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Grußwort
Ein chinesisches Märchen erzählt von einem alten Maler, der sein Leben einem einzigen Bild gewidmet hatte. Als dies nun fertig war, lud er verwandte und Freunde ein, das Werk zu betrachten. Sie versammelten sich vor der Arbeit, staunten und begutachteten sie. Sie sahen darauf einen Park, aus dem ein schmaler, von Blumen umsäumter Weg eine Anhöhe hinauf zu einem kleinen Haus führte. Als sich nun die Besucher wieder dem Maler zuwandten, um mit ihm über das Gemälde zu diskutieren, war er verschwunden. Schließlich entdeckten sie ihn, wie er den schmalen Weg zur Anhöhe hinaufging, die filigran gemalte Tür des Hauses öffnete, ihnen noch einmal leise zulächelte, alsdann die tür schloss und verschwand: Der Künstler wurde eins mit seinem Bild.
Für den chinesischen Maler aus dem Märchen, das rüdiger Safranski uns überliefert hat, kann es ein Werkverzeichnis nicht geben. Sein Œuvre kennt keine Experimente und Brüche, keine verwerfungen und niederlagen, berichtet nicht vom Scheitern und Gelingen. Es bleibt jedoch dem Märchen vorbehalten, die Einheit von Person und Werk als vollkommenes Glück darzustellen.
Werkverzeichnisse im abendländischen Kulturkreis dokumentieren Spontaneität und Kalkül, Intuition und ratio, Depression und Euphorie, Hoffnung und zweifel, sie sind, bei Lichte betrachtet, unbarmherzig und anmaßend: unbarmherzig, weil sie nüchtern Seite um Seite des künstlerischen Schaffens, Haupt- und nebenwege, dokumentieren. Anmaßend, weil sie mit dem Anspruch auf vollständigkeit auftreten, das Lebenswerk eines Menschen zwischen zwei Buchdeckel zu pressen. So schwankt der Leser des Werkverzeichnisses zwischen den rollen von voyeur, Detektiv und zensor: Als voyeur wird er die Kunst mit den Lebensdaten vergleichen, um so zur Person des Künstlers vorzudringen. Als Detektiv wird er in akribischer Ermittlungsarbeit Leitlinien entdecken und verfolgen; als zensor Alleen und Sackgassen kennzeichnen. Der Leser hält, biblisch gesprochen, das Buch des Lebens in den Händen, in dem nicht mehr radiert werden darf. Außer Künstlern, Musikern und Schriftstellern würde sich kein anderer Beruf eine solche Dokumentation gefallen lassen.
Und dennoch: Werkverzeichnisse sind unerlässlich, ein wichtiger ratgeber nicht nur für Museen und Sammler, für den Kunsthandel, sondern für die gesamte kunstwissenschaftliche Forschung. Hier erlaubt ein Werkverzeichnis, zuordnungen, vergleiche, Parallelen und Ent- wicklungstendenzen aufzuzeigen. Darüber hinaus gilt die Aufnahme eines Kunstwerks in ein Werkverzeichnis gemeinhin als Echtheitsgarantie. Dem verfassen von Werkverzeichnissen kommt damit eine enorme verantwortung, aber auch eine große Strahlkraft zu.
Die Kaldewei Kulturstiftung sieht in der Erarbeitung von Werkverzeichnissen einen wesentlichen Schwerpunkt ihrer wissenschaftsfördernden tätigkeit. Der Arbeitskreis Werkverzeichnis wurde im november 2018 in der Hamburger Kunsthalle von Anja t iedemann, Aya Soika, Gesa Jeuthe v ietzen und Eva Wiederkehr Sladeczek gegründet. von Anfang an stand die Kaldewei Kulturstiftung diesem Arbeitskreis, der Wissenschaftlern aus vielen Bereichen eine Plattform bei der Bearbeitung von Œuvrekatalogen bietet, mit ihrem Engagement bei. Aus dem Arbeitskreis Werkverzeichnis ist nun das vorliegende Handbuch hervorgegangen, herausgegeben von Ingrid Pérez de Laborda, Aya Soika und Eva Wiederkehr Sladeczek. Die Kaldewei Kulturstiftung freut sich, dieses Handbuch begleitet, gefördert und finanziert zu haben. Mit rund dreißig Beiträgen in drei Sektionen ist der wissenschaftlichen Forschung bei der Erarbeitung eines Werkverzeichnisses nun ein Leitfaden an die Hand gegeben, der grundlegende Fragen beantworten kann. Diesem Handbuch wünschen wir eine rege Aufnahme in der Fachwelt und die Diskussion, die unerlässlich ist, um den wissenschaftlichen Diskurs voranzutreiben.
Ahlen und Frankfurt am Main, im Sommer 2022
Franz Dieter Kaldewei Prof. Dr. Carl-Heinz Heuer Stifter der Kaldewei Kulturstiftung vorstand der Kaldewei Kulturstiftung