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Einleitung

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Grußwort

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Das Werkverzeichnis im 21. Jahrhundert

Das Werkverzeichnis, auch als Œuvrekatalog oder Catalogue raisonné bezeichnet, stellt die Grundlage für die Erfassung eines künstlerischen Schaffens dar. Als nachschlagewerk etablierte es sich im Laufe des 19. Jahrhunderts und gewann alsbald für Sammler, Museen und den Kunstmarkt als Instrument der Authentifizierung und Nobilitierung zunehmend an Bedeutung. Seine klare Struktur sortiert das Gesamtwerk und jeden einzelnen Eintrag nach denselben Prinzipien. Das Werkverzeichnis ist damit unverzichtbar für all jene Personen, die sowohl an dem allgemeinen Überblick eines Œuvres als auch an der individuellen Objekterschließung interessiert sind. Der Fokus auf das Werk charakterisiert das Genre. Es besitzt den ruf, einer der Connaisseurschaft verhafteten Kunstgeschichtsschreibung verbunden zu sein. Weiterreichende sozioökonomische, politische oder ästhetische Diskurse sind hier kaum zu finden.

In Anbetracht dieser Besonderheiten möchte der vorliegende Sammelband den Catalogue raisonné genauer unter die Lupe nehmen. Dies ist auch deshalb ein umfangreiches Unter fangen, da das verständnis der Funktion und Bedeutung von Œuvreverzeichnissen dynamischen veränderungen unterliegt. Der Catalogue raisonné reagiert heute mehr denn je auf technische Fortschritte und neue methodische Impulse, passt sich an die Bedürfnisse unterschiedlichster Kunstgattungen an und integriert bei Bedarf neue Kategorien in sein Ordnungssystem. Welche Anforderungen sollten Werkverzeichnisse im 21. Jahrhundert konkret erfüllen? Welche rolle kommt ihnen bei der Echtheitsbestimmung, im Bereich der Provenienzforschung oder in den Konservierungswissenschaften zu? Und inwiefern können digitale Anwendungen und multidisziplinäre Ansätze einen Mehrwert bieten?

29 Beiträge in 3 Sektionen beleuchten das Genre mit Blick auf seine vergangenheit und zukunft, auf t heorie und Praxis. Wie sehr eine interdisziplinäre Herangehensweise unser nachdenken über das Werkverzeichnis bereichern kann, belegen die hier versammelten Aufsätze von Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Fachrichtungen eindrücklich. neben Kunst- und Archivwissenschaftlern haben Museums- oder Stiftungsmitarbeiter, restauratoren, Provenienzforscher und Juristen beigetragen.

Das Handbuch richtet sich an nutzer, die das Genre an der Schnittstelle verschiedener Disziplinen sowie in seiner Entwicklungsgeschichte verorten möchten, und natürlich nicht zuletzt an Werkverzeichnisbearbeiter selbst. In Ermangelung von Übersichten zu Methodik und aktuell gültigen Standards stehen diese vor einer Mammutaufgabe. Die Bearbeitung eines künstlerischen Œuvres an sich kann schon Jahrzehnte beanspruchen, ganz abgesehen von den vorbereitungen, die notwendig sind, um einen Überblick über die möglichen Darstellungsoptionen zu gewinnen und für das eigene Projekt im vorfeld eine Art Best Practice zu etablieren. Aus welchen Bestandteilen setzt sich ein Werkverzeichnis überhaupt zusammen? Was ist bei der systematischen Dokumentation, bei der Ansicht im Original oder bei der Rekonstruktion der Provenienz zu bedenken? Und wie lässt sich ein solches Großprojekt finanzieren, wenn die Eigenmittel fehlen? Der vorliegende Band hofft, diese und weitere praxisbezogene Fragen mit Blick auf die zukunft beantworten zu können. Denn es ist abzusehen, dass sich das Genre Werkverzeichnis auch im Laufe des 21. Jahrhunderts kontinuierlich fortentwickeln wird.

Die Beiträge in der ersten Sektion „Das Genre Werkverzeichnis“ werfen den Blick zurück wie auch nach vorn. Sie beschäftigen sich mit der historischen Genese von Werkverzeichnissen sowie mit den Kanonisierungsprozessen von Künstlern und ihrem Lebenswerk, die mit der Publikation von Œuvrekatalogen einhergehen. Dabei zeigt sich, dass Catalogues raisonnés immer auch die sich jeweils verändernden Fragestellungen in den Kunstwissenschaften abbilden. Den Auftakt bilden zwei Beiträge, die diese Dynamik beleuchten: Auf einen Überblick zur Funktion und Entwicklung des Catalogue raisonné in der kunsthistorischen Forschung (Ulrich Pfisterer) folgt eine historische Einordnung des Werkverzeichnisgenres in seiner Frühzeit (Anja Grebe). Die Bedeutung von Werkverzeichnissen und ihrer Rolle im Kanonisierungsprozess von Künstlern wird an mehreren Beispielen aufgezeigt, darunter der Fall Peter Paul rubens und das Corpus Rubenianum Ludwig Burchard (Nils Büttner), die Werkverzeichnisse von Max Beckmann (Anja Tiedemann) und der Œuvrekatalog von Lotte Laserstein, einer Künstlerin, die erst spät zu Berühmtheit gelangte (Anna-Carola Krausse). Die Besonderheiten bei der Konzeption von Werkverzeichnissen noch lebender zeitgenössischer Künstler werden exemplarisch am Beispiel von Gerhard Richter skizziert (Dietmar Elger). Systematisch erweitert wird das Thema durch einen Beitrag zur Funktion von Werkverzeichnissen für Künstler oder Künstlernachlässe (Anna Kathrin Distelkamp und Friederike Hauffe). Das Œuvvre des Bauhausmeisters Johannes Itten bietet Gelegenheit, die neue Mischform des ‚Hybridverzeichnisses‘ vorzustellen (Celina Berchtold, Gerald Dagit und Christoph Wagner). Der Überblick endet mit einer Reflexion zum Œuvrekatalog im zeitalter der Digitalisierung und einer Analyse der Chancen und Herausforderungen von digitalen Anwendungen im Bereich des Werkverzeichnisses (Christian Huemer). Die zweite Sektion widmet sich unter dem t itel „Struktur, Grundlagen und Konsequenzen“ zunächst den erwarteten Standards und daraus resultierenden Anforderungen an das Werkverzeichnis im 21. Jahrhundert (Eva Wiederkehr Sladeczek). Hier möchte das vorliegende Handbuch Empfehlungen abgeben, denn bestimmte Parameter sind allen Œuvres gemeinsam, unabhängig von Epoche oder Kunstgattung: neben den grundlegenden Erkennungsmerkmalen spielt die Erforschung und systematische Erfassung der Provenienzdaten eine wichtige rolle (Ingrid Pérez de Laborda), sowie der Umgang mit Primär- und Sekundärquellen (Petra Winter). Die wissenschaftliche Entwicklung der Kunsttechnologie und die vermehrte zusammenarbeit mit den restaurierungs- und Konservierungswissenschaften ermöglichen neue Erkenntnisse im Bereich der Materialität, Maltechnik und Authentifizierung, wie die beiden nachfolgenden

Beiträge (Floria Segieth-Wuelfert sowie Gunnar Heydenreich mit Daniel Görres) aufzeigen. Ein weiterer Aufsatz widmet sich der Frage nach dem Umgang mit Abbildungsmaterial aus urheberrechtlicher Sicht (Sandra Sykora). Dies leitet über zu den möglichen Konsequenzen, die sich aus der Publikation eines Werkverzeichnisses ergeben können. Welche verantwortung tragen Autoren für die richtigkeit ihrer Angaben? Inwieweit können sie aus juristischer Perspektive haftbar gemacht werden (Friederike Gräfin von Brühl)? Wie verhalten sich Werkverzeichniseintrag und Echtheitsexpertise zueinander (Hubertus Butin)? Welche rechtlichen Folgen können Provenienzeinträge nach sich ziehen – sowohl für Werke und Eigentümer als auch für Werkverzeichnisbearbeiter (Gesa Jeuthe Vietzen und Benjamin Lahusen)? Abschließend wird der Blick auf die jeweiligen Akteure gerichtet, die Einfluss auf die Rahmenbedingungen der Produktion und rezeption von Werkverzeichnissen nehmen, sowie auf Kooperationspartner und Nutzergruppen: Was lässt sich über die Rolle des Kunstmarkts sagen (Renate Goldmann)? Und welche Funktion können fördernde Kunststiftungen einnehmen (Martin Hoernes und Aya Soika)?

In der dritten und abschließenden Sektion mit dem titel „Gattungen in der Bildenden Kunst“ geht es um genrespezifische Merkmale und Bedürfnisse, die einen wesentlichen Einfluss auf die Konzeption eines verzeichnisprojekts haben. Œuvrekataloge von Gemälden stellen im Handbuch das häufigste Fallbeispiel dar. Doch was gilt für die Dokumentation von Werken in anderen Medien, beispielsweise Zeichnungen (Christien Melzer), Druckgrafik (Dagmar Korbacher), Skulptur und Plastik (Annette Seeler), Kunstgewerbe (Christiane Heiser), Architektur (Bernd Nicolai) oder Fotografie (Siegfried B. Schäfer)? Welche neuen Herausforderungen stellen sich für die systematische Erfassung von Kunst mit zeitbasierten Medien, wie etwa Videokunst (Renate Buschmann)? Nur eine fundierte Kenntnis der jeweiligen künstlerischen Gattung ermöglicht eine adäquate Erfassung in Œuvreverzeichnissen. Gibt es darüber hinaus auch epochenspezifische Merkmale? Lassen sich zum Beispiel gemeinsame Nenner von Werkverzeichnissen der Klassischen Moderne identifizieren (Aya Soika und Gisela Geiger)? Während sich das Œuvre bis in die Moderne meistens noch nach geläufigen Formen der Werkkatalogisierung sortieren lässt, greifen im zeitgenössischen Bereich die traditionellen Ordnungssysteme und gängigen Einteilungen nach Gattungen und techniken oft nicht mehr. Insbesondere bei der Erstellung von Werkverzeichnissen der Gegenwartskunst (Eva Meyer-Hermann) müssen neue Lösungen gefunden werden, um dem veränderten Kunstbegriff und den rasanten Weiterentwicklungen in der künstlerischen Praxis gerecht zu werden.

Werkverzeichnis quo vadis?

Angesichts der vielen interessanten t hemen, die bei der Bestandsaufnahme des Genres Werkverzeichnis erörtert werden können, überrascht es, dass bislang kein Band vorliegt, der sich exklusiv mit den Merkmalen, Methoden, Funktionen und Entwicklungen des Œuvrekataloges in der Bildenden Kunst beschäftigt. Gerade die aktuelle Ausweitung der Anwendungsbereiche und digitalen Möglichkeiten macht eine Reflexion über die Aufgaben und Grenzen von Werkverzeichnissen lohnender denn je. Auf den folgenden Seiten soll versucht werden, den Status quo des Genres – in seiner dynamischen Entwicklung und mit all seinen Herausforderungen –zu umreißen.

Die Erwartungen gegenüber Werkverzeichnissen unterliegen einem steten Wandel, der in Zeiten der Auflösung von tradierten Kunstgattungsbegriffen und im Hinblick auf Digitalisierung, Provenienzdebatte und Geschlechtergerechtigkeit die Autoren von Œuvreverzeichnissen vor neue Herausforderungen stellt. Überhaupt hat sich der Blick auf den Catalogue raisonné im 21. Jahrhundert grundlegend verändert. Denn der nutzen von Werkverzeichnissen geht inzwischen weit über ihren bisherigen zweck als Instrument der kunsthistorischen Dokumentation, Authentifizierung und Nobilitierung hinaus. Neben der Aufnahme von Werken und ihrer Einordnung mithilfe von Stilanalyse und Werkvergleich, den klassischen Grundprinzipien des Genres, ist die Bandbreite der Aufgaben in den letzten Jahrzehnten stetig gewachsen und das niveau der Standards gestiegen. zum einen haben sich die Anforderungen an eine historisch fundierte Dokumentation und Quellenauswertung an der Schnittstelle zwischen Archiv- und Provenienzwissenschaften verändert. zum anderen ist nun auch die Bedeutung der kunsttechnologischen Begutachtung von Objekten ins Blickfeld von Kunsthistorikern gerückt, insbesondere bei größer angelegten Projekten.

Ein gemeinsames Merkmal von Werkverzeichnisprojekten des 21. Jahrhunderts ist ihre umfassende Herangehensweise – ein beeindruckendes Beispiel liefert das Cranach Digital Archive. In diesem und ähnlichen verbundprojekten werden sowohl einzelne Werke als auch das Œuvre in seiner Gesamtheit multiperspektivisch untersucht. Solche vorwiegend digitalen Anwendungen erweitern das klassische Format in der regel um zusätzliche Daten und Quellenhinweise sowie ergänzendes Bildmaterial, und ermöglichen durch die gelieferte Informationsfülle in verschiedenen t hemenbereichen die vernetzung unterschiedlicher Arbeitsfelder. Mit dem Erkenntnisgewinn, den ein Catalogue raisonné durch historische t iefenrecherche und interdisziplinäre Ansätze hervorbringen kann, sind auch die Erwartungen seiner nutzer gewachsen. Ein umfangreicher Œuvrekatalog wird insbesondere von Personen geschätzt, die das verzeichnis mit Blick auf ihre eigenen tätigkeitsbereiche als nachschlagewerk nutzen: Je mehr Informationen bereitgestellt werden, desto nützlicher erweist sich der Catalogue raisonné, zum Beispiel auf dem Gebiet der Provenienzforschung oder der Kunsttechnologie.

Die Frage der Publikationsform: Print, digitale Anwendung oder beides?

Aus dieser Entwicklung resultiert die Frage der Publikationsform und zukünftigen rolle des gedruckten Buches, die zunehmend auf dem Prüfstand steht. Denn der klassische Œuvrekatalog bietet in der regel nicht ausreichend Platz für eine Dokumentation mit Anmerkungsapparat, zum Beispiel für Angaben zur Provenienz mitsamt Quellennachweis, die heute in ausführlicher Form erwartet werden. Was einst die Druckseite beschränkte, öffnet sich in der Weite des digitalen raumes: Anmerkungen, Querverweise, direkte verlinkungen auf Literatur, andere Werke, Datenbanken und normdaten sowie ergänzendes Bildmaterial können reichhaltig bereitgestellt werden. Digitale Anwendungen sind in der Lage, eine neue Form von Werkdokumentation, ja Werkerlebnis zu schaffen und kommen so unserem Erwartungs- horizont vom ‚perfekten Werkverzeichnis‘ am nächsten. Es scheint, als würde der Catalogue raisonné erst im digitalen zeitalter sein Potenzial als nachschlagewerk voll entfalten. zudem können öffentlich abrufbare Onlineprojekte der eingeschränkten zugänglichkeit des gedruckten Werkverzeichnisses ein Ende bereiten. Die Auflagen von Printbänden sind in der regel klein, ihre verkaufspreise für viele Privatpersonen unerschwinglich und noch dazu sind sie platzraubend im regal. Um sie einzusehen, ist meist der Gang in eine Fachbibliothek unumgänglich. Das wiederum kann Auswirkungen auf die rezeption von Print ausgaben haben. Für Buchliebhaber, die auf die vorteile von gedruckten Bänden nicht verzichten wollen, kann das hybride Format einen Kompromiss darstellen. zur ‚tragik‘ des gedruckten Werkverzeichnisses gehört außerdem, dass es trotz des suggerierten Ideals der Vollständigkeit zwangsläufig nur eine Momentaufnahme sein kann und zum zeitpunkt seiner Herstellung meistens bereits überholt ist. Ein Werkverzeichnis ist work in progress: Lücken müssen in Kauf genommen werden, auch Irrtümer sind angesichts der zu verarbeitenden Datenmengen nicht auszuschließen. vor allem aber entwickelt sich der Forschungsstand zu verzeichneten Werken kontinuierlich weiter, sodass eine regelmäßige Aktualisierung erforderlich ist. An sich ist die Erfassung also nie abgeschlossen.

Das Werkverzeichnis als Langzeitprojekt

Aufgrund seines Umfangs reicht die Lebenszeit eines einzelnen Autors manchmal nicht aus, um die erste Dokumentation eines Œuvres abzuschließen, sodass das Werkverzeichnis zu einem über Generationen andauernden Langzeitprojekt werden kann. Einzelne Werkverzeichnisse stellen daher oftmals eher einen zwischenstand dar. Im Hinblick auf diese Erkenntnis ist die Auseinandersetzung mit der Autorennachfolge frühzeitig anzuraten. Ebenso sollten digitale Publikationsformate in Betracht gezogen werden, die fortlaufend aktualisiert werden können. Die Erfassung eines umfangreichen künstlerischen Œuvres stellt für einen einzelnen verfasser nicht selten ein ambitioniertes Unterfangen dar. Umso wertvoller kann die Auswertung von vorarbeiten sein, die bis in die Lebenszeit des Künstlers zurückreichen können. Im Idealfall existieren früh angelegte Werklisten oder andere Inventarverzeichnisse. Ihnen kann als Ausgangspunkt für die systematische Werkerfassung eine herausragende Bedeutung zukommen. Umgekehrt ergeben sich aus fragmentarischen oder fehlenden Quellen Lücken, die den Kenntnisstand nachhaltig beeinträchtigen können. Je weiter ein Künstlerleben zurückliegt, desto schwieriger ist es in der regel, auf historisches Quellenmaterial zurückzugreifen.

Bei der nutzung eines Werkverzeichnisses älteren Datums ist es durchaus hilfreich herauszufinden, welche Voraussetzungen der Dokumentation zugrunde lagen. Hier kann zur historiografischen Einordnung die Kenntnis der individuellen Entstehungs- und oftmals Leidensgeschichte des Projekts aufschlussreich sein. Die vom verfasser gewählte Systematik und die bearbeiteten Inhalte sind in der regel ein Abbild der zur verfügung stehenden Möglichkeiten. So geht zum Beispiel aus den meisten Werkverzeichnissen nicht hervor, welche der dokumentierten Arbeiten im Original begutachtet werden konnten und was diese Ansicht beinhaltete, oder auf welchen Quellen die Einträge zur Provenienz eigentlich beruhen. Im traditionell erfolgte die Aufnahme von Werken in den Catalogue raisonné anhand der stilistischen Objektanalyse durch den Bearbeiter, dem als ‚Connaisseur‘ diese Entscheidung meist allein zufiel ( Abb. 1). Damit galt in der Regel die Echtheit als bestätigt. Durch den Werkverzeichniseintrag erübrigte sich oftmals bei zukünftigen verkäufen eine erneute Prüfung. Diese Form des ‚ zweiaugenprinzips‘ anhand solch begrenzter Kriterien – und vor allem auch die bis heute verbreitete Praxis, sich damit zu begnügen – dürfte spätestens seit den Fälschungsskandalen der letzten Jahrzehnte als zu oberflächlich gelten. Dennoch kommt dem Werkverzeichnis im

Laufe der letzten Jahrzehnte sind die Ansprüche an eine transparente, nachvollziehbare Dokumentation gestiegen, sodass in zahlreichen Fällen Überarbeitungen von bereits vor Jahrzehnten publizierten Werkverzeichnissen wünschenswert wären.

Das Werkverzeichnis als Garant für Authentizität?

Rahmen einer Authentifizierung traditionell eine zentrale Rolle zu, da es in der Vergangenheit als vornehmliches ziel von Œuvreverzeichnissen galt, alle Werke von der Hand eines Künstlers gesammelt zu erfassen. Ergänzt um eine Herkunftsgeschichte aus renommierten Kunstsammlungen trug der publizierte Œuvrekatalog somit lange zeit zur nobilitierung der Werke bei und wurde als Garant für die Echtheit der in ihm aufgelisteten Objekte gedeutet. Der vorliegende Band erläutert, warum diese Annahme ein trugschluss sein kann und weshalb die Dokumentation einer Arbeit im Werkverzeichnis nicht notwendigerweise einer Echtheitsgarantie gleichkommt, es mitunter sogar fahrlässig sein kann, die Authentizität allein aufgrund der Aufnahme im Werkverzeichnis, und ohne veranlassung weiterer Prüfungen, vorauszusetzen. Insbesondere bei Künstlerinnen und Künstlern mit einem hohen Marktwerkt gilt der verweis auf die Aufnahme des Objekts in den Catalogue raisonné heute nicht mehr als ausreichender Beleg der Echtheit. Es sollte auch bedacht werden, dass sich der Forschungsstand ändern kann und dass zu- und Abschreibungen teil des kunsthistorischen Diskurses sind. Im Falle von Alten Meistern wie beispielsweise Lucas Cranach d. Ä., rembrandt oder rubens kommt erschwerend die zuschreibungsproblematik mit Blick auf Werkstattarbeiten hinzu. Auch hier kann der empirische Dokumentationscharakter eines Catalogue raisonné in Buchform darüber hinwegtäuschen, dass wir es in Wirklichkeit lediglich mit einem jeweiligen historischen Forschungsstand oder der Einschätzung eines einzelnen verfassers zu tun haben.

Das Werknarrativ

Es gibt also unterschiedliche Gründe, warum das ‚klassische‘ Werkverzeichnis als referenzwerk unter Umständen nicht mehr den heutigen Ansprüchen genügt. Im Bereich der zeitgenössischen Kunst kann erschwerend hinzukommen, dass sich die gängigen Ordnungssysteme für eine Erfassung nur noch bedingt eignen. Es stellt sich die Frage, wie Werke katalogisiert werden können, die sich bewusst den Prinzipien von Originalität, Materialität oder Autorschaft entziehen. Oder wie der Umgang mit einem Œuvre aussehen könnte, bei dem die Einteilung nach Gattungen oder die stringente numerische Abfolge der künstlerischen Intention zuwiderläuft. Ist es überhaupt möglich, ein geeignetes Ordnungssystem für einzelne Arbeiten oder ganze Werkserien zu entwickeln, die sich dem taxonomischen Prinzip bewusst widersetzen? Die von einem veränderten Künstler- und Kunstverständnis zeugende Konzeptkunst zum Beispiel sprengt den etablierten Gattungskanon und verlangt flexible Lösungen bei ihrer Erfassung. Eine angemessene Dokumentation beruht nicht zuletzt auf dem verständnis des Werks und seiner Bedürfnisse; darunter kann auch das Abwägen zwischen der Intention des Künstlers und der womöglich davon abweichenden eigenen Deutung fallen. Wenn Gerhard richter sich im bisher sechsbändigen Catalogue raisonné über die rigiden Ordnungsprinzipien des klassischen Œuvrekatalogs hinwegsetzt, dann liefert dies wichtige Einblicke in das Selbstverständnis eines zeitgenössischen Künstlers, in dessen Werk eine strikte Kategorisierung nach techniken dem Œuvre ebenso wenig gerecht wird wie der Anspruch auf vollständigkeit. Der Grundsatz, dass Werkverzeichnisse sich an die Kunst, die in ihnen dokumentiert wird, anpassen müssen, gilt heutzutage mehr denn je. Gleichzeitig sollte auch reflektiert werden, dass die getroffene Auswahl und die Konzeption einer Katalogstruktur das ‚Werknarrativ‘ mitgestalten. Das bedeutet, dass nicht nur das Œuvre den Catalogue raisonné beeinflusst, sondern dass umgekehrt die gewählte Form ganz erhebliche Konsequenzen für die spätere rezeption des jeweiligen Gesamtwerks haben kann. Es sollte also mitbedacht werden, dass die zukünftigen Lesarten des künstlerischen Schaffens durch inhaltliche und formale Entscheidungen, zum Beispiel zur Auswahl und Anordnung von Werken, beeinflusst werden können. Die Auswirkungen, die sich für das jeweilige Werknarrativ ergeben, können langfristig sein. Die verantwortung, die ein Bearbeiter übernimmt, ist damit beträchtlich.

Vernetzung: Chancen und Ausblick

Die ausgeführten Aspekte zeigen auf, wie vielfältig und anspruchsvoll die Erstellung eines Werkverzeichnisses sein kann. Das zunehmende Bewusstsein für die Herausforderungen in diesem Bereich führte unter anderem dazu, dass bereits 1993 in den USA die Catalogue Raisonné Scholars Association (CRSA) gegründet wurde. Ihr Hauptanliegen ist, den Interessen von Wissenschaftlern und all denjenigen, die sich mit der Erstellung von Werkverzeichnissen befassen, als Informations- und Unterstützungsplattform zu dienen. Mit ähnlichen Absichten gründete sich 2018 in Deutschland der Arbeitskreis Werkverzeichnis und 2019 in Großbritannien die International Catalogue Raisonné Association (ICRA). Diese Vereinigungen machen deutlich, dass nicht nur in den Kunstwissenschaften ein großes Bedürfnis besteht, Herausforderungen aufzuzeigen und Überlegungen zur Standardisierung und Best Practice zu erarbeiten. Im Arbeitskreis Werkverzeichnis sind meist freiberuflich arbeitende Kunsthistoriker vernetzt, während das Konzept der ICr A das Angebot juristischer Expertise als Dienstleistung einschließt. Die Existenz dieser Gruppen zeugt nicht zuletzt auch vom Bewusstsein, dass eine vernetzung von Experten Synergien schaffen kann und dem Erkenntnisgewinn aller Beteiligten zuträglich ist.

Mit dem Handbuch Werkverzeichnis haben wir versucht, relevante t hemen aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, in einem Band zusammenzufassen und für Interessierte nachlesbar zu machen. natürlich ist uns bewusst, dass damit – auch wenn oder gerade weil der Sammelband ein Desiderat in der Forschung erfüllt – das t hema nicht abschließend bearbeitet ist. Wir hoffen, dass dieser Band einen Auftakt für weitere Publikationen auf dem Gebiet bildet.

Dank

Die realisierung dieses Handbuches ist an erster Stelle den zahlreichen engagierten Autorinnen und Autoren zu verdanken, die mit ihrem Fachwissen mitgewirkt und sich mit großem Einsatz auf das Projekt eingelassen haben. Die kollegiale zusammenarbeit mit allen Beitragenden war uns eine große Freude. Natürlich wäre die Publikation dieses Handbuches ohne finanzielle

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