von ‚harten‘ zu ‚weichen‘ Männlichkeitsbildern, wie sie von Carrasco für den Science-Fiction-Bereich festgestellt wurde, in den posthumanen Kunstwerken der 1990er bis 2010er Jahre nicht attestiert werden.39 Viel eher verhandeln Künstler:innen in dieser Zeit anhand des multipel gewordenen und als posthuman verstandenen technologischen Körpers Männlichkeitsentwürfe und Diskurse, die bereits in den 1980er, zum Teil aber auch bereits in den 1920er Jahren in der Figur des ‚neuen Mannes‘ zu beobachten sind.40 Sie machen so die Bandbreite von traditionellen bis hin zu queeren, homosexuellen, androgynen, nichtbinären, hermaphroditischen und ‚weicheren‘ empathischen Männlichkeiten sichtbar. Posthumane Männlichkeiten können damit als Darstellungen männlicher, maskuliner und/oder queerer Körper verstanden werden, die mindestens ihre körperliche Durchlässigkeit und meist auch ihre identitäre Hybridität verhandeln, anstatt weiter an Vorstellungen imaginärer körperlicher und subjektiver Ganzheit festzuhalten. Dabei ist entscheidend, dass in Darstellungen posthumaner Körper und Männlichkeiten nicht nur Gender zu einer variablen Kategorie wird. Auch die bisher weitgehend veränderungsresistente Kategorie des biologischen Geschlechts wird in digitalen und biotechnologisch inspirierten Darstellungen zu einer modifizierbaren Größe, was die Gestaltung nichtbinärer oder hermaphroditischer Geschlechtskörper erlaubt. Sie tragen so dazu bei, die reale Vielfalt
38 Rocío Carrasco Carrasco, Of men and cyborgs. The construction of masculinity in contemporary U. S. science fiction cinema, Diss. phil. Huelva, Huelva 2010, S. 144–146.
39 Ders., ebenda.
40 Walter Erhart, „Deutschsprachige Männlichkeitsforschung“, in: Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von Stefan Horlacher, Bettina Jansen und Wieland Schwanebeck, Stuttgart 2016, S. 11–25, S. 12–14; vgl. Söll 2016.