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Einen sicheren Ort finden und einnehmen
by de’ignis
Stabilisierungsübungen in der therapeutischen Praxis bei posttraumatischer Belastungsstörung.
Von Annemarie Wolf
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•Im Rahmen meiner Arbeit als Krankenschwester im Gesundheitszentrum der de’ignis-Fachklinik bin ich unter anderem als Co-Therapeutin mit der Aufgabe betraut, bei traumatisierten Patient*innen stabilisierende Übungen (sog. Imaginationsübungen1) durchzuführen. Nach einer kurzen theoretischen Erläuterung möchte ich vor allem über meine Erfahrung in der Praxis und über die Erfahrungen der Patient*innen selbst berichten. Imaginationsübungen werden im ambulanten und klinischen Bereich vor allem bei früh- und komplex traumatisierten Menschen eingesetzt. Unter einem Trauma wird ein Ereignis verstanden, das von jedem Menschen als extrem belastend erlebt werden würde. Der*die Betreffende erlebt außergewöhnliche Situationen, in denen er*sie lebensbedrohlichen Gefahren oder Handlungen ausgesetzt war. Auch das Miterleben solcher Situationen wird als Trauma gewertet. Derart belastende Erlebnisse können zu Auslösern für verschiedenste psychische Störungen werden, unter anderem zur
Posttraumatischen Belastungsstörung. (Die Kriterien für eine PTBS-Diagnose können im vorherigen Artikel nachgelesen werden.) Wenn wir uns die Symptome einer Traumafolgestörung vor Augen führen, dann wird klar, dass Betroffene ganz erheblich leiden. Das gesamte Leben und Erleben Betroffener kann destabilisiert werden: Sie haben die Erfahrung gemacht, die Kontrolle verloren zu haben, hilflos ausgeliefert gewesen zu sein. Eine besonders entscheidende Folge ist der Verlust von Sicherheit: Betroffene fühlen sich so, als könnte jederzeit wieder etwas Schreckliches passieren, als wären sie nicht mehr sicher. Dieser zum Teil ganz erheblichen Instabilität wird in der Begleitung von Traumatisierten mit Stabilisierungsübungen begegnet. Stabilisierung ist Teil jeder Traumatherapie. Um Stabilisierung zu erreichen, gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie Achtsamkeitsübungen, imaginative Techniken, kognitive Umstrukturierung, körperorientierte Verfahren und andere. Eine wirksame Methode sind die imaginativen Techniken, die ich im Anschluss näher erläutern werde:
Viele imaginative Techniken stammen aus der PITT (Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie), entwickelt von Louise Reddemann (ehem. Leitung der Klinik für Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin des Ev. Johannes-Krankenhauses in Bielefeld) und werden besonders dann eingesetzt, wenn plötzlich auftauchende überwältigende Gefühle und Bilder den*die Betroffene überfluten. Sie dienen der Stabilisierung und Selbstberuhigung und sollen dem bedrohlichen Erleben (den „FlashBacks“) und den wiederkehrenden Erinnerungen (Intrusionen2) etwas entgegensetzen. Hierbei bekommt die betroffene Person auch das Gefühl, nicht mehr so ohnmächtig und hilflos dem Geschehen ausgesetzt zu sein. Ebenso eignen sich die Übungen gut zur Vorbereitung einer Traumaexposition und werden in manchen Therapieformen auch dafür verwendet.
Erfahrungen aus der Therapie mit der Übung „Sicherer Ort“ Bei einer der Patientinnen handelte es sich um ein schweres Trauma mit emotionaler als auch körperlicher Gewalt insbesondere in der Kindheit. Schon zu Beginn der Therapie klagte die Betroffene über auftauchende Bilder und Erinnerungen von bedrohlichem Charakter. Daher wurde früh eine Stabilisierungsmaßnahme eingeleitet, die vor allem aus der so genannten „Sicheren Ort-Übung“ bestehen sollte. Diese Übung dient dazu, die Erfahrung von absoluter Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Dies ist jedoch nicht immer leicht, da die Erde oder ein beliebiger Platz auf der Erde unter Umständen alles andere als ein solcher sicherer Ort sein kann. Mit Hilfe der Vorstellungskraft jedoch gelang es der Patientin, einen „Sicheren Ort“ zu finden, an dem sie sich wohl fühlte. Die Imagination förderte dabei ihre innere Wahrnehmung und reaktivierte Ressourcen. Diesen Prozess konnte ich in den Übungen mit meiner Patientin gut verfolgen. Bei der ersten Sitzung sollte sie sich zunächst einen inneren sicheren Ort vorstellen, der, obwohl noch undeutlich und verschwommen, ihr bereits ein erstes Gefühl von Geborgenheit, Licht und Wärme ermöglichte. Schon bei der zweiten Übung schien es ihr leichter zu fallen, in der Vorstellung an ihren „Sicheren Ort“ zu gehen und sie berichtete mir voller Freude, sie habe ihren „Sicheren Ort“ mehr ausgestalten können. Auch in den nächsten Sitzungen konnte sie noch Details hinzufügen, und allmählich wurde sie in die Lage versetzt, diese Übung selbstständig unter Verwendung des zuvor vereinbarten körperlichen Zeichens, mit der die Vorstellung verankert wird, anzuwenden. Sie berichtete mir, dass es ihr zu Hause gelungen sei, durch den „Sicheren Ort“ eine Distanzierung bedrohlicher Bilder zu erreichen. Bei einer weiteren Patientin gelang es zunächst nicht, mit Hilfe der Imagination den „Sicheren Ort“ zu erreichen. In der Nachbesprechung arbeiteten wir heraus, dass ihr ein wichtiges Detail fehlte, um an ihrem „Sicheren Ort“ überhaupt landen zu können. Die Patientin selbst machte den Vorschlag, ihren „Sicheren Ort“ für sich alleine zu malen, um ihn sich konkreter vorstellen sowie das für sie wesentliche Detail ergänzen zu können. Bei einer weiteren Sitzung nun wurde der Ort in ihrer Vorstellung „vollständig“ und es gelang ihr ebenfalls, dorthin zu kommen. Auch diese geplagte Patientin berichtete von dem wohltuenden Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit.
Hinweise zur Durchführung der Übung: Um die Imaginationsübung des „Sicheren Ortes“ durchführen zu können, bedarf es als Voraussetzung eines zuvor aufgebauten therapeutischen Vertrauensverhältnisses. Immerhin vertrauen sich die Patienten dem *der Co-Therapeut*in mit einem sehr intimen inneren Erleben an. Vor Beginn der Übung wird der*die Patient*in sowohl über die Durchführung als auch den Sinn der Imagination informiert. An einem verkürzten Beispiel nach Luise Reddemann möchte ich verdeutlichen, wie die betroffene Person in die Entspannung hineingeführt wird: „Ich möchte Sie jetzt zur Übung des „Inneren Sicheren Ortes“ einladen. Wenn Sie die Übung gerne machen möchten, schauen Sie jetzt in Ihrer Vorstellung nach einem „Sicheren Ort“, an dem Sie sich absolut sicher und wohl fühlen. Lassen Sie also Gedanken, Vorstellungen und Bilder aufsteigen von einem solchen Ort, an dem Sie sich ganz wohl und geborgen fühlen. Geben Sie diesem Ort eine Begrenzung ihrer Wahl, die so beschaffen ist, dass nur Sie bestimmen können, welche Lebewesen an diesem Ort sein sollen, oder dürfen ...“ Nach der Ankunft am „Sicheren Ort“ wird die Person gebeten, es entweder mit einem Handzeichen, oder auch mit Worten zu signalisieren. Man gibt ihr die Freiheit, den „Sicheren Ort“ zu beschreiben; wenn sie das aber nicht will, ist es auch in Ordnung. Wichtig ist, dass sie sich bequem, sicher und geborgen fühlt. Danach folgt eine Anleitung zum Wahrnehmen des Ortes: Was sehen Sie, was hören Sie, was fühlen Sie, was riechen Sie? Die übende Person wird aufgefordert, ihren Ort in allen Sinnesqualitäten noch einmal bewusst wahrzunehmen, danach soll sie dann mit sich selbst ein körperliches Zeichen verabreden und ausführen, mit dessen Hilfe sie jederzeit an ihren „Sicheren Ort“ gehen kann. (Dieses Vorgehen wird als „ankern“ bezeichnet) Schließlich wird sie behutsam
in den Therapieraum zurückgeholt, wobei zu beachten ist, dass der*die „Rückkehrer*in“ wieder ganz im „Hier und Jetzt“ ist. Eine Nachbesprechung ist unbedingt wichtig, um zu sehen, ob und wie die Übung gelungen ist. Es kann sein, dass der*die jeweilige Patient*in z.B. sagt, den „Sicheren Ort“ nicht gefunden zu haben, oder dass es diesen für ihn*sie nicht gäbe, usw. Hier ist dann ein ermutigender, Sicherheit vermittelnder Hinweis unterstützend, dass es einige Male des Übens bedarf, bis sich konkrete, heilsame Innen-Bilder entwickeln. Ein Vorschlag wäre auch, in der nächsten Sitzung die gleiche Imaginationsübung als begleiteten Dialog durchzuführen, damit der*die Anleiter*in durch Nachfragen während der Visualisierung an Stellen weiterhelfen kann, an denen es schwierig ist, sich Bilder vorzustellen oder auszugestalten. Weitere Ideen wären, den Sicheren Ort zu malen, oder im Gespräch zunächst herauszufinden, wie denn ein solcher Ort beschaffen sein müsste, um sich darin sicher zu fühlen. Hierbei werden Ressourcen und Kreativität der traumatisierten Person gefördert, für sich selbst sorgen zu lernen. Bei starkem Gefühl von Einsamkeit am „Sicheren Ort“, den ja kein anderer Mensch betreten können soll (Sicherheitsaspekt), ist Ermutigung notwendig, dass es ungewohnt, jedoch sehr wichtig ist, die Erfahrung zu machen, sich nur in sich und mit sich selbst auch sehr wohl fühlen zu können. Ergänzend kann allenfalls die Möglichkeit in Anspruch genommen werden, sog. „Innere Helfer“ (keine Menschen) mitzunehmen. Diese können z.B. Symbole sein wie eine „schöne Kette“, ein Haustier aus früheren Zeiten oder ein wichtiges Buch, die in der Vorstellung mitgenommen werden können.
Neben der Möglichkeit den sicheren Ort einzuüben, gibt es weitere Imaginationsübungen, die evtl. in Frage kommen. Hierbei wird der Patientin oder dem Patienten schon ein Bild bzw. eine Idee zur Imagination angeboten, in dem er*sie sich bewegen kann, um die innere Situation zu beherrschen. Immer geht es darum, nicht den Ohnmachtsgefühlen oder unangenehmen Erinnerungen und Bildern ausgeliefert zu sein. Eine solche Übung wäre etwa der innere Helfer, die Tresorübung, die Baumübung, das innere Team und ähnliche Übungen (hierzu gibt es Literatur mit Anleitungen). Eine Übung, die sich als besonders hilfreich erwiesen hat, wenn sich Gedanken oder Erinnerungen aufdrängen, die man in diesem Moment nicht bearbeiten kann oder will, ist die Tresorübung, die ebenfalls von Luise Reddemann beschrieben wurde. Hierbei stellt man sich einen Tresor vor oder auch ein Bankschließfach o.ä. Wichtig ist, dass der Tresor absolut ein-, auf- und ausbruchssicher sein muss. Manchmal braucht man dazu noch zusätzliche Schlösser und Sicherungen. In diesen Tresor werden die Inhalte gepackt und sicher verschlossen, die man gerade nicht gebrauchen kann. Menschen, z.B. Täter werden nicht eingeschlossen. Wichtig ist, dass nur der Patient/ die Patientin den Tresor öffnen kann, zum geeigneten Zeitpunkt oder auch nie. Eine weitere Möglichkeit für eine Stabilisierung von traumatischen Personen ist das Einüben von Achtsamkeit. Achtsamkeit ist eine innere Haltung. Es ist ein bewusstes Wahrnehmen/Achtgeben auf das Hier und Jetzt, sozusagen das Umlegen des Schalters vom automatischen Funktionieren auf bewusstes Erleben und Wahrnehmen. Nicht in der Vergangenheit oder Zukunft sein, sondern ganz im Jetzt. Was denke ich jetzt gerade, was höre ich, was fühle ich, was sehe ich …, also ein Wahrnehmen der momentanen Situation, der Gefühle, Gedanken, Handlungen, Sinneseindrücke. Wahrgenommen werden kann die Außen- und die Innenwelt. Beides führt dazu, sich selbst mehr „gewahr zu werden“. Achtsamkeit ist wertfrei und ohne Zweck: Ich nehme mich wahr, ich darf sein. So wie es jetzt ist, ist es gerade, ich bewerte es nicht, ich richte mich nicht, ich bin einfach, mit allen Gefühlen, Gedanken, Eindrücken. Durch Achtsamkeit kann gelernt werden bewusster zu leben, zu genießen, loszulassen, zu entdecken, Ruhe zu finden, mitfühlender zu werden, und mit sich selbst gnädiger zu werden. Allerdings will es geübt sein, seinen Fokus im Hier und Jetzt zu halten. Für solche Übungen gibt es viele verschiedene Anregungen, die je nach Bedarf eingesetzt werden können. Genug einschlägige Literatur ist hierfür vorhanden. Der*die Therapeut*in darf hier kreativ werden: Zum Beispiel in die Natur gehen, ein Achtsamkeitsspaziergang ausprobieren, eine Atemübung, eine Tastübung und anderes. Ein gewisses Maß an Selbsterfahrung wäre von Vorteil, um besser nachspüren zu können, wie es dem*der Klient*in dabei geht, wie kann es gelingen ins Hier und Jetzt zu kommen, in der Realität zu bleiben?
Ergänzend zur Therapie möchte ich besonders für gläubige Menschen noch die Möglichkeit des Gebets erwähnen. Das Gebet soll nicht die Therapie ersetzen, kann aber eine unterstützende Möglichkeit sein, denn das Gebet eines Gläubigen vertraut ja auf Gott, den Vater im Himmel, der helfen, tragen und unterstützen kann. Wichtig wäre hier eine Klärung, ob ein Zugang zum Glauben besteht, ob es gewünscht ist und welche Erfahrung die betreffende Person damit gemacht hat.
Fußnoten 1 Imagination: bildhafte Vorstellung, begleitet von Sinneswahrnehmungen Hören, Riechen, Sehen 2 Intrusionen: sich aufdrängende Vorstellungen, eindringende oder einschießende Gedanken, Gefühle, Erinnerungen
Autorin Annemarie Wolf arbeitet als Krankenschwester im de’ignis-Gesundheitszentrum in Egenhausen.