Demir Kucukaydin - Ins Deutsche Ubersetzte Texte - V3

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Demir Küçükaydın Ins Deutsche Übersetzte Texte 1

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Ins Deutsche Übersetzte Texte (Almanca’ya Çevrilmiş Yazılar)

Demir Küçükaydın Üçüncü sürüm Mart 2013

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Ins Deutsche übersetzte Texte

INHALT

Das Historische Schicksal des wissenschaftlichen Sozialismus ..................................................... 5 "Entweder paßt Du Dich an – oder Du riskierst Dein Leben" ...................................................... 15 Die Linke in der Türkei ................................................................................................................. 19 Ursprünge .................................................................................................................................. 19 Erinnerungswürdige Entwicklungen von 1920 - 1950: ............................................................. 21 Einige Besonderheiten der ökonomischen und der Klassenverhältnisse in der Türkei............. 21 Die zweite Geburt ...................................................................................................................... 23 Masseneinfluss 1974 - 1980 ...................................................................................................... 29 Spaltung der Arbeiterklasse....................................................................................................... 31 Anti - faschistischer Kampf ....................................................................................................... 32 Synchronisierung ....................................................................................................................... 33 Massenbewegung ...................................................................................................................... 33 Ein paar Beobachtungen bezüglich Gegenwart und Zukunft .................................................... 34 Kehrtwende ............................................................................................................................... 34 Exil ............................................................................................................................................ 35 Der Platz Kıvılcımlı’s im Rahmen der Entwicklung des historischen Materialismus .................. 37 Marxismus und die Welt von heute............................................................................................... 45 Die Kurdische nationale Befreiungsbewegung und die PKK ....................................................... 52 Einige Besonderheiten der PKK................................................................................................ 52 Die kurdische nationale Bewegung und die Schwierigkeiten und Grenzen der PKK .............. 57 Zusatznotiz über das Verbot der PKK ........................................................................................... 62 Wer zu schnell geht, den bestraft das Leben ................................................................................. 64 Zukunft und Vergangenheit befreien ............................................................................................ 68 Der Vorsitzende der kurdischen nationalen Befreiungsbewegung ist eine Geisel in den

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Händen seiner Feinde .................................................................................................................... 85 Türkische Initiative zur Verteidigung des Lebens von Abdullah Öcalan ..................................... 87 Politische Einordnung der Entführung ...................................................................................... 87 Recht auf Asyl ........................................................................................................................... 88 Bedeutung für die kurdische und türkische Bevölkerung ......................................................... 89 Warum unsere Initiative? .......................................................................................................... 89 Die Anklage gegen Abdullah Öcalan und seine Folgen................................................................ 91

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Das Historische Schicksal des wissenschaftlichen Sozialismus Schlagt auf, die Publikationen, die die Anschauungen der "Kommunistischen und Arbeiterparteien" zur Sprache bringen, -. z. B. die wie "Probleme des Friedens und des Sozialismus" oder "Kommunismus; "Theorie und Praxis" -schlagt auf die Bücher und Zeitschriften aus China, Albanien oder der Eurokommunisten, schlagt auf die Publikationsorgane unserer einheimischen Strömungen oder Parteien wie TIP (Arbeiterpartei der Türkei), TSIP (Sozialistische Arbeiterpartei der Türkei), TKP. (Kommunistische Partei der Türkei), Halkin Kurtulusu (Befreiung des Volkes), Halkin Birligi (Einheit des Volkes), Halkin Yolu (Weg des Volkes) u. a. , Kurtulus (Befreiung) oder Devrimci Yol (Revolutionärer Weg) oder Birlik Yolu (Weg der Einheit), die von den oben genannten inspiriert worden sind. Von der ersten bis zur letzten Seite sind sie voll mit Kauderwelsch. Sie werden keine Bemühung feststellen können um eine einzige eigene Analyse, um eine einzige neue Idee; um die Begreifung der Wirklichkeit in ihrer gesamten Kompliziertheit. . . Genauso wie im Mittelalter des Westens; die ständige Wiederholung des Gleichen. Interpretation über die Bücher und Worte der alten Meister, indem ihnen der wahre Inhalt, die revolutionäre Seite beraubt wird. . . Scholastik oder Metaphysik beherrscht all diese Schreiberei, sowie der kleinbürgerliche Revolutionarismus und bürgerliche Sozialismus die ganze Politik und Organisationen beherrschen . . . Was ist geschehen? Wie kam es dazu, daß solch eine von Anfang bis Ende kritische und revolutionäre Lehre wie der Marxismus einer solchen Degeneration ausgesetzt ist. Richtiger gesagt, wie kam es dazu, daß die vor Hunderten Jahren erledigte Scholastik und Metaphysik in marxistischer Bekleidung das Wesen des Marxismus erwürgt hat? Wenn ihn nicht erwürgen können, doch unscheinbar gemacht. Der im wahrsten Sinne des Wortes revolutionäre und kritische Marxismus-Leninismus wurde Feuer verbrannt; in den Kerkern zum Verderben verurteilt; verachtet; beleidigt; mit Fußen getreten; auf dem Boden zum Kriechen verurteilt und immer noch verurteilt wird. . . Und sogar durch welche? Gerade durch die "Marxisten-Leninisten", die sich an die Spitze der "Sozialistischen" oder "Kommunistischen" Parteien oder Länder gesetzt haben . . . Dieser Zustand ist die WIRKLICHKEIT. . . eine GEGEBENHEIT. Kein Revolutionär, der die Werke von Marx, Engels, Lenin einigermaßen gelesen hat und die Ereignisse seiner Epoche begreifen will, kann nicht umhin, diese Gegebenheit festzustellen. Es reicht nicht aus, gegen diese Gegebenheit zu rebellieren, sich zu empören. Sie ist zu verstehen und zu erklären. Diese Gegebenheit kann nicht durch die Charaktereigenschaften mancher Individuen (sie können ein Stalin, Mao oder welch andere sein) und durch Zufälle, durch idealisierte Normen erklärt werden . . . Durch welche Prozesse; durch Einfluß welcher unscheinbaren, ungeheuer tiefgreifenden Strömungen konnten jene Individuen, jene Parteien und Strömungen in solcher Art emporkommen, beherrschend werden? Infolge welcher Bedingungen schlugen die Eigenschaften der Individuen oder ihre Charaktereigenschaften

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und Auffassungen - in das Positive um, die sich in einer anderen Periode negativ auswirken könnten? Diesen tiefgreifenden und ungeheuren Prozeß versuchen wir zu erklären mit Hilfe des Heranziehens eines historischen Vergleiches. Wir sind uns der Gefahr der Vergleichungen bei der Analyse der gesellschaftlichen Ereignisse bewußt. Aber, wenn Vergleichungen nicht zum Zwecke der Analyse, jedoch zur Erklärung einer, schon analysierten Gegebenheit eingesetzt werden, davon als dialektisches Mittel Gebrauch gemacht wird, wird dies nützlich. Nachdem das Menschenskind in der ersten sumerischen Stadt die Schrift entdeckte, das Wissen sammelte, hatten die griechischen und römischen Zivilisationen, die diese mehrere tausendjährige ungeheure Wissensammlung zu einer Synthese geführt, verallgemeinert, philosophische und wissenschaftliche begriffliche Mittel entwickelt. Der größte und systematische Denker der antiken Epoche, Aristo, tastete gewissermaßen hier und da die Grenzen der Dialektik an. Das ganze Wissen seiner Epoche befähigend systematisierte er mit Hilfe der von ihm entwickelten Begriffe und Kategorien. Jedoch konnte die bis dahin erreichte Geschwindigkeit die erworbene Wissensammlung auf dem Weg von Unkenntnis zur Kenntnis kein weiteres Fortgehen ermöglichen. Eine Periode des Rückschritts und des Niedergangs brach ein. Die Woge der Barbaren Völker, die noch schriftunkundig war, die die mehrere tausendjährige Kultur und Wissensammlung der Zivilisation nicht verdaute, überflutete die Höhen des. Wissens und der Philosophie der antiken Zivilisation im Mittelmeer mit ihrer ganzen Dunkelheit, Unwissenheit und Rückständigkeit. "Sintflut" ertrank die Materie der Zivilisationen wie ihre Seele. "Nach dem Niedergang der alten Mittelmeer Zivilisationen Überfielen die Barbaren Europa. Die dadurch eröffnete Epoche des Feudalismus führte bis zum XIII. Jahrhundert ihre Herrschaft gewissermaßen bedingungslos fort. " (Dr. H. Kivilcimli "Diyalektik Materyalizm", S. 33) Im Laufe dieses tausendjährigen Mittelalters1 wurden nur die alten Texte und heiligen Bücher durch offizielle Interpretationen der Kirche ständig wiederholt. "Die damalige soziale Entwicklung Und aufgrund dessen auch der Wissensstand hatte sich nicht weiter entwickelt als in der antiken griechischen Gesellschaft, blieb sogar in dir Anfangszeit merkbar rückständig. Solange die feudale Gesellschaft nicht fortschrittlicher war als die antike griechische Gesellschaft, kamen die Ideen (Auffassungen) des Mittelalters nicht weiter als die der alten Philosophen. Deswegen reichten die Bestimmungen der alten Bücher anhand der Vergleiche für die neuesten Diskussionen aus. Die scholastische Methode wurde nicht überwunden. " (Dr. H. Kivilcimli, ebenda, S. 31)

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Um den Gegenstand (Thema) vereinfacht erklären zu können, Detail fragen nicht zu behandeln, haben wir ein Zugeständnis an die eurozentrische Geschichtsauffassung gemacht. Sonst gibt es in der Antikgeschichte mehrere Mittelalter. Das westliche Mittel alter ist nur eines darunter. Sein einziger Unterschied von den anderen ist, daß es nicht zu einer neuen antiken Zivilisation, sondern zur modernen (kapitalistischen) Zivilisation geführt hat.

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Vor den Gegebenheiten, vor jeder Sache, die mit der offiziellen Lehre im Widerspruch stand, wurden die Augen verschlossen. Diejenigen, die wenigstens ihrer selbst durch Augenverschließen die Anerkennung und Wahrheitsliebe nicht verloren haben, die Dogmen und Glaubensartikel bezweifelten, oder ohne zu bemerken die Dogmen zerstörende Entdeckungen gemacht haben; die den Dogmen widerstehenden Auffassungen vertreten haben, wurden durch Hexentreibereien im Feuer verbrannt, durch die höchst folterischen und qualvollsten Tötungen vernichtet. Jedoch, trotz alledem, wurde in dieser tausendjährigen Dunkelheit eine gewisse Wissensammlung vollbracht. Die Menschen, die die Höhen der Wissenschaft vor Tausend Jahren erklommen haben, fingen an, sie wieder zu erklimmen. Die Werte des antiken Griechenlands und Roms im Bereich der Wissenschaft, Kunst und Philosophie wurden auf die Erdoberfläche, oder von den verstaubten Regalen ans Tageslicht geholt. Die antiken Zivilisationen wurden von Neuem "entdeckt". Das Gewußte wurde mit ganz anderen Augen interpretiert. Diese "Humanismus" Bewegung war die, die die Renaissance (Wiedergeburt) vorbereitete. Erst nachdem die antiken Höhen erklommen waren, konnten sie überholt werden. Das Schicksal der wissenschaftlich sozialistischen Theorie und Praxis ähnelt diesem Gang. Die wissenschaftlich sozialistische Lehre gebar in den fortgeschrittensten Ländern ihrer Epoche, in West Europa, auf der Basis der Ansammlung des tausendjährigen Wissens und der Kultur; durch die Verdauung der Höhen dieser Ansammlung sowie durch ihre Überwindung. "(. . . ) Die Geschichte der Philosophie und die Geschichte der Sozial' Wissenschaft zeigen mit voller Klarheit, daß der Marxismus nichts enthält, was einem "Sektierertum" im Sinne irgendeiner abgekapselten, verknöcherten Lehre ähnlich wäre, die abseits von der Heerstraße der Entwicklung der Weltzivlisation entstanden ist. Im Gegenteil: Die ganze Genialität Marx' besteht gerade darin, daß er eine Antwort auf die Fragen gegeben hat, die das fortgeschrittene Denken der Menschheit bereits gestellt hatte. Seine Lehre entstand als direkte und unmittelbare Fortsetzung der Lehren der größten Vertreter der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus. " (Lenin, "Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus", . Werke, Band 19, S. 3) Diejenigen, die sich an jene erhabenen Revolutionäre am meisten genähert haben, waren jedoch Revolutionäre des rückständigen Rußland. Und derjenige, der diese Lehre am besten verteidigte und entwickelte, trat in Rußland auf: Lenin. Rußland war dennoch das bäuerlichste, asiatischste Land. Aber die Revolutionäre waren Menschen einer Welt, die, diesen Eigenschaften Rußlands im krassen Widerspruch standen. Sie waren mit ihrem Denken und Handeln Vollbringer (Erben) der fortschrittlichsten Wissenschaft- und Kulturträdition der Menschheit. Lenin lenkt die Aufmerksamkeit auf diese Eigenschaft der Revolutionäre Rußlands in seinem Werk "Der 'linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus", wo er die Erfahrungen der Revolution resümiert: "Im Laufe ungefähr eines halben Jahrhunderts, etwa von den vierziger und bis zu den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, suchte das fortschrittliche Denken in Rußland, unter dem Joch des unerhört barbarischen und reaktionären Zarismus, begierig nach der 7


richtigen revolutionären Theorie und verfolgte mit erstaunlichem Eifer und Bedacht jedes "letzte Wort'' Europas und Amerikas auf diesem Gebiet. (. . . ) Dank dem vom Zarismus auf gezwungenen Emigrantenleben verfügte das revolutionäre Rußland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert über eine solche Fülle von internationalen Verbindungen, über so eine vortreffliche Kenntnis aller Formen und Theorien der revolutionären Bewegung der Weit wie kein anderes Land auf dem Erdball. " (Lenin, "Der 'Linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus", Werke, Band 31, S. 10) Dank dieses Zustandes entwickelte sich der wissenschaftliche Sozialismus in Rußland. Und die Theorie Lenins erreichte durch die Praxis der Oktoberrevolution ihren Gipfel - wenn wir ein Vergleich heranziehen: so wie Aristo, die Höhen der Aufwärtsentwicklung der Antike erreichte. - Jedoch reichte seine Kraft, sein Atem, seine erworbene Geschwindigkeit (seine Wucht), seine Ansammlung nicht gerade aus, um weiter zu gehen. Es trat ein Prozeß ein, der dem ähnelte, der sich nach den antiken Zivilisationen vollzog. Genauso wie die Wogen der Barbarei mit ihrer Dunkelheit alles bedeckten, erhebten sich die ungeheuer großen kleinbürgerlich-bäuerlichen Wogen und beherrschten alles. Der Grund dieses Prozesses war folgender: die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, in denen der Anteil der Bauernbevolkerung enorm groß, des Proletariats unvergleichbar klein war, haben sich in die Revolutionsherde umgewandelt. Dies war ein ungeheures Ereignis, genauso wie die Zivilisierung der Barbarenvölker, die mit der antiken Zivilisation in Berührung kamen; nach Quantität was es- ein ungeheurer Fortschritt, Aber, genauso wie sein Vorgänger, hatte dieser Fortschritt seinen Preis: Rückschritt in der Qualität . . . Vor allem das Land der Revolution: Rußland war ein Land der Bauern. Die Ungeheuern Bauernmassen konnten sowohl quantitativ, als auch ideologisch das Proletariat erwürgen. Schon nach der Februarrevolution 1917 schrieb Lenin folgendes: "(. . . ) Rußland ist heute in Wallung geraten. Die Millionen und aber Millionen, die zehn Jahre lang politisch geschlafen haben, in denen das furchtbare Joch des Zarismus und die Zwangsarbeit für die Gutsbesitzer und Fabrikanten jede politische Regung erstickt haben, sind erwacht drängen zur Politik. Wer aber sind diese Millionen und aber Millionen? Größtenteils sind es Kleineigentümer, Kleinbürger, Leute, die in der Mitte zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern stehen. Rußland ist das kleinbürgerlichste Land unter allen europäischen Ländern" Diese riesige kleinbürgerliche Woge hat alles überflutet, sie hat das klassenbewußte Proletariat nicht nur durch ihre zahlenmäßige Stärke, sondern auch ideologisch überwältigt, das heißt, sie hat sehr breite Arbeiterkreise mit kleinbürgerlichen politischen Ansichten angesteckt, ergriffen. " (Lenin, "Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution", Petersburg, 28. Mai 1917, Werke, Band 24, S. 46) Der langdauernde Bürgerkrieg und die imperialistische Einmischung sowie Hungersnot und still gelegte Fabriken hatten die Kraft des Proletariats Rußlands geschwächt. Rechnet man dazu die Niederlagen der ungarischen, italienischen und deutschen Revolution, so vollzog sich die neue Erhebung der kleinbürgerlichen Woge Schritt für Schritt. Die Erhebung schaffte ihres Ideologen und Führer. So begann der Aufstieg Stalin, des asiatischsten Mitglieds des

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Zentralkomitees der Bolschewistischen Partei. Die in der Periode des Aufstieges einer proletarischen Revolution als negativ (-) aufs Konto zu registrierenden Eigenschaften schlugen um in ihr Gegenteiliges, wurden nun als positiv (+) registriert. Und im Gegenteil: die positiven (+) Eigenschaften in der Periode des Aufstiegs einer proletarischen Revolution schlugen um in die negativen (-) Eigenschaften. In Wirklichkeit ist der Aufstieg von Stalin die zweite Erhebung der kleinbürgerlichen Woge. Stalin ist wie eine Boje, die sich auf einer Flutwoge erhebt. Dieser Prozeß vollzog sich jedoch nicht nur in Rußland. Millionen, aber Millionen Menschen der Kolonien und Halbkolonien traten auch in den Kampf. Den Nationen und Revolutionären, die aus den Arbeiter und Bauernmassen dieser Nationen hervorgingen, fehlten die Wissenschaft, - die Kultur- und Erfahrungsschätze, auf denen Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus emporstieg; ihnen fehlten die Wissensansammlungen, die Traditionen . . . Aufgrund dessen war es unmöglich, die Lehre wahrhaft zu verdauen (aufzuarbeiten) und zu vertreten. In Wirklichkeit eigneten sie völlig entsprechend ihres Wissens- und Kulturniveaus nicht das Wesen des wissenschaftlichen Sozialismus, sondern seine Erscheinungsform. Mit Hilfe der scholastischen und metaphysischen Interpretationen von Stalin oder Mao entsprach der "Marxismus" den Bedürfnissen. Was geschah in Europa und Amerika? Jawohl, es gab eine ungeheure Ansammlung und das Proletariat. Aber - berücksichtigt man den Prozeß der Revolution im Wertmaßstab - die Erhebung der ungeheuren Woge des Kleinbürgertums Rußlands, Chinas und anderer Länder; das ungeheure Prestige der Russischen Kommunistischen Partei beeinflußten auch das moderne Proletariat Europas durch die Internationale. Schließlich konnte die Arbeiterklasse Dank des Imperialismus durch die aus ihrer Mitte gekauften Agenten in Grenzen der reformistischen Politik gehalten werden. Infolge all dieser unzähligen Faktoren gerieten das kritische, revolutionäre und internationalistische Wesen und die ungeheuren Höhen des wissenschaftlichen Sozialismus unter die internationale kleinbürgerliche Flutwoge, genauso wie die Mittelmeerzivilisationen unter die Finsternis des Mittelalters gerieten. Jede historische Periode, jede Klasse erzeugt ihren Führer. Die Oktoberrevolution und der Aufstieg des Proletariats brachte einen namenlosen Lenin hervor, der in einer namenlosen schweizerischen Stadt wohnhaft war. Der Aufstieg des Kleinbürgertums zeugte und hebte Personen hervor, die völlig entgegengesetzte Eigenschaften als Lenin besaßen. Parallel zu diesem Aufstieg folgte der Niedergang und Rückfall der Revolutionäre, die die modernen Eigenschaften besaßen und Lenin mehr ähnelten. Diese, diese "letzten Mohikaner", die das kritische, revolutionäre und internationalistische Wesen des Marxismus am Leben hielten oder bestrebt waren, am Leben zu halten, wurden verachtet, verhöhnt, beleidigt, mit Füßen getreten, getötet, in den Kerkern zum Schmachten verurteilt . . . Aber sie konnten nicht vernichtet werden. Der Aufstieg dieser Kleinbürgerlichkeit, des Antikentums, des Scholastizismus begann gleichzeitig mit der Krankheit Lenins, dauerte bis zum Ende der 30er Jahre, die W. Sergej als "Mitternacht der Epoche" bezeichnet: Er wurde fast in jedem Land mit dem Abgang der proletarischen Revolutionäre begleitet; ging Kopf an Kopf mit der Zertretung der alten

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revolutionären Traditionen. Dieser Prozeß wurde fast in jedem Land erlebt (durchgemacht). Wir dürfen nicht fortfahren, ohne je ein Beispiel von Kivilcimli und Trotzki zu erwähnen. Kivilcimli schreibt, in den Jahren 1926-27 (d. h. in den Jahren, in denen Stalin die Kommunistische Partei Rußland - Bolschewiki, KPR (B) und die Internationale beherrschte): "Mit Sefik (damaliger Vorsitzender der alten TKP. d. Übers. ) zusammen haben wir die Bausteine, die bis dahin gesund bleiben konnten, ausgelesen (ausgesondert, ausgewählt). Alle unnachgiebig gesund gebliebenen Mitglieder des Zentralkomitees, die im Gefängnis saßen, haben beschlossen, daß gegenwärtig kein anderer erstklassiger Führer außer mir übrig geblieben ist. Sobald ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, fing ich in dieser Verantwortung mit der Arbeit an. "Der mir zuerkannte 'Rang' hatte in meinen Augen nicht die geringste Bedeutung. Die notwendige Reorganisation wurde vollendet" "Den Ismail (Generalsekretär der neuen TKP, die ab Mai 1973 in Erscheinung trat, d. übers. ) hatten wir vergessen. Da er sich nicht in der Gegend blicken ließ, erinnerte man sich nicht an ihn. Diejenigen, die den Streik in Adana durchgeführt hatten, hatten kein Wort über ihn verloren. Weder in Izmir, noch in Istanbul und in anderen Städten hatte man ihn gesehen. " "Eines Tages trat er mit Hüssam auf, der genau so wie er ein Säufer war ~ (und immer noch besoffen war), aber sympathisch war. " "Oh! - Hallo! Wo ward ihr denn?" "Meinen Satz hatte ich noch nicht vollendet, tat er den Mund auf. Als jeder mit den Verhaftungen belastet war, sei er bei nächster Gelegenheit irgendwie nach 'Oben' (gemeint ist die Komintern, d. Übers. ) abgehauen. " "Den Stempel der Zentrale hatte er sich, so nehme ich an, eingravieren lassen. Er soll gemeint haben 'Wer den Siegel hätte wäre der König ('Soleman'). Erst später hatte ich dies bemerkt. "(. . . ) "Bis zu jenem Tag in unserer 5 – 6 jährigen Tätigkeit hatten wir weder gesehen, noch gehört, daß einer von uns sich von Oben' beauftragen (ernennen) ließ. " "Wir versammelten uns. Einer machte den Vorschlag. Sobald die anderen dies mit Handzeichen bestätigten, wurde der Vorgeschlagene als Sekretär, Kassierer u. a. gewählt. Die Gewählten bemühten sich des Öfteren, unter ihren Kollegen keinen Unterschied zu machen. "Der Laze (gemeint ist der heutige Generalsekretär der neuen TKP. "Lazen" sind eine nationale Minderheit im Nordosten der Türkei, d. übers. ) brachte einen neuen Stil mit sich (. . . )" (Dr. H. Kivilcimli, "Kim Suclamis?" (Wer hätte uns beschuldigt), S. 107, 108 und 109) Was geschah im Ursprungsland dieses Stils, dessen Quelle in der Türkei; sehr ergiebig war, dem aber auch von "Oben" Unterstützung wurde zukommen gelassen? "Der gestrige Tag war noch zu frisch. Die Parolen des Oktober hatten sich noch nicht aus der Erinnerung verflüchtigt. Die persönliche Autorität der Führer der ersten Periode war groß. Unter der Hülle der Traditionellen Formen wuchs jedoch eine neue Psychologie heran. Die internationalen Aussichten verblaßten. Die Alltagsarbeit verschlag die Menschen völlig. Neue 10


Methoden, die den alten Zielen dienen sollten, schufen neue Ziele und vor allem eine neue Psychologie. Die jeweilige Etappe begann sich für viel zu viele in eine Endstation zu verwandeln. Es entstand ein neuer Typus. " (Trotzki, "Mein Leben, Versuch einer Autobiographie", Fischer Taschenbuch Verlag 1974, S. 432) Die allmähliche Machtübernahme und der Aufstieg dieses neuen "Typus" und dieses neuen "Stils" brachte den Rück und Niedergang derjenigen mit sich, die das revolutionäre, internationalistische und kritische Wesen des Marxismus am Leben hielten. Trotzki lenkte schon damals die Aufmerksamkeit auf diesen Prozeß. "Wenn die Kurve der historischen Entwicklung nach oben steigt, wird der soziale Gedanke scharfsichtiger, kühner, kluger. Er erfaßt Tatsachen und verknüpft sie im Fluge mit dem Faden der Verallgemeinerung . . . Wenn aber die politische Kurve fällt, bekommt die Dummheit Macht über den sozialen Gedanken. Die wertvolle Begabung der Verallgemeinerung verschwindet spurlos. Die Dummheit wird dreister und verhöhnt zähnefletschend jeden Versuch einer ernsten Verallgemeinerung. Sie fühlt, daß das Feld ihr gehört, und beginnt die Macht auf ihre Weise auszuüben. Eines ihrer wichtigsten Mittel ist die Verleumdung. "Ich sagte mir: wir gehen durch eine Periode der Reaktion hindurch. Es vollzieht sich eine politische Verschiebung der Klassen. Es vollzieht sich eine Veränderung im Bewußtsein der Klassen. Nach der großen Anspannung kommt der Rückzug. Wie weit wird er gehen? Jedenfalls nicht bis zum Ausgangspunkt. Niemand aber kann die Grenzen des Rückzuges im voraus bemessen. Sie wird bestimmt werden im Kampfe der inneren Kräfte. Vor allem muß man begreifen, was vorgeht. Die tiefen, molekularen Prozesse der Reaktion drängen nach außen. Sie erstreben, die Abhängigkeit des gesellschaftlichen Bewußtseins von den Ideen, Parolen und lebendigen Gestalten des Oktobers zu beseitigen oder mindestens abzuschwächen. Das ist der Sinn dessen, was vorgeht. Wir wollen nicht in Subjektivismus verfallen. Wir wollen mit der Geschichte nicht schmollen und nicht darüber beleidigt sein, daß sie ihren Gang auf komplizierten und verwirrten Wegen geht. Begreifen, was geschieht, heißt, den Sieg zur Hälfte sichern. " (Trotzki, ebenda, S. 444/445) Jetzt, nachdem inzwischen fast ein halbes Jahrhundert vergangen ist, sehen wir besser das internationale Ausmaß des Ereignisses, der "Veränderung im Bewußtsein der Klassen", der "politischen Verschiebung der Klassen" und das andere Gesicht, auch den gleichzeitig positiven und fortschrittlichen Charakter dieses Prozesses, der darin bestand, daß die aus Millionen von Bauern bestehenden Nationen in den Kampf der sozialen Revolution eintraten. Diese kleinbürgerliche Flut brachte seiner Struktur entsprechende Führer hervor. Schon in jenen Tagen wurden die Gründe dieses Aufstieges gesehen, mit Hilfe der marxistischen Methode, indem diese Bojen beobachtet wurden. " 'Sagen Sie mir', Skljanski, 'was stellt denn Stalin dar?' Skljanski kannte Stalin selbst Genüge. Er wollte von mir eine Charakteristik von Stalins Persönlichkeit und gleichzeitig eine Erklärung für dessen Erfolge. Ich dachte nach. 'Stalin', sagte ich, 'ist die hervorragendste Mittelmäßigkeit unserer Partei. ' Diese Bezeichnung erstand vor mir während unserer Unterhaltung zum erstenmal, nicht nur in ihrer 11


psychologischen, sondern auch in ihrer sozialen Bedeutung. Nach dem Gesichtsausdruck Skljanskis erriet ich gleich, daß ich ihm geholfen hatte, etwas Wichtiges zu erkennen. 'Wissen Sie', sagte er, 'man staunt darüber, wie in der letzten Periode auf allen Gebieten die goldene Mitte, die selbstzufriedene Mittelmäßigkeit, vordringt. Und das alles findet in Stalin seinen Führer. Wie kommt das?' 'Das ist die Reaktion nach der großen sozialen und psychologischen Anspannung der ersten Jahre der Revolution. Die siegreiche Konterrevolution kann ihre großen Männer haben. Aber ihre erste Stufe, der Thermidor, braucht Mittelmäßigkeiten, die nicht über ihre Nase hinaussehen können. Ihre Macht ist ihre politische Blindheit, es ist wie beim Mühlenpferd, dem es scheint, es gehe bergauf, während es in Wirklichkeit nur das sich drehende Triebrad hinunterstößt. Ein sehendes Pferd ist für solche Arbeit ungeeignet. ' " (Trotzki, ebenda, S. 441) Nach dieser kurzen Unterbrechung kommen wir auf die Stelle zurück, wo wir stehen geblieben waren. Wir sagten, daß das Mittelalter des Sozialismus seine Mitternacht während der Tage des Zweiten Weltkrieges erreicht hat. In den darauf folgenden 3o Jahren hat das Proletariat sogar in den rückständigsten Ländern eine Quantität und eine Qualität erreicht, die auf keinen Fall rückständiger ist als die des Jahres 1917 in Rußland. Die Entwicklung zeigt ihren ideologischen und politischen Einfluß und es liegt nicht in ferner Zukunft, daß dieser Einfluß sich allmählich verstärken wird. D. h. die objektive Entwicklung hat maßgeblich entsprechende Bedingungen geschaffen. Aber, in subjektiver Hinsicht, hinsichtlich des theoretischen und organisatorischen Standes herrscht eine außergewöhnliche Rückständigkeit. Gerade jetzt, in diesem Falle, wartet die Aufgabe der Humanisten auf uns, die die Renaissance vorbereiteten. Entdeckung der Traditionen, die hinter der Dunkelheit des 50 – 60 jährigen Mittelalters und der offiziellen Interpretationen versteckt sind; sie wieder ans Tageslicht zu holen. Die Meister von den offiziellen Interpretationen "der Kirche" befreiend lesen und versuchen, sie zu verstehen. Wenn wir heute sagen, daß unsere Aufgabe darin besteht, "archäologische Ausgrabungen zu machen", so meinen wir das oben Gesagte. Ohne Verwirklichung dieser Ansammlung kann die alte internationalistische Tradition, so wie sie ist, nicht begriffen werden, nicht vertreten werden und auch nicht überholt werden, die alte Tradition, die noch in den vor 50 - 60 Jahren steckengeblieben ist und dessen Wesen vergessen wurde. Jawohl, wir müssen den Weg der Geburt und der Entwicklung der Lehre des wissenschaftlichen Sozialismus; den Weg, den die Menschheit in Tausenden von Jahren beschritten hat, von Neuem bestreiten. Und zwar in der Epoche der kulturellen Armut des Imperialismus und noch dazu "auf unseren Knien" laufend. Aber wir dürfen auch nicht viel pessimistisch sein. Denn, es gibt Brücken, die diese Arbeit erleichtern. Jene Brücken, jene "letzten Mohikaner" haben nicht nur die alte revolutionäre, internationalistische und kritische Tradition, die lichten Höhen von Marx – Engels - Lenin verteidigt und lebendig fortgeführt trotz der finsteren Wogen sondern auch sie haben sie weiterentwickelt. . . . Indem sie sogar die kompliziertesten Probleme unserer Epoche erhellten. . . . Wir meinen Dr. Hikmet Kivilcimli und Trotzki. 12


Die Humanisten, die im Westen die Renaissance vorbereiteten, haben die alte griechische und römische Kultur von den Denkern und Wissenschaftler des Islam gelernt, von jenen, die diese alte Tradition nicht nur lebendig gehalten, sondern auch sie weiterentwickelt hatten. Die Analytiker (Untersuchenden), die diese Brücke benutzt haben, erreichten die Schätze der Kultur und der Wissenschaft der des antiken Mittelmeeres. Kivilcimli und Trotzki sind je eine Brücke, die den Marxismus und Leninismus, der eine wahrhaft kritische und revolutionäre Lehre ist, nicht nur am Leben gehalten, sondern auch in gewissen Richtungen weiterentwickelt haben. Ohne diese zu lesen, kann man sich von der Engstirnigkeit der offiziellen Interpretationen nicht befreien und die Lehren von MarxEngels-Lenin nicht begreifen. Ohne Marx-Engels-Lenin zu lesen und begreifen, kann man auch das von Kivilcimli und Trotzki Gesagte nicht begreifen. Einer in Rußland, der andere in der Türkei, in einem Lande des Kleinbürgertums haben den Aufstieg der Woge des Kleinbürgertums erlebt und sie waren Opfer dieses Aufstieges. Aufgrund ihrer Stellung bildete die Erklärung des Prozesses, der die Beiden selbst und den wissenschaftlichen Sozialismus erwürgte, die Achse, um die ihre theoretische Tätigkeit sich drehte. Indem der erste "Thermidor" und "Epigonen" schrieb; der andere "diese wurmstichige Umgebung, ein Überbleibsel von Babylon" sagte, brachten sie die gleiche internationale Gegebenheit (Ereignis) in zwei verschiedenen Erscheinungen zur Sprache. Jawohl, jetzt zieht sich die Woge des Kleinbürgertums zurück. Sicherlich verfolgt dieser Rückzug einen ungeraden Weg. Haben wir in der Türkei noch 1974 den Aufstieg einer Flutwoge des Kleinbürgertums nicht miterlebt? Haben die revolutionären Generationen, die vor dem 12. März (1971, d. Übers. ) herangereift waren, nicht gesehen und sehen nicht weiter, wie alle positiven revolutionären Traditionen vergessen und mit Füßen getreten wurden? Was haben die neuen Generationen über die Jahre vor 1971 gelernt? . . . Und, hat das mit Wirklichkeit im geringsten zu tun, was ihnen erzählt wird? Die Bewegung hat sich schnell verbreitet, wie es nach der Oktoberrevolution geschah. Bis zur Oktober Revolution gebar und entwickelte sich der Sozialismus in einigen kapitalistischen Ländern Europas, die als Weltstädte bezeichnet werden können. Nach der Oktoberrevolution verbreitete sich der Sozialismus aufs Weltland, und zwar mit einer außergewöhnlichen Geschwindigkeit. Bis 1971 haben sich die revolutionären Ideen und Bewegungen besonders in Istanbul und Ankara, in diesen beiden Hauptstädten des ökonomischen, politischen und kulturellen Lebens entwickelt. Aber nach den Ereignissen der Periode vom 12. März, verbreitete sich der Sozialismus wie ein Strohfeuer sehr schnell aufs Land. Genauso wie die Individuen und Organisationen, die sich auf das Erbe der Oktoberrevolution in der Welt niederließen, und von den Revolutionären des Weltdorfes, die ihre Augen inmitten der Erschütterungen der Oktoberrevolution öffneten, als Führer anerkannt wurden, genauso wurden auch in der Türkei die Individuen und Organisationen, die sich auf das Erbe von 1971 - 73 niederließen, von den Revolutionären des Landes, die ihre Augen zum Sozialismus in der Periode 1971- 73 öffneten, als Führer anerkannt. Aber diese Verbreitung hat seinen Preis gehabt; qualitativer Rückgang. Neue Stile wurden in

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den Beziehungen herrschend die in theoretischer Hinsicht rückständigsten, in praktischer Hinsicht unkonsequentesten, aber der kleinbürgerlichen Engstirnigkeit entsprechende Typen drangen nach vorne. Die politischen Strömungen und Parteien, die mit dem Marxismus - Leninismus nicht das geringste zu tun haben; in theoretischer Hinsicht am rückständigsten sind und sich im totalen Chaos befinden, jedes Problem auf ein paar Lösungen, oder klischeemäßige Worte herabsetzen, bilden die einflußreichsten und verbreitetsten politischen Strömungen und Parteien. Zum Beispiel TKP, Halkin Kurtulusu, Devrimci Yol u. a. Genauso wie in der Gegenwart die Negativitäten im Weltmaßstab in die Augen springen, genauso ziehen die Negativitäten in der Türkei allmählich die Aufmerksamkeit sogar der Revolutionären der neuen Generation auf sich, die Negativitäten, die vorher unscheinbar waren aber durch den Einfluß der schnellen Verbreitung der Bewegung (und auch in den kleinbürgerlichen Schichten) scheinbar wurden. Es findet von neuem eine Zuwendung zu den alten Traditionen, zum Proletariat, zur Theorie statt. Sowieso, wenn wir diesen Miniatur Prozeß in der Türkei nicht erlebt hätten, seine Geburtswehen nicht an unserem Fleisch und Knochen gefühlt hätten, könnten wir auch den internationalen Prozeß nicht begreifen. Die Tragödie derjenigen wie Kivilcimli und Trotzki nicht begreifen und ergründen; ihre Schmerzen an unserem Herzen nicht fahlen können. Ja, es scheint zu sein, daß der Tag bald aufbricht. Das Mittelalter des Sozialismus geht sein ein Ende entgegen. Sicherlich verfolgt die Ebbe der kleinbürgerlichen woge und ihr Einfluß keinen geraden Weg. Wie es im Iran der Fall ist, kann das Kleinbürgertum - wie in allen Revolutionen- ungeheure Aufschwünge vollbringen. Aber, diese kleinen Flute, die schon ihre marxistische Erscheinung verlassen, besitzen nicht die Kraft, die große Ebbe zum Stillstand zu bringen. Sogar im heutigen Iran gibt es ein größeres Proletariat als im Rußland des Jahres 1917. Man wird fragen, warum dieses Proletariat nicht den Einfluß ausübt, den es im Rußland des Jahres 1917 vollbrachte, und als eine unabhängige Kraft auf die Bühne nicht treten kann? . . . Diese Schrift erklärt gerade diesen Grund. Demir Küçükaydın (C. Aydın) Erstmalig erschienen in der Zeitung "Sosyalist", Nr. 87 1. Jan. 1980, S. 1 und 2 Aus dem Türkischen übertragen von Hd. (Der Weg , April 1980, Nr. 1, Seite 6-9)

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"Entweder paßt Du Dich an – oder Du riskierst Dein Leben"

Die Türkei, das heißt für Linke, Gewerkschaftler und kurdische Nationalisten vor allem Unterdrückung, Verfolgung, Gefängnis und Folterungen Die türkische und kurdische Linke, die sich seit den 60er Jahren entwickelte, ist von diesen Erfahrungen geprägt. Das nachfolgende Gespräch vermittelt einen Einblick in diese Wirklichkeit. Es wurde mit einem türkischen Genossen geführt, dem es erst vor kurzem gelang, ins europäische Ausland zu flüchten. Aus verständlichen Gründen ist der richtige Name durch ein Pseudonym ersetzt worden was tun: Genosse Erdogan, in der neuen türkischen Linken der sechziger Jahre warst Du einer der ersten Aktiven. Wie bist Du Marxist geworden? Erdogan: Jedes Gesellschaftssystem geht geschichtlich einmal zu Ende Dieser Gedanke erscheint den meisten Menschen jedoch zunächst aufgrund ihrer "Erziehung" und "Vernunft" sehr fremd. Aber auch für jene, die sich dieser Auffassung nähern, ist es ein langer Weg von einer moralischen zu einer wissenschaftlichen Kritik der bestehenden Verhältnisse. Mein Vater glaubte, daß Gott nichts anderes sei als die Natur selbst. Von daher gelangte er zu einem primitiven Materialismus. In seinem Bekannten Kreis galt er als fortschrittlicher Arbeiter. Drei Dinge versuchte er seinen Kindern beizubringen Menschenliebe, Verantwortungsbewußtsein für den Anderen und wissenschaftliches Denken. So kam es, daß schon für uns Kinder die Rückständigkeit und Armut in der Türkei, Unterdrückung und Diskriminierung außerhalb jeglicher Vernunft lagen. Schon früh wurde ich zum gefühlsmäßigen Rebellen, der noch nicht wußte woher die Ungerechtigkeit rührte und wie sie abgeschafft werden kann. 1965 war ich 15 Jahre alt. Damals trat zum ersten Mal in der türkischen Geschichte eine sozialistische Partei (TIP) zu den Wahlen an Im Radio horte ich eine ihrer Wahlsendungen, in der es hieß: "Arbeiter, Bauern, Werktätige! Aller Reichtum gehört denen, die ihn schaffen. Ihr aber leidet unter Arbeitslosigkeit, Armut und Unterdrückung. Wenn wir diese Lage andern wollen, müssen wir an die Regierung kommen". Diese Worte brachten rationelle Klarheit in mein gefühlsmäßiges Rebellentum. Um die Verhältnisse zu ändern, mußte man folgendes tun: die Ausgebeuteten und Unterdrückten aufklären und vereinigen. Heute, 20 Jahre später, geht es immer noch darum, diese Aufgabe zu lösen. 20 Jahre an Erfahrungen, Niederlagen und Lehren haben uns politisch kluger werden lassen, das Ziel aber ist noch nicht erreicht was tun: Gab es internationale Einflüsse in Deiner politischen Entwicklung? Erdogan: Die Mairevolte von 1968 in Frankreich, die chinesische Kulturrevolution, der Tod Che's in Bolivien und der Vietnamkrieg haben meine Geneiation stark beeinflußt. Gemeinsam kämpften wir "unter dem Banner des Marxismus": Teilnahme an Universitatsbesetzungen und Auseinanderetzungen mit den Rechten, Unterstützung des Widerstands der Arbeiter und

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Bauern. Nach 40 Jahren Unterbrechung wurden zum ersten Mai wieder marxistische Klassiker in türkischer Sprache veröffentlicht. Das waren für uns Jahre der der Erfahrung, Jahre, in denen wir uns in marxistische Theorie und Praxis hineinarbeiteten. Dennoch muß ich sagen: Wenngleich ich mich auch schon damals als Marxist verstand, was revolutionärer Marxismus wirklich bedeutet, habe ich erst ab 1980 nach der Lektüre von Trotzkis Schriften begriffen. 12 lange Jahre hat es dazu gebraucht. Leider hatten wir keine Lehrer, waren sogar voller Vorurteile und liefen immer wieder gegen die Wand, bis wir schließlich nach und nach den richtigen Weg fanden was tun: Auf Deinem politischen Lebensweg bist Du auf die Unterdrückungsmaßnahmen der Staatsmacht gestoßen. Viele Jahre hast Du im Gefängnis verbringen müssen. Erdogan: Dreimal bin ich im Gefängnis gelandet. Das erste Mal 1970 für 2 1/2 Monate. In der Urteilsbegründung hieß es "Er hat versucht, in der Türkei ein zweites Vietnam zu schaffen". Dazu waren wir nach Palästina gegangen, um den bewaffneten Kampf zu erlernen. Auf dem Rückweg waren wir an der Grenze verhaftet worden. Das zweite Mal wurde ich 1972 zu 10 Jahren verurteilt. Begründung: Leitungsmitglied der Revolutionären Jugend. Davon saß ich allerdings nur fünf Monate ab bis zu einer Amnestierung. Zum dritten Mal bin ich dann 1974 zu Gefängnis verurteilt worden Davon habe ich 10 Jahre abgesessen und außerdem noch ein Jahr wegen Fluchtversuchs. was tun: Was war der Grund für diese schwere Strafe? Erdogan: 1974 gaben wir eine wöchentliche Zeitung mit Namen Kivilcim heraus. Sechs Nummern sind davon insgesamt erschienen. Unser Ziel war es, ein Programm für den Aufbau einer revolutionären Partei vorzuschlagen und einen Gründungskongreß vorzubereiten. Ausgehend von der ungeheuren Rückständigkeit der Türkei und Kurdistans war ein Programm zur Befreiung der Arbeiter und Bauern von Not und Elend die alles entscheidende Frage. Unser Ziel war eine Staatsform - ähnlich der Pariser Kommune -, die sich nicht über die Arbeitenden erhebt sondern ihnen dient. Der größte Teil des Erwirtschafteten sollte zur Hebung der Produktivität verwendet werden anstatt fur Staatsbürokratie und Armee. Industrie, Handel und Banken sollten Vergesellschaftet, unter die armen Bauern verteilt, der Wucher unterbunden sowie neue Formen der Kooperation und des Kreditwesens eingefühlt werden. Das waren unsere Vorschläge. Unser Ziel war der Sozialismus. Für dieses Programm konnten wir nach den damaligen Gesetzen nicht schuldig gesprochen werden und so verurteilten sie uns aus einem anderen Grund. Aus unserer Zeitung pickten sie sich Zitate von Marx, Engels und Lenin, um von der eigentlichen Sache abzulenken. Daruntei war ausgerechnet des Lenin Wort: "auch Schweigen ist eine Form des Betrugs". Der Staatsanwalt argumentierte so: "Das ist ein Lenin – Zitat. Lenin war Kommunist, also müssen auch sie Kommunisten sein" Das Urteil für mich 36 Jahre Gefängnis. Um sich noch "gnädig" zu enrweisen, kürzte das Gericht das Straf maß. Es nannte sich "Staatssicherheitsgericht". Später wurde es als unvereinbar mit der Verfassung sogar wieder aufgelöst, wir aber mußten die verhängten Strafen verbüßen! was tun: Was waren Deine Erfahrungen im Gefängnis? 16


Erdogan: Es gab bedeutende Unterschiede, je nach Zeit und Ort. Ist ein Revolutionär eingekerkert, so bedeutet das trotzdem geistige und körperliche Entwicklung. Für ihn ist das Gefängnis eine Schule der Vorbereitung für den revolutionären Krieg. Naturlich geht es darum, möglichst bald und gesund wieder herauszukommen und wieder an der Schule des Lebens teilzunehmen. . . Die Situation im Gefängnis richtet sich auch nach den Kräfteverhältnissen draußen im Lande selbst. Meistens konnten wir in Gemeinschaft leben, einigen Bedürfnissen nachgehen, so gut es irgendwie ging, abwechselnd Gemeinschaftsaufgaben wie Sauberkeit wahrnehmen usw. . Das aber ist leider selten. Die Staatsmacht hat grundlegend andere Prinzipien: Dem Gefangenen möglichst wenig Freiraum lassen, ihm dauernd Schwierigkeiten machen, ihm seine Rechte weiter einschränken. Dagegen sind die Gefangenen zum dauernden gemeinsamen Widerstand gezwungen. Das geht auf die Dauer an die Nerven! Die Möglichkeiten zum Widerstand sind äußerst begrenzt, aber wenn die Gefangenen zusammenhalten, können sie vielleicht doch vorhandene Rechte verteidigen oder sogar verbessern, die Widersprüche in der Gefängnisverwaltung auszunutzen. Aber Seteriertetum und politische Differenzen erschweren oft den Zusammenhalt. was tun: Hat sich der Militärputsch am 12 September 1980 in den Hafttfedingungen bemerkbar gemacht? Erdogan: Zehntausende kamen neu in die Militargefängnisse und unter die Folter. Hunderte Revolutionäre sind unter der Folter gestorben. In den zivilen Gefängnissen wurden die bestehenden Rechte und Freiheiten wieder zurückgenommen. Die Gemeinschaftshaft wurde aufgehoben, die Zellentüren wieder geschlossen. Besuch durfte nur noch alle 15 Tage einmal empfangen werden. Die Willkür der Aufseher, Folter und Isolierhaft nahmen sprunghaft zu. Bücher wurden uns wieder abgenommen, die Annahme von Essen und Kleidern von Besuchern wurde verboten, wir wurden zum "Unterricht" über Atatürk gezwungen, sogar zum Religionsunterricht, um die Identität der gefangenen zu brechen und sie umzuerziehen. Das Regime des 12. September wollte uns nur die Wahl lassen zwischen Anpassung und Vernichtung: Entweder arbeitest du mit der Staatsmacht zusammen oder du wehrst dich und riskierst Leib und Leben. Diese Politik wird in den Militär- und den neu errichteten “Sondergefängnissen" systematisch durchgeführt. Man muß hinzufügen, daß sich die Haftbedingungen im türkischen Staat von Westen nach Osten fortlaufend verschlimmern. So wurden in den Gefängnissen von Dyarbakir, im türkischen Teil Kurdistans, über hundert Menschen ermordet. Die Situation gleicht dort den Hitler- KZ's was tun: Hat die Militärdiktatur ihre Ziele, fast 4 Jahre nach dem Putsch, erreicht? Erdogan: Nein. Nur eine kleine Minderheit der politischen Gefangenen hat ihre Meinung geändert. Der Widerstand geht weiter und ist wirksamer geworden. Das mag folgendes Beispiel verdeutlichen: Nach fast vier Jahren Militärdiktatur begannen die Gefangenen in den Istanbuller Gefängnissen einen Hungerstreik, bei dem mindestens 15 von ihnen starben. Offiziell werden nur vier Opfer zugegeben. Leider zeigt die Weltöffentlichkeit darauf kaum eine wirkliche Reaktion. Dies gleicht der Situation wie beim Hungertod des Iren Bobby Sands und seiner Mitkämpfer. Die Genossen wie in Istanbul haben mit ihrem Leben den Schleier der

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sogenannten Demokratisierung in der Türkei als Farce entlarvt. Der Widerstandsgeist in den Gefängnissen ist starker geworden. was tun: Haben die Kampagnen für die politischen Gefangenen im Ausland Wirkung gezeigt? Sind sie überhaupt von den Gefangenen wahrgenommen worden? Erdogan: Sicher. Moralisch bedeuten sie eine große Stütze für die Gefangenen. Sie fühlen sich nicht alleingelassen. Das Wissen, daß es Unterstützung gibt, ist sehr wichtig. Solche Nachrichten zu hören ist trotz Schwierigkeiten und Verspätung möglich. Der Druck auf die Militärdiktatur und ihre zivile Maskerade muß unbedingt verstärkt werden. Für wt: Erich Salewski 1984

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Die Linke in der Türkei Ursprünge Sowohl aus der Sicht der Weltgeschichte als auch aus der einzelnen Länder beruhen die Ursprünge des Sozialismus und des sozialistischen Denkens auf den bürgerlichen Revolutionen und bürgerlichen Idealen. Der Verrat der Bourgeoisie an ihren eigenen Idealen oder die Beschränktheit dieser Ideale selbst waren Ursachen der Orientierung mancher Revolutionäre in Richtung Sozialismus und der Entstehung sozialistischen Denkens. Die sozialistische Bewegung der Türkei bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die ersten Sozialisten kamen aus den Reihen der unter dem Namen "Jungtürken" bekannt gewordenen bürgerlichen Revolutionäre. Allerdings dürfen dabei die paradoxen Eigenschaften der Entwicklung der türkischen Bourgeoisie und der Revolutionen nicht außer Acht gelassen werden. Die Besonderheit, das Paradox, besteht darin, daß in der Türkei die bürgerlichen Revolutionen gegen die Bourgeoisie gemacht wurden. Es handelt sich nun bürgerliche Revolutionen ohne Bourgeoisie; sie wurden von oben durchgeführt, um einen Bourgeoisie zu schaffen. Im osmanischen Reich - aus der Perspektive des Koordinatensystem des modernen Westens das letzte Glied in der Kette der antiken Reiche und Zivilisationen des "Mittleren Ostens"waren die moslemischen Türken in politischer Hinsicht die herrschende, den Staat leitende "Nation"; aber in wirtschaftlicher Hinsicht bildeten die unteren christlichen Nationen die herrschenden Klassen. Die Tatsache, daß das Handwerks- und Handelswesen sich in den Händen der christlichen Minderheiten befand, führte dazu, daß sich unter den christlichen Nationen eine Bourgeoisie und indirekt daraus folgend nationale Bewegungen entwickelten. Außerdem brachte die Bourgeoisie des Westens dem Osmanischen Reich eine militärische Niederlage nach der anderen bei. Das osmanische Reich, das auseinanderzufallen begann, wurde also sowohl vom Kapitalismus des Westens als auch vom Kapitalismus der unter seiner politischen Herrschaft stehenden christlichen Minderheiten bedroht. Die im Reich herrschender moslemisch / türkischen "Staatsklassen" suchten nach einem Weg, das Reich - und damit zusammenhängend auch ihre eigene Vorherrschaft und Existenz - schützen zu können. Sie wählten den Weg der Modernisierung, der Annahme der Techniken und Institutionen der westlichen Welt, um modern werden zu können, also den Weg der Reformen und Revolutionen bürgerlichen Charakters, aber - und das ist die Besonderheit - ohne Bourgeoisie und gegen die Bourgeoisie. Es waren nicht die Bedürfnisse und Interessen einer existierenden und sich entwickelnden türkischen Bourgeoisie, die Jungtürken zur Orientierung auf das Ideal des modernen Kapitalismus gebracht hätte, - denn so eine Bourgeoisie gab es nicht.

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Für die Jungtürken, die das moderne bürgerliche System und seine Technik einführen wollten mit dem Ziel, das reich und somit ihre eigenen Interessen zu schützen, mußten die bürgerlichen Ideale und der wahre Kern des bürgerlichen Denkens unverstanden bleiben. Daher hatten für die Jungtürken, die im westlichen Exil lebten, nicht nur die sozialistischen Ideen keinerlei Anziehungskraft, sondern darüber hinaus hatten nur die reaktionärsten bürgerlichen Soziologen (E. Durkheim, A. Comte, Le Play) bei ihnen ein Echo finden können. Erst zu dem Zeitpunkt, als das Osmanische Reich am Ende war, als in ihren Händen nichts mehr war, das sie hätten verlieren können, erst dann orientierten sich manche Jungtürken unter der Einwirkung der Oktoberrevolution in Richtung Sozialismus: in Frankreich Şefik Hüsnü und Sadrettin Celal unter dem Einfluß von J. Jaures, in Deutschland Ethem Nejat und seine Freunde unter dem der Spartakisten und in Rußland Mustafa Suphi und seine Freunde unter dem Einfluß der Bolschewisten. Die kleinen sozialistischen Zellen, die in großen Städten wie Istanbul und in Anatolien ihre Propaganda und Organisierungsarbeit begannen, kamen 1920 gleich nach dem Ersten Kongreß der Völker des Ostens in Bakü zusammen, wobei die Bolschewiken als Katalysatoren wirkten, und gründeten noch vor der schwachen türkischen Bourgeoisie, die Grenzen des "Lokalpatriotismus" noch nicht überwunden hatte und noch nicht in der Lage war, eine Partei zu gründen, die Kommunistische Partei der Türkei. Der Anfang war hervorragend. Es war, als würde wie in Rußland der Spätgekommene belohnt. Jedoch die türkische Arbeiterklasse und der türkische Sozialismus waren so spät dran, daß sie von all den Vorzügen des historischen Zuspätkommens nicht profitieren könnte, aber in den Nachteilen des Zuspätkommens ersticken sollte. In Rußland entstand der Kapitalismus direkt als Industriekapitalismus, weil er sich spät entwickelt hatte, ohne Stadien durchzumachen, die Nationen passieren mußten, in denen die kapitalistischen Entwicklung frisch begonnen hatte; bzw. wurden dort die frühen Sturen im Miniaturmaßstab durchlaufen. Die Arbeiterklasse in Rußland, die mit modernster Technik in großen Fabriken produzierte, wurde auch auf der Ebene des Klassenkampfes von Anfang an, ohne die Wege zu gehen, die in anderen Ländern passiert wurden, mit den entwickelten Theorien und Organisationsformen bewaffnet. Die russische Arbeiterbewegung wurde von Anfang als marxistische, mit den Marxisten als Avantgarde geboren. Die Gründung der TKP im Jahre 1920 und der starke Einfluß der Bolschewiken und der Entwicklungen in dieser Zeit konnten als Indikator für eine parallele Entwicklung angesehen werden. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts konnten die entwickelten Länder nicht mehr als Modell für die Voraussage der Zukunft der weniger entwickelten Länder angesehen werden. Die Entwicklungswege des Preußischen oder amerikanischen Typus waren verstopft. Das türkische Proletariat kam nicht in die Lage, in großen Fabriken mit modernsten Geräten zu produzieren. Eine ähnliche Lage entstand auf der Ebene der sozialistischen Theorie und Organisation, nämlich geradezu ein Zusammenbruch und eine Marginalisierung der

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türkischen sozialistischen und Arbeiterbewegung. Ganz im Gegensatz zum russischen Proletariat konnte das türkische nicht mit der fortgeschrittensten Theorie beginnen, sondern mußte mit dem Stalinismus anfangen, der sich zwar das Banner des Marxismus - Leninismus angeheftet hatte, aber in Wirklichkeit dessen sämtliche Errungenschaften beseitigte. Diese Arbeiterbewegung und dieser Sozialismus, die weder auf der Ebene der Produktion noch auf der des Klassenkampfes entwickelte Instrumente besaß, trat in eine Periode ein, die 1950 mit der tatsächlichen Liquidierung der TKP ihr Ende fand.

Erinnerungswürdige Entwicklungen von 1920 - 1950: Kader, die aus dem Kreis der Jungtürken gekommen waren, und die nicht zum Sozialismus gekommen waren, aufgrund der Kritik an der Bourgeoisie und am Kapitalismus, sondern weil sie die Existenz des türkischen Staates gefährdet gesehen hatten, - diese Kader traten Großteils einerseits aufgrund von Repression. andererseits auf Grund der Gründung und Stabilisierung des Nationalstaates in die Reihen des Kemalismus über und versuchten ihn zu einer Doktrin zu entwickeln. Eine Hand von militanten Sozialisten, die noch übrig geblieben waren, verbrachte lange Jahre im Gefängnis oder führte während der Terrorjahre einen einsamen Kampf. In den dreißiger Jahren konnten die marxistischen Klassiker legal verlegt werden. 1946 kam es unter der Entwicklung der internationalen Konjunktur zu einer kurzen Phase der Lockerung. Zwei sozialistische Parteien wurden gegründet, Arbeitergewerkschaften schossen wie Pilze aus dem Boden. und wurden alle - sowohl die Parteien als auch die Gewerkschaften - nach wenigen Monaten wieder verboten und ihre Anführer verhaftet. Der einzige ernsthafte theoretische Gewinn, der von dieser ersten Geburt übrig blieb, waren die theoretischen Forschungen von Dr. Hikmet Kıvılcımlı über die spezifischen Bewegungsgesetze der vorkapitalistischen Geschichte und über die Beziehungen zwischen Rückständigkeit und den vorkapitalistischen Zivilisationen. Diese Arbeiten sollten wirklich von den Marxisten auf internationaler Ebene diskutiert werden, sind aber auf Grund der 'Abgelegenheit' des Türkischen nicht bekannt.

Einige Besonderheiten der ökonomischen und der Klassenverhältnisse in der Türkei Der Konflikt im Osmanischen Reich zwischen christlichen Kapitalismus und moslemischen Vorkapitalismus zeitigte auf dem Balkan und in Anatolien gegensätzliche Resultate: Auf dem Balkan konnten die christlichen Nationen und ihre Bourgeoisie die vorkapitalistische türkisch - osmanische politischen Herrschaft beenden, die Moslems vom Balkan vertreiben oder sie vernichten und Nationalstaaten gründen. In Anatolien liquidierte der moslemische türkische und kurdische Vorkapitalismus den christlich griechischen und armenischen Bourgeoisie durch Vertreibung, Austausch und Vernichtung. Mir der Gründung der Türkischen Republik wurden die Häuser der griechischen und armenischen Bourgeoisie zu Quartieren für Stammesführer oder Großgrundbesitzer oder zu Regierungsgebäuden des türkischen Staates umfunktioniert.

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Das kulturelle und ökonomische Leben Anatoliens fiel um einige Jahrhunderte zurück. Die Entwicklunsgegensätze zwischen Balkan und Anatolien können mit denen zwischen den Britischen Inseln und Kontinentaleuropa vergleichen werden. Während der Puritanismus in England die Oberhand gewann und England früher und ruhiger in die kapitalistische Entwicklung eintreten konnte, hatte diese Entwicklung in Kontinentaleuropa der St. Bartholomius-Massaker mindestens 100 Jahre Verspätung. Die Dialektik, die nichts metaphysisches an sich hat, besteht hier aber darin, daß die Liquidation der christlichen Bourgeoisie in Anatolien, die mit dem Mittel des osmanischen Überbleibsels der 'Staatsklassen' durchgeführt wurde, für die Türken die Bedeutung diener bürgerlichen Revolution erhielt, die das Sultanat liquidierte und die Republik gründete. Geradezu eine bürgerliche Revolution, die kein Bürgertum hatte, die sich zum größten auf vorkapitalistische Klassen stützte. In Analogie zu späteren sozialistischen Revolutionen in Ländern mit schwacher Arbeiterklasse könnte man sagen, es habe sich um eine bürgerliche Revolution gehandelt, "die von Anfang an bürokratisch degeneriert war". Die türkische Republik, die vor sich die verstopften Wege Amerikas oder Preußens hatte, die keine Bourgeoisie hatte, aber eine schaffen wollte, schuf, bevor es ihr gelungen war, eine Bourgeoisie zu schaffen, das Finanzkapital. Der türkische Kapitalismus wurde 1929 als Finanzkapitalismus geboren, ohne ein Konkurrenzstadium durchlaufen zu haben. Eine liberale, konkurrierende Bourgeoisie konnte sich erst viel später entwickeln. Was viele Marxisten verwirrte, war das Gefüge, das am Ende dieser Entwicklung stand, die in kein Schema paßte: primitive, archaische Verhältnisse in Ökonomie und Überbau gekoppelt mit ultramodernen, monopolistischem Staatskapitalismus. Diese doppelte Verwertung in Vergangenheit und Zukunft brachte ihre interessantesten Resultate auf der Ebene der Klassenbeziehungen. In der Türkei bildete die Bourgeoisie nicht mit allen ihren Fraktionen die herrschende Klasse- Die Herrschaft lag in Händen einer Bande von Finanzkapitalisten, die in Geheimlogen organisiert waren und mit dem internationalen Finanzkapital völlig verzahnt war. Diese Gruppe übte ihre Macht nicht im direkten Bündnis mit den anderen Gruppen der Bourgeoisie aus, sondern zusammen mit den Wucherern und Händlern sowie Großgrundbesitzern, die über moslemische Orden organisiert waren. Die anderen Gruppen der Bourgeoisie waren keine direkten Verbündeten, sondern eine Kraft, die neutral gehalten werden sollte. Die so von der Herrschaft ferngehaltenen bürgerlichen Kreise suchten wegen ihrer deklassierten Lage und ihrer ökonomischen Situation in der modernen Arbeiterklasse einen Verbündeten, um so gegen die Vorherrschaft des Finanzkapitals und der Handelsbourgeoisie ein Gleichgewicht bilden zu können. Sie versuchten, das Bündnis mit einer Arbeiterbewegung zu schließen, die den gewerkschaftlichen und parlamentarischen Rahmen nicht überschritt, oder genauer: sie versuchten, die Arbeiterbewegung auf diesen Rahmen festzulegen. Diese Versuche der liberalen und reformistischen bürgerlichen Gruppen paßten zu der Lage und den Absichten der syndikalistischen und parlamentarischen Gewerkschafter wie der Deckel auf den Topf. Resultat dieser Besonderheit, die in kein klassisches Schema paßt, war die 22


Entstehung einer langfristig stabilen Basis für einen bürgerlichen oder reformistischen Sozialismus, obwohl es in der Türkei nie eine Prosperität gab, die den Reformismus hätte stärken können. Wiederum auf Grund dieser Besonderheit entstand im Gegensatz zu der Entwicklung in Europa die Sozialdemokratie nicht aus der Evolution einer Arbeiterpartei, sondern aus einer bürgerlichen Partei, der CHP. Die Entwicklung des Kapitalismus in der Türkei verlief spiegelverkehrt zu der in Europa oder war wie ein Film, der rückwärts abgespielt wird. Was im Westen später passierte, geschah in der Türkei zuerst, Entwicklungen, die im Wesen von links nach rechts verliefen, gingen in der Türkei von rechts nach links. Im Rahmen dieser grundlegenden Klassenbeziehungen können folgenden Stadien unterteilt werden: -Zwischen den zwanziger und fünfziger Jahren: die politische Macht befindet sich in den Händen der bonapartistischen M. Kemal, also in den Händen der 'Staatsklassen', die das Osmanische Reich überdauert hatten. Im Saatsbeet des Etatismus entwickelt sich das Finanzkapital. Die Handelsbourgeoisie wird mit Zuckerbrot und Peitsche unter Kontrolle gehalten. - Nach 1950 beenden Finanzkapital und Handelsbourgeoisie auf dem Hintergrund der für sie günstigen internationalen Lage und mit Unterstützung des internationalen Finanzkapitals die Tätigkeit der 'Staatsklassen' und übernehmen die Macht direkt. - Zwischen 1950 und 1960 werden im großen Maßstab Straßen und Kraftwerke gebaut, um das Land als Markt für die Waren des Westens zu erschließen. In kurzer Zeit kommen in den Dörfern der Türkei 10. 000 Traktoren an. Gleichzeitig strömen Millionen von Dorfbewohnern in die Städte. Wozu sollte der produzierte Strom dienen, wenn nicht für die maschinelle Produktion der Kapitalisten. Ebenso brauchen die Fabriken in imperialistischen Ländern, die Fabriken produzieren, einen Markt. Zum Einsatz der Maschinen treibt die Kapitalisten auch die anwachsende Arbeiterbewegung; es ist die politische Revolution, die diesen Weg öffnet. Den Platz der absoluten Mehrwert - Ausbeutung nimmt nun die relative Mehrwert Ausbeutung ein. Die 'Strukturverbesserungen', die zwischen 1950 und 1960 bewerkstelligt wurden, die Auflösung der geschlossenen Ökonomie auf dem Lande und der reale Anstieg der Arberterlöhne führen dazu, daß bis zum Ende der siebziger Jahre eine relativ hohe Wachstumsgeschwindigkeit (7%) zu verzeichnen ist. In dem beschriebenen Abschnitt nach dem Zweiten Weltkrieg folgen Auslandsverschuldung, Krisen und Putsche alle 10 Jahre aufeinander.

Die zweite Geburt Der Sozialismus in der Türkei wurde zweimal geboren. Die erste Geburt erfolgte mit dem Rückenwind der Oktoberrevolution auf den osmanischen Trümmern; die zweite, als ob es die erste nie gegeben hätte, völlig unabhängig davon, in den fünfziger und sechziger Jahren in

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einem historischen Klima, das charakterisiert war durch Nationale Befreiungskriege und die Erfolge der Sputniks. Erst als der Sozialismus der zweiten Geburt ein bestimmtes Entwicklungsstadium erreicht hatte, konnte es zu einer Resonanz mit dem Überbleibseln der ersten Geburt kommen. Wenn auch einerseits in den fünfziger Jahren Stalinismus und Mc. Carthyismus die revolutionäre sozialistische Tradition als gescheitert ansehen ließen und auf der Woge des Anti - Kommunismus eine Generation von Intellektuellen heranwuchs, die das schon historisch erreichte Bewußtsein verloren hatten, so bestand aber andererseits immer noch ein System fort, das sich schon längst historisch überlebt hatte, und wie es in jedem System passiert, das sich überlebt hat, kam auch dieses vielen Menschen irrational und unmoralisch vor und öffnete den Weg für seine Kritik und Negation. Warum war die Türkei so rückständig, während die ganze Welt sich vorwärts entwickelte? Warum war die arbeitende Bevölkerung arm, während eine kleine Minderheit in Luxus und Wohlstand lebte? Diese und ähnliche Fragen beschäftigten die Köpfe der Intellektuellen. Die zweite Geburt der Linken nach 1960 fand ihren ersten Ausdruck in der Zeitschrift YÖN (Richtung). Die Leute von YÖN ähnelten auf den ersten Blick den Dekabristen. Die Intellektuellen, die nach Möglichkeiten der Befreiung von Rückständigkeit und Armut suchten, suchten die Lösung in dem, was sie in ihrem Leben wahrnahmen: Die Arbeiterklasse war noch nicht zu sehen; hatten aber nicht kurze Zeit zuvor am 27. Mai 1960 junge Offiziere trotz fehlenden Bewußtseins und fehlender Problematik in einer Nacht die uneingeschränkte Macht des Finanzkapitals beendet und ein demokratischeres System errichtet? War Nasser kein anderes ähnliches Beispiel? Hatte er Ägypten nicht auf den Weg der Modernisierung gebracht? Waren schließlich in der Geschichte der Türkei fortschrittliche Bewegungen nicht immer von oben, "trotz des Volkes fürs Volk", von Intellektuellen und Militärs durchgesetzt worden? Waren 1908, 1919 - 1923 und 1960 nicht Beispiele dafür? Dementsprechend sah die YÖN - Bewegung junge Intellektuelle und Offiziere als Subjekt an, das ihr Programm verwirklichen sollte. Kernpunkte des Programms waren Landreform, die mit den verbliebenen feudalen Verhältnissen Schluß machen sollte. Verstaatlichung des Innen - und Außenhandels, der Großindustrie und des Bankwesens und außenpolitische Neutralität. Alle Agitation, Propaganda und Organisationsbemühungen richteten sich auf die genannten Intellektuellen und Offizierskreise. Die YÖN - Bewegung, die ein Ausdruck kleinbürgerlichen Radikalismus war, handelte ebenso wie die radikalen moslemischen Orden. Während diese unter der Flagge der Religion antraten, aber sie uminterpretierten, gaben sich jene als Kemalisten aus, propagierten aber den Kemalismus in einer radikalen Interpretation. Man kann sagen, daß ein erfolgloser Putschversuch 1963, nach dem zwei beteiligte Offiziere hingerichtet wurden, das Ende dieser Bewegung bedeutete, wenn auch 1970 noch ein erfolgloser Putschversuch aus diesen Kreisen erfolgte. Die Problematik, die YÖN hervorbrachte, war die Rückständigkeit der Türkei im Vergleich zum Westen; YÖN hatte aus diesem Grund nationalen Charakter. Zu dieser Zeit entstand aufgrund einer völlig anderen Problematik, als Reflex auf die

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wachsenden Arbeiterbewegung Türkiye İşçi Partisi (TİP) (Arbeiterpartei der Türkei). Die Problematik, die Türkiye İşçi Partisi (TİP) hervorbrachte: Warum waren die Arbeiter, die alle Reichtümer schaffen, so arm und warum wurden sie unterdrückt. Natürlich waren in beiden Bewegungen nationale Unabhängigkeit, Fortschritt und Wohlstand der Arbeiter wichtige Punkte, aber die Betonungen und Punkte, mit denen sie mobilisierten, wiesen die erwähnten Differenzen auf. Der Einzug von 15 Türkiye İşçi Partisi (TİP) - Abgeordneten ins türkische Parlament - nach den Wahlen von 1965 - war die wichtigste Erschütterung in der Geschichte der Türkei der letzten 25 Jahre. dies kristallisierte sich im politischen, kulturellen und intellektuellen Leben der nachfolgenden Zeit zunehmend heraus. Türkiye İşçi Partisi (TİP) war einerseits eine bürgerlich - sozialistische Partei der gewerkschafterkreise und der Gruppe der"wilden Bürger", [ Bürger, die sich ihrer Klasse entfremdet hatten ], aber gleichzeitig auch ein Ausdruck der Arbeiterbewegung, die nach 1960 ihre Jugend überwunden hatte und such rasch entwickelte. Wenn dieses schnelle Anwachsen der Arbeiterbewegung unter anderen historischen Voraussetzungen erfolgt wäre, wenn es sich beispielsweise mit einen revolutionären marxistischen Avantgarde und Tradition, die eine lange Vorbereitungsphase durchlaufen hatten. hätte verbinden können, hätte es zumindest, wie es etwa in den sechziger Jahren in Brasilien geschah, zur Entstehung einer Arbeiterpartei mit Massenbasis führen können. In diesen Jahren (1961 - 1968) ging die zentrale Diskussion zwischen YÖN und Türkiye İşçi Partisi (TİP) um die Frage "Revolution von oben" oder "Revolution von unten". Türkiye İşçi Partisi (TİP), die die Position vertrat, daß nur die Arbeiter die gesellschaftliche Umwälzung schaffen könnten, stützte such dabei auf die Tatsache, daß in der Türkei Kapitalismus herrsche. YÖN mit der Position, daß die Veränderung von "frischen militärisch - zivilen intellektuellen Kräften" realisiert werden könne, berief sich darauf, daß die Türkei halbkolonie und halbfeudal sei, und daß deshalb eine Arbeiterklasse nicht die Kraft hätte, die Revolution durchzuführen. In Wirklichkeit stimmen beide Seiten in zentralen Annahmen überein. Türkiye İşçi Partisi (TİP) wäre mit der"Revolution von oben"einverstanden, wenn die Türkei nicht kapitalistisch wäre; YÖN wiederum wäre mit einer Arbeiterrevolution einverstanden, wenn die Türkei kapitalistisch wäre. So entwickelte sich - ausgelöst durch falsche Hypothesen einer Generation von Intellektuellen, die den Marxismus wegen der erwähnten historischen Umstände nicht kannten, die Diskussion weg in der Frage nach dem Subjekt und dem Charakter der Revolution, hin zur gesellschaftlichen Struktur und Geschichte der Türkei. Zum Beweis ihrer Auffassungen, ob die Türkei kapitalistisch oder halbfeudal sei, ob also die Revolution von oben oder von unten zu machen sei, begannen beide Seiten Forschungen zur gesellschaftlichen Struktur und zur Geschichte der Türkei. Aber die begrifflichen Instrumente und Theorien, diese Forschung und Analyse durchzuführen, fehlten ihnen. In den marxistischen Klassikern wären sie zu finden gewesen. So eröffnete tatsächlich der Streit darüber, ob die Revolution von oben oder unten zu machen sei, eine Phase, in der marxistische Klassiker übersetzt, gedruckt und mit einem ungeheuren Hunger gelesen wurden. Man kann den Zeitraum von 1960 bis 1968 als das Vorbereitungsstadium der

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neu entstandenen Linken YÖN, Türkiye İşçi Partisi (TİP) zum Marxismus bezeichnen. 1968 war der Beginn des marxistischen Stadiums, unter Führung von Marxisten, die noch von der ersten Generation der türkischen Linken übrig waren. Dieses Stadium (ab 1968) wird im Vokabular der revolutionären Bewegung der Türkei als MDD - Phase bezeichnet (MDD=Milli Demokratik Devrim: Nationale Demokratische Revolution) Als der zum zweiten Mal geborene Sozialismus 1968 den Marxismus kennenlernte, machte er auch Bekanntschaft mit den "alten Gewehren", die noch vor der ersten Geburt übrig waren. Die Bewegung, die nach 1960 entstanden war, konnte, als sie sich entwickelte, auch ein Echo in weit entfernter Vergangenheit finden. In einer ersten Phase (um 1968) werden Marxisten aus der Generation des 2. Weltkriegs wiederentdeckt (wie z. B. Mihri Belli), in einem zweiten Schritt (1970) Marxisten aus der Generation der Oktoberrevolution. Hierbei ist vor allem Dr. Hikmet Kıvılcımlı zu erwähnen. Nach der Auffassung von MDD gingen YÖN und Türkiye İşçi Partisi (TİP) bei ihrer Auseinandersetzung an das Problem falsch heran. Natürlich war die Türkei kein entwickeltes kapitalistisches Land, sie war halb - koloniale und halb - feudales Land, deswegen standen nicht Aufgaben der Sozialisten Revolution, sondern demokratische und anti - imperialistische Aufgaben an. Die Arbeiterklasse sollte, um den Sozialismus erreichen zu können, auf diese Stufe des Kampfes Bündnisse mit Klassen und Schichten schließen, die ein demokratisches Programm hätten. Daher war nach Auffassung von MDD die Position von Türkiye İşçi Partisi (TİP) gegen YÖN falsch. Dadurch, daß Türkiye İşçi Partisi (TİP) eine Kraft, mit der man in dieser Phase zusammenarbeiten könnte und mußte, durch die Auseinandersetzung um "Revolution von unten" sich zum Gegner machte, würde sie die revolutionären Kräfte schmücken und die Arbeiterklasse isolieren. Die MDD - Strömung bekam mit dem Anwachsen der Studentenbewegung 1968 Massencharakter. Und innerhalb von ein oder zwei Jahren entstanden aus Spaltungen der MDD alle wesentlichen Strömungen der heutigen sozialistischen Bewegung der Türkei. Die erste Spaltung war sozusagen ein Reflex der YÖN / Türkiye İşçi Partisi (TİP) Auseinandersetzung, aber hier im Rahmen der MDD und mit deren Vokabular. Ein Flügel, der in der revolutionären Bewegung der Türkei als "Beyaz Aydınlıkçılar" bekannt ist, und der heute die legale TÜRKİYE BIRLEŞİK SOSYALİST İSCİ PARTİSİ (TBSP) (Vereinigte Sozialistische Partei der Türkei) gründete und die Zeitschrift "2000'e Doğru" herausgibt, entwickelte die These, daß es in der Türkei keine Arbeiterbewegung gebe. Im Vokabular der MDD hieß dies, daß in der Türkei keine Demokratische Revolution durch Volkskrieg durchzuführen sei, daß aber wie in Syrien und Ägypten eine Revolution auf nicht kapitalistischen Weg gemacht werden könne. Dagegen sagten die "Kırmızı Aydınlıkçılar": Es gibt eine Arbeiterklasse und schlugen einen Volkskrieg von der Art wie in China und Vietnam vor. Als die "Beyaz Aydınlıkçılar" nach kurzer Zeit sahen, daß der Vorschlag vom"nicht kapitalistischen Weg", der übrigens von der Sowjetunion gekommen war, bei der revolutionären Bewegung der Türkei, die große Sympathien für China und Vietnam hatte, keinen Anklang fand, gingen sie mit rasender Geschwindigkeit zum Maoismus über und

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begannen - abweichend von ihrer Position, daß es keine Arbeiterklasse gebe - den Volkskrieg vorzuschlagen. Gleichzeitig aber beschuldigten sie die"Kırmızı Aydınlıkçılar", die tatsächlich in die Praxis des Volkskriegs gehen wollten und zu gehen begonnen hatten, mit dem Vorwurf des "Anarchismus". Innerhalb der bürgerlich - sozialistischen Gruppierung von "Beyaz Aydinlik" bildete sich unter dem Einfluß der schnellen Radikalisierung der gesamten linken Bewegung eine radikale kleinbürgerliche Opposition heraus und trennte sich. Diese Gruppierung bekam später die Namen TİKKO (TÜRKİYE İSÇİ KÖYLÜ KURTULUŞ ORDUSU) – (Arbeiter - BauernBefreiungsarmee der Türkei ), PARTİZAN und TKP - ML. Diese Bewegung propagierte wie die radikalen"Kırmızı Aydınlıkçılar" den Volkskrieg, formulierte dies aber in der maoistischen Diktion wie folgt: die Türkei ist halb - kolonial, die Arbeiterklasse ist schwach (oder nicht vorhanden), daher ist eine Volkskriegsstrategie nötig, die vom Land ausgeht und die Städte einkreist. Diese Bewegung gibt es heute immer noch, mit der gleichen Theorie, die sie in dieser Hinsicht zu einem "lebenden Fossil" macht, aber ihr praktischer Einfluß ist traditionell, besonders in den Gegenden Kurdistans, wo Alewiten wohnen, stark; sie praktiziert in diesen Gegenden heute den Guerillakrieg. Wegen der starken Emigration aus diesen sehr armen Gebieten in die Großstädte der Türkei und nach Europa hat diese Bewegung in den 'Gecekondus' (Elendsviertel am Rande von Istanbul, Ankara usw. ) und unter den Arbeitern in Europa auch heute einen gewissen Einfluß. Der Klassenkampf ist eine soziologische Tatsache. Die Tendenzen und Charaktere der Klassen können in letzter Instanz immer einen Weg sich auszudrücken finden, oder um es andersherum zu sagen, letztendlich stehen hinter jeder Spaltung unterschiedliche Tendenzen der Klassen. Bei den Spaltungen zwischen reformistischem Sozialismus und kleinbürgerlichem Radikalismus teilte einerseits das Kleinbürgertum im Allgemeinen immer das Ziel und die Annahmen des von ihnen kritisierten Reformismus und versuchte seine Radikalität auf der Ebene der Kampfformen auszudrücken. Tatsächlich war in der sozialistischen Bewegung der Türkei fast jede Spaltung nichts anderes als ein Reflex bürgerlich - reformistischer und kleinbürgerlich radikaler Tendenzen. Die Türkiye İşçi Partisi (TİP) / YÖN, TİKKO / Beyaz Aydınlık, Beyaz Aydınlık / Kirmizi Aydinlik Spaltungen und viele später folgende entsprechen dieser allgemeinem Regel. Der Kirmizi Aydinlik - Flügel, der damals von der großen Mehrheit der revolutionären Jugend (Devrimci Genclik) unterstützt wurde, spaltete sich nach dem großen Arbeiterwiderstand vom 15 / 16 Juni 1970 entlang programmatischer und strategischer Widersprüche. Dr. Hikmet Kıvılcımlı vertrat die Position, daß die Arbeiterklasse die Basiskraft der Revolution sei, die Bauern eine Unterstützungsfunktion hätten. Dagegen der andere Flügel: die Arbeiterklasse hätte die ideologische Führung, aber die Bauern seien die grundlegende Kraft. Tatsächlich hatte diese Diskussion für die beteiligten Seiten unterschiedliche Bedeutung. Wenn Kıvılcımlı betonte, daß die Arbeiterklasse die grundlegende und die Bauern die unterstützende Kraft seien, so diskutierte er die Strategie, sozusagen den Platz, den die Kräfte in der Revolution einnähmen, diskutierte aber nicht das Problem, welchen Weg die

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Revolution einschlagen würde, sondern ließ dies offen. Die Aktuelle Aufgabe, die sich aus dieser Strategie ergab, war, zu den Arbeiter zu gehen, sich zusammentun und die Partei der Arbeiterklasse zu gründen. Für die Gegenposition hatte diese Diskussion eher eine Bedeutung bezüglich der Kampfesformen: "die Arbeiterklasse ist Vorhut, die Bauern sind die Basis" zu sagen, bedeutet "Guerillakrieg". Nach diesem Verständnis bedeutete, von der Arbeiterklasse als Basis zu reden, die Verteidigung des "sowjetischen Aufstandes", auch wenn die Vertreter dieser Position (also z. B. Kıvılcımlı) dies nicht beabsichtigten. Beide Seiten zogen aus den Aktionen der Arbeiter vom 15 / 16 Juni 1970 in Istanbul, als diese sich erhoben und die Stadt so gut wie in den Händen hatten, unterschiedliche Schlüsse. Für Kıvılcımlı und seine Genossen waren die Ereignisse Beweis dafür, daß die Arbeiter die Basis seien. Für den Guerilla - Flügel waren sie Beleg dafür, daß die Städte vom Imperialismus okkupiert seien, man da nicht mehr leben könne und die Städte nur vom Land aus befreit werden könnten. Allerdings gab es innerhalb des Guerilla - Flügels wiederum zwei Gruppen: Die eine THKP C (Türkiye Halk Kurtuluş Partisi - Cephe -Volksbefreiungspartei der Türkei - Front) sagte, der Guerillakrieg solle unter der Führung der Partei geführt werden. Aus dieser Tradition kommen heute so bekannte Gruppen wie Devrimci Yol, Devrimci İsçi, Devrimci Sol. Die andere Gruppe THKO (Türkiye Halk Kurtulus Ordusu – Volksbefreiung Armee der Türkei) vertrat die Fokustheorie. Emegin Birligi, TDKP (Türkiye Devrimci Komünist Partisi) bzw. nach der Zeitung benannt Halkın Kurtuluşu kommen aus dieser Tradition. Die TDKP war in den siebziger, achtziger Jahren nach der Albanischen Partei der Arbeit die größte der Albanien - orientierten Parteien auf der Welt. All diese Spaltungen und Organisierungen fanden innerhalb von 5 - 6 Monaten statt, zwischen Juni und Jahresende 1970. Dies war die intensivste, kritischste produktivste Zeit in der Geschichte der sozialistischen Bewegung der Türkei. Der revolutionäre Prozeß unter der studentischen Jugend, den Arbeitern und Bauern erreichte auch junge Offiziere. Ihre Aktionen vom 8. März 1971 scheiterten. Am 12. März 1971 gaben die Generäle mit der Absicht, die radikalisierte Basis im Heer unter Kontrolle zu bekommen, ein Memorandum heraus, zwangen die Regierung zum Rücktritt und begannen mit Säuberungsaktionen an der radikalen Basis. Die Gruppen, die den Guerillakrieg befürworteten, begannen nun auch damit, ihn zu führen. Ein teil dieser Guerillakämpfer, die alles in allem höchtens ein paar Hundert Leute aus der Jugendbewegung waren, wurde getötet, die meisten wurden festgenommen. Aber die Heldentaten dieser Guerilleros, ihr Widerstand gegen Polizei und Militär erschütterte die Massen der Arbeiter zutiefst und führte dazu, daß eine ungeheure Welle der Sympathie mit den Helden aus der Guerilla entstand. Das vergossene Blut bewässerte den Boden. Nach 1974 konnten Bewegungen, die sich auf die Märtyrern aus der Guerilla beriefen oder aus deren Tradition kamen, bei den Unterdrückten immer Sympathie finden, die Erinnerung an die revolutionären Helden mobilisierte die

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Begeisterung und Opferbereitschaft der Jugend der Slums. Zu dieser Zeit schaffte es die Gruppe um Kıvılcımlı, die die Arbeiterklasse als die Basis ansah, einerseits in allen Teilen der Arbeiter Beziehungen anzuknüpfen, und gewann andererseits auch die Sympathie von Guerilleros, die im Gefängnis Selbstkritik geübt hatten. Als dann Kıvılcımlı starb, ging die Führung dieser Gruppierung, an der auch Türkiye İşçi Partisi (TİP) beteiligt war, in die Hände reformistischer Kader über. Diejenigen, die sich gegen den reformistischen Kurs wandten, geben die Zeitschrift "Kivilcim" (Der Funke) heraus, wurden aber sehr schnell verhaftet. Die reformistischen Kader kastrierten zuerst Kıvılcımlıs Lehre, später lehnten sie sie völlig ab. Sie gründeten nach 1974 die TSİP (Türkiye Sosyalist İşçi Partisi): (Sozialistische Arbeiterpartei der Türkei) als erste legale Partei. Die Revolutionäre hielten sich von sich entfernt.

Masseneinfluss 1974 - 1980 All das, was bisher beschrieben wurde und für die Zeit bis 1974 gilt, spielte sich in einem Rahmen ab, in dem alle Organisationen und Abspaltungen der sozialistischen und revolutionären Gruppen nur hunderte oder tausend Leute zählten. Die breiten Massen der Arbeiter und Bauern befanden sich immer noch auf den Tribünen, sie kamen erst nach 1974 in die Arena. Ab dann mobilisierte die revolutionäre Bewegung Zehntausende, hunderttausende, in manchen Sternstunden sogar Millionen von Menschen. Die Tragödie der sozialistischen Bewegung der Türkei zwischen 1974 und 1980 kann so zusammengefaßt werden: Eine revolutionäre, oder richtiger eine vorrevolutionäre Situation reifte heran, ohne daß die Revolutionäre eine Chance, reif zu werden, haben konnten. Wenn die Sozialisten der Türkei 1974 das heutige Wissen und die heutige Erfahrung gehabt hätten, hätte die Geschichte einen anderen Weg nehmen können, mit der Dynamik der Selbstverteidigung gegen die Faschisten hätte 1978 / 1979 eine sozialistische Revolution Erfolg haben können, hätte eine Herrschaft der Arbeiter und Bauern errichtet werden können. Die Anführer der revolutionären Bewegungen und Parteien, die nach 1974 durch die unglaubliche Radikalisierung der Massen und die Welle der Sympathie, die ihnen entgegenschlug, in kürzester Zeit Tausende von Mitgliedern und zehn oder hunderttausende Sympathisanten hatten und die meisten Stadtteile, Kleinstädte und Dörfer kontrollierten, hatten im Durchschnitt den folgenden Hintergrund: ungefähr 25 Jahre alt; mit 15 Sympathie für Türkiye İşçi Partisi (TİP) und fühlt sich selbst als Sozialist; 1968 Teilnahme an Universitätsbesetzungen, Bekanntschaft mit dem Marxismus, 1969 Unterstützung und Organisierung von Arbeiter - und Bauernaktionen; 1970 in der Guerilla und bis 1974 im Gefängnis oder in der Illegalität. Sie hatten den dialektischen Materialismus von Stalin, Mao, Kussinen oder Politzer gelernt, Politokönomie von Nikitin; sie hatten von Marx, Engels und Lenin ein paar grundlegende Bücher lesen können; von der Geschichte der Internationalen und Arbeiterbewegung aber wissen sie nichts. Dieser Generation, die sowohl biologisch als auch theoretisch und politisch gerader aus ihren Kinderschuhen schlüpfte, hatte die Geschichte plötzlich Aufgaben auferlegt, denen sie nicht gewachsen war, und die sie

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niederdrückten. Es gibt grundsätzliche Wege, wie sowohl Organisationen, als auch Menschen zugrunde gerichtet werden können: Entweder werden ihnen Aufgaben über oder unter ihrer Kapazitäten auferlegt. Die Sozialisten der Türkei wurden 1974 bis 1980 durch Aufgaben zugrunde gerichtet, die ihre Kräfte und Fähigkeiten überforderten; heute gehen sie zugrunde, weil die Aufgaben unter ihren Kapazitäten Liegen, sie zum Nichtstun verdammt sind. Die Zyperninvasion von 1974 und ihre ökonomische Folgen, vor allem die rasend steigende Auslandsverschuldung und Inflation, steigerte den Widerstand der Massen. Zuerst gab es eine Blütezeit für den reformistischen Sozialismus und viele Guerillakämpfer wechselten zu den reformistischen sozialistischen Parteien über. Dabei spielte die Wahrnehmung der Sowjetunion als revolutionär und radikal eine wichtige Rolle: dieser Eindruck entstand durch die Annäherung Vietnams an Moskau, das plötzliche Auftauchen einer starken KP in Portugal und die Entsendung von kubanischen Soldaten nach Angola. Die gleichen Ereignisse führten aber wiederum auch dazu, daß ein teil der Revolutionäre sich völlig zum Maoismus bekannte und die Drei - Welten Theorie vertrat. Die TKP, die es aus den zwanziger Jahren noch als Modell gab, die praktisch aber 1950 liquidiert worden war, profitierte vom steigenden Prestige der Sowjetunion und begann in den Gewerkschaften Einfluß zu gewinnen. TSİP und die nach 12. 3. 1971 geschlossene Türkiye İşçi Partisi (TİP) wurden neu gegründet. Der alte Türkiye İşçi Partisi (TİP) - Vorsitzende M. Aybar gründete die Sosyalist Devrim Partisi (sozialistische Revolutionspartei), so daß also plötzlich revisionstische Parteien existierten. Der gemeinsame Punkt aller vier Parteien war der : Revolution und Sozialismus sind die Angelegenheiten einer fernen Zukunft; die aktuellen Aufgaben bestehen in demokratischen Reformen. Für diese Reformen ist das Bündnis mit der"anti – monopolitischen "Bourgeoisie nötig, die nicht verschreckt werden darf. Diese Parteien orientierten die Arbeiter in Richtung des bürgerlichen Reformismus. Die Arbeiterklasse aber kann die Bauern und die unterdrückten Völker nicht gewinnen und nicht die Revolution machen, ohne die Bourgeoisie zu verlieren und von ihr als verloren angesehen zu werden. Der Einfluß der bürgerlich sozialistischen Parteien ist traditionell in den großen Gewerkschaften in den Großstädten, besonders in Istanbul, am größten. Dies sind Reflexe auf die reformistischen Tendenzen und Gruppeninteressen des Kreises der Gewerkschaftsbürokratie und teilweise auch der höher qualifizierten und organisierten Kernarbeiterschaft. Der Grund dafür, daß die vier Parteien mit gleichen Tendenzen, mit gleichem Programm und gleicher Strategie dennoch getrennt organisiert waren, liegt in ihre historischen Entwicklung, nämlich darin, daß jede mit einem anderen Entwicklungstadium der Linken der Türkei korrespondiert und sich über die Annahmen und Problematiken der jeweiligen Stufe oder Zeit definiert. Die grundsätzliche Gleichheit konnte in jüngster Vergangenheit noch mal bei der Vereinigung von TKP und Türkiye İşçi Partisi (TİP) zur TBKP gesehen werden.

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Gegen die nach 1974 steigende Inflation konnte sich der organisierte Kern der Arbeiter mit dem Instrument der Gewerkschaften eine Weile verteidigen und sogar Reallohnsteigerungen erkämpfen. Aber für die arbeitslosen Jugendlichen der Gecekondus und für die Kleinbürger gab es keinen vergleichbaren Verteidigungsmechanismus; diese Gruppen begannen sich zu politisieren und zu radikalisieren. Die Koalitionsregierung der "Nationalistischen Front", an der alle rechten Parteien beteiligt waren, fing an, faschistische Banden zu organisieren, mit dem Ziel, sowohl die sich radikalisierende Opposition niederzuhalten, als auch die Radikalisierung unter Kontrolle zu bekommen. Während ein Teil der sich radikalisierenden arbeitslosen Jugendlichen und Kleinbürger zu den faschistischen Organisationen überwechselte, orientierte sich der größere Teil, vor allem wegen der Helden von 1970 - 74 und des Prestiges des Sozialismus, hin zu den linken Organisationen und begann, sich gegen die Angriffe der faschistischen Banden zu organisieren. So weiteten sich Bewegungen, die aus der Zeit von 70 - 74 als Splitter übrig waren, schnell zu einer militanten Welle aus und begannen zu wachsen. Eigentlich gab es in der Theorie keiner dieser Organisationen das Problem der Organisierung der Selbstverteidigung; im Kampf gegen den Faschismus, wurde in Anlehnung an Dimitrovs Bericht für den 7. Kongreß, als Bündnisprblem auf ein Bündnis mit den bürgerlichen Kräften zurückgegriffen. Die Selbstverteidigung wurde von den Organisationen nicht mit dem Ziel der Selbstverteidigung und mit dem Ziel, mit diesem Instrument die Massen zu erziehen und Selbstverteidigung zu organisieren, organisiert. So entstand ein offener Widerspruch zwischen der 1968 - 1970 von China, Vietnam und Kuba inspirierten Revolutionstheorien der Organisationen und ihren tatsächlichen Aktivitäten. Dieser Widerspruch fand seinen deutlichsten Ausdruck bei Devrimci Yol. Diese Organisation wurde, weil sie statt, wie es ihrer Theorie entsprochen hätte, in die Berge zu gehen und den Guerillakrieg zu führen, in den Gecekondu - Vierteln sich mit Selbstverteidigung beschäftigte, von anderen Tendenzen, die aus der gleichen Tradition kamen stark kritisiert. Diese Kritiker, die sich entsprechend ihrer Theorie verhielten, verloren massenhaft Bindungen und wurden zu Marginalien Grüppchen (MLSPB - Marxist Leninist Silahli Propaganda Birliği - Marxistisch - leninistische Bewaffnete Propaganda Einheit, Acilciler - die Schnellen, Devrimci Savaş - der revolutionäre Krieg usw. ). Eine Gruppe konnte in dieser Zeit dort stark werden, wo es ihr tatsächlich gelang eine Selbstverteidigung gegen die faschistischen Angriffe zu organisieren. Wem dies nicht gelang, wurde sie schnell marginalisiert. Die Erfolgreichen wurden stärker, auch wenn dieser Erfolg um den Preis der Unvereinbarkeit mit der Theorie erfolgt. Diese Entwicklung nährte aber natürlich das Desinteresse an Theorie und den Eklektizismus.

Spaltung der Arbeiterklasse Es war also nach 1974 so, daß die unteren Schichten der Arbeiterklasse, die arbeitslosen Jugendlichen und Kleinbürger sich um die radikalen Strömungen gruppierten, die oberen

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Schichten der Arbeiterklasse, besonders die Kernarbeiterschaft in den Industriezentren aber unter der Kontrolle der reformistischen Sozialisten blieben. So fand die Teilung zwischen unteren und oberen Schichten der Arbeiterklasse unter einem Aspekt betrachtet, gleichzeitig ihren Ausdruck in der Aufteilung nach reformistischen Sozialisten (Türkiye İşçi Partisi (TİP), TSİP, TKP, DSP) und radikalen revolutionären Sozialisten (Dev - Yol, Dev - Sol, Halkin Kurtulusu, Partizan, Halkin Birligi). Aus einer anderen Perspektive aber kann diese Teilung als eine Teilung in Arbeiterklasse und Kleinbürgertum angesehen werden. So wurde diese Spaltung einerseits ein Hindernis für die Einheit der Arbeiterklasse, andererseits aber auch eins für das Bündnis von Arbeiterklasse und Kleinbürgertum. Sie wurde es, weil beide Seiten ausgehend von ihren "ideologischen Stützpunkten" das Bündnis miteinander ablehnten. Die radikalen Strömungen übernahmen die von der kommunistischen Internationalen bis zur deutschen Niederlage 1933 verfolgte Taktik der "Klasse gegen Klasse", und lehnten daher jedes Bündnis mit den reformistischen Sozialisten ab, wie damals die Kommunisten das Bündnis mit den Sozialdemokraten abgelehnt hatten. Die reformistischen Sozialisten wiederum übernahmen die von Dimitrov auf dem 7. Kongreß formulierte Taktik, die schon zur Niederlage in Spanien geführt hatte, beschuldigten die Selbstverteidigungsaktionen des Kleinbürgertums als anarchistisch und lehnten ein Bündnis ab. Da die reformistischen Sozialisten gleichzeitig Sowjetunion - orientiert, die radikalen meist China - orientiert waren, waren nicht einmal mehr Gespräche miteinander möglich. Die in der Geschichte der kommunistischen Internationalen aufeinander folgenden "linken" und "rechte Taktiken", die beide zu Niederlagen - Deutschland, Spanien - geführt hatten, waren zwischen 1974 und 80 in der Türkei, wo es die zu dieser Zeit stärkst und massenhafteste faschistische Bewegung der Welt gab, gleichzeitig und nebeneinander vorzufinden. Die Ideologien standen im Widerspruch zu den objektiven Klasseninteressen, waren aber gleichzeitig Ausdruck jener klassenspezifischen Charakteristiken und Tendenzen. Charakteristika und Interessen der Klassen harmonisieren im allgemeinen nicht immer miteinander. Besonders für das Kleinbürgertum ist ein den eigenen objektiven Interessen widersprechen Verhalten charakteristisch. Unter den beschriebenen Bedingungen war es kein Zufall, daß eine Organisation wie Devrimci Yol, für die theoretische Reinheit und die Trennung China - Sowjetunion keine Bedeutung hatte, die stärkste Organisation wurde. Der theoretische Eklektizismus und die Unvereinbarkeit ihrer Theorie und ihrer Praxis, die langfristig und unter anderen Bedingungen negative Resultate gezeitigt hätten, bildeten genau die Stärke von Dev - Yol. So konnte diese Organisation sowohl die Selbstverteidigung organisieren als auch eine flexiblere Bündnispolitik verfolgen,

Anti - faschistischer Kampf Die Bedeutung der Phase von 1974 - 80 liegt aus Perspektive des anti - faschistischen Kampfes im folgenden: Trotz aller negativen Entwicklungen, die sich wie ein Alptraum über die sozialistische Bewegung der Türkei gelegt hatten, war es das erstre Mal, daß eine schnell

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anwachsende faschistische Massenbewegung von Sozialisten und Revolutionären gestoppt werden und ihr Sieg verhindert werden konnte. Dafür gibt es noch kein anders Beispiel. Aber diese Bewegung hatte aus den gleichen Gründen, nämlich wegen der Selbstbeschränkung auf die reine Selbstverteidigung, wegen der Unfähigkeit als Alternative zum Reformismus ein revolutionäres Programm zu entwickeln und wegen des Nichterkennens des Angriffspotentials der Selbstverteidigung, das sie aus der Perspektive eines bewaffneten Aufstandes beinhaltet, - sie hat also aus diesen Gründen keinen entscheidenden Sieg gegen die faschistische Bewegung errängen können. Auf diesem Gleichgewicht konnte dann das bonapartistische Regime des 12. September 1980 gegründet werden. Der Militärputsch hatte, da er zu einer Zeit kam, als die Massen schon ermüdet waren, keinen vorübergehenden, nach kurzer Zeit zu Ende gehenden Charakter. .

Synchronisierung Eine wichtige Bedingung für die Revolution ist die Synchronisierung der Radikalisierung der unterdrückten Klassen und der verschiedenen Regionen des Landes. Die Gefahren fehlender Synchronisation finden sich in vielen Beispielen in der Geschichte der Revolutionen. Auch in der Türkei hatten nach 1974 solche Unterschiede negative Auswirkungen. In der Zeit nach 1974 radikalisierten sich Arbeitslose und Kleinbürger vor den Arbeitern. Als jene gegen 1979 ermüdeten, begannen die Arbeiter Tendenzen der Radikalisierung zu zeigen. Die späte Radikalisierung der Arbeiter war auch eine Folge der Politik und des Sektierertums der früher radikalisierten Kleinbürger und Arbeitslosen. Die Radikalisierung Kurdistans erfolgte im Vergleich zum Westen später. Wenn die Reihenfolge der Radikalisierung anders gewesen wäre, wenn beispielsweise die Arbeiter sich zuerst radikalisiert hätten, hätte die Entwicklung ganz anders ablaufen können. Die vorherige Radikalisierung der Kleinbürger und Arbeitslosen hatte ganz bestimmte Auswirkungen auf die sozialistische und revolutionäre Bewegung. Alle Organisationen waren im Allgemeinen voll von Nicht - Arbeitern, von Arbeitslosen, Jugendlichen und Studenten. Es gab keinen Kern von Sozialisten und Arbeitern, der stark genug gewesen wäre, um diese Kräfte zu absorbieren und zu schulen. Daher wurden die im Kern der Organisationen befindlichen, meist 68 'er, relativ moderneren Kader von den in die Organisationen strömenden frischen Kräften nicht akzeptiert, und die, die gegen diese Welle ankämpften, wurden zur Seite gedrückt. So drückten Verhaltensweisen und Sektierertum von Abenteurern, feudale Moralvorschriften und Werturteile allen Organisationen ihren Stempel auf.

Massenbewegung Die Vermassung der sozialistischen Bewegungen nach 1974 trug nicht den Charakter einer Klassenbewegung, sondern den einer Massenbewegung. Genau darin lag die Stärke und Schwäche der Bewegung. 1979 hatte die Radikalisierung in der Gesellschaft ihren Höhepunkt erreicht. Dies hatte auch Auswirkungen auf die reformistisch sozialistischen Parteien. Fast von allen reformistisch sozialistischen Parteien spalteten sich radikale Flügel ab. Von TSIP TKP - B, von Türkiye

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İşçi Partisi (TİP) der Kreis, der die Zeitschrift "Sosyalist Iktidar" (Sozialistische Macht) herausgab, von der TKP die Londoner Gruppe - bekannt ach unter dem Namen "Iscinin Sesi" (Stimme des Arbeiters); in der Vatan Partisi blieb der radikale Flügel, der reformistische gründete die Sosyalist Vatan Partisi; der radikale Flügel entwickelte sich schnell zum Trotzkismus hin. Der grundsätzliche Kritikpunkt bei all diesen Abspaltungen war die Ablehnung des Bündnisses mit kleinbürgerlichen revolutionären Bewegungen. All diese Abspaltungen des radikalen Flügels waren Reflexe auf die Radikalisierung der Arbeiterbewegung und auf ihre langsame Ablösung vom Einfluß des bürgerlichen Sozialismus. Aber leider kamen diese Ablösungen viel zu spät. Wenn sich die Arbeiterbewegung früher radikalisiert hätte und wenn sich die radikalen Flügel schon 1976 77 von den Bürgerlich sozialistischen Parteien getrennt hätten, hätte die Geschichte der revolutionären Bewegung in der Türkei einen ganz anderen Verlauf nehmen können. Und in der Türkei hätte vielleicht zur ungefähr gleichen Zeit wie Iran und Nicaragua eine Revolution stattfinden können. Heute, 1988, zeigen die Arbeiter und Kurdistan zuerst Tendenzen der Radikalisierung, aber demgegenüber haben Sozialismus und Sozialisten kein Prestige in der Gesellschaft. Wie überall auf der Welt sind nationalistische und religiöse Bewegungen auf dem Vormarsch.

Ein paar Beobachtungen bezüglich Gegenwart und Zukunft Jede Generation schaut in die Zukunft auf dem Spiegel der Vergangenheit. Als am 12. September 1980 das Militär die Macht übernahm, dachten die Revolutionäre der Türkei, daß ihnen eine zweite Auflage des Putsches vom 12. März 1971 widerfahre: daß also die Regierung aufgrund der Opposition der wegen Arbeitslosigkeit und Teuerung aufgebrachten Massen zurücktreten werde, daß sie wieder einen Aufschwung wie nach 1974 erleben würden und dieses Mal die Revolution erfolgreich sein werde. Diese Erwartung hat sich nie erfüllt. Als die Periode des 12. März endete, waren die Massen nicht müde und hoffnungslos, der Sozialismus und die Revolutionäre hatten ein ungeheureres Prestige bei den Massen. Heute sind die Massen erschöpft; ihr Vertrauen zu Sozialismus und revolutionären ist stark erschüttert worden. Dieser Prozeß fällt zusammen mit einem weltweiten Prestigeverlust des Marxismus. Darüber hinaus setzt die Bourgeoisie in der Ökonomie unter dem Slogan "exportorientierte Industrialisierung" strukturelle Änderungen durch und reorganisiert im Zusammenhang damit die Herrschaftsmechanismen und den Staatsapparat.

Kehrtwende Als Resultat dieser Entwicklungen kann heute der bürgerliche Sozialismus, der früher mehr oder weniger zur außerhalb des Systems stehenden Opposition gehörte, auf dem Weg zum ergänzenden Element des Systems angesehen werden. Dieser Prozeß ist am deutlichsten an der Vereinigung von Türkiye İşçi Partisi (TİP) - TKP und ihrer Rückkehr in die Türkei zu sehen, an der Linie der TBSP und jedoch am wichtigsten an der Übernahme von Funktionen im neu errichteten System seitens einer Intelligenzia, die in den 60'er Jahren schnell und in Scharen zum Sozialismus überwechselte, und die nun auf gleiche Art und Weise in die

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Gegenrichtung in die Reihen der Regierungspartei und der Bourgeoisie eintritt. Die Sozialisten und Revolutionäre haben das Ausmaß der erlebten Veränderung nicht begriffen, geschweige denn sich damit befaßt, wie dies zu lösen sei. Vielmehr wird versucht, diese beachtlichen Kehrtwendung unter den Intellektuellen und bürgerlich sozialistischen Parteien mit der Entmutigung nach der Niederlage des 12. Septembers oder mit persönlichen moralischen Maßstäben zu erklären. Heute erscheinen in der Türkei die Zeitschriften fast aller Strömungen, die es vor dem 12. September gab. Die Zahl der in den beiden letzten Jahren neu erschienenen Zeitungen jener Strömungen liegt zwischen 20 und 30. Aber auf diese schnelle Entwicklung zu staunen zu denken, die Revolutionäre der Türkei befänden sich auf der Schwelle eines neuen Aufschwungs, wäre falsch. Die Zeitschriften richten sich in ihrer Gesamtheit an die von vor 1980 Übriggebliebenen. Wenn man ihren Inhalt betrachtet, sieht man, daß Begeisterung und ein neuer Atem fehlen, daß sie fortfahren, die alten Klischees zu wiederholen. Aber es können auch die Samen mancher positiver Entwicklungen wahrgenommen werden: Eine dieser Entwicklungen besteht darin, daß einige theoretische Zeitschriften sich bemühten, Abstand vom Dogmatismus zu nehmen, daß sie mit einer ernsthaften theoretischen Diskussions- und Forschungsperiode begannen und sich dabei auf den Marxismus beziehen und langfristig denken. Ein anderer positiver Punkt ist die Schaffung von Diskussionsmöglichkeiten in einigen Zeitschriften, wo sich die verschiedensten sozialistischen Theoretiker in aufeinanderfolgenden Beiträge miteinander auseinandersetzen können. So entsteht langsam ein Diskussionskreis von sozialistischen Theoretikern mit unterschiedlichem Hintergrund. Das Interessante dabei ist, daß sich dieser Kreis aus Revolutionären zusammensetzt, die seit Mitte der 60'er Jahre aktiv in der sozialistischen Bewegung der Türkei sind. Bis etwa 1970 diskutierten die Linken in der Türkei gemeinsame Themen, wenn sie sich auch um verschiedene Zeitschriften gesammelt hatten. Nach 1970 gab es keine gemeinsamen Diskussionsthemen der Linken mehr, jede Bewegung diskutierte ihr eigenes Thema, niemand las die Zeitung der anderen; wenn man sie gelesen hätte, hätte man sie nacht verstanden. Jetzt ist es nach Jahren erstmals der Fall, daß in dem oben erwähnten engen Rahmen gemeinsame Themen diskutiert werden, unterschiedliche Traditionen aufeinander eingehen. Wenn eine neue Formierung der Sozialisten sich in diesem Rahmen entwickeln und sich mit langsamen, aber sicheren Schritten mit der sich entwickelnden Arbeiterbewegung verbinden kann, kann es zu interessanten Entwicklungen kommen.

Exil Nun zu der Sozialisten im europäischen Exil: Lenin spricht davon, daß die russischen Revolutionäre, wegen des Zwangexils aufgrund des Zarismus, mit den fortschrittlichsten Geistesströmungen und Organisationen, die genau im Gegensatz zur Rückständigkeit Rußlands standen, bekannt wurden, und erwähnt die Bedeutung, die dies für die russische Revolution hatte. Die erste große Welle des Exils von türkischen Intellektuellen und Revolutionären fand Ende 35


des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts statt. Die Jungtürken konnten aus Europa nichts außer drittklassigen literarischen und Kunstwerken, und metaphysischen Soziologien übernehmen. Die, die heute die zweite große Welle des Exils erleben, ähneln aufgrund ihrer gesellschaftlichen Lage den russischen Revolutionären und tendieren dazu, die fortschrittlichsten Geistesströmungen kennenzulernen, aber es gibt dennoch viele Indizien dafür, daß das Resultat wiederum gegenteilig sein wird. Als die russischen Revolutionäre nach Europa kamen, befanden sich die Arbeiterklasse und der Marxismus hier im Aufschwung. Im heutigen Europa wird mit dem Marxismus wie mit einem toten Hund verfahren. Man kann sehen, daß die fruchtbarsten Forschungen und theoretischen Beiträge nicht von den Marxisten oder der Arbeiterbewegung, sondern von der Frauenbewegung und vom Feminismus und von anderen Bewegung kommen. Die türkischen Revolutionäre im Exil, die nach der Niederlage vom 12. September offen für Kritik und lernbereit nach Europa kamen, trafen auf keine aufsteigende Arbeiterbewegung und auf keinen Aufschwung eines revolutionären und produktiven Marxismus. Daher haben sie kaum das Glück der russischen Revolutionäre. Während bei den Russen die kritischsten und besten Köpfe beim Marxismus ankamen, entfernen sich nun die Türken vom Marxismus. Aber es gibt immer noch eine Chance : Die Arbeiterklasse in Europa erlebt z. Z. die in ihrer Geschichte gefährlichste und größe Spaltung, nämlich die in Einheimische und Ausländer. Die Bourgeoisie richtet ihre sämtlichen Angriffe auf diesen schwachen Punkt. Dies wird die ebene sein, auf der die bestimmenden Kämpfe stattfinden werden. Moderne bürgerliche Zivilisation heißt Europa. Jenes Europa, das sowohl der Geburtsort des Marxismus als auch des Faschismus ist. Beide Weltkriege sind dort aus gebrochen. Die erfahrenste Bourgeoisie und erfahrensten Arbeiter der Welt sind dort. Das Herz Europas ist Deutschland. In Deutschland wird sich das Resultat des Spaltung der Arbeiter, besonders in Türken und Deutsche, zeigen. In den europäischen Ländern gibt es unter keiner Gruppierung der Arbeitsimmigrannten eine vergleichbare, exilierte sozialistische Intelligenz mit bestimmter theoretisches und praktisches Erfahrung. Andererseits sind die Arbeiter aus der Türkei in der Tegel in wichtigen Industriezweigen zahlenmäßig besonders stark vertreten und bilden nach europäischen ökonomischen und rechtlichen Standart die unterste Immigranntengruppe. Die Verbindung von beiden ist ein Geschenk der türkischen sozialistischen Bewegung an die europäischen Arbeiterbewegung. Und die revolutionären Intellektuellen aus der Türkei haben nur diese eine Chance und diesen einen Ausweg, um unter den Bedingungen des Exils nicht unterzugehen. Anmerkung: Es ging hier nur um die revolutionäre und sozialistische Bewegung der Türkei. Kurdistan bildet mit seiner anderen Traditionen eine eigene Welt, Celal Aydın, SOZ Magazin'in Juli 1988 Demir Küçükaydın

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Der Platz Kıvılcımlı’s im Rahmen der Entwicklung des historischen Materialismus Bis heute fanden Dr. Hikmet Kıvılcımlı’s historische Untersuchungen und deren soziologische Ergebnisse kaum Beachtung, stattdessen wurde er generell aufgrund seinen persönlichen Eigenschaften und ethischen Ansichten oder wegen seiner Haltungen in bestimmten politischen Situationen bewertet. Obwohl gerade diese Beiträge von ihm, die im internationalen Maßstab untersucht werden müssten, sich auf diesem Gebiet vertiefen. Um den Ansatz Kıvılcımlı’s und den wahren Platz und die wahre Bedeutung seiner Fragestellungen und Lösungsvorschläge zu verstehen, muss man den Aufbau des historischen Materialismus, der eigentlich nichts anderes als die einzig wirkliche und wissenschaftlich dialektische Soziologie darstellt, und dessen ungleichmäßige Entwicklung seiner Elemente kurz anschneiden. Die Geschichte des historischen Materialismus, ich meine hier die begriffsgeschichtliche Historie, konnte bis heute konkret durch Rückwärtswendungen und Verbiegungen in der Geschichte nicht als abstrahierte Geschichte der unverfälschten Bewegung der Theorie formuliert werden. Jedoch würde die Beobachtung der wahren historischen Bewegung den Wert Kıvılcımlı’s verdeutlichen und könnte hilfreich für das Verstehen seines Beitrags in diesem Gebiet sein und somit zum Verständnis dieser Lehre beitragen. Die theoretischen Werke von Marx und Engels den Begründern des historischen Materialismus zeigen ausgehend von der Philosophie, wo ihr Ausgangspunkt liegt, die Tendenz zur Veränderung zur Geschichte und Soziologie und von dort zur Ökonomie. Als Marx 1845 in der elften Feuerbachthese schrieb, "dass die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert hätten, und es eigentlich drauf ankomme, sie zu verändern. ", bedeutete das den Bruch mit der Philosophie. Um aber die Welt zu verändern, musste man sie erklären; ihre objektiven Bewegungsgesetze kennen. Diese Gesetze kann man aus dem einzigen Laboratorium der Gesellschaftswissenschaften, der Geschichte gewinnen. Die Untersuchung der Geschichte aber, verdeutlichte, dass die materiellen Produktionsverhältnisse in letzter Instanz vom Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Produktivkräfte bestimmt werden, kurz es zeigte sich, dass die Ökonomie das Fundament darstellt, auf der sich der gesamte gesellschaftliche Überbau erhebt. Da die allgemeine Warenproduktion die ökonomische Basis der modernen Gesellschaft charakterisiert und weil Warenproduktion die Gesamtheit der gesellschaftlichen Prozesse in ihren Sog zieht; musste man, um die moderne Gesellschaft zu verstehen, die Gesetze der allgemeinen Warenproduktion kennen. Aufgrund dieser Lage, gestaltete sich das Hauptwerk von Marx als eine Kritik von Ökonomie und Politik. Die ökonomisch politischen Untersuchungen, die Marx jahrelang betrieb und die seine gesamte Energie und Kreativität beanspruchten, waren letztendlich nichts anderes als ein

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kleiner Anfang, um die Basis zu verstehen, auf der sich die moderne Gesellschaft erhebt. Andererseits waren diese Untersuchungen aus der Sicht des größten Teils der bisher gelebten und der noch zu lebenden Geschichte, noch nicht mal ein Thema, um die gesellschaftliche Realität zu verstehen. Denn im größten Teil der menschlichen Geschichte existierte keine Warenproduktion oder hatte nur eine nebensächliche Bedeutung. Mit anderen Worten ist die von Marx und Engels skizzierte Theorie des historischen Materialismus nichts anders als ein Leitfaden, die die Anstrengung hunderter WissenschaftlerInnen und vieler Generationen benötigt um errichtet zu werden. Die Begründer hatten nur den Plan entwerfen können und ein paar Steine aufgetürmt. Sogar Marx Werk "das Kapital" sollte bloß ein kleiner Teil des eigentlich geplanten Werkes sein. In andere Bereiche der modernen Gesellschaft, in den Überbau (Klassen, Parteien, Ideologien, Staat, Kunst, Religion usw. ) war man noch nicht mal eingedrungen. Zum einen existieren einige als ob beiläufig erwähnte jedoch wertvolle Kommentare bei der Interpretation manch geschichtlicher Phasen und zum anderen wartete eine kolossale Geschichte auf ihrer Erforschung. Nachfolgende marxistische Generationen haben das Gerüst des historischen Materialismus, welches auf seine Verwirklichung wartete, nicht allein ausgehend von den Bedürfnissen dieser Wissenschaft heraus entwickelt, sondern haben sich aufgrund von Bedürfnissen und Schwierigkeiten, die sich aus ihrer eigenen sozialen Praxis ergaben, auf bestimmte Bereiche konzentriert. Engels hatte mal gesagt, dass die gesellschaftlichen Bedürfnisse, auf die Entwicklung der Wissenschaften mehr Einfluss haben als Hundert Universitäten. Der historische Materialismus als die Lehre von der gesellschaftlichen Praxis konnte sich dem Natürlich nicht entziehen. Die den Begründern nachfolgenden Generationen historischer Materialisten besaßen die begrifflichen Mittel für die Anforderungen des politischen Kampfes der damaligen Zeit, sie verwendeten ihre gesamte Aufmerksamkeit und Energie auf die Frage wie die Arbeiterklasse ihre historische Mission erfüllen kann und konzentrierten sich daher auf die Politik. So kam es, dass Probleme strategischer, taktischer, programmatischer und organisatorischer Art, zu den Bereichen wurden, wo wirklich wichtige theoretische Arbeiten entstanden und so gleichzeitig zum Zentrum des theoretischen Interesses wurden. Sogar Arbeiten, die auf den ersten Blick keine Bezüge zu diesen Bereichen zu haben schienen, sind nur, in dem Maße sie sich mit Fragen zur Strategie, Programmen und Bündnissen befassten, an die Tagesordnung gelangt. Im Gegensatz zu den späteren Generationen waren sie, wenn sie sich wie die Begründer über Philosophie unterhielten, sogar politisch gewesen. Ab der zweiten Hälfte von 1920 begann mit der Isolation der Oktoberrevolution, ihrer beginnenden Degeneration und durch die Niederlage der Revolutionen in Westeuropa eine bis in unsere Tage anhaltende Phase, die durch die Herrschaft sozialdemokratischer und stalinistischer Parteien über die Arbeiterbewegung gekennzeichnet ist. In dieser Phase haben sich sozialistische, kritische und kreative Köpfe, um nicht in offene Kämpfe mit diesen Parteien verwickelt zu werden, und um ihre fundamentalkritische historisch materialistische Haltung gegenüber der bestehenden Gesellschaft fortführen zu können, sich auf abstrakte Themen, besonders im Bereich der Philosophie und Kunst, konzentriert. Sie haben das Marxsche Vorgehen entgegengesetzt angewendet. Die Radikalität in der Kritik konnte nur

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durch ein Abgleiten ins Abstrakte bewahrt werden. Wie einst die schwache deutsche Bourgeoisie ihre radikale Kritik nur vermittels von Musik und Philosophie hervorbrachte. Die als trotzkistisch bezeichnete und in Wahrheit aber auf der Verteidigung des klassischen Erbes sich konzentrierende Strömung hat, obwohl sie im Gebiet der klassischen Ökonomie, der Politik und der Klassen kreative Werke hervorgebracht hat, den Preis für die Fortführung der Tradition und für die Ablehnung politischer Kompromisse mit der Isolation von den Intellektuellen und Arbeitern bezahlt. Nachdem die Interessensschwerpunkte und der Wandel der verschiedenen Generationen der Theoretiker des historischen Materialismus kurz dargestellt worden waren, zeigte sich, dass sich fast alle ihre Werke auf das moderne Westeuropa konzentrieren und die vorkapitalistische Geschichte und das außereuropäische Gebiete nie auf der Tagesordnung gestanden haben; strukturell betrachtet zeigt sich eine Begrenzung auf moderne Philosophie und Kunst. Klassen, Strategien, Taktiken, Organisationsformen, Staat, Religion; die moderne Produktionsweise und die alten Produktionsweisen samt ihrer Klassenstruktur und andere ähnliche Themen waren nicht von Interesse. Der Aufstieg des Marxismus ab 1960 hat sogleich diese Bereiche aktuell werden lassen. Genau hier, in den Bereichen, die sich außerhalb des "westlichen Marxismus" bewegen, wird die Bedeutung der Beiträge Dr. H. Kıvılcımlı’s deutlich. Die Entwicklungen, die ab 1960 in diesen Bereichen durch die Arbeit einer Vielzahl von Marxisten erreicht wurden, können dem in den entlegensten Gefängnissen dieser Erde von Kıvılcımlı Geschaffenen oft in keiner Weise das Wasser reichen. Sogar in Situationen, wo man unabhängig voneinander sich auf die selben Bereiche konzentriert hat, zeigen die von Kıvılcımlı selbstständig erarbeiteten Ergebnisse verblüffende Ähnlichkeiten, mit denjenigen, die die klassische marxistische Tradition (die trotzkistische Bewegung) fortführen. Typische Beispiele hierfür wären die Klassen, die Spaltungen innerhalb und zwischen den Klassen, die Bürokratie, der autonome Charakter des Staates usw. Kıvılcımlıs wichtigster Beitrag zum historischen Materialismus war sicherlich die Entdeckung der Entstehungs-, Entwicklungs- und Zusammenbruchsgesetze vorkapitalistischer Zivilisationen. Genau wie das Hauptwerk von Marx versucht hat das Geheimnis der modernen Gesellschaft zu lüften, hat auch sein Werk das Geheimnis der vorkapitalistischen Zivilisationen gelüftet. Den Niedergang von Zivilisationen als historische Revolutionen erkannt zu haben, und als Subjekt dieser Revolutionen die Bedeutung ursozialistischer Traditionen aufgezeigt zu haben, bilden den Gipfel dieser Entdeckungen. Diese Entdeckungen Kıvılcımlı’s warten darauf entdeckt zu werden. Dadurch, dass die moderne Arbeiterklasse, ob aus objektiven oder subjektiven Gründen, der Erfüllung seiner historischen Aufgaben, ähnlich den antiken Sklaven, nicht nachkommt und die moderne Zivilisation immer mehr der Endphase der klassischen römischen Zivilisation ähnelt, wendet sich das Interesse vieler Theoretiker auf die vorkapitalistischen Zivilisationen, um unsere heutige Zeit zu verstehen (Beisp. R. Bahro). Diese Hinwendungen werden sicherlich auch zur Entdeckung Kıvılcımlı’s führen. Die Geschichte ist heute auf der Ebene theoretischer Abstraktionen und Probleme aktueller denn je zuvor. 39


Für Generationen von marxistischen Theoretikern blieb die Geschichte außerhalb ihres Interessensgebietes, was auch damit zu tun hatte, dass gleichzeitig offizielle Parteien sie als eine Funktion politischer Strategie auffassten. Lenins Generation hatte es nicht für nötig gehalten sich mit Geschichte zu beschäftigen; dagegen konnten sich die Generationen von Lukacs bis Althusser ebenfalls nicht damit beschäftigen, weil das Thema unangebracht geworden war. So kam es, dass Geschichte im Rahmen der materialistischen Geschichtsauffassung ein unterentwickelter Bereich blieb. Im Rahmen des bürgerlichen Denkens entwickelte es sich paradoxerweise zu dem Bereich, der durch fast alle historischen und gesellschaftlichen Theorien gestützt und in den am meisten investiert wurde. Mit dem Verlust des historischen Selbstvertrauens und des Optimismus der Bourgeoisie aufgrund des Aufstiegs der Arbeiterbewegung ist die Geschichte, die ein Grab untergegangener Zivilisationen darstellt, für diejenigen, die das Ende der bürgerlichen und der westlichen Zivilisationen vorgesehen haben, eine unerschöpfliche Analogienquelle (Spengler, Toynbee, Sorokin u. a.) Anderseits haben die rassistischen Theorien der imperialistischen Epoche besonders auf dem Gebiet der Geschichte ihre Legitimierung gesucht. Die Rolle und die Eigenschaften der "barbarischen" Völker mit ursozialistischen Traditionen bei der Entstehung und beim Niedergang der Zivilisationen wurde mit den rassischen Eigenschaften dieser Völker zu erklären versucht. Und so kam es, dass Geschichte, besonders die der Entstehung und der Niedergang von Zivilisationen, zum Tummelplatz für die rückschrittlichsten bürgerlichen Denker wurde. Mit der Zeit führte dies auch dazu, dass der Eindruck entstand, diese Problematik und dieser Bereich selbst besitze ein rückschrittliches Wesen. Dies setzte sich in den Köpfen fest und führte schließlich zur Reproduktion dieses Zustands. Der Grund für die zentrale Stellung der Geschichte in Kivilcimli’s theoretischen Arbeiten war weder abstrakte akademische Befürchtungen noch der Versuch gefährlichen Themen fern zu bleiben, sondern es war das Bestreben, die gesellschaftliche Struktur eines rückständigen Landes wie die der Türkei zu verstehen, also somit das Bestreben um eine noch weiterentwickeltere Politik. Die Entdeckung der vorkapitalistischen Geschichte und die Bewegungsgesetze dieser Gesellschaften im Rahmen des Begriffssystems des historischen Materialismus bilden daher den wichtigsten Kern seiner theoretischen Arbeiten und Beiträge. In seinem Werk "Tarih Öncesi, Tarih, Devrim, Sosyalizm" (dt. Vorgeschichte, Geschichte, Revolution, Sozialismus) untersucht er als Ganzes die vorkapitalistische Geschichte und die verschiedenen Formen des Übergangs zur Zivilisation. In "İlkel Sosyalizm'den Kapitalizme ilk Geçiş -İngiltere- ve Son Geçiş Japonya'da" (dt. „Der erste Übergang vom Ursozialismus zum Kapitalismus: England: der letzte in Japan)untersucht er den Übergang zur Moderne. Durch die nähere Betachtung einiger seiner methodologische Ergebnisse kann an dieser Stelle die Bedeutung seiner Beiträge aufgezeigt werden. Beispielsweise haben viele Marxisten in den Diskussionen der 60-ziger Jahre betont, dass das Schema in Form von primitiv, sklavenhalterisch und feudal eine Art Zwangsjacke darstellt und so das Verständnis der

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Geschichte unmöglich macht. Allerdings haben die selben Theoretiker diese Diskussionen auf einer scholastischen Ebene fortgeführt, und haben damit nichts anderes getan als andere Zwangsjacken - manchmal in Form der "asiatischen Produktionsweise"- zu produzieren, weil alle von der Hypothese ausgingen, wonach Geschichte weitgehend geradlinig voranschreitet. Kıvılcımlı’s Untersuchungen haben diese Hypothesen zu Fall gebracht. Die "ungleichzeitige Entwicklung" ist ein allgemeines Entwicklungsgesetz der gesamten menschlichen Geschichte. Außerdem besagt dieses Verständnis , dass z. B. obwohl der "Feudalismus" geschichtlich nach der "Sklavenhalterei" kam, es nach zivilisatorischen Maßstäben eine rückschrittlichere Produktionsform darstellt. Es ist interessant, dass sich auch die trotzkistische Tradition auf die ungleichzeitige Entwicklung der Geschichte als ein charakteristische Eigenschaft der gesamten Menschheitsgeschichte konzentriert, was kein Zufall darstellt. Wie in der antiken Geschichte gilt auch in der modernen Geschichte, dass das spät und nachzügelnd Kommende von einem Moment aufs andere nach ganz vorne geworfen wird, aber den Preis für diesen nach vorne geworfen Werden mit Degenerierung, Zivilisierung oder Bürokratisierung bezahlen muss. Die Geschichte gibt nichts ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen. Ohne das Gesetz der ungleichzeitigen Entwicklung ist sowohl die Russische Revolution und ihre anschließende Degeneration als auch der Aufstieg und Verfall der antiken Zivilisationen nicht nachzuvollziehen und zu verstehen. Ein weiterer Beitrag auf methodologischer Ebene bestand darin, dass er für die Analyse antiker Zivilisationen, nicht die ökonomische Basis, sondern den Überbau als Ausgangspunkt gewählt hat, diesen Ansatz hat er besonders in seinem Buch über die Geschichte des Osmanischen Reiches („Osmanli Tarihinin Maddesi“) angewandt. Obwohl einerseits Dr. H. Kivilcimli auf dem Gebiet der Methodologie, der Geschichte und der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten mit der offiziellen stalinistischen Lehre in jeder Hinsicht in Widerspruch stand, ist er andererseits auf dem Gebiet der zeitgenössischen Politik ein treuer Verfolger stalinistischer Ansätze gewesen, was er bis zum Vorabend seines Todes nicht erkannt hatte. Selbst seine Kritiker und Rezipienten haben diesen Widerspruch nicht gesehen. Seine konkreten und aktuellen Ansätze wurden als das logische Ergebnis seiner historischen Analysen interpretiert. In Wirklichkeit ist der Widerspruch zwischen beiden, vergleichbar mit der Art des Widerspruchs zwischen Hegels System und Methode. Was heute für die neuen Generationen als „gewöhnlich“ erscheinen mag, waren einst Ideen und Interessen, die in höchstem Maße „neu“ und subversiv waren, und die heute verstreut über Kıvılcımlı’s Bücher auf ihre Bewertung warten. Erinnern wir uns an einige: Beispielsweise wurde die Psychoanalyse durch die offizielle stalinistische Lehre immer als eine bürgerliche Wissenschaft bewertet und ausgeschlossen. Im Rahmen der Untersuchungen der Frankfurter Schule wurde die Psychoanalyse durchaus zu einem Instrument, womit die Realität der modernen Gesellschaft erschlossen werden konnte. Kıvılcımlı’s Haltung gegenüber der Psychoanalyse ist mit der Tradition von Trotzki und des „westlichen Marxismus“ vergleichbar. Er war bestrebt diese kritisch weiterzuentwickeln, allerdings vornehmlich bei der Analyse von präkapitalistischen Gesellschaftsformen. 41


Die wachsende Gefahr einer globalen ökologischen Katastrophe hat in den letzten Jahren die Mensch-Umwelt-Beziehung an die Tagesordnung gebracht. Während man heute in der Geschichte erst neu mit der Untersuchung solcher Beziehungen beginnt, hat Kıvılcımlı schon vor Jahren auf die Beziehung zwischen dem Niedergang alter Zivilisationen und den Umweltzerstörungen besonders hingewiesen. Kıvılcımlı war kein Feminist. Er hat die Frauen nicht als Subjekte des politischen Kampfes betrachtet, trotzdem war er mit seinen Ergebnissen vielen seiner Zeitgenossen voraus. Während heute die feministische Bewegung dabei ist die Geschichte neu zu schreiben, ist sie in vielen Bereichen mit Kıvılcımlı’s Ergebnissen konfrontiert (Beispiel hierfür ist sein Buch "Allah Önce Kadındı" dt. „Am Anfang war Gott eine Frau“). In den letzten Jahren waren viele marxistische Theoretiker zum einen wegen der in Lateinamerika sich entwickelnde Befreiungstheologie und zum anderen aufgrund den radikalen Bewegungen in den islamischen Ländern zur Neubewertung ihrer oberflächlichen Ansichten über Religion gezwungen. Bei Kıvılcımlı kann man sowohl die Voraussicht als auch die Gründe für die aktuellen Entwicklungen erkennen, sowie auf methodologischer Ebene ein heute sich erst langsam abzeichnendes tieferes Verständnis mit Leichtigkeit auffinden. Wir leben in einer Zeit, wo die europäische Zivilisation dabei ist ihren Sieg zu feiern, wo alle alles dafür geben würden, um ein Europäer zu werden bzw. um als solcher angesehen zu werden. Aber nach einer Weile wird man sehen, dass die eurozentristische Welt- und Geschichtssicht für den größten Teil der Menschheit Ausplünderungen und Katastrophen bedeuten werden. Die dritte Welt Bewegung, die in Europa von den Weißen als nicht zu ihr gehörend angesehen und ausgrenzt wird und die Reaktion der Ausgegrenzten auf diese Situation werden zur Entwicklung einer Kritik der eurozentristischen Geschichts- und Gesellschaftssicht führen, dessen erste Keime heute schon zu beobachten sind. Erst dann wird Kıvılcımlı’s Interpretation der Geschichte, die vergleichbar mit der Revolution des Kopernikus in der Astronomie ist, für diejenigen, die diese Kämpfe führen werden, eine revolutionäre Basis darstellen, auf die sie sich stützen werden. Jedoch bestehen die Ergebnisse von Kıvılcımlı’s Werk nicht nur aus diesen Dingen. Er hat in höchstem Maße wichtige methodologische Beiträge geliefert, um die heutige Welt und die „Neuen Sozialen Bewegungen“ besser zu verstehen und um neue revolutionäre Strategien zu entwickeln. Innerhalb des Marxismus wurzelte der Reformismus methodologisch immer in einem Verständnis von Geschichte als einer geradlinigen und stufenförmigen Entwicklung. Revolutionäre Marxisten waren immer gezwungen sich mit diesen Auffassungen auseinander zu setzen. Das machte es nötig die Betonung auf die ungleichzeitige Entwicklung zu legen. Doch auch wenn dieses Gesetz zu einem dialektischeren Verständnis der Gesellschaft führt, birgt es auch einige Grenzen in sich, um ein tieferes Verständnis der gesellschaftlichen Realität zu erhalten. In der wirklichen Gesellschaft begnügen sich die verschiedenen Produktionsformen und die auf diesen Fundamenten sich erhebenden Überbauten aufgrund

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der ungleichzeitigen Entwicklung innerhalb der Zeit, nicht nur um sich nacheinander abzulösen, sondern Existieren innerhalb einer Epoche nebeneinander. Allerdings bedeutet dieses Nebeneinander nicht nur ein unabhängiges Nebeneinaderbestehen, sondern eine gegenseitige Abhängigkeit, eine Art Symbiose, wodurch auch ein tieferes Verständnis der gesellschaftlichen Realität möglich wird. Begrenzt man sich allein mit der stufenförmigen oder dem ungleichzeitigen Geschichtsverständnis, kann man leicht zu dem Schluss gelangen, dass die entwickelteren Produktionsverhältnisse die älteren abschaffen werden, beispielsweise müsste im Kapitalismus die Familie verschwunden sein oder im Zuge der kapitalistischen Entwicklung die älteren Formen in den rückständigen Ländern beseitigt worden sein. Aber die gelebte Realität hat oft das genau Gegenteil dessen gezeigt. In der wirklichen Bewegung der Geschichte hat sich gezeigt, dass das Kapital, um sich reproduzieren zu können, die Familie gestärkt und präkapitalistische Beziehungen reproduziert und verstärkt hat. Dieser Verschmelzungsprozess hatte die Entstehung neuer Subjekte zur Folge. Obwohl keines dieser Subjekte als Produkte der Eigenlogik des Kapitals hervorgehen (z. B. verhält sich das Wertgesetz neutral gegenüber den Kategorien „Geschlecht“ und „Rasse“), ist die Vorraussetzung der Verwirklichung ihrer Ziele an die Abschaffung des Kapitalismus geknüpft und besitzen deswegen ein sozialistischen Charakter. Indem diese Bewegungen ihre eigenen Existenzbedingungen und –gründe diskutieren und vertiefen, sind sie über eklektische Probleme und Begriffe zu der Einsicht gelangt, dass verschiedenartige Produktionsformen symbiotisch Existieren und ein System bilden. Die methodologischen Wurzeln des eklektischen Ansatzes zum Verständnis der wirklichen Bewegung des Kapitals in der Geschichte sind ansatzweise bei Marx zu finden, erinnert sei in diesem Zusammenhang wie Marx die „Irische Frage“ behandelt hat oder an den Abschnitt über die „Grundrente“ im dritten Band von „Das Kapital“. In den letzten Jahren wurde dieser Ansatz von vielen Theoretikern, die sich mit unterdrückten Nationen und Geschlechtern beschäftigen, geradezu wiederentdeckt. Dr. H. Kıvılcımlı hat ebenfalls diesen Ansatz erfolgreich bei der Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Türkei angewandt. Seine bis heute nicht verstandenen Ansätze zur Verschmelzung von Finanzkapital und Wucherertum oder sein methodoligischer Ansatz in seinem Artikel „Kadin Sosyal Sinifimiz“ (dt. „die Frau als eine soziale Klasse“) gehört ebenfalls dazu. Und in Zukunft wird sie bei der Ausarbeitung einer neuen Strategie oder eines neuen Programms als ein methodologisches Prinzip wieder an der Tagesordnung stehen. Ohne diese begrifflichen Mittel wird es unmöglich werden den sozialistischen Charakter der Existenz und den der Ziele der Neuen Sozialen Bewegungen zu verstehen; kurz zusammengefasst, es wird unmöglich die wirkliche historische Bewegung des Kapitals zu verstehen. Die lateinamerikanischen Sozialisten haben den mit Kıvılcımlı verblüffende Ähnlichkeiten aufweisenden peruanischen Marxisten Mariategui, der am Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt hatte, wieder entdeckt. Dagegen wartet Kıvılcımlı immer noch darauf entdeckt und untersucht zu werden. Die erste Entdeckung des Kıvılcımlı’s durch die 68-er Generation in den 60-zigern in der Türkei fand weniger aufgrund seiner methodologischen und theoretischen Beiträge zum

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Historischen Materialismus statt, sondern hatte vielmehr seinen Grund in der Betonnung der Arbeiterklasse und Partei in den damaligen Diskussionen. Man kann sogar sagen, dass seine methodologischen und theoretischen Beiträge, zu den am wenigsten verstandenen gehören. Es ist unvermeidlich, dass zukünftige revolutionäre Erhebungen, die nicht mehr unsere politischen Allergien haben, Kıvılcımlı neu und zum Eerstenmal entdecken werden. Demir Küçükaydın 19. 01. 1990 (Übersetzt am 2001. 04. 02 von Ahmet Kimil)

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Marxismus und die Welt von heute Vor kurzem sagte ein bürgerlicher Politiker "Marx ist tot, Jesus lebt"2. Die "Zeit" (29. 12. 1989) machte eine Umfrage unter dem Titel "Ende des Kommunismus - und was nun?". Darin wird "das Ende der Ideologien" proklamiert. Der französische Soziologe Alain Touraine stellt die Frage ob "der Mensch immer noch links sein könnte". Das ist noch lange nicht alles. Unterdrückte Menschen und Nationen erheben sich gegen den Marxismus unter nationalen und religiösen Fahnen. In den Augen dieser Aufständischen werden Worte wie "Marxismus", "Kommunismus" oder "Kommunist" als Symbole der Unterdrückung, der Tyrannei und der Privilegien wahrgenommen und mit Haß verurteilt. . Diese nunmehr üblichen Phänomene hätten vor zehn Jahren selbst den Horizont eines Menschen von ungewöhnlich phantasievollem Weitblick übertroffen. Ist es unter diesen Umständen immer noch sinnvoll, . vom Marxismus zu reden, in einer Zeit, in der sich die Massen gegen "marxistische" politische Regime und Parteien erheben? Wie auch alle großen Religionen war der Marxismus eine Lehre, die die Welt, ihre Ungerechtigkeiten und deren Ursachen sowie Wege zu ihrer Befreiung erklärte. Diese Lehre hatte sich mit einem nur mit der Ausbreitung des Islam zu vergleichenden Tempo in den Köpfen und Herzen der Unterdrückten und Ausgebeuteten niedergeschlagen. jetzt rebellieren diese Massen unter der Fahne des Islam, des Christentums oder unter Führung nationaler Helden gegen die privilegierten Vertreter dieser Lehre, die ursprünglich für die vom Unrecht Betroffenen gedacht war. Kann man eine solche Lehre immer noch ernst nehmen, die ihre Bindungen zu den Massen nicht zumindest wie die Kirche halten konnte? Ja, es scheint auf den ersten Blick so, daß der Marxismus in eine. hoffnungslose Situation geraten ist. Zudem entdecken nicht nur die unterdrückten Massen, sondern auch die sich zum Marxismus bekennenden Parteien nacheinander die Segnungen der Marktwirtschaft. Jedoch ändern diese Tendenzen nichts an der Tatsache, daß der Marxismus die einzige geeignete Lehre menschlicher Emanzipation ist. Warum ist das so? Weil es immer wieder Menschen gegeben hat, die auch im Namen des Marxismus und ihn verteidigend unter Einsatz ihres Lebens bewiesen, daß jene im Namen des Marxismus begangenen Taten mit dem Marxismus nichts zu tun hatten. Sie haben die kritische Haltung des Marxismus und den Marxismus als eine Lehre im Interesse der Unterdrückten erhalten 3. 2

Norbert Blüm; die Bourgeoisie läßt solche Aussagen durch einen Minister mit Arbeiterherkunft machen.

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Besonders haben die "Linke Opposition" und die "trotzkistische" Tradition die Ehre des Marxismus gerettet. So wurden nicht nur die auf das Begriffssystem des historischen Materialismus sich stützende Analyse und Voraussagen auf glänzende Weise bestätigt, sondern es wurde dadurch gleichzeitig bewiesen, daß der historische Materialismus die allein geeignete Theorie zur Voraussage und zum Verstehen der jetzigen Entwicklung ist. Darin liegt das eigentliche verdienst dieser Tradition.

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Sie haben seit langem den Ausgang in Osteuropa im großen und ganzen vorausgesehen. Der historische Materialismus ist eine selbstkritische Wissenschaft, das heißt, er ist auch fähig, sein Schicksal zu erklären. Alle diese anachronistischen Entwicklungen erbringen in dem Sinne nichts, was durch den historischen Materialismus nicht begriffen. werden könnte. Als einzige Theorie bewahrt er sich sogar die Eigenschaft, den wahren Sinn dieser Ereignisse zu verstehen. Überdies sind nationale und religiöse Strömungen nicht in der Lage, ein Programm für die unterdrückte Mehrheit der Menschen zu entwickeln. Die Unfähigkeit und die Entartungen dieser Bewegungen werden schneller als erwartet auftreten. Diese Zeit kann lang sein, wenn man von der Lebensdauer eines Menschen, doch kurz, wenn man von der menschlichen Geschichte ausgeht. Von unserem Standpunkt aus rebellieren die Massen nicht gegen den Sozialismus, sondern gegen die Privilegien einer Kaste, die unter der Fahne, des "Sozialismus" aufgetreten ist. Sie erheben sich nicht, um den Kapitalismus einzuführen, sondern um die bürokratische und willkürliche "Planung" zu beenden, die nichts als Planlosigkeit war. Da sie aber nicht wissen können, womit sie zu ersetzen wäre, schlagen sie sich auf die andere Seite. Die Enttäuschung wird schneller als man glaubt, eintreten. Selbst in den Metropolen gibt es Millionen von Arbeitslosen. Die . kapitalistische Welt schwimmt in einem Schuldenmeer. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, daß die Integration der osteuropäischen Länder in den Kapitalismus einen Anstieg der Profitrate wie in der Nachkriegszeit hervorbringt, daß infolgedessen die Investitionen zunehmen, wodurch eine neue Periode einer langen expansiven Welle eintreten würde. Im Gegensatz zur Boulevardpresse werden die seriösen Köpfe des Bürgertums um so nachdenklicher, je mehr die Bewunderung für den Kapitalismus - wie zum Beispiel auf extreme Weise in Polen - sich ausbreitet. Sie wissen, daß große Liebe durch Enttäuschung leicht in Haß umschlagen kann. Alle diese Entwicklungen zusammengefaßt: der Aufstand von Millionen Menschen unter der Fahne von Religion oder Nation gegen die Regimes und Parteien, die angeblich durch den Marxismus inspiriert sind, die Verkündigung vom Ende des Marxismus durch die bürgerlichen Politiker und Theoretiker bereiten dem revolutionären und kritischen Marxismus keine Schwierigkeiten. Das Verhältnis des Marxismus zur heutigen Welt so. zu verstehen, daß er nur die vor unseren Augen sich abspielenden großen Ereignisse betrachtet, heißt übersehen, daß der Marxismus in der Tat sowohl als Bewegung als auch als, emanzipatorische Lehre und Wissenschaft durch die heutige Welt ‚ durch deren ernsthafte Probleme herausgefordert ist. Ja, man kann wohl heutzutage von der Krise des Marxismus reden, man muß sogar davon reden. Man darf davor nicht zurückschrecken. Wenn der historische Materialismus, der beansprucht, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu erklären, eine Wissenschaft - wie er behauptet - ist, wird er sich entwickeln. Diese Entwicklung wird selbstverständlich, wie alle Entwicklungen und Veränderungen in unserem Kosmos, schwankende, sprunghafte und krisenhafte Züge aufweisen. Diese Krise ist weder durch die Ereignisse in den osteuropäischen Ländern noch durch die Kritik des Bürgertums entstanden. Im Gegenteil, die

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eigentliche Kritik am Marxismus kommt von links. Zum ersten Mai in seiner Geschichte wird der Marxismus einer sehr ernsten Kritik durch die Bewegungen ausgesetzt, die von der Utopie der Gleichheit geprägt sind. Der Marxismus hatte im vorigen Jahrhundert einen recht leichten Sieg über die anderen sozialistischen Strömungen errungen. Er. erhielt jedoch seine Strafe dafür, indem er seine Entwicklungsmöglichkeiten nicht ausnutzte. In dieser . Hinsicht erlangt er wahrscheinlich erst jetzt seine Chance4. In den letzten Jahren beobachten wir einen Prozeß, in dem die Intelligenz sich zunehmend vom Marxismus entfernt. . Er hat seinen intellektuellen Enthusiasmus in erheblichem Maße verloren. Wir meinen damit nicht nur jene in den romanischen Ländern, die sich von der Utopie einer auf Solidarität und Gleichheit ruhenden Gesellschaft trennen und die Front wechseln, nachdem sie den Strukturalismus oder die Segnungen der Marktwirtschaft entdeckt haben5, sondern auch diejenigen, die dieser Utopie treu bleiben und eine radikale Position behalten wollen, aber die notwendige Bestätigung im Marxismus nicht finden können. Im Hintergrund des verloren gegangenen intellektuellen Enthusiasmus des Marxismus steht nicht der Angriff der "neuen Rechten", sondern die Existenz der "neuen sozialen Bewegungen". Das Auftreten dieser "neuen sozialen Bewegungen" hat der hegemonialen Stellung des Marxismus auf zwei Gebieten ein Ende gesetzt. Er verkörperte seit seinem Entstehen in der Gesellschaft die radikalste Opposition und Kritik. Darin besaß er fast ein Monopol. Aber er verlor es durch die neuen gesellschaftlichen Bewegungen. Zum Beispiel hat die Frauenbewegung, der Feminismus, im Vergleich zu den geläufigen marxistischen Vorstellungen in die Kritik, des bestehenden Systems weit radikalere Ansätze eingeführt. Der Marxismus war gleichzeitig eine globale Theorie. Er war dazu fähig, alle Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erklären und sie in einem logischen Begriffssystem zusammenzufassen. Dieses Monopol ist ihm auch verloren gegangen. Der Marxismus ist zum Beispiel noch nicht in der Lage, sich feministische und ökologische "Paradigmen" in einem größeren System anzueignen. Der Zustand spitzt sich durch die Haltung der Arbeiterbewegung, weiter zu. Der Marxismus ist eine Lehre, deren Schicksal an die Arbeiterbewegung geknüpft ist. Deren Krise wiederum bestimmt die Krise des Marxismus, den Verlust seines Radikalismus und seiner Globalität. An dieser Stelle wollen wir an einige Erfahrungen erinnern. Im vorigen Jahrhundert und Anfang dieses Jahrhunderts gab die Arbeiterklasse tatsächlich internationalistische solidarische Beispiele. Heute stellen sie sich und ihre Parteien an die Seite bürgerlicher Kräfte 4

Perry Anderson: In the Tracks of Historical Materialism, London 1983.

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Der peinliche Frontenwechsel der alten linken Intelligentia in den romanischen Ländern hat eigentlich nicht nur mit der Krise der Arbeiterbewegung sondern auch mit dem Verlust des intellektuellen Vermögens des Marxismus zu tun. Was die Massen mit ihrer Bewegung heute machen, hatte die Intelligentia zuvor in ihren Köpfen verwirklicht. So waren sie eine Art Vorläufer dieser Ereignisse. Bevor die Intelligentia sich wieder zum Marxismus hinwendet, scheint es unwahrscheinlich, daß es zu Massenbewegungen, kommt, die vom Marxismus angeregt sind. Revolution findet in den Köpfen der Intelligentia statt, ehe sie die Massen ergreift.

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und streiken mit nationalistischen Forderungen. Im Vergleich zur realen Arbeiterbewegung etwa hat die Friedensbewegung mit ihrem Vorschlag einer "einseitigen Abrüstung" eher internationalistischen Charakter. Im vorigen Jahrhundert und Anfang dieses Jahrhunderts besaß die Arbeiterbewegung internationale Organisationen. Heute gibt es, ausgenommen die seit 50 Jahren bestehende kleine 4. Internationale, keine solche an die Arbeiterbewegung gebundene Organisation. Demgegenüber gründet die ökologische Bewegung internationale Organisationen wie "Greenpeace". Sie werden sogar zu Zielscheiben der Geheimdienste imperialistischer Länder6. Selbst diese begrenzten Beobachtungen setzen manche methodologische Fragen auf die Tagesordnung. Die Geschichte ist die Geschichte der. Klassenkämpfe. Die Klassen werden wiederum durch die Art und Weise des Seins in den ökonomischen Verhältnissen bestimmt. Die Menschen beteiligen sich jedoch an den "neuen sozialen Bewegungen" nicht durch den Zwang der ökonomischen Verhältnisse. Wenn. dem so ist, daß diese Bewegungen keine Bewegungen der Klassen sind, wie ist es dann möglich, dies in das Begriffssystem des historischen Materialismus einzufügen, ohne dabei in einen. Eklektizismus zu verfallen? Wenn das Sein in den ökonomischen Verhältnissen nicht mehr das Bestimmende wäre, wie kann man dann den Grundsatz beibehalten, nach dem die Ökonomie in letzter. Instanz das Bestimmende ist? Das ist längst noch nicht alles, was sich an Problemen daraus ergibt. Obwohl diese "neuen sozialen Bewegungen" nicht im Rahmen der ökonomischen Verhältnisse entstehen und daher keine antikapitalistische Eigenschaft. besitzen sollten (nach Marx steht das Kapital zum -Geschlecht, zur Nation und Rasse neutral und die Gebrauchswerte werden nicht in Frage gestellt), wie wäre es möglich, daß diese Bewegungen von vornherein in ihrem Wesen einen antikapitalistischen Charakter annehmen und an der kapitalistischen Gesellschaft eine radikalere Kritik als die real existierende Arbeiterbewegung üben können. Im vorigen Jahrhundert und Anfang dieses Jahrhunderts kam die radikalste Kritik am bestehenden System immer aus der Arbeiterbewegung. Heute hat sich das verkehrt. Während Arbeiter, etwa um bessere Autos kaufen zu können, eine Lohnerhöhung anstreben, stellt sich die Ökologiebewegung der Produktion von Autos entgegen. Als wäre gerade die gestern den Arbeiter revolutionierende Tatsache, nämlich die Menge der produzierten Gegenstände, mit anderen Worten, der Tauschwert die Ursache seiner Blindheit vor diesen Fragen. Während der Arbeiter sich längeren Urlaub, schönere touristische Orte wünscht, stellen die "neuen sozialen Bewegungen" den Tourismus in Frage. Im vorigen Jahrhundert und Anfang dieses Jahrhunderts zeigten die Arbeiter mehr oder weniger Interesse für die Rechte der anderen Unterdrückten und setzten sich auch für sie ein. 6

So verübte der französische Geheimdienst einen Sabotageakt auf ein Schiff von "Greenpeace", das die von Frankreich im Pazifik durchgeführten atomaren Experimente zu verhindern suchte.

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Das galt wenigstens gegenüber den National- und Frauenbewegungen. Heute scheint es, als wäre Rassismus, Nationalismus und Sexismus integraler Bestandteil der Arbeiterkultur. Die Arbeiterbewegung von heute ist fast überall von einer korporatistischen Haltung geprägt. Im Gegensatz zur realen Arbeiterbewegung sind die "neuen sozialen Bewegungen" gegenüber den anderen Unterdrückungsformen sensibler. So führt die Frauenbewegung einen Kampf gegen den Rassismus in den eigenen Reihen. Die Friedensbewegung zieht den Schluß, daß sie sich weitergehende Ziele als den Frieden setzen soll, gerade um den Frieden zu erreichen. Die Ökologiebewegung schaut nicht untätig zu, wenn die Dritte Welt in eine Müllkippe verwandelt wird, wenn die Amazonaswälder zerstört werden. Sie hält sich von den Problemen der Dritten Welt nicht fern. Die schöpferischsten Beiträge sind in den letzten zwanzig Jahren aus den Reihen dieser Bewegungen gekommen. Auf der intellektuellen Ebene zeigen sie eine solche Vitalität in der Theorie wie die Arbeiterbewegung im vorigen Jahrhundert und Anfang dieses Jahrhunderts. Es genügt, nur den Beitrag der Frauenbewegung ins Gedächtnis zu rufen, der unsere Erkenntnis der Welt revolutionierte. Außerdem tauchen gegenüber diesen Bewegungen offensichtlich zwei Schwächen des Marxismus auf, die selbst einem oberflächlichen Menschen auffallen müßten. Der Marxismus konnte das Entstehen dieser Bewegungen nicht voraussehen. Die Probleme, die zum Entstehen dieser Bewegungen führten, und die Bereiche, in denen sie ihre eigentlichen theoretischen Beiträge leisteten, bilden gerade die weißen Flecken, die wenig entwickelten Gebiete der marxistischen Lehre. Das Bedürfnis dieser Bewegungen nach einer radikalen Theorie und Tradition wird vor allem durch die anarchistische und utopisch-sozialistische Tradition befriedigt. Diejenigen, die einen Anhaltspunkt im Marxismus suchen, müssen sich meistens mit Zitaten begnügen, die aus einer Periode stammen, in der der Marxismus mit jenen Bewegungen über dieselben Fragen diskutierte. Zusammengefaßt, die unter "Marxismus und die Welt von heute" zu diskutierenden Probleme sind jene, die durch die "neuen sozialen Bewegungen" zutage getreten sind. In der Auseinandersetzung mit diesen Fragen können zwei entgegengesetzte Schlußfolgerungen gezogen werden: Erstens, der historische Materialismus kann jener geschichtlichen Aufgabe, die alle diese Fragen umfassen muß, nicht mehr gerecht werden; es bedarf einer anderen Theorie, die diese Aufgabe erfüllen soll. Wir teilen diese Ansicht nicht. Was wir für richtig halten, ist die zweite Schlußfolgerung, wonach die Schwäche nicht aus den strukturellen Eigenschaften des historischen Materialismus entspringt, sondern ein Produkt der Entwicklung des historischen Materialismus ist. Diese Bewegungen, die geschichtlichen Bedingungen ihres Entstehens, die methodologische Problematik und selbst die Rückständigkeit der Theorie in jenen Bereichen können ihre Erklärung im Begriffssystem des historischen Materialismus finden. Wir sind nicht der Meinung, daß jene Erklärung nur eine rein theoretische Bedeutung hätte. Wir brauchen eine globale Theorie, um ein radikal revolutionäres Programm entwickeln zu

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können, das es ermöglicht, alle oppositionellen Bewegungen der Gesellschaft einzubeziehen. Heute sind mehr denn je Radikalität, Kritik und Totalität voneinander untrennbar. Wir sind der Ansicht, daß man im Rahmen des Begriffssystems des historischen Materialismus bleibend zu einer solchen einheitlichen Theorie gelangen kann, wenn man von den Begriffen wie "die historische Bewegung des Kapitals" und "Artikulation" oder "Symbiose" Gebrauch macht. Diese Begriffe sind eigentlich in der marxistischen Lehre schon von vornherein vorhanden. Aber sie sind eher vernachlässigte Bereiche geblieben. Der Grund dafür ist, daß der Marxismus die Schranken einer weißen, europäischen und männlichen Arbeiterbewegung im Grunde nicht übersprungen hatte. Jeder Versuch, das zu überwinden, mußte sich mit dem linearen Geschichtsverständnis historisch notwendig aufeinander folgender Gesellschaftssysteme, auseinandersetzen und die eben erwähnten Begriffe zu Hilfe ziehen. Ein. solches Herangehen an die Problematik ermöglicht uns nicht nur die Analyse dieser "neuen sozialen Bewegungen" und der zu ihrer Entstehung führenden Bedingungen, sondern auch das Begreifen, daß sie nicht allzu neu sind, und die Erklärung, warum die nationalen Befreiungskämpfe zwangsläufig einen antikapitalistischen Charakter besitzen. Die Methodik und die daraus zu ziehenden programmatischen und strategischen Schlußfolgerungen sollen erläutert werden. Selbst Marx vertrat anfänglich eine eurozentristische, lineare Geschichtsauffassung, wonach eine entwickelte Gesellschaft der rückständigeren ihre Zukunft aufweist. Der Kapitalismus beseitigte angeblich die präkapitalistischen Überreste und Produktionsweisen. Diese Vorstellung bedeutete im Namen der Zivilisierung und des historischen Fortschritts, wie es später bei den sozialchauvinistischen Parteien der Fall war, eine Befürwortung der Unterjochung der Kolonisierung der rückständigen Völker. Sogar Marx war einer derjenigen, der die britische Herrschaft über Indien begrüßt hat. Später jedoch, als er Sich mit irischen Frage beschäftigte, erkannte er, daß der Kapitalismus die rückständigen Verhältnisse nicht beseitigte, sondern zu ihnen eine Art symbiotischer Beziehung entwickelte, die das Entstehen eines revolutionären Subjektes wie der irischen Befreiungsbewegung zur Folge hatte. Das bedeutet nicht anderes als, methodologisch gesehen, daß das Kapital in seiner realen historischen Bewegung ein symbiotisches Verhältnis mit den alten Formen oder in eine "Artikulation" mit ihnen eingetreten ist. Engels war der Ansicht, indem er genau das methodologische Herangehen von Marx wiederholte, daß der Kapitalismus durch die Zersetzung der Kernfamilie Voraussetzungen der zukünftigen Gesellschaft schaffen würde. Von diesem Standpunkt aus betrachtete Engels die Frauenbewegung nicht als Subjekt. Es ist eines der größten Verdienste der modernen feministischen Bewegung, aufzuzeigen, daß die Prognose von Engels nicht eingetreten ist, zu erklären, welches die Ursachen sind: nämlich um die Arbeitskraft zu reproduzieren, um deren soziale Kosten zu verringern und um die Profitrate hochzuhalten, wird die Familie nicht aufgelöst, sondern gestärkt. Dies ist der eigentliche Grund, der zum Entstehen der Frauen Bewegung führte. So trat ein unerwartetes Subjekt auf. Unbewußt und ohne die Dinge beim

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Namen zu nennen, wendet sie dasselbe methodologische Mittel an: "Artikulation" und die "reale historische Bewegung des Kapitals". Wir sind der Meinung, daß diese Begriffe uns die Möglichkeit geben, die Realität global zu erklären, eine den neuen Aufgaben und Kräften angemessene Strategie zu bestimmen und die alte intellektuelle Stärke des Marxismus zurückzugewinnen. Demir Kücükaydin 26. 01. 1990. Hamburg Soz Magazin'in, "Marxismus Kurs Beibehalten?" Januar 1991

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Die Kurdische nationale Befreiungsbewegung und die PKK Ein türkischer Historiker hat einmal gesagt, daß die Türken die letzte Nation gewesen seien, die von der Herrschaft des Osmanischen Reiches befreit wurde. Diesem Urteil kann man heute ein weiteres, paradoxes Urteil nachtragen: Die Kurden sind die letzte Nation, die immer noch nicht von der Herrschaft des Osmanischen Reiches befreit ist. Es sind die Kurden, denn die türkische Modernisierung bzw. die "bürgerlichen Revolutionen" der Türken waren - und dies ist wieder paradox - bürgerliche Revolutionen, die sich gegen die Bourgeosie richteten. Sie waren von Seiten der osmanischen "Staatsklassen" organisierte und geleitete Bewegungen gewesen, die sich gegen die Bourgeosie der christlichen Nationen unter osmanischer Herrschaft richteten. Und so lebt in der Republik Türkei der Geist des osmanischen Reiches weiter. Die ersten Nationen, bei denen sich Widerstand gegen die Herrschaft des osmanischen Reiches formierte, waren die christlichen Nationen. Doch ihre Aufstände führten in Anatolien und auf dem Balkan zu sehr gegensätzlichen Entwicklungen: Während auf dem Balkan der christliche Kapitalismus den islamischen Frühkapitalismus überwand und sich so der Weg für die Balkanvölker öffnete, vernichtete in Anatolien der türkisch-kurdische Frühkapitalismus den griechisch-armenischen Kapitalismus. Diese Entwicklung läßt sich mit der divergierenden Entwicklung zwischen Festlandeuropa und den britischen Inseln vergleichen: Wärend auf dem europäischen Festland die Barthälomeusnacht die Entwicklung der bürgerlichen Klasse um einige hundert Jahre verzögerte, öffnete sich England der Modernisierung. Als die türkische Republik gegründet wurde, entstanden den Bauten der armenischen und griechischen Bourgeosie die Wohnhäuser der kurdischen und türkischen Feudalherren oder die Regierungsbauten des osmanischen Erbes, das den Namen 'Republik' angenommen hatte. Diese Rückwärtsentwicklung führte auch zur Rükentwicklung der kurdischen nationalen Befreiungsbewegung. Der Schwerpunkt der nationalen Befreiungsbewegung verlagerte sich zunächst unter den besonderen Bedingungen des Zweiten Weltkrieges in den Iran (wo kurzzeitig die kurdische Republik Mahabad aufblühte), und nach der Niederlage im Iran in den Irak. In dieser Zeit formierte sich in Türkisch-Kurdistan (Nordkurdistan) kein ernstzunehmender Widerstand auf breiter Massenbasis. Mit Hilfe von Unterdrückung und religiösen Orden wurden die kurdischen proletarischen Massen als Stimmenreservoir für die türkische Reaktion benutzt.

Einige Besonderheiten der PKK Die türkische sozialistische Bewegung, die 1960 im Zuge einer beschleunigten kapitalistischen Entwicklung und der Entstehung einer proletarischen Bewegung ihre Wiedergeburt erlebte (ihre eigentliche Geburt datiert aus den Jahren der Oktoberrevolution), fand in der Unzufriedenheit der kurdischen Nation einen natürlichen Verbündeten. Die

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Entwicklung der nationalen Befreiungsbewegung der Kurden in der Türkei begann im Rahmen der türkischen sozialistischen Bewegung und auf dem Hintergrund der gleichen marxistischen Terminologie. In den 60er Jahren gewann sie kein eigenes Format. Erst in den 70er Jahren begann das Ringen um eine eigene Identität, die zu der Trennung von der türkischen sozialistischen Bewegung führte. In den 80er Jahren wurde die Türkei Zeuge der Entstehung einer unabhängigen nationalen kurdischen Befreiungsbewegung in Kurdistan. In den 90er Jahren wurde daraus eine gewaltige Massenbewegung. Ihren organisatorischen und politischen Ausdruck fand diese Bewegung in der PKK. Während die kurdische nationale Bewegung sich derart erweiterte und an Kraft gewann, bewegte die türkische sozialistische Bewegung sich ab 1979 in eine Periode der Auflösung dies zunächst aufgrund eigener Fehler, dann verstärkt durch den Putsch vom September 1980 und zuletzt mit dem Ende der Sowjetunion. Die Bewegung besteht noch aus einigen kleinen und wenig einflußreichen Gruppierungen; als gesellschaftliche Kraft aber ist sie verschwunden. Der Zusammenbruch der türkischen sozialistischen Bewegung war derartig gewaltig, daß selbst der erstarkende kurdische Kampf ihn nicht bremsen konnte. Die kurdischen Parteien und die Bewegung in Türkisch-Kurdistan haben zwei Ursprünge. Zum einen sind sie die Parallele und die Verlängerung der Bewegungen, die in IrakischKurdistan kämpfen. Diese Parteien gewannen ihre Kraft im wesentlichen aus den kurdischen Stammesverbänden und waren aktiv und wirksam in den 50er und 60er Jahren. Kurdische Parteien, die aus der sozialistischen türkischen Bewegung entstanden bzw. als ihre Parallele bezeichnet werden können, waren erst in den 70er Jahren und danach wirksam. In diesem Teil der kurdischen Bewegung und Parteien spiegeln sich die Problematiken und Klassentendenzen der türkischen Bewegungen, aus denen sie entstanden sind, in gleichem Maße wider. Die Parteien und Bewegungen, die sich aus der reformistischen und bürgerlichsozialistischen Türkischen Arbeiterpartei der 60er Jahre sowie aus der an der Sowjetunion orientierten Türkischen Kommunistischen Partei der 70er Jahre bildeten, erlebten ihre goldenen Jahre in den 70ern, als sie einen großen Fortschritt gegenüber den Bewegungen darstellten, die sich auf feudale Sippentraditionen stützten. Die bekannteste dieser reformistischen Parteien und Bewegungen ist die von Kemal Burkay geführte. Der gemeinsame Charakter all dieser Parteien und Bewegungen ist ihre reformistische Orientiertheit. Und gleichzeitig kranken sie daran, daß sie treue Anhänger der sowjetischen Linie sind. Sie finden sich in einer Entwicklung, in der auf der einen Seite eine von der PKK vorangetriebene Radikalisierung stattfindet; auf der anderen Seite zieht der Zerfall der Sowjetunion die sozialistischen Bewegungen in eine rasante Zurückentwicklung und Auflösung. Die reformistischen Bewegungen sind zutiefst beunruhigt von den Erfolgen der von der PKK angeführten radikalen kurdischen Massenbewegung und warten sehnlichst auf deren Niederlage. Wenn die türkische Bourgeosie das Kunststück vollbringt, das traditionelle Gewicht der türkischen Armee in der Politik zu begrenzen und eine Linie zu fahren, die der in Spanien in bezug auf die Basken angewendeten entspricht, dann werden die Säule dieser Politik in Kurdistan die reformistischen Parteien sein. Zur Zeit warten sie darauf, daß die Reihe an sie kommt.

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Die weitere kurdische Richtung, die sich von der türkischen sozialistischen Bewegung trennte, trägt den Stempel des kleinbürgerlichen Sozialismus und des Radikalismus. Es sind die Parallelen von Mao- oder Albanien orientierten türkischen Bewegungen oder von Kastroorientierten und sandinistischen Bewegungen in Lateinamerika. Die bekannteste und auch doktrinärste dieser Bewegungen ist Rizgari. Die goldene Zeit dieser Bewegungen war kurz. Sie dauerte bis 1980 und muß als Widerspiegelung der Radikalisierung in der Türkei gewertet werden. Auch die PKK kann zu dieser Kategorie gezählt werden. Doch die Entstehung der PKK unterscheidet sich in bestimmter Hinsicht von der Entstehung der anderen Bewegungen. Diese Unterschiede können in bezug auf die Frage, warum die PKK wesentlich erfolgreicher war als alle anderen, einige Hinweise geben. In den 70er Jahren, insbesondere aber nach 1974, erlebten die Massenbewegungen in der Türkei einen gewaltigen Aufschwung. Parallel dazu radikalisierten sich die Massen. Doch diese Radikalisierung durchlief nicht synchron alle gesellschaftlichen Teile. Zunächst radikalisierten sich die arbeitslosen Massen der Städte und das Kleinbürgertum. Die Arbeiterklasse konnte sich ihre Position sichern, sie erreichte sogar reale Lohnerhöhungen. Dies erklärt, warum parallel zu der Radikalisierung auch die reformistischen sozialistischen Bewegungen und die sozialdemokratischen Bewegungen (TKP und CHP) insbesondere im Industrieproletariat an Kraft gewannen. Aufgrund von rückständigeren gesellschaftlichen Beziehungen blieb dagegen in Kurdistan eine Radikalisierung aus. Als dann 1978 die radikalisierten kleinbürgerlichen und arbeitslosen Massen ermüdeten, da setzte die Radikalisierung der kurdischen Arbeiter und der kurdischen unterpriveligierten Massen ein. Und in genau dieser Periode entstand die PKK. Sie fand ihre Basis in der mittellosen Jugend der Kleinstädte und wurde zum Ausdruck ihrer Haltung. Die PKK ist die letzte kurdische Bewegung, die in Türkisch-Kurdistan entstand. Eine weitere, wenig bekannte Besonderheit der PKK ist die Tatsache, daß sie die einzige kurdische Bewegung ist, an deren Gründung sowohl kurdische als auch türkische Revolutionäre beiteiligt waren. An der Gründung der anderen kurdischen Bewegungen waren nur Kurden beteiligt. Die Wurzeln der PKK liegen in den Traditionen der türkischen Bewegungen, die man zu den "Kastro-orientierten" zählen kann. Sie entstand als deren kurdische Parallele und gebrauchte eine stark stalinistisch geprägte Terminologie. Doch das bedeutet nicht, daß sie selbst stalinistisch geprägt. Stalinistisch geprägt sind eher die reformistischen kurdischen Bewegungen. Die PKK hat ihren Platz mehr zwischen den bäuerlichen nationalen Befreiungsbewegungen Vietnams und Chinas und der sandinistischen Bewegung Nikaraguas oder der kubanischen Bewegung. Die antidemokratische Haltung der PKK hat nichts mit Stalinismus zu tun. Sie erklärt sich aus dem Charakter von nationalen Befreiungsbewegungen, ein Charakter, der jeder Befreiungsbewegung innewohnt, egal welcher politischen Richtung sie angehört. Es gibt auf der Welt keine Befreiungsbewegung, die nicht ähnliche Praktiken wie die PKK angewendet hat, seien dies die nationalen Befreiungsbewegungen Namibias, Irlands, der Palästinenser oder der Basken. Die Kritik an der PKK bezüglich ihrer sogenannten stalinistischen Praktiken entbehrt nicht einer gewissen Doppelzüngigkeit: Hier wird nicht

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toleriert, was bei den anderen Bewegungen keinem auffällt. Die harte und entschiedene Haltung der kurdischen nationalen Befreiungsbewegung, die die zwischen den Alternativen Verrat oder Kampf keinen Platz für einen dritten Weg läßt, macht jede Form von Demokratie oder Diskussion innerhalb der Bewegung unmöglich. Eine kämpfende Armee kann in ihren Reihen keine abweichende Strategie oder gar Zweifel tolerieren. Nicht Politik, sondern die physischen Gesetze des Krieges sind bestimmend. Mit dem Prinzip des unbedingen Gehorsams sichern sich die bürgerlichen Armeen ein einheitliches Vorgehen. Die nationale kurdische Befreiungsbewegung sichert sich das gleiche mit einem Ausmerzen von Zweifel oder alternativen Strategien. Selbst die Bolschewiken und die Jakobiner, die intellektuellsten Revolutionen der Geschichte mit der breitesten demokratischen Kultur also, waren gezwungen, sich den physischen Gesetze des Krieges anzupassen, auch wenn sie in ihren Theorien ein derartiges Vorgehen nicht zu politischen Prinzipien aufwerteten. So hat die PKK auf der anderen Seite einen plebejisch-jakobinischen Charakter. Sie legt nur wenig Gewicht auf eine radikale und revolutionäre Intelligenz, die einen gemeinsamen Weg mit der PKK und mit einer modernen Arbeiterklasse innerhalb der PKK gehen könnte. Die rückständige soziale Wirklichkeit Kurdistans hat zunächst einmal eine derartige Entwicklung verbaut. Um als fiktive Realität existieren zu können, muß eine Nation ihr "Wir" definieren. Ein "Wir" läßt sich nur über "die Anderen" definien. In der Entstehungsphase einen nationalen Bewußtseins finden sich "die Anderen" immer in den unmittelbar benachbarten Nationen. Nahezu alle nationalen Befreiungsbewegungen und nahezu alle Nationwerdungen haben ihre eigene Identität auch in der Abgrenzung gegenüber einem oder mehreren Feinden gefunden. So waren zum Bespiel für die christlichen Balkanvölker, also die Armenier und die Griechen, "die Anderen" die Türken. Und für die Türken waren es die Armenier und die Griechen. Eine weitere Besonderheit der Bewegung, die die PKK anführt, ist die Tatsache, daß sie ihren wirklichen Feind und "die Anderen" nicht außen, sondern innen sucht. Die PKK nennt die türkische Nation nicht den Feind, sie spricht deutlich von "der türkischen Republik" das heißt von dem Staat der türkischen Bourgeoisie oder von der weiterlebenden Seele des osmanischen Staates. In ihren Aktionen ist sie bemüht, keine türkischen Zivilisten zu töten, sondern nur Soldaten und Polizisten anzugreifen. Doch wenn es um Kurden geht, schreckt sie auch nicht davor zurück, Zivilisten zu töten. Der Grund hierfür ist die Überzeugung der PKK, daß sie zu keinem Ziel kommt, solange die versklavte kurdische Nation nicht ihre Sklavenrolle abstreift. Die PKK hat ihren wirklichen Krieg gegen den versklavten kurdischen Kollaborateur geführt und führt ihn eigentlich immer noch gegen diese Gruppe. Ihr Bemühen ist es, der kurdischen Nation eine Identität zu geben, sie von dem Sklavenbewußtsein zu befreien und sie zu lehren, den Kopf aufrecht zu tragen. Sie versucht, die kurdische Nation nicht in Abgrenzung zu einer anderen Nation, sondern in Abgrenzung zu ihrer eigenen Versklavtheit zu definieren. "Die Anderen", die das "Wir" definieren, sind in der von der PKK angeführten kurdischen Befreiungsbewegung der "kapitulierende" Kurde mit der "Sklavenseele" und die türkische Republik, die auch die türkischen Werktätigen unterdrückt.

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Dies hat auch interessante Ergebnisse in bezug auf eine historische Herangehensweise: Die bürgerlichen und reformistischen kurdischen Bewegungen sind bemüht, die Kontinuität einer kurdischen Nation aufzuzeigen und machen aus allen Staaten, die seit den Medern in Ostanatolien entstanden, kurdische Staaten. Die PKK hält sich mit solchen Bemühungen zurück, sie macht sich sogar darüber lustig. Das ist eine Haltung, die sich in einer Nationwerdung oder in der Phase der Entstehung eines nationalen Bewußtseins selten findet. Sie wird oft mißverstanden, ebenso wie die Tatsache, daß die PKK insgesamt vielleicht sogar mehr Kurden als Türken getötet hat. Wer die hier beschriebenen Spezifika der PKK nicht kennt, wird nicht verstehen, warum der Kampf der PKK sich in erster Linie gegen kurdische Kollaborateure richtet und warum in diesem Kampf vielleicht sogar mehr Kurden den Tod finden als Türken. Diese in oberflächlichen Analysen oft kritisierte Haltung ist eigentlich eine interessante und anerkennenswerte Haltung der PKK. Die PKK ist die modernste Massenbewegung Kurdistans. Sämtliche Bewegungen aus der Zeit vor der PKK, die zu einer ernstzunehmenden Kraft wurden, bauten auf einem Stammesverband oder auf einem religiösen Orden auf. Dies wurde dann zu dem entscheidenden Schwachpunkt der Bewegungen, denn es gelang ihnen nicht, die alten Paradigmata, d. h. die Gemeinschaft der Abstammung oder der Religion, zu überwinden und mehr als regionale Bedeutung zu erlangen (Barzani, Talabani u. a. ). Die PKK ist die erste Bewegung mit Massenbasis, die sich weder auf einen Stammesverband noch auf einen Orden stützt und von Beginn an auf das nationale Paradigma ausgerichtet war. Diese moderne Besonderheit der PKK bewirkt es, daß sie nicht nur innerhalb der Grenzen eines Stammesverbandes, eines Ordens oder eines Staates, sondern in ganz Kurdistan (Türkisch-, Irakisch-, Syrisch-, IranischKurdistan) und in allen Orden, Religionen und Stämmen verbreitet und organisiert ist. Besonders nach den Aktionen von 1984 ist die PKK zunehmend zu einer Massenbewegung geworden. Mit dem Zuwachs an Kraft gewinnt sie auch eine größere Selbstsicherheit und eine größere Fähigkeit zur Toleranz. Heute gibt es in Türkisch-Kurdistan nur eine organisierte und kämpfende Kraft: die PKK. Die eigentliche Basis der PKK bildet die arbeitende, die arbeitslose, und die arme bäuerliche Jugend Kurdistans. Die von der PKK angeführte Guerilla-Bewegung sprengt gleichzeitig alle präkapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen in Kurdistan. So geschehen Veränderungen, die vor einigen Jahren selbst die kühnste Vorstellungskraft nicht erträumt hätte: Die Stammesbindungen zerfallen. Söhne und Töchter wenden sich gegen die sklavische und manchmal auch kollaborierende Haltung ihrer Eltern, setzen den nationalen Kampf gegen Blut- und Sippenbande, flüchten von Zuhause und schließen sich der PKK an. Insbesondere die Frauen unterstützen die PKK. Sie machen sich von der Sklaverei im Haushalt frei, schließen sich der PKK an, werden Guerillas und verrichten die gleiche Arbeit wie die männlichen Guerillas. Was die wirtschaftliche Entwicklung in Jahrzehnten nicht erreichen konnte, gelingt der PKK in wenigen Jahren und zwar auf einem schwierigen Feld, auf dem Feld der Kultur. Heute ist fast ein Drittel der Guerillas in der PKK Frauen und Mädchen. In diesem Sinne lassen sich die durch die PKK beschleunigten Entwicklungen mit den 1968er Entwicklungen in der westlichen Welt vergleichen. Wenn 1968 als gesellschaftliche Bewegung auch

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versagte, so hat die Bewegung doch Elemente und Werte in das politische und kulturelle Leben getragen, deren Fehlen heute undenkbar wäre. Ähnliches läßt sich auch für die Frauenbewegung sagen. Und so kann auch die PKK besiegt werden, doch die Veränderungen, die durch sie in Gang gebracht wurden, diese kulturellen Umwandlungsprozesse lassen sich nicht wieder zurückdrehen.

Die kurdische nationale Bewegung und die Schwierigkeiten und Grenzen der PKK Die PKK hat eine Reihe von positiven Merkmalen, die daher rühren, daß sie eine späte Bewegung ist. Doch sie trägt auch einige negative Merkmale mit sich, die den gleichen Ursprung haben. Das größe Unglück der kurdischen Nationalbewegung ist ihre späte Geburt; d. h. sie ist in eine Welt hineingeboren, in der die Menschheitsgeschichte einen Paradigmenwandel erlebt, der vielleicht nur in einigen tausend Jahren einmal passiert: Ein Wandel, in dem, wie in Osteuropa zu beobachten, nationale Bewegungen aus egoistischen Motiven wie die Bewahrung von Wohlstandsprivilegien, oder die Orientierung an den reichen europäischen Staten entstehen (siehe die baltischen Republiken, Kroatien, Slowenien und Ostdeutschland), in dem auf dem gesamten Planeten ein Apartheitssystem Form annimmt; ein Wandel, in dem der Kapitalismus einen geschichtlichen Sieg erringt, in dem sich anstelle eines politischen Kampfes, der die Gesellschaft verändern will, ein Mystizismus breitmacht, der nur sich selbst verändern will, in der eine epikureische Moral die Oberhand gewinnt; ein Wandel, in dem weit und breit keine revolutionäre Bewegung zu sehen ist. Die PKK und der Wuchs der kurdischen Nationalbewegung in den letzten Jahren sind die letzten Schwanengesänge der 68er Bewegung. Doch es ist niemand mehr da, der sie hört. Diese Situation bewirkt es, daß die PKK und die kurdische Nationalbewegung kein sehr weites Manövrierfeld und keinen großen Kreis von Verbündeten haben. Und diese Situation wird entscheidend für die Grenzen und Schwächen der PKK. Lediglich die eigene Kraft wird der PKK für den Erfolg nicht ausreichen. Sie gewinnt zwar Kraft aus den Widersprüchen der herrschenden Kräfte, doch sie ist auch gezwungen, sich der Sympathie und Solidarität der Unterdrückten der Türkei und der ganzen Welt zu versichern. Wie kann sie die Unterstützung der Unterdrückten der Welt erlangen? Das Ideal einer gleichberechtigten, geplanten, demokratischen Gesellschaft als Gegenstück zur bürgerlichen Gesellschaft holt inzwischen in der westlichen Welt keinen hinter dem Ofen mehr hervor. Die Sozialisten müssen eine Utopie entwerfen, die sich eindeutig von der bürgerlichen Zivilisation abhebt. Die Tatsache, daß die neuen sozialen Bewegungen und das Proletariat den Apparat des unterdrückerischen und bürokratischen bürgerlichen Staates nicht als ein Werkzeug auf dem Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft benutzen können, bedeutet auch, daß sie die materiellen Werkzeuge dieser Zivilisation nicht in ihrem Sinne einsetzen können. Mit diesen Häusern, diesen Wegen, diesen Wagen usw. läßt sich die Unterdrückung nicht beenden. Lassen wir den Versuch, ein derartige Utopie zu entwerfen. Solange das Problem der gesellschaftlichen Utopie auf der Welt nur einem sehr begrenzten Kreis überhaupt als Problem deutlich wird, solange läßt sich von der PKK und der kurdischen Nationalbewegung

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nicht der Entwurf einer alternativen Gesellschaft erwarten, dazu geben ihr weder ihr kulturelles Erbe, noch ihre Klassenbasis, noch ihr Paradigma die Möglichkeit. Doch das heißt auch, daß die PKK nicht die Sympathie und Unterstützung der Unterdrückten der Welt erlangen wird, abgesehen vielleicht von einigen marginalen Gruppen. Die Unterstützung, die es im Vietnamkrieg gab, scheint der PKK verwehrt. Natürlich ist es nicht so, daß diese Unterstützung für die kurdische Nationalbewegung unverzichtbar ist. Sie kann auch so erfolgreich sein. Doch die PKK ist gezwungen, die Sympathie oder die Unterstützung der Unterdrückten der Türkei zu gewinnen, gegen deren Staat sich ihr eigentlicher Kampf richtet. Nur so kann sie die türkische Bourgeoisie und den türkischen Staat isolieren. Die PKK weiß um diese Notwendigkeit; man kann auch nicht sagen, daß sie nicht alles in ihrer Kraft stehende tut, um diese Unterstützung zu erlangen. Doch hier trifft sie wieder auf immanente Grenzen. Die PKK kann sich der Sympathie und der Unerstützung der Arbeiter und Armen in Kurdistan und der ausgewanderten kurdischen Arbeiter und Armen in den Metropolen der Westtürkei, wo sie fast die Hälfte dieser Klasse bilden, sicher sein. Doch es gelingt ihr nicht, diese Sympathie und Unterstützung zu organisieren und zum Teil des Kampfes zu machen. Es hat sich nichts daran geändert, daß der eigentliche Kampfbereich der PKK die abgelegendsten Regionen Türkisch-Kurdistans sind. Dies liegt vor allem an der Begrenztheit der Programmatik der nationalen Befreiung, die die PKK vertritt. Um die kurdischen Städte und die Arbeiter und Unterdrückten der Türkei zu gewinnen, muß die PKK über die objektiven Ergebnisse des Kampfes hinaus für diese Gruppe ein Programm entwikeln. Doch um dies zu vollbringen, muß aus einer Partei der nationalen Befreiung eine Partei der sozialen Revolution werrden. Das aber verlangt zunächst, daß sich innerhalb der kurdischen Nationalen Befreiungsbewegung eine Revolution vollzieht. Leider jedoch sind die Aussichten auf eine derartige Veränderung innerhalb der PKK sehr gering und sie werden mit der Euphorie der Erfolge im nationalen Kampf nur noch geringer. Die PKK ahnt, daß sie für einen Erfolge die Unterdrückten der Türkei für sich gewinnen muß; sie ahnt, daß sie nach einer Basis in den Städten suchen muß; sie leugnet ihre Probleme auf diesem Gebiet nicht. Doch sie sieht die strategischen und programmatischen Dimensionen des Problems nicht, sondern sucht nach einer Lösung im Rahmen takischer und organisatorischer Aktionen und Vorkehrungen. So versucht sie beispielsweise dem Problem zu begegnen, indem sie der völlig aufgeriebenen türkischen Linken, die längst keine gesellschaftliche Kraft mehr ist, jede nur mögliche Unterstützung anbietet. Doch daß der Leichnam noch einmal zum Leben erwacht, scheint aussichtslos. Oder die PKK ist in ihren Aktionen und in ihrer Propaganda fortwährend bemüht zu zeigen, daß sie keine offenen Rechnungen mit den Unterdrückten der Türkei hat. Doch dann zerstören unkontrollierte Aktionen der städtischer Anhänger, die die PKK zu führen nicht in der Lage scheint, die ganze Propaganda mit einem Schlag, und um ihre Aktivisten nicht vor den Kopf zu stoßen, übernimmt die PKK die Verantwortung für die Anschläge. So geschehen bei dem Brandbombenanschlag auf ein Warenhaus in Istanbul, bei der in der anschließenden Panik Zivilisten starben. Solange aus der Dynamik des Kampfes keine wirklichen neuen Entwicklungen enstehen, ist

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weder zu erwarten, daß die PKK die Sympathie und die Unterstützung der Unterdrückten der Türkei erringt, noch daß die PKK die kurdischen Minderheiten in den Städten organisiert. Ohne diese Grenzen zu überwinden, strengt die PKK sich an, die Widersprüche in der Haltung der Herrschenden und die konjunkturellen Entwicklungen so zu nutzen, daß sich für sie ein Aktionsgebiet eröffnet. Doch die genannten Probleme begrenzen langfristig das Aktionsgebiet und können sich zu bedrohlichen Inkonsistenzen entwickeln. Zu diesen Inkonsistenzen gehört die äußerst begrenzte Sympathie und Toleranz, die Staaten wie der Iran und Griechenland der PKK entgegenbringen, die politische Konflikte mit der Türkei haben. Die relative Freiheit in dem Gebiet in Irakisch-Kurdistan, das nach dem Golfkrieg unter den Schutz der westlichen Staaten gestellt wurde, hatte für die PKK gearbeitet. Kurden und Peshmergas, die genug von der anpasserischen Verhandlungspolitik von traditionellen Führern wie Barzani und Talabani hatten, und ihnen ihr Vertrauen absprachen, haben sich der PKK angeschlossen. Heute ist die PKK auch in Irakisch-Kurdistan zu einer wachsenden Kraft geworden, an der man nicht mehr vorbeikommt. Diese Entwicklung hat Barzani und Talabani dazu gebracht, eine größe Zusammenarbeit mit dem türkischen Staat aufzunehmen, damit ihnen der Boden nicht endgültig unter den Füßen wegrutschte. Doch auch der Parallelorganisation der PKK in Irakisch-Kurdistan gelingt es nicht, sich in eine Partei der sozialen Revolution zu verwandeln; sie ist sogar in noch größerer Bedrängnis. Der zeitliche befristete Caharakter der Situation im Irak kann der PKK langfristig keinen Erfolg einbringen. Die Tatsache, daß im Irak unter dem Schutz der westlichen Staaten und der Türkei eine autonome kurdische Region entsteht (deren Unterstützung die Türkei als offizielle Politik zugesagt hat) nimmt, wenn man sich die Stärke der traditionellen Führer und die Müdigkeit der irakischen Kurden vor Augen führt, der PKK auch diese Basis. Zurück bleibt Syrien. Im Rahmen der türkisch-syrischen Auseinandersetzung um das GAPProjekt hat Syrien die PKK als einen Joker in seiner Hand gesehen, ihr Toleranz gezeigt und sie sogar unterstützt. Die PKK hat dies gut zu nutzen gewußt: Sie hat sich einen sicheren Stützpunkt in der Bekaa-Ebene aufgebaut und sich der Unterstützung der syrischen Kurden versichert. Doch obwohl in Syrisch-Kurdistan die Kurden nicht einmal als syrische Staatsbürger gelten, hat die PKK keine Organisation oder Bewegung gegen das syrische Regime aufgebaut um das Einvernehmen mit dem syrischen Staat nicht zu zerstören. Der Unterstützung der syrischen Kurden hat die PKK sich dabei versichert, sie bietet dem syrischen Regime sogar diese Unterstützung an. Das syrische Regime, dessen Basis eine Minderheit im Land ist, braucht diese Unterstützung. Führt man sich die schwierige Situation der PKK vor Augen, so ist die Tatsache, daß die PKK sich der Unterstützung der syrischen Kurden für ihre einvernehmliche Politik mit der syrischen Regierung einholt nicht verwunderlich. Doch seit dem Golfkrieg und seit dem Zerfall der Sowjetunion ist viel Wasser den Euphrat hinuntergeflossen. Syrien ist ein Bündnispartner der USA geworden. Ein Druck der Türkei und der USA, der zudem noch von einer Einigung in Palästina unterstützt werden kann, mag die Toleranz und Unterstützung, die Syrien der PKK entgegenbringt, von einem Tag auf den anderen ins Wanken bringen. So bleibt als wesentliche Basis der PKK wieder nur Türkisch-

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Kurdistan. Hier kann die PKK noch auf Jahre hin als Guerillabewegung einen Kampf führen, der weder anwächst noch kleiner wird. Doch einen Erfolg wird er nicht bringen, und er wird langfristig der PKK Kraft rauben. Die herrschenden Klassen der Türkei wissen ihre entsprechenden Vorteile auszuspielen. Sie arbeiten daraufhin, daß die PKK ihre Stützpunkte im Irak und in Syrien verliert; sie sichern den Kurden in der Türkei eine formelle Sprachfreiheit zu; gleichzeitig organisieren sie über den Geheimdienst MIT eine rassistische Kampagne gegen die Kurden mit der Androhung von Genozid und Vertreibung und setzen alle verfügbaren Mittel ein, um die PKK militärisch zu erdrücken und ihr die Massenbasis zu nehmen. So findet die PKK sich in der Sackgasse, und um innerhalb dieses Wettkampfes gegen die Zeit die gerade noch günstige Stunde zu nutzen und für die kurdische Nation etwas herauszuholen, erkämpft sich auf der einen Seite militärische Erfolge und verhärtet die Fronten indem sie androht, den Krieg in den Westen auszubreiten; auf der anderen Seite ruft sie die türkische Regierung an den Verhandlungstisch und betont, daß ihr Ziel nicht die staatliche Loslösung, sondern die Anerkennung der kurdischen Wirklichkeit ist. Doch die Ohren der türkischen Bourgeoisie sind diesem Aufruf gegenüber aus zwei Gründen taub. Zum einen ist die PKK inzwischen eine Bewegung der unterdrückten Massen. Das bedeutet, daß wer sich mit ihr einigen will, zum einen mit dem Aufstand dieser Massen konfrontiert ist und zum anderen Gefahr läuft, daß auch andere unterdrückte Massen Mut fassen. Außerdem wird die türkische Armee niemals einer Einigung in Kurdistan und einer Anerkennung der kurdischen Wirklichkeit zustimmen. Und die Macht der Armee ist noch die alte. Entsprechend ist bei dem Status Quo der Kräfteverhältnisse die türkische Bourgeosie noch weit entfernt davon, eine politische Lösung zu akzeptieren. Und das heißt, daß das kurdische Volk noch viel Leid zu ertragen haben wird. Ein Wunder wird notwendig sein damit die PKK im Rahmen der aktuellen Situation die nationale kurdische Befreiungsbewegung zum Erfolg führt, So ein Wunder könnte der Aufstand der kurdischen Massen in der Türkei sein, oder die Isolierung und Zersplitterung der Bourgeosie und der Armee, ausgelöst durch eine plötzliche Krisensituation. Doch für derartige Wunder gibt es keine Anzeichen. Kurzfristig bietet sich auch keine politische Lösung an. Am wahrscheinlichsten ist eine Etablierung des Guerillakampfes als Dauerzustand. Und das bringt nur den Machtverlust der Guerillabewegung. Da ist noch eine andere Entwicklung, die nicht vergessen werden darf. 200 Jahre lang haben die türkische Armee und Bourgeosie sich um den Anschluß an die Familie der westlichen Zivilisationen bemüht. Die westliche Bourgeosie allerdings hat sie immer ausgegrenzt, genauer gesagt, sie hat sie weder richtig aufgenommen noch richtig ausgegrenzt. Die Ideologie dieses 200 jährigen Modernisierungskampfes ist der Kemalismus. Und diese Ideologie ist im Niedergang begriffen, ein Niedergang, der ausgelöst ist auf der einen Seite dadurch, daß die Grenzen der westlichen Zivilisationen deutlich geworden sind und zum anderen dadurch, daß die Realität einer kurdischen nationalen Bewegung dem Kemalismus den einigenden Charakter genommen hat. Die türkische Bourgeosie verfügt weder über eine neue Ideologie, noch über ausrechend Kraft, um etwas an die Stelle des Kemalismus zu setzen. Zunächst

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waren es die Sozialisten, die insbesondere in ihrer Hochzeit, den 70er Jahren, die kemalistische Ideologie kritisierten und von ihrem Thron stießen; dies weniger aufgrund der Ziele, die der Kemalismus verfolgte, sondern weil er eben seine Ziele nicht erreichte und stattdessen Unterdrückung und Ungleichheit hervorrief. Dann war es die kurdische Bewegung, die den Kemalismus aufgrund seines türkisch-chauvinistischen Charakters kritisierte und weil er die kurdische Wirklichkeit negierte. Und jetzt sind es die islamischen Bewegungen, die den Kemalismus unmittelbar aufgrund seiner Ziele kritisieren. In den Augen dieser Bewegung bringen die westlichen Zivilisationen dem Menschen kein Glück. Ihr Vorschlag ist eine islamische Zivilisation, ohne daß klar ist, was das bedeutet. In den letzten Jahren hat in der Türkei die Armut gravierend zugenommen. Die Arbeiter und Arbeitslosen finden die Ideologie, die sie suchen, nicht mehr im Sozialismus. Das läßt die islamischen Strömungen anwachsen. In den Arbeitervierteln von Istanbul ist heute die islamisch orientierte Wohlstandspartei die stärkste Partei. Die größte Barriere vor dem Anwachsen der islamischen Bewegung ist die von der PKK angeführte kurdische nationale Befreiungsbewegung. Mit einer Niderlage und Demoralisierung dieser Bewegung kann sich wiederholen, was noch nicht lange zurückliegt: Daß die unterdrückten Klassen Kurdistans sich den islamischen Parteien zuwenden. Wenn die islamische Bewegung die Unerstützung des Großstadtproletariats und der kurdischen unterdrückten Klassen gewinnt, dann kommt sie an die Macht. Der Islamismus ist aber keine Bedrohung für die Bourgeoisie, denn er hinterfragt nicht den Besitz der Produktionswerkzeuge. Und er bringt, wonach der Bourgeoisie dürstet: Eine Ideologie. "Ob kurdisch oder türkisch - was macht das: Wir sind alle Moslems" kann die Parole heißen. "Grenzt der Westen uns aus, dann setzen wir der kapitalistisch-christlichen Zivilisation die islamische Zivilisation entgegen", kann die Parole heißen und sie bringt auch noch Vorteile auf dem asiatischen Wirschaftsmarkt. So bedeutet eine Niederlage der PKK mit großer Wahrscheinlichkeit einen Sieg der islamischen Bewegung. Nur der Sieg der PKK wird die Türkei zu einem europäischen Staat machen, sei dies auch ein Staat im zweiten Rang wie Griechenland und Spanien. Und nur der Sieg der PKK kann die türkische Bourgeoisie von der Vormundschaft der kemalistischen türkischen Armee befreien, in der der osmanische Geist weiterlebt. Ein seltsamer Scherz der Geschichte: Die kurdische nationale Befreiungsbewegung, vertreten von der PKK, ist die letzte Gelegenheit für die türkische Bourgeoisie, den Anschluß an den Westen zu schaffen, den sie seit 200 Jahren versucht. Die türkische Bourgeoisie und die türkische Armee dagegen bemühen sich, die PKK zu erdrücken und erwürgen so blutig und mit eigenen Händen ihre letzte Chance und legen der islamischen Bewegung, die sie seit Jahren ablehnen, den Sieg zu Füßen. Für uns Unterdrückte dagegen ist der Kampf der PKK, auch wenn er nicht mit einem Sieg endet, mit seinen Stärken und mit seinen Schwächen eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft; ein Beispiel, das uns zeigt, daß wir in einer Welt, die zu einem universellen Südafrika wird, im Kampf der Schwarzen gegen die Weißen zunächst einmal uns mit unserem eigenen versklavten Denken auseinandersetzen müssen. C Aydrn

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2. 4. 1992 Stockholm

Zusatznotiz über das Verbot der PKK Die Zeit, sowie Art und Weise und die Begründung des Verbotes der kurdischen Vereine in den Europäischen Ländern wie Frankreich, Deutschland zeigen, daß nicht die Verbotsaktion, sondern, die mit diesem Verbot gesendete Botschaft wichtig ist. Die Türkei war gegen Ende der sechziger Jahre als Einflußgebiet der Deutschen anerkannt worden. Aber in den achtziger Jahren hat die Zunahme des amerikanischen Einflusses besonders nach dem Golfkrieg Deutschland anhaltend gestört. In Anbetracht dieser Entwicklung brachte Deutschland, wenn es Druck auf die Türkei ausüben wollte, die Unterdrückung der Kurden irgendwie auf die Tagesordnung. z. B. : daß die Waffen, die die Türkei von Deutschland bekommen hat in Kurdistan nicht angewendet werden dürfen, oder daß ein Gefangener des laufenden PKK-Prozes freigelassen wird, oder daß in einem Kommuniqué ein Begriff nicht benutzt wird, obwohl die Türkei das will. Auf dieser Art und Weise laut Deutschland die Türkei spüren, daß sie nicht zu weit gehen soll. Dies führte dazu, daß die Beziehungen beider Länder sich noch mehr verschlechterten. Im Gegenzug benutzte die Türkei, die in Deutschland lebenden Türken als Druckmittel für ihre Außenpolitik gegen Deutschland. Nichts anderes konnte die türkische Regierung so freuen, wie die Angriffe bei denen viele türkische Frauen und Kinder ums Leben kamen. Somit hatte sie ein Mittel in der Hand, um den Deutschen Druck zu parieren. Ja sie konnte sogar auf dieser Weise sogar Terrain Gewinn verzeichnen und den offiziellen Verbot der PKK Aktivitäten durchsetzen. Die PKK hat sich zunehmend zur stärkster Kraft in Kurdistan entwickelt und hat vermocht die Mehrheit der Kurden in der Türkei für sich zu gewinnen. Dies gesteht im übrigen auch die türkische Bourgeoisie ein, indem sie versucht die ausstehenden Kommunalwahlen nicht stattfinden zu lassen. Wenn die Wahlen stattfinden, werden hunderte von der PKK unterstützte oder die, die sie unterstützen zu den Kommunalämtern gewühlt, was zu einer beträchtlichen Veränderung der Kräfteverhältnisse führen wird. Als Resümee dieser Entwicklung fühlen sich die Europäischen Länder dazu gedrängt, Druck auf die Türkei auszuüben, damit sie sich schnell wie möglich mit der kurdischen Bourgeoisie arrangiert und Reformen durchführt, wodurch die PKK isoliert werden soll. Als Ergebnis ihrer oben skizzierten Bestrebungen erwarten sie die Zunahme des Einflusses von Europa auf die Türkei und als Korrelat die Abnahme des Einflusses der USA. Das Verbot ist ein Akt der europäischen Länder um mehr Spielräume für die Erhöhung des Drucks zu bekommen. Die Türkei behauptete ständig, daß die PKK ihre Quellen außerhalb des Landes habe, nur durch die Tolerierung der Europäer existiere, forderte von europäischen Ländern ihren Verbot. Deutschland und Andere sagen der Türkei mit dem Verbot: "So, wir haben sie verboten, jetzt bist Du dran, mach die Reformen!" 62


Die türkische Bourgeoisie muß erst aus der Hegemonie der türkischen Armee raus, um diese Reformen machen zu Können. Dafür hat sie weder Kraft noch Mut. Andererseits hat die Armee alles unter Kontrolle genommen, in dem sie sagt, daß die PKK bis Frühling erledigt ist. Dieser Winter ist entscheidend. Die türkische Armee kann in diesem Winter der PKK keinen großen Schaden zufügen. Es besteht die Möglichkeit, daß die PKK noch stärker aus dem Winter rauskommt. In diesem Fall wird die türkische Armee abgekämpft und ihre Prestige verloren haben, dann werden in Frühling im Kurdistan die Reformbemühungen mehr Gewicht erhalten. Das Verbot ist auch von der PKK so kommentiert worden; PKK- Führer Abdullah Öcalan hat das, in der Zeitung Özgür Gündem in seinem Artikel mit dem Pseudonym Ali Firat unter dem Titel "Preis des Verbots ist die Politische Lösung" zum Ausdruck gebracht. In dem selben Artikel vermeidet Abdullah Öcalan Deutschland scharf zu kritisieren und schlägt eine Vermittlerrolle zwischen Türkei und Kurden vor. Die Kader der PKK sehen ein, daß sie in heutiger Welt, alleine, mit dem türkischen Staat nicht fertig werden Können. Sie gestehen ein, daß auch das kurdische Volk, das sehr große Opfer bringt, nach einer Zeit des Kampfes müde sein wird. Aus diesem Grunde, trotz ihres radikales Vokabulars, bringen sie bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck, daß sie für einen Kompromiß, wie ihn Mandela oder Arafat gemacht haben, offen sind. Aber im Moment will sie niemand als Gesprächspartner akzeptieren. Aber nun hat sich die Qualität des Problems verändert. Ab jetzt wird der Kampf sich darum drehen, wer in Kurdistan für einen Kompromiß als Gesprächspartner in Frage kommt. Ein Kompromiß, der sich nicht auf die Autorität und Prestige von PKK und Abdullah Öcalan stützt, nicht möglich ist, haben die Guerilleros gezeigt, die den Waffenstillstand was sie nicht akzeptieren wollten und später trotz Öcalan beendet haben. Dezember 1993 C. Aydin

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Wer zu schnell geht, den bestraft das Leben Der Mensch hatte noch nie so viel Zeit wie heute, aber er hatte auch noch nie so viel Zeitnot wie heute. Im letzten Jahrhundert belief sich die wöchentliche Arbeitszeit auf 80 Stunden; heute ist sie in vielen Ländern gesetzlich auf 48 Stunden festgelegt, in vielen fortschrittlichen Ländern wird allmählich die 40- oder 35-Stundenwoche zur Regel. Trotzdem ist eines der größten Probleme des heutigen Menschen, daß er unter ständiger Zeitknappheit leidet; in der modernen Gesellschaft beschwert sich jeder über das hohe Tempo, in dem sich die Zeit verflüchtigt. Das einzige sophistische Konsumgut, von dem die produzierte Stückzahl die Anzahl der Menschen auf der Erde übersteigt, ist vielleicht die Uhr. In modernen Städten gibt es fast keinen großen Platz, Bahnhof oder Saal, in dem sich nicht eine riesige Uhr befände. Trotz dieses sagenhaften Aufwands, der betrieben wird, um die Zeit unter Kontrolle zu bringen, wird der Mensch immer mehr zum Sklaven der Zeit. Die Steigerung des Wohlstandsniveaus einer Gesellschaft und die der Durchschnittsgeschwindigkeit des täglichen Lebens führt nicht dazu, daß die Menschen mehr Zeit hätten; sie führt dazu, daß sie in immer größerer Zeitknappheit leben. Eines der größten Probleme der modernen Gesellschaft ist die Zeitnot. Daß die interessantesten historischen und soziologischen Forschungen der letzen Jahre sich um den Zeitbegriff drehen und daß viele Künstler von Dali bis Ende die Versklavung des Menschen durch die Zeit ästhetisch verarbeiten, sind Widerspiegelungen dieses Problems. Ist der Anfang eines neuen Jahres keine gute Gelegenheit, über die Zeit nachzudenken? *** Die Zeit als physikalischer Begriff durchläuft eine Evolution von Newtons "absoluter, reeller und mathematischer Zeit, die ihrer Natur gemäß gleichförmig und ohne eine Beziehung zu irgendeinem äußeren Objekt von selbst fließt" bis hin zu Einsteins variabler und nur in Beziehung zu Raum und Materie existierender relativer Zeit. Die physikalische Zeit hat nicht nur als Begriff, sondern als solche eine Geschichte, und eine populäre Zusammenfassung der Geschichte der Zeit nach dem heutigen Wissensstand kann man in Stephen Hawkings Kurzer Geschichte der Zeit finden. Wie sehr das Zeitgefühl des Menschen auch auf das Zweite Thermodynamische Gesetz ("Entropie") zurückgehen mag, so haben der Zeitbegriff und das Zeitbewußtsein des Menschen doch auch eine soziologische Dimension, und die Geschichte des Zeitbewußtseins und des Zeitbegriffs als soziologische Tatsache ist um nichts weniger spannend als die Geschichte der physikalischen Zeit. *** Der Zeitbegriff der bürgerlichen Zivilisation, deren Entstehung und Verbreitung alles in allem

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eine Geschichte von ein paar hundert Jahren umfaßt, ist von seiner Eigenschaft her linear. Jeder erinnert sich an die Karten an den Wänden von Grundschulklassenzimmern, auf denen die Natur- oder Menschheitsgeschichte aus einer Linie besteht, deren eines Ende aus der entfernten, unbekannten Vergangenheit kommt und deren anderes Ende in eine unbekannte Zukunft verweist. Auch daß eines der beliebtesten Themen von Science-Fiction-Filmen und Romanen Zeitreisen in die Vergangenheit oder in die Zukunft sind, stützt die Hypothese, daß Zeit eine lineare Struktur hat. In vorkapitalistischen Zivilisationen war Produktion vor allem landwirtschaftliche Produktion und insofern an den Rhythmus der Natur gebunden. Die Nilüberschwemmungen, die Bewegungen der Sonne und des Mondes, die Jahreszeiten und sogar das Leben der Menschen - wiederholten sie sich nicht ständig? Insofern war der menschliche Zeitbegriff bis zur Entstehung des Kapitalismus im Grunde nicht linear, sondern zirkulär bzw. spiralförmig. Mit der Entstehung des modernen Kapitalismus entstand in dem Maße, in dem die Produktion vom Rhythmus der Natur unabhängig wurde, die Arbeitskraft Quelle des Mehrwerts wurde und der Arbeitsprozeß als ein nur in Zeit meßbarer Prozeß aufkam, die Notwendigkeit, die Zeit, dieses "unsichtbare, unfaßbare Etwas", zu messen und in Einheiten aufzuteilen. Das war der Übergang von der natürlichen zur mechanischen Zeit. An die Stelle des zirkulären Zeitgedankens trat die Idee von der Zeit als etwas, das zwar auf zirkuläre Art, also mithilfe von Rädern, gemessen und eingeteilt wurde, das aber ansonsten linear war. Man kann sagen, daß in dem Maße, in dem die Bedeutung des Zirkulären (also unter anderem des Rades) im menschlichen Leben zunahm, der zirkuläre Zeitbegriff durch den linearen abgelöst wurde. Im Präkapitalismus hatte jede Zivilisation ihre eigene Geschichte und auch ihre eigene Zeit. Dadurch daß der Kapitalismus im Welthandel vorherrschend wurde, kam der Gedanke der Weltzeit auf (1884), und ausgehend von der Sternwarte von Greenwich in England, dem Ursprungsland des Kapitalismus, wurde die ganze Welt an eine einzige Zeiteinheit gebunden (1911) und die Maßeinheit weltweit vereinheitlicht. *** In möglichst kurzer Zeit möglichst weite Strecken, in möglichst kurzer Zeit mehr Information, mehr Produktion. Der Mensch war noch nie so schnell, aber er hat auch noch nie so sehr unter Zeitnot gelitten. Als ob man mitten im Meer an Wassermangel zugrundeginge, so ersticken wir mitten in einem Meer von Informationen an Informationslosigkeit. Der Kapitalismus hat sich einen einzigen Slogan auf die Fahnen geschrieben: "Schneller!" Die Menschen, die zuerst dem Kapitalismus begegnet sind, spürten, daß dieses Tempo und die Präzisierung der modernen bürgerlichen Zivilisation der menschlichen Natur entgegenstanden. Vielleicht zerschlugen deshalb die Pariser Kommunarden, die noch stark handwerklich geprägt waren, neben dem bürgerlichen Staat auch gleich die Uhren. Aber in der sozialistischen Bewegung sind diese schönen Traditionen in Vergessenheit geraten. Die Sozialisten wurden die eifrigsten Fürsprecher des bürgerlichen Zeitmodels und ideals. Gegen die Bourgeoisie trugen sie einen Schnelligkeitswettkampf aus. Die englische oder amerikanische Technik, d. h. ihre Geschwindigkeit, d. h. ihre Zeitnot, d. h. ihre Versklavung durch die Zeit zu erreichen, wurde ihr einziges Ziel. 65


Was wir die Menschen endlich hoffen lassen sollen, sind nicht größere Geschwindigkeit, mehr Informationen und dadurch weniger Zeit, sondern mehr Zeit, und das heißt, langsameres, rhythmischeres Leben und Produktion. Im Gegensatz zum linearen, programmierten, in fast unendlich kleine Einheiten zerteilten mechanischen Zeitbegriff der bürgerlichen Zivilisation muß man den Unterdrückten einen der menschlichen Natur und dem Rhythmus der Natur angemesseneren, variablen, großzügig und flexibel eingeteilten Zeitbegriff auf die Fahnen schreiben. Die Revolution eines zurückgebliebenen Landes, die solche Probleme nicht auf die Tagesordnung setzt, diskutiert und in ihr Programm aufnimmt, hat keine Chance, sich gegen den internationalen Kapitalismus aufzulehnen, noch einen Sieg gegen ihn davonzutragen; und das bedeutet auch, daß sie weder die Mehrheit der Menschheit noch die Unterdrückten der reichen und entwickelten Länder beeinflussen und auf ihre Seite ziehen kann. *** Der Kemalismus hat sich auch die Zeitkultur des Westens zum Vorbild genommen. Von der Einführung des christlichen Kalenders über die Uhr im europäischen Stil bis hin zur Radiozeiteinteilung wurden das tägliche Leben betreffende Maßnahmen ergriffen, die die zum kapitalistischen Produktionssystem passenden kulturellen Bedingungen schufen. Von dieser Seite her haben wir Sozialisten den Kemalismus nie kritisiert. Im Gegenteil zielte unsere Kritik verstärkt darauf ab, daß er diese kulturellen Bedingungen nicht ausreichend erfülle. Die türkische Linke hat nicht nur den Fehler begangen, die bürgerliche Zeitkultur zu idealisieren und auf ihre Fahnen zu schreiben; aufgrund ihres kleinbürgerlichen und präkapitalistischen Beziehungsmilieus hat sie auch einen großen Teil der Arbeit ihrer Organisationen darauf verwendet, ihre Mitglieder und Anhänger dazu zu bringen, sich die Kultur der modernen Gesellschaft, die der Kapitalismus normalerweise schon von sich aus realisiert hätte, anzueignen. So war es beispielsweise immer ein wichtiges Problem der Organisationen, das pünktliche Erscheinen zu Treffen, mithin also die moderne Zeitkultur, zu vermitteln. Diese Bemühungen, die, vom sozialistischen Anspruch einmal ganz abgesehen, nicht einmal im bürgerlichen Sinne politisch, sondern vielmehr kulturell waren, wurden zum zentralen Anliegen der politischen Arbeit und traten sogar an ihre Stelle. Deshalb machte die Erziehungsarbeit, die darauf ausgerichtet war, einen Menschen zu erziehen, der mit den der modernen Gesellschaft angemessenen kulturellen Eigenschaften ausgestattet sein sollte - was der rückständige Kapitalismus der Türkei irgendwie nicht zuwege gebracht hatte -, einen sehr großen Teil der Aktivitäten der Sozialisten aus. In gewisser Hinsicht hat die Geschichte die Sozialisten benutzt, um den türkischen Kapitalismus zu stärken. In diesem Sinne haben es die türkischen Sozialisten nicht dabei belassen, die bürgerliche Zivilisation und den Kemalismus zu kritisieren; sie sind objektiv gesehen Werkzeuge der kulturellen Veränderung geworden, die paradoxerweise dazu beigetragen haben, die Ziele des Kemalismus zu erreichen. *** Natürlich müssen sich die Unterdrückten im Kampf gegen die Unterdrücker den Regeln, die der Kampf vorgibt, anpassen. Sie müssen z. B. genau und präzise sein, aber ohne auch nur 66


einen Moment zu vergessen, daß das dem Naturell des Menschen eigentlich zuwider ist. In der praktischen Arbeit werden natürlich die Prinzipien "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. " oder "Die, die nicht von den Tugenden des zu spät Kommenden profitieren können, leiden unter seiner Blamage" ihre Gültigkeit behalten. Auf historischer und programmatischer Ebene jedoch müssen wir uns - entsprechend dem "Schneller!", das sich die Bourgeoisie auf ihre Fahnen geschrieben hat, auf unsere Fahnen folgendes schreiben: "Wer zu schnell geht, den bestraft das Leben!" Und es bestraft ihn auch: mit Zeitnot. Demir Küçükaydın Übersetzung: Annette Herkenrath

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Zukunft und Vergangenheit befreien Regieren am Ende Zahlen das Universum? Nach dem heutigen modernen Kalender, den sich die westliche Zivilisation zu eigen gemacht hat, fällt das Ende des zweiten Jahrtausends genau mit dem Zuendegehen einer historischen Epoche zusammen – so als ob hier die gleiche göttliche Weisheit am Werk wäre, die auch dafür sorgt, dass die Flüsse immer mitten durch die Städte fließen. Eine Bruchlinie, eine Gesteinsspalte, die in der Menschheitsgeschichte noch nicht ihresgleichen hatte, fällt - mit einer marginalen Toleranzgrenze von zehn Jahren gleichzeitig mit dem Ende des gewalt- und schmerzvollen zwanzigsten Jahrhunderts und des zweiten Jahrtausends zusammen. Den Glauben an die Zauberkraft der Zahlen sieht man in allen antiken Zivilisationen. Waren es in der griechischen Zivilisation, die das letzte Glied der Kette der prämonotheistischen Zivilisationen Mesopotamiens, Ägyptens, Anatoliens und des Mittelmeerraums bildet, nicht die Pythagoreer, die glaubten, dass die Zahlen das Universum beherrschten? Hatte nicht in allen diesen Zivilisationen unter anderem die Zahl Zehn sowie ihre Vielfachen eine besondere Bedeutung? Das Epos der Handelswege nach Fernasien heißt Märchen aus Tausendundeiner Nacht; steckt darin nicht eine Anspielung auf den Zauber der Zahl Tausend? Ist diese Tradition nicht durch das Christentum, das ja an sich eine östliche Religion ist, in die Tradition Europas eingegangen? Wurde nicht im europäischen Mittelalter die Weltgeschichte in Abschnitte wie Schöpfung, Sintflut, Zeit Abrahams, Zeit Davids, Babylonische Gefangenschaft, Geburt Christi eingeteilt, die jeweils tausend Jahre umfassten? Und warteten nicht am Ende des ersten Jahrtausends im europäischen Mittelalter die Menschen auf die Apokalypse, während zur gleichen Zeit die östlichen Zivilisationen eine neue Blüte erlebten und zum Beispiel die islamische Zivilisation sich nach ihrem eigenen Kalender in den ersten Jahrhunderten befand? Bleibt am Ende des zweiten Jahrtausends in diesem Wettbewerb überhaupt keine Spur von dieser Vergangenheit, in der es darum ging, die Zukunft von sich selbst zu befreien und in der an den Zauber der Zahl Tausend geglaubt wurde? Und tritt nicht diese Vergangenheit, noch vor der Zukunft, von der sie befreit werden soll, uns an der Tür zum dritten Jahrtausend gegenüber und erinnert uns mit einem spöttischen Lächeln daran, dass sie ein uns auf die Stirn geschriebenes Schicksal ist, dem wir nicht entrinnen können? *** Obendrein bereitet auch noch der mit der Jahrtausendwende zusammenfallende Epochenwechsel den Nährboden für eine Wiederbelebung des schon ausgestorbenen mystischen Zahlenglaubens. Alle Zivilisationen und Imperien werden in ihrer Jugend mit Oppositionsbewegungen

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konfrontiert, die sich auf materielle Kraft stützen und die für sie eine ernsthafte Bedrohung darstellen können. Und alle diese Widerstandsbewegungen schlagen sie so gewaltsam nieder, dass, wenn ihre Jugend vorbei ist und sie selbst bettlägerig geworden sind und ihr Gehirn von Sklerose befallen ist, es keine Kraft mehr gibt, die ihrem Todeskampf, ihrem Dahinsiechen ein Ende setzen und ihnen den Gnadenstoß versetzen könnte. Wenn der Glaube an die Möglichkeit irgendwelcher Veränderungen am Ende ist, treten an die Stelle der bewaffneten und aufständischen Parteien mystische Orden und Sekten. Insofern als der Mystizismus eine Reaktion auf den Verfall und Ausdruck eines Widerstands auf persönlicher Ebene ist, ist er auch ein Anzeichen dafür, dass sich eine Zivilisation im Verfallsstadium befindet. Zur Zeit der Spartakistenaufstände befand sich Rom noch in seiner Jugend. Nach der Niederlage der Spartakisten konnte keine Kraft Rom mehr so bedrohen. Den Zusammenbruch des Römischen Reichs begleitete das Christentum, das ja eine Art mystischer Aufstand war. In der islamischen Zivilisation war es auch nicht anders. Durch die ersten Jahrhunderte hindurch, während diese Zivilisation ihre Jugendzeit erlebte, gab es gleichzeitig starke Volksaufstände, und die stärksten revolutionären Massenbewegungen beherrschten die Szene. Aber schließlich wurden sie dermaßen geschlagen und niedergeworfen, dass der einzige Ort, an dem sie wenigstens noch ihre Unzufriedenheit ausdrücken konnten, mystische Orden wurden. Von da an füllte sich die islamische Welt mit Sufi- und Mystikerorden. Hätte es nicht die von außen kommenden “barbarischen” Völker gegeben, dann hätte es weit und breit keine Kraft gegeben, die den in Agonie liegenden Zivilisationen den Todesstoß hätte versetzen können. Die moderne westliche bürgerliche Zivilisation scheint auch keinen wesentlich anderen Weg gegangen zu sein. Auch sie hat die ernsthaftesten Widerstandsbewegungen und Bedrohungen während ihrer Jugendzeit erfahren. Die Revolutionen von 1848, die Pariser Kommune, die Oktoberrevolution, China, Jugoslawien, Kuba, 1968. Sie alle sind als Bedrohung in einer Periode aufgetreten, in der diese Zivilisation gerade ihre Jugend erlebte. Jetzt jedoch, zu einer Zeit, in der sie sich nunmehr stabilisiert und ihre Jugend verloren hat, gibt es weit und breit keine Kraft mehr, die sich gegen sie auflehnen und eine Bedrohung gegen sie bilden könnte. Der Mystizismus erlebt gerade eine Wiederbelebung. Ist nicht die Verbreitung des Mystizismus an sich eine Folge und ein Ausdruck für das Ende eines Zeitalters? Im Zeitalter der alten Zivilisationen, als noch nicht die ganze Erdoberfläche zivilisiert war, gab es außerhalb dieses Bereichs sogenannte “barbarische” Völker. Es gab Menschen wie Alexander den Großen, Dschingis Khan und Attila den Hunnen, die den Zivilisationen ein Ende setzen und die Gordischen Knoten der Geschichte zerschlagen konnten. Auf der heutigen Erdoberfläche jedoch, auf der es keinen einzigen Dorfkrämer mehr gibt, der keine Coca Cola verkaufen würde, scheint es weit und breit keine Kraft zu geben, die der verwesenden westlichen Zivilisation ein Ende setzen könnte Sind nicht die Ufo-Geschichten eine Einladung an “Barbaren” aus dem Weltraum, den Gordischen Knoten zu lösen, angesichts des Mangels an irdischen “Barbaren”? Aber es werden keine “Barbaren” mehr kommen. Und diese Zivilisation wird in diesem neuen Zeitalter, in das sie zur gleichen Zeit eintreten wird wie in das neue Jahrtausend, den Henker

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suchen, der ihr den Todesstoß versetzen soll. Sie wird ihn nicht finden; sie wird weitersiechen und weiterfaulen. *** Schon diese Preisfrage an sich ist eine Vorahnung des Schicksals dieser Zivilisation, eine Suche nach einer Befreiung aus ihr. Auch dieses Wettbewerbsthema trägt, genau wie der Mystizismus, den verfluchten Stempel einer Zeitenwende, einer verlorenen Jugend. In den antiken Zivilisationen, und erst recht in einer Vergangenheit, in der eine Zeitauffassung, nach der sich die Zeit geradlinig und pfeilartig aus der Vergangenheit in die Zukunft bewegt, nicht vorherrschend war beziehungsweise überhaupt nicht existierte, ist die Vergangenheit ein goldenes Zeitalter, in dem Tugend, Heldentum und überlegene moralische Eigenschaften vorherrschen, ein Paradies. Hat nicht Rom immer mit der Sehnsucht nach der archaischen Zeit gelebt? Ist nicht im Islam die Periode der Ersten Vier Kalifen immer ein Ideal geblieben? Sind nicht die Homerischen Epen ein Lobgesang auf die Vergangenheit und ihre Helden? Die antiken Zivilisationen haben ja, wenn sie ihre jeweilige Vergangenheit erhöhen, gar nicht einmal so sehr Unrecht. Diese Epochen voller Heldentum und Tugend entsprachen einer Periode, in der sie noch nicht zivilisiert waren, in der Blutsbeziehungen vorherrschten und in der die Klasseneinteilungen und der Unterschied zwischen Arm und Reich noch nicht so abgrundtief wie in der Zivilisation waren. Dass die antiken Zivilisationen die Vergangenheit erhöhten und die Gegenwart als einen Verfall ansahen, hat eine realistische und richtige Seite. Doch selbst in den Verfallsphasen der antiken Zivilisationen, in der der Vergangenheit mit Sehnsucht gedacht wurde, war das Problem, wie die Zukunft und die Gegenwart von der Vergangenheit zu befreien seien, undenkbar. Die moderne bürgerliche Zivilisation hat, noch in ihrer Jugend, die Vergangenheit von diesem Ehrenplatz genommen und - wie die Griechen, die beim Übergang vom matriarchalen zum patriarchalen Gesetz die weiblichen Gottheiten vom Sockel stießen und ins Schattenreich verbannten - in das Land der Verfluchten geschickt. Die Vergangenheit war ein Schutthaufen, eine Ruine, die Zukunft dagegen ein Schatz. Die Vergangenheit, das waren die verpaßten Gelegenheiten des Menschen; die Zukunft stand für seine Möglichkeiten. Die Vergangenheit war eine Herrscherin, eine Unterdrückerin, von der man versuchte, sich zu befreien; die Zukunft war ein Opfer, das darauf wartete, durch uns aus der Sklaverei errettet zu werden. Die Vergangenheit war die Hölle, die Zukunft das Paradies. Die Vergangenheit war eine Nacht, die Zukunft ein Tag. Die Vergangenheit war der Gott der Unterwelt und des Totenreichs Osiris, die Zukunft der Sonnen- und Lichtgott Ra. Die Vergangenheit war die böse Märchenkönigin, die jeden Morgen ihren Spiegel fragte, ob es eine gebe, die schöner sei als sie und die dann die Schönere vernichtete. Die Zukunft war die schlafende Schönheit. Die moderne bürgerliche Zivilisation hat aber wiederum auch nicht ganz unrecht, wenn sie die Vergangenheit verflucht, genauso wenig wie die alten Zivilisationen, wenn sie sie lobpriesen. Die moderne Zivilisation war wie ein Pilz, der plötzlich aus der Humuserde der zerfallenen antiken Zivilisationen gewachsen war. Diese jahrtausendealte Kette von 70


Zivilisationen, die einen Gebietsstreifen von China bis zum Atlantik bedeckte, drückte nunmehr einen Verfall aus. Diese alten, verfallenden Zivilisationen waren weit davon entfernt, der modernen kapitalistischen Zivilisation als Ideal und Vorbild zu dienen – und sei es auch nur in dem Maße, wie sie das in ihrer vorzivilisatorischen Heldentumsepoche an der Schwelle zur Zivilisation getan hatten. Die Entwicklungen in Technik und Wissenschaft nährten jedoch einen geschichtlichen Optimismus. In so einer Epoche war die Zukunft als etwas, von dem die Vergangenheit oder die Gegenwart zu befreien wären, nicht einmal vorstellbar. Was jedoch die Menschen in diesem “kurzen Jahrhundert”, diesem “Jahrhundert der Extreme” (Hobsbawm) erlebt haben, hat sämtliche Träume, die das vorige Jahrhundert hinsichtlich der Zukunft hegte, begraben. Jene Technik, an der so viele Hoffnungen gehangen hatten, konnte auch zum Werkzeug für Massaker und Leiden eines bis dahin nicht erlebten Ausmaßes werden. Das Atom bedroht sogar die Existenz von Lebewesen auf der Erdoberfläche. Die Beherrschung der Natur zerstört ihr Gleichgewicht, sie bedroht die Lebensvoraussetzungen. Trotz der Verzehnfachung der Produktion, trotz der furchterregenden Steigerungen der Produktivität lebte ein großer Teil der Menschheit unter schlechteren Bedingungen als zuvor, und die Zahl der Kinder, die jeden Tag starben, war höher als in der Vergangenheit. Selbst der materielle Wohlstand, dort wo er erreicht war, war weit davon entfernt, den Menschen das Glück, das sie jahrtausendelang gesucht hatten, zu bescheren. Einsamkeit, Isolation, Zeitmangel, Entfremdung, die Verdinglichung der Beziehungen und der freien Zeit und die Zunahme der Gewalt stellten sich den Menschen als immer unüberwindlichere Probleme. All das hat den optimistischen Zukunftserwartungen der Aufklärung den Garaus gemacht. Was der Vergangenheit ihre Bedeutung gibt, sind die Erwartungen im Hinblick auf die Zukunft. Ein Zeitalter, das Hoffnungen im Hinblick auf die Zukunft hegt, ändert auch seine Wahrnehmung der Vergangenheit. Die Vergangenheit wird, trotz aller negativen Seiten, als eine Entwicklungsstufe angesehen, die es um einer glücklichen Zukunft willen durchzumachen gilt, als eine Sühne, die für das Glück in der Zukunft abzuleisten ist, ein Blutgeld, ein mühseliger Weg in das Land des Glücks. Revolutionen erscheinen in diesem Sinne als die Lokomotiven der Geschichte. Wenn aber die Zukunft ihren Hoffnungsschimmer verliert, wenn man sieht, dass sie kein Land des Glücks verspricht, dann wird die Vergangenheit als das gesehen, was der Geschichtsengel sieht, als die Toten, die er ins Leben zurückschicken will, als die zerbrochenen Teile, die er wieder zusammensetzen will; die Zukunft dagegen wird als die Richtung gesehen, in die dieser Engel durch einen Sturm geweht wird. Und die Zukunft verspricht nur neue Zusammenbrüche. Revolutionen werden nicht als die Lokomotiven der Geschichte angesehen, sondern als Notbremsen (W. Benjamin). Auf diese Weise ist durch den Verlust der Zukunft mittlerweile auch die Vergangenheit verloren gegangen. Die Menschheit tritt ohne Hoffnung versprechende Zukunft und ohne eine Vergangenheit, nach der sie sich sehnen könnte, in ein neues Zeitalter und in ein neues Jahrtausend ein. Genau dieser seelische Zustand bestimmt auch die Frage der

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Jahrtausendwende. Nur an der Schwelle zu einem Zeitalter, in dem Zukunft und Vergangenheit verlorengegangen sind, kann man darauf kommen, Vergangenheit und Zukunft voneinander zu befreien. Und diese Zukunft ist bereits so sehr mit einem Fluch behaftet, dass sie nicht für sich allein die Bühne betreten kann und, um die Gewalt und den Fluch, die sich gegen sie richten, wenigstens etwas abzumildern und abzulenken, sich hinter der Hässlichkeit ihrer Schwester, der Vergangenheit, versteckt. Wenn man in diesem Kontext die Frage, wie Zukunft und Vergangenheit voneinander zu befreien sind, ihrer Metaphern und philosophischen Hüllen entkleidet, dann ergibt sich keine andere Bedeutung als die Frage, was zu tun ist, um eine Hoffnung versprechende Zukunft beziehungsweise die Zukunft überhaupt wiederzugewinnen. So gesehen handelt es sich um eine programmatische und politische Frage. Sie ist für sich selbst genommen schon ein Programm. *** Haben wir nur die Vergangenheit und die Zukunft verloren? Es gibt ja noch zwischen Vergangenheit und Zukunft ein klitzekleines, hauchdünnes Jetzt, von dem es heißt, dass es nach der Psychologie und Wahrnehmung des Menschen eine Zeitdauer von drei Sekunden umfasst. Es gibt ja noch eine Gegenwart, die man sowohl in diesen psychologischen Dimensionen fassen kann als auch in anderen, geschichtlichen und soziologischen, die man wiederum nach allen möglichen anderen Kriterien definieren kann. Zu Zeiten gab es nur die Gegenwart. Augustinus sagte, dass wir ausschließlich in der Gegenwart lebten und dass diese Gegenwart von ihren Dimensionen her “die Gegenwart der vergangenen Dinge, die Gegenwart der gegenwärtigen Dinge und die Gegenwart der zukünftigen Dinge” umfasse. Die Pariser Aufständischen zerschossen die Uhren, weil sie den Moment verewigen wollten. Heute hingegen haben wir weder die Vorstellungskraft, die nötig ist, um darauf zu verfallen, Uhren zu zerschießen, noch gibt es überhaupt einen Augenblick, den wir auf diese Art anhalten und verewigen möchten. In gewisser Hinsicht hat die Gegenwart von der Bildfläche Besitz ergriffen, von der Vergangenheit und Zukunft verschwunden sind. Der Sprecher, der die Nachrichten wie ein Sprinter liest, der Meteorologe, der den Wetterbericht wie einen schnell vorbeigehenden Frühlingsregen vorträgt, der Diskjockey, der den neuesten Hit in einem noch schnelleren Tempo als dem der Musik, die er spielt, ankündigt, die Zeitungsüberschriften, die Werbeplakate, die man vorbeihuschen sieht, alles lebt für einen geschichtslosen und quasi zukunftslosen Moment und wird dann wieder zunichte, wird zu Rauch und verflüchtigt sich. Genau wie die Teilchen, die als Resultat einer radioaktiven Reaktion entstehen und deren Lebensdauer nur einen winzigen Bruchteil einer Sekunde ausmacht. In einem Zustand, in dem Zukunft und Vergangenheit gleichsam nicht-existent sind, unterliegt alles der Gegenwart. Es herrscht eine Diktatur der Gegenwart. Diese gesellschaftliche Vorherrschaft der Gegenwart ist jedoch, vom Standpunkt der Person und der Wahrnehmung aus betrachtet, nichts anderes als der Verlust der Gegenwart. Das 72


Leben ist nie gelebt worden und wird auch nicht gelebt werden; es besteht aus einzelnen gegenwärtigen Momenten, deren Feinheiten man nicht zu würdigen weiß. Jede Gegenwart existiert nur im Hinblick auf ein zukünftiges Rendezvous. Die Gegenwart ist eine Dienerin der Zukunft. Aber auch die gegenwärtigen Momente in der Zukunft sind die gegenwärtigen Momente einer noch weiter entfernten Zukunft. Die gesamte Gegenwart und Zukunft sind bereits auf dem Altar der modernen Zivilisation geopfert, die nach dem Prinzip “Nicht anhalten, sonst fallen wir!” funktioniert. So gesehen bedeutet die Befreiung der Vergangenheit und der Zukunft voneinander, dass man die Gegenwart zurückgewinnt. *** Es sind weder Zukunft noch Vergangenheit noch Gegenwart übriggeblieben. Wir befinden uns in einem Zustand, in dem wir alles verloren haben. Hätten wir nur so viel verloren, wäre das ja noch gut. Wir haben nicht einmal mehr eine Geschichte, auf die der Schatten einer hoffnungslosen Zukunft fällt; sogar die Trümmer der Geschichte werden gestohlen. Ist der Gott der modernen Zivilisation der Profit, so ist ihre Religion die Nation. Die einflussreichste, blutigste und abstruseste Illusion und Lüge, die die Geschichte gesehen hat, nämlich die Nation samt dem Nationalismus, gönnt der Menschheit nicht einmal eine Vergangenheit, die nur aus Trümmerhaufen besteht, und entwendet sie ihr heimlich. Nationen haben keine Geschichte. Die Nation und der Nationalismus saugen, genau wie ein Vampir, das Blut der Menschheitsgeschichte, um sich eine Geschichte, die sie eigentlich nicht haben, zu schaffen und um weiter existieren zu können; so passen sie die Geschichte an sich selbst an, indem sie sie dehistorisieren. Bei allen Nationen beginnt die Zeitgeschichte mit der Geschichte des betreffenden Nationalstaats oder der Bewegung, die zur Gründung eben dieses Nationalstaats geführt hat. Während die Nationen so einerseits ihre Geschichtslosigkeit auf indirekte, verschleierte Weise eingestehen, entreißen sie andererseits der Menschheit die Gegenwart im weitesten Sinne, indem sie sie ausschließlich einem nationalen Prinzip unterwerfen und sie darauf reduzieren. Und was noch von der Geschichte übrig bleibt, wird wiederum zu einer Geschichte der Vorbereitungen der Nationwerdung umfunktioniert. Nationen, die per se keine Geschichte haben, okkupieren die gesamte Menschheitsgeschichte für sich. Die Geschichte aller Nationen ist auf Lügen aufgebaut. Alles was über Geschichte geschrieben wird, dient dem Zweck, dem Geschichtslosen, Abstammungslosen eine Geschichte, eine Abstammung zu verschaffen. Dies tritt am deutlichsten zutage, wenn eine Nation, die sich, wie die europäische, sozusagen noch im Bau befindet, dabei ist, sich eine Nationalgeschichte zu konstruieren. Von Jesus bis zu den alten Griechen, von den Kreuzzügen bis zum Dreißigjährigen Krieg, sogar bis hin zu den Gemetzeln des Ersten und Zweiten Weltkriegs wird die gesamte Geschichte behandelt, als ob es sich dabei um notwendige Entwicklungsstufen auf dem Weg zur europäischen Nationwerdung handelte. Die Geschichte fällt den Plünderungen der Nationen und des Nationalismus zum Opfer, und ihre Bestandteile werden auf den Baustellen der Nationalgeschichten verwertet. Vergangenheit existiert nunmehr nur noch, wenn man sie durch das Prisma der Nationen und der 73


Nationalisten betrachtet. Eine andere Vergangenheit gibt es nicht; sie ist von den Nationen entwendet worden. Wie Orwell gesagt hat: “Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. ” In diesen Sinne heißt die Zukunft von der Vergangenheit befreien, die Vergangenheit aus den Händen der Nationen und des Nationalismus zu befreien. *** Wir haben aber die Zukunft und die Vergangenheit nicht nur deshalb verloren, weil die Zukunft keinerlei Hoffnung verspricht; die Gegenwart haben wir nicht nur wegen der unerträglichen Geschwindigkeit, der Kommerzialisierung und Entfremdung verloren; und auch die Vergangenheit der gesamten Menschheit, auch wenn sie nur noch aus Trümmern besteht, haben wir nicht nur deshalb verloren, weil Nationen und Nationalismus sie uns entwendet haben; sondern wir haben sie verloren, weil wir sie vergessen haben und weil wir sie der Vergessenheit anheimgegeben haben. Jede Erinnerung beinhaltet, dass etwas anderes vergessen beziehungsweise dem Vergessen überlassen wird; die Hervorhebung eines jeden Ereignisses ist zugleich das Zurückdrängen eines anderen Ereignisses; jede Diskussion, so offen sie einem auch vorkommen mag, beinhaltet eine conspiration de silence gegenüber einer Sache, die nicht diskutiert wird. Die wirkliche Geschichte ist eine noch nicht geschriebene. Die existente Geschichtsschreibung ist ein Schweigekomplott gegen die Unterdrückten. Die Geschichte ist die Geschichte der Sieger, der Gewinner oder derjenigen, die von vornherein die Oberhand hatten. Und in dieser Geschichte bleiben nur Widerwärtigkeiten. Seit der Entstehung der Zivilisationen überziehen die Geschichte nur Widerwärtigkeiten und Verfall. Ein Verdienst, das als Vorbild dienen könnte, und sei es nur insoweit wie die Geschichte der Heldentumsepochen, ist weit und breit nicht auszumachen. So befindet sich die Menschheit aufgrund dieses Komplotts gegen die Unterdrückten in einem Zustand, in dem sie in ihrer Geschichte überhaupt nichts Vorbildhaftes sehen kann. Sich mit ihrer Geschichte zu versöhnen, und sei es auch nur in dem Maße, wie es die alten Zivilisationen konnten, ist ihr unmöglich. Die Vergangenheit hat, da sie von den Unterdrückern und Siegern als ihre Geschichte geschrieben worden ist, auch ihre Ehre und Selbstachtung verloren. Die moderne westliche Zivilisation in ihrer Siegestrunkenheit will diesen ihren Sieg verewigen und alle Erinnerungen und Visionen von einer Welt, die anders sein könnte, aus dem Gedächtnis löschen; deshalb vergisst sie ihre verdienstvollen Seiten und sorgt dafür, dass sie vergessen werden. Die Geschichte besteht nicht nur aus Konzentrationslagern, sondern auch aus Menschen, die dagegen Widerstand geleistet haben. Sie besteht nicht nur aus Kriegen, sondern auch aus Menschen, die für den Frieden kämpfen, aus Deserteuren, nicht nur aus Kompromisslern, Opportunisten und Kapitulierenden, sondern auch aus nicht Kompromissbereiten, Eigensinnigen. Sie ist nicht nur die Geschichte der Massen, die dem Triumphwagen hinterherlaufen, sondern auch die der kleinen Randgruppen, die eine marginalisierte Glaubensrichtung weiterpflegen. Sie ist nicht nur die Geschichte der Kirche, sondern auch die der Ketzer; es gibt nicht nur Inquisitoren, sondern auch diejenigen, die ihr Licht spenden,

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indem sie auf den Scheiterhaufen der Inquisitoren verbrannt werden. Es gibt nicht nur die verfallenden Kalifate der Abasiden und der Osmanijaden, sondern auch die Nesimi und die Al-Halladsch. Die gesamte Aufmerksamkeit und Energie der Geschichte hat sich voll und ganz auf die jeweils Erstgenannten, über deren Vergangenheit wir alles wissen, konzentriert; die anderen sind dem Vergessen überlassen worden. Aber es hat sie immer gegeben; es gibt sie noch, und es wird sie immer geben. Es ist so wie mit dem allmächtigen Gott, der mit einem lahmen, hinkenden Teufel nicht zu Rande kommt und ihn nicht los wird. Diese Teufel haben auch eine Geschichte, und die nicht geschriebene wirkliche Geschichte, die Vergangenheit, die uns entwendet worden ist, ist die Geschichte jener Teufel. In diesem Sinne heißt die Zukunft von der Vergangenheit befreien, jene vergessene Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen, der Vergangenheit ihre verdienstvolle und couragierte Seite zurückzugeben, sie sich wieder anzueignen. Das bedeutet, mit der Geschichte seinen Frieden zu schließen *** Lassen wir einmal für einen Moment die Zukunft beiseite. Es gibt eine vergessene und gestohlene Vergangenheit und eine nicht gelebte Gegenwart. Um die Zukunft von der Vergangenheit zu befreien, ist es notwendig, sich an das Vergessene zu erinnern, sich das Gestohlene zurückzunehmen und das Nichtgelebte lebbar zu machen. Was muss man tun, um sich an das Vergessene zu erinnern, das Gestohlene zurückzuholen und die nicht gelebte Gegenwart wiederzuerlangen? Man kann damit anfangen, indem man sich die Gegenwart wieder aneignet. Wie und warum ist die Gegenwart verlorengegangen? Was ist es, das das Leben dermaßen zerhackt, ohne sich um die menschliche Biologie oder den Rhythmus der Natur zu kümmern, mit einer fürchterlichen Geschwindigkeit, zuerst in Stunden, dann in Sekunden, und schließlich in Nanosekunden? Das, was uns die Zeit stiehlt und uns zur Zeitlosigkeit verurteilt? Wenn den Wert einer Ware die sich in ihm verdichtende geleistete Arbeit bestimmt, wenn deren einzige Maßeinheit die Zeit ist, und wenn der Mehrwert und der Profit in dem gleichen Maße steigen wie die Menge an nicht bezahlter Arbeit, und wenn sich das Kapital nur insofern aufrechterhalten kann, als es immer mehr Profit macht; wenn das Kapital nur bei immer schnellerem Umsatz eine Steigerung des Profitanteils gewährleisten kann; wenn die Maschinen nur bei pausenlosem schnellem Einsatz gewinnbringend sind, das heißt wenn die Logik des Produktionssystems dieses unabhängig von dem Willen und dem Wunsch der einzelnen Personen erfordert; wenn deshalb die moderne westliche Zivilisation sich die Prinzipien “Nicht anhalten, sonst fallen wir!” und “Immer schneller, immer mehr!” auf die Fahnen geschrieben hat – ist es dann möglich, die Zeit und die Gegenwart wiederzuerlangen, ohne dieses profitorientierte, anarchische Produktions-, Tausch- und Konsumsystem zu zerstören? Aber dieses System zu zerstören und an seine Stelle ein System zu setzen, in dem es statt um Profit um die Bedürfnisse der Menschen und statt um mehr und immer schnellere Arbeit um langsamere und weniger entfremdete Arbeit ginge, ein System also, in dem nicht der Profit, sondern der Mensch im Mittelpunkt stünde – ist das möglich, ohne an das 75


unangreifbar heilige Privateigentum zu rühren, das die Grundlage der heutigen westlichen Zivilisation bildet? Die Gegenwart wiederzuerlangen, bedeutet, selbst wenn das nur mit Bezug auf die Dimension der Geschwindigkeit zu geschehen hätte, die Grundlagen des modernen Kapitals, das die Grundlage der westlichen Zivilisation bildet, zu sprengen. Der unschuldige Wunsch, die Gegenwart wiederzuerlangen, dieser überaus menschliche Wunsch, muss an den Grundfesten des heutigen Systems rütteln. Und wenn man auf den Inhalt der so schnell vergehenden Zeit und der nicht gelebten Gegenwart zu sprechen kommt, führt nicht die allgemeine Tendenz zur Verdinglichung auch zu einer Verdinglichung in den menschlichen Beziehungen, zu Kälte und Einsamkeit? Kinder werden in Schul- und Kinderkrippenghettos, ohne ihre Kindheit leben zu können, in Formen gepresst, die den Bedürfnissen des Kapitals entsprechen, vergleichbar mit den Frauen im alten China, denen von klein auf die Füße gebunden wurden. Ist nicht der Grund dafür der, dass nur die produktive Arbeitskraft, die Mehrwert erzeugende Arbeitskraft zählen? Und werden nicht aus dem gleichen Grund die Alten, die keinen Mehrwert mehr produzieren können, in als Altersheim bezeichnete Ghettos gesperrt? Sind nicht allein höhere Profitanteile der Grund dafür, dass die technischen Veränderungen mit so unbegreiflicher Geschwindigkeit vonstatten gehen? Und befördern diese technischen Veränderungen die Menschen, insbesondere auch die alten, nicht wie veraltete Maschinen auf den Müll? So werden die Kindheit und Jugend im Stress und das Alter in einem Gefühl des Überflüssigseins zugebracht, ohne wirklich gelebt zu werden. Das Erwachsenenalter hingegen, der Zeitabschnitt, in dem man gegen Geld arbeitet, vergeht entweder mit entfremdeter Lohnarbeit in einem fürchterlichen Tempo, also als ein nicht gelebtes Leben, oder aber mit den zur Regenerierung der Arbeitskraft erforderlichen Tätigkeiten wie Essen und Schlafen. Die noch verbleibende Freizeit jedoch verflüchtigt sich ebenso schnell – kommerzialisiert, kalt, einsam und lieblos. Dieses Elend ergreift viele Lebensbereiche, vom Tourismus bis in die Privatwohnungen, von der Liebe bis in die sexuellen Beziehungen hinein. Das Interessante dabei ist, dass der Grund für dieses ganze Elend der “Dritten Welt”, das heißt der Grund dafür, dass diese Länder dazu verurteilt sind, die Schlachter, Obst- und Gemischtwarenhändler, Krämer, Dienstboten und Bordelle der westlichen Zivilisation zu sein, der Grund für diese physische Armut nichts anderes ist als das Bestreben, den Preis für die Reproduktion der Arbeitskräfte eben dieser westlichen Zivilisation, die ihre Kindheit, ihre Jugend und ihr Alter nicht leben können und ihr Erwachsenenalter mit entfremdeter Lohnarbeit und deren Reproduktion zubringen und in der ihnen verbleibenden kommerzialisierten Freizeit zu Kälte und Einsamkeit verurteilt sind, niedrig zu halten und so die Steigerung des Mehrwerts und des Profitanteils zu gewährleisten. Um einen Lebensstil aufrechtzuerhalten, der in spiritueller Hinsicht durch nichts zu rechtfertigen ist, werden drei Viertel der Menschheit zu Tod und Leiden verdammt. Jede Initiative, die das materielle Elend in den armen und das spirituelle Elend in den reichen Ländern beseitigen will, muss, sobald sie auch nur ansatzweise beginnt, in die Ursachen der Problematik einzudringen, die Grundlagen der heutigen westlichen Zivilisation, die auf besagtem Privateigentum, Profit und der allumfassenden Verdinglichung beruhen, erkennen

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und sich ihnen zuwenden. Eine solche Orientierung wiederum führt unweigerlich dazu, dass man sich mit der physischen Gewalt und den Unterdrückungsmitteln des Kapitals auseinandersetzt. Eine Menschheit jedoch, der ihre Phantasie und Hoffnung abhanden gekommen sind, kann sich, obwohl sie die Gründe für die Situation sehr gut erkannt hat, diesen Grundlagen nicht zuwenden. Sie fürchtet sich vor den Ergebnissen ihrer Kritik; und so verschluckt sie ihr letztes Wort und weicht einen Schritt zurück. Alle Intellektuellen und Denker auf der Welt nehmen sich dieses materiellen und geistigen Elends an und beschreiben es aufs Eloquenteste und Deutlichste. Beim Thema Ursachen jedoch sind ihre Zungen befangen. Hinter dieser Befangenheit verbirgt sich die Erkenntnis, dass keine Kraft zu sehen ist, die diesem Verfall ein Ende setzen könnte. Es gibt weit und breit keine Kraft, die einen ermutigen könnte, aus dieser Beschreibung und Kritik die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. So führt die Hoffnungslosigkeit schließlich zur Kapitulation und diese wiederum zum Verlust der Selbstachtung. Die Opfer legen ebenfalls Henkerskleidung an, um mit den Henkern zu kollaborieren, und sehen den einzigen Ausweg im Vergessen. Warum sollte ein Produktions-, Tausch-, und Verteilungs- und Konsumsystem, das Menschen frei und demokratisch planen und das sich an den Bedürfnissen, der Natur und dem biologischen Rhythmus des Menschen orientiert, nicht möglich sein? Ist denn der Mensch dermaßen unfähig? Hieße so zu denken nicht, am Menschen grundsätzlich zu zweifeln? Soll man denn die inzwischen zusammengebrochenen vorgeblichen Planwirtschaften, die ja in Wirklichkeit bürokratische Willkürsysteme waren, als einen Beweis für diese Unmöglichkeit ansehen? Die Menschheit ist nicht so unfähig. Aber es bedarf dazu zunächst einmal der Fähigkeit zu träumen und des Muts, sich die Situation als nicht schicksalhaft, sondern veränderbar vorzustellen. Nur so können wir die Gegenwart zurückerlangen. *** Und was ist mit der Vergangenheit, die uns der Nationalismus und die Nationen entwendet haben? Wie können wir die zurückgewinnen? Noch bis vor zweihundert Jahren machten die Staaten beiderseits des Atlantiks, die sich als Nationen definierten, einen sehr geringen Anteil der Menschheit aus. Der großen Mehrheit der Menschen bedeutete es nichts, einer Nation im nationalistischen Sinne anzugehören, und ein derartiges Problem war nicht einmal bekannt. Heute hingegen ist auf der Erdoberfläche kein Quadratzentimeter Boden mehr übrig, der nicht Teil eines Nationalstaats wäre; es gibt keinen einzigen Menschen mehr, der nicht irgendeiner Nation angehörte. Sich einen Menschen ohne Nationalität vorzustellen, hieße die heutige Vorstellungskraft übermäßig zu strapazieren; ein Mensch ohne Nationalität ist genauso wenig denkbar wie ein Mensch ohne Schatten (E. Gellner). Aber bis vor kurzem drückte die Zugehörigkeit zu einer Nation für die Menschen nichts anderes aus als eine kulturelle oder soziale Verwandtschaft. Ein Nationalitätsverständnis, nach dem “die nationale Einheit mit der politischen Einheit zusammenfallen” müsse (E. Gellner) war nicht denkbar. Heutzutage hat es keine politische Bedeutung, dieser oder jener 77


Sippe oder diesem oder jenem Stamm anzugehören; dieser Auffassung entsprach damals die Vorstellung von Nation. Vielleicht hat dieses Prinzip der Nation und dieser Nationalismus, die Religion der modernen Zivilisation, der Menschheit seinerzeit, als die Zivilisation ihre Jugend erlebte, genützt. In einer sich globalisierenden Welt kann es nur eine Stütze der Apartheid sein. Jetzt, wo das klassische Apartheidssystem in Südafrika allmählich am Ende ist, hat sich bereits ein neues Apartheidssystem im Weltmaßstab etabliert. Die Weißen der Welt, die Nationen Amerikas, Europas, Japans und Australiens sperren die Schwarzen in ein als “Dritte Welt” bezeichnetes Reservat. Die Vereinigten Staaten errichten im Norden von Mexiko eine Mauer der Hochtechnologie; etwas Ähnliches tut Europa, in leicht abgewandelter Form, im Westen Asiens und Norden Afrikas. Die Zahl der im Reservat Eingekesselten ist so groß und das zum Reservat erklärte Gebiet umfasst eine so große Fläche, dass es eines wahren Kraftakts der Vorstellung, ja fast schon einer kopernikanischen Revolution bedarf, um die Umzäunung des Reservats als solche zu begreifen. Die Mauern, die errichtet werden, werden nicht um die Weißen errichtet, sondern um die Schwarzen, aber diese Schwarzen sind so zahlreich, dass das auf den ersten Blick nicht den Anschein hat. Dieses Reservat ist ein riesiges Gefängnis, und es ist niemandem erlaubt, aus ihm zu fliehen. Diejenigen, denen es in den Sinn kommt zu fliehen, ertrinken entweder wie von Sträflingsinseln Entfliehende in den Flüssen und Meeren und dienen den Fischen als Nahrung, oder sie erfrieren in den Bergen oder bleiben im Stacheldraht hängen. Die Weißen jedoch, die Eigentümer dieses Gefängnisses, können es dann und wann aufsuchen, um als Touristen ihre Arbeitskraft billiger zu regenerieren, oder aber es als Politiker oder Geschäftsleute, wann und wie sie wollen, zu kontrollieren. In das Verwaltungsgebäude des Gefängnisses der Weißen jedoch haben unter den Gefängnisinsassen nur die Kollaborateure Zutritt. Auch werden manche der schwarzen Gefangenen dort zur Verrichtung notwendiger Arbeiten, wie etwa Reinigungsarbeiten, als eine Art Paria zugelassen. Dieses System hat nur einen Namen: Apartheid. Aber die Tatsache, dass die Vorherrschaft des Prinzips Nation und der Nationalstaaten unhinterfragt akzeptiert wird, verhindert, dass es als ein rassistisches System erkannt wird. Ohne jedoch die Nation und den Nationalismus zu demontieren, kann man dem Apartheidssystem nicht beikommen. Weil aber dieses System auf dem Prinzip der Nationalstaatlichkeit beruht und weil die Menschheit eine Existenzform jenseits nationaler Kategorien nicht mehr kennt und sich auch nicht mehr vorzustellen vermag, werden seine Schrecken, seine Unvernunft und seine Unmenschlichkeit nicht einmal mehr von seinen Opfern, den Schwarzen, erkannt geschweige denn kritisiert. Sogar dazu bedürfte es zuallererst einer gewissen Vorstellungskraft. Die westliche Zivilisation globalisiert sich, und um die Unvernunft und Unmenschlichkeit zu verschleiern, die darin besteht, dass, während sie von der Globalisierung redet, einerseits das Kapital, der Profit und die Waren weltweit grenzenlos zirkulieren können, andererseits aber die freie Zirkulation der Arbeitskräfte und Menschen durch Staatsgrenzen verhindert wird, erfindet sie eine Lüge namens Multikulturalität oder auch Multiethnizität. Dieser Verschleierungsversuch ist jedoch nichts anderes als ein verdecktes Eingeständnis der

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Überflüssigkeit von Nationalstaaten. Der Multikulturalismus ist ein Täuschungsmanöver, besser gesagt ist es ein Versuch der westlichen Zivilisation, das westliche Kulturverständnis den anderen Kulturen aufzuzwingen. Das jeweilige Kulturverständnis der anderen Kulturen wird dabei unterdrückt. In dieser Definition, die eine kulturelle ist, ist eine politische Bedeutung nicht vorhanden. Es geht da beispielsweise um das Essen, um die eine oder andere Alltagsgewohnheit, um die jeweilige Sprache. Aber es kann nicht jemand daherkommen und sagen, in meiner Kultur gibt es keinen Staat, in meiner Kultur gibt es keinen Begriff für nationale Zugehörigkeit, in meiner Kultur gibt es keine Sekunden und Minuten, in meiner Kultur gibt es kein Privateigentum, in meiner Kultur gibt es keine Polizei, in meiner Kultur gibt es keine Gerichtsbarkeit. Sobald so etwas gesagt wird, ist das schöne Märchen vom Multikulturalismus zu Ende; wer so etwas sagt, landet im Gefängnis beziehungsweise im Irrenhaus. Der Multikulturalismus ist aufgebracht worden, um das Nationalstaatsprinzip zu retten; er ist eine Form der Diktatur des westlichen Kulturverständnisses. Die Haltung der europäischen Zivilisation zur Kultur ähnelt ihrer Haltung zur Religion. In dieser Zivilisation ist Religion als etwas definiert, das mit dem persönlichen Glauben und Gewissen zu tun hat; in ihrer idealen Ausprägung steht sie völlig außerhalb des Bereichs der Politik. Aber das ist im Grunde eine Art Diktatur über das Religionsverständnis anderer Religionen. So sieht zum Beispiel der Islam, nicht der gewöhnliche Volksislam, wohl aber der politische bzw. der durch die Scharia definierte Islam vor, dass politische und religiöse Einheit zusammenfallen, genauso wie der Nationalismus vorsieht, dass politische und nationale Einheit zusammenfallen. Diesem Verständnis gegenüber verhält sich das Religionsverständnis der westlichen Zivilisation diktatorisch, da es es nämlich nicht zulässt. Das Gegenteil hiervon ist auch richtig; auch der politische Islam verhält sich diktatorisch gegenüber einem Religionsverständnis, das Religion als eine persönliche Glaubens- und Gewissensangelegenheit auffasst. Diese beiden Auffassungen sind nicht miteinander zu vereinbaren. Genauso verhält es sich mit den Kulturauffassungen anderer Kulturen. Wenn das, was die eine Kultur als dem politischen Bereich zugehörig auffasst, von einer anderen Kultur als nicht politisch angesehen wird, dann bedeutet die Definitionsmacht der einen Kultur deren Diktatur über die andere. Begriffe wie Pluralismus, Multikulturalismus, Demokratie, Farbenvielfalt sind ideologische Mittel, die dazu dienen, diese Diktatur zu verschleiern. Die Strafe muss der Schuld entsprechen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Da ja nun einmal die Zivilisation des Westens Religion und Kultur auf diese Art definiert und aus dem politischen Bereich verbannt, warum sollte dann nicht ihre eigene Religion, das Prinzip Nation und den Nationalismus, die gleiche Strafe treffen? Muss nicht der Traum von einer Zivilisation jenseits des Horizonts der westlichen Zivilisation bei der Ablehnung ihrer Religion, des Prinzips der Nation, ansetzen? Sämtliche Staaten, die heute auf der Welt existieren oder eine Existenz anstreben, gründen sich auf einem Verständnis, nach dem nationale und politische Einheit zusammenzufallen haben. Genauso wie in einem Staat, der auf den Prinzipien der Scharia beruht, religiöse und

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politische Einheit zusammenfallen. Im Grunde ist die gesamte Welt, wenn man die Sache unter dem Gesichtspunkt des Nationenprinzips betrachtet, den Schariastaaten in die Hände gefallen. Die Menschen haben das Recht, religionslos zu sein, aber das Recht, ohne Nationalität zu sein, haben sie beispielsweise nicht. Drei Leute können sich zusammenfinden und eine Religion oder einen religiösen Orden gründen, aber eine Nation gründen können sie nicht. Denn das Nationenverständnis des Nationalismus sieht vor, dass nationale Einheit und politische Einheit zusammenzufallen haben. Es gibt weit und breit keinen ersichtlichen Grund, das Nationenverständnis des Nationalismus zu akzeptieren; im Gegenteil sind sämtliche Arbeiten seit Beginn der achtziger Jahre, die im Bereich Nation und Nationalismus eine völlige Neuorientierung bewirkt haben, voll von Beweisen dafür, dass der Nationalismus vor der Nation entsteht und in der Definition beispielsweise nicht Klassen, sondern Religionen ähnlich ist. Der Internationalismus lehnt das Nationenverständnis des Nationalismus nicht ab und schließt es nicht aus; er akzeptiert es so, wie es von den Nationalisten definiert worden ist, beruft sich darauf und reproduziert es. Aus gerade diesem Grund sind ja die meisten Nationen auf der Welt von Internationalisten hervorgebracht worden. “Was eine Nation ist, kann man von den Nationalisten nicht lernen”, sagt Gellner; von den Internationalisten kann man es aber auch nicht lernen. Genauso wie der Atheismus und die Religionslosigkeit kann ein Verständnis, das das Recht auf Nationslosigkeit verteidigt, ein Verständnis also, das automatisch die Ansicht ablehnt, dass das Politische und das Nationale zusammenzufallen haben, den Nationen und dem Nationalismus das Grab schaufeln. Eine solche Auffassung kann, indem sie die Nation aus dem politischen Bereich verbannt, denen, die das wollen, das Recht gewährleisten, die Nation, die sie wollen, zu gründen, ihr beizutreten, aus ihr auszutreten oder auch nationslos zu sein. Nation wird dann eine Angelegenheit der persönlichen Wahl, eine Glaubensfrage wie die Religion oder eine kulturelle Angelegenheit in dem Sinne, wie Kultur in der westlichen Zivilisation heutzutage definiert wird. Selbstverständlich ist eine solche Herangehensweise, die das Nationale vom Politischen trennt und das Nationale, wie bis vor zweihundert Jahren allgemein üblich, aus dem politischen Bereich verbannt, eine Art Diktatur gegenüber der nationalistischen Herangehensweise. Aber schließlich ist ja auch die heutzutage weltweit vorherrschende nationalistische Auffassung eine Diktatur gegenüber anderen Auffassungen. *** Dass Nationen sich zusammentun und multinationale Vereinigungen wie die Europäische Union oder auch übernationale Vereinigungen wie die Vereinten Nationen gründen, macht den Nationalismus nicht zunichte; es verstärkt ihn nur und macht ihn unsichtbar. Es regeneriert ihn in noch größerer und stärkerer Form, und es stellt das Zusammenfallen des Nationalen mit dem Politischen mitnichten in Frage. Der Glaube, dass die Konflikte zwischen den Nationen im Zuge der gegenseitigen Annäherung und Institutionalisierung verschwinden, dass sie sich durch Mechanismen beseitigen lassen, die das Prinzip der Nation im nationalistischen Sinne in keiner Weise 80


negieren, sondern vielmehr reproduzieren, ist naiv und von keinerlei geschichtlicher Erfahrung gestützt. Nur ein anderes Prinzip, das das nationalistische Verständnis von Nation ablehnt, es ausschließt und eine Diktatur über es errichtet, kann heutzutage die Menschheit von dem Apartheidssystem befreien und die nationalen Konflikte beenden. Das lässt sich mit Hilfe einer historischen Analogie besser verstehen. In der vorislamischen Epoche waren die Menschen auf der Arabischen Halbinsel in Stämmen organisiert. Das gültige Prinzip war das der Verwandtschaftsbeziehung, der Blutsverwandschaft, wenn man das so sagen kann; das Politische definierte sich anhand von Blut und Abstammung. Mohammed hat nicht versucht, die Stämme zu vereinigen und, vergleichbar mit den Vereinten Nationen oder der Europäische Union, eine Union oder Föderation der Stämme zu gründen; er hat das Prinzip der blutsverwandschaftlichen Beziehung durch ein anderes Prinzip ersetzt, er hat die Blutsbrüderschaft durch die Glaubensbrüderschaft ersetzt. So haben jene, die innerhalb ihres jeweiligen Stamms das Prinzip der Glaubensbrüderschaft übernahmen, den Anhängern der Blutsbrüderschaft ein anderes Prinzip auferlegt. Es kann noch ein anderes Beispiel, aus der Geschichte der modernen westlichen Zivilisation, angeführt werden. Die Bourgeoisie hat ihre ersten Oppositionsbewegungen in religiösen Formen organisiert. Solange sie innerhalb dieser Formen verhaftet blieb, konnte die Bourgeoisie keine Zivilisation hervorbringen, die die gesamte Menschheit, sämtliche Religionen in ihrem Einflussbereich zusammenfassen konnte. Die Frage, welche Auslegung des Christentums denn nun die richtigere sei, blieb für einen Moslem oder Buddhisten bedeutungslos und unverständlich. So wie Mohammed nicht versucht hat, eine Brüderschaft unter den Stämmen oder eine Föderation zu gründen, so hat auch die Bourgeoisie keinen Versuch unternommen, eine Religionseinheit oder –brüderschaft zu etablieren. Die Bourgeoisie hat mit einem ganz anderen Prinzip, nämlich dem Prinzip der Nation, das die Prinzipien, auf denen sämtliche Zivilisationen und Religionen der Antike beruhten, ausschloss, für ungültig erklärte und unterordnete, einen sicheren Sieg über sie errungen. So hat die Bourgeoisie – genauso wie Mohammed es seinerzeit mit dem Prinzip der Glaubensbrüderschaft gelungen war, die ehemals Verbündeten in Opposition zueinander zu bringen - durch das Prinzip der nationalen Brüderschaft die Glaubens- und Blutsbrüder gegeneinander ausspielen und ihren Sieg, der auf ihrer wirtschaftliche Stärke beruhte, ideologisch festigen können. Die moderne Zivilisation nun hat, indem sie sich auf ein anderes Prinzip berief, haufenweise Verteidiger aus den Reihen aller Glaubens- und Blutsgemeinschaften auf ihre Seite ziehen können. Das Ende des Nationalismus könnte auch so aussehen. Ein Prinzip, das das Prinzip der Nation verwirft und an den ihm zustehenden Platz verweist, nämlich in eine Waagschale mit den Religionen, könnte das Ende der Nationalstaaten bringen, die uns um unsere Geschichte und um unsere Gegenwart bringen und die Menschheit dazu verurteilen, in einem Apartheidssystem zu leben. Solange es nicht zwischen denjenigen, die die Ansicht vertreten, dass innerhalb jeder Nation das Nationale und das Politische zusammenzufallen haben, und denjenigen, die dafür plädieren, Nationalität als eine persönliche Geschmackssache anzusehen, eine klare Trennung gibt und solange nicht letztere über erstere die Oberhand

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gewinnen, wird es nicht möglich sein, die entwendete Vergangenheit wiederzuerlangen und die Zukunft vom Fluch der Vergangenheit zu befreien. Der Nationalismus, die Religion der modernen Zivilisation - oder auch dessen häretisches Gegenstück, der Internationalismus - ist nicht stark genug, angesichts einer solchen Kritik und eines solchen Blicks zu bestehen. Diese grundlegenden die menschliche Existenz betreffenden Fragen werden von ihm weder gestellt noch beantwortet. Er ist viel kraftloser, als man gedacht hätte. Das einzige Problem, um das es hier geht, ist, sich vorzustellen und auszumalen, dass dies möglich sein könnte, es jenseits des vorhandenen Horizonts erblicken zu können. *** Dann müssen wir träumen. Aber sogar das Träumen haben wir inzwischen verlernt. Und deshalb müssen wir es wieder von neuem erlernen; wir müssen Traumübungen machen; wie ein Kranker nach einer schweren Operation und langen Bettlägerigkeit das Gehen wieder von vorne lernen muss, so müssen auch wir unsere Muskeln, die träge geworden sind und uns nicht mehr gehorchen, von neuem trainieren und die Schmerzen, die dabei entstehen, aushalten. Wir sind in der gleichen Lage wie Arbeiter in einer Gerberei, die den üblen Gestank nicht mehr riechen. Um den Unratsgestank wieder wahrnehmen zu können, brauchen wir zunächst einmal saubere Luft. Diese saubere Luft können nur Träume gewährleisten. Im Licht der Träume jedoch lässt sich die Unvernunft und Unmenschlichkeit der Realität besser erkennen, und man kann ein tieferes Verständnis von ihnen erlangen. Jeder schaut nach unten, um nicht in den Brunnen zu fallen; nach den Sternen zu sehen, kommt dabei niemandem in den Sinn. Würden sich die Köpfe erheben, so könnte man die Öffnung des Brunnens sehen, und vielleicht könnte man sich dann auch daran machen, aus dem Brunnen herauszuklettern. Ohne die Horizonterweiterung der Träume kann man sich keinen genaueren Begriff von der Realität machen. *** Eine realistische Bewertung der Wirklichkeit im Lichte der Träume fördert folgendes zutage: Die Lage ist hoffnungslos. Sie ist dermaßen hoffnungslos, dass sie schon nicht einmal mehr ernst ist. Vielleicht sind die Voraussetzungen für die Existenz des Menschen bereits irreversibel zerstört. Jemandem, der von einem Wolkenkratzer stürzt, geschieht nichts, bis er unten aufprallt; vielleicht befindet sich die Menschheit gerade in einer solchen Lage. Eine Kraft, die die Fallschirmschnur ziehen oder die Notbremse des auf den Abgrund zurasenden Zugs betätigen könnte, ist nicht in Sicht. Einen Alexander den Großen, der den Gordischen Knoten, der durch die Verwirrungen der Geschichte entstanden ist, zerschlagen könnte, gibt es nicht mehr. Die moderne Zivilisation hat die gesamte Menschheit vor ihren Triumphwagen gespannt, ihre Vergangenheit entwendet, vergessen und dem Vergessen anheimgegeben. Was als erstes zu tun ist, ist, zu erkennen, dass der Zustand so ist, wie er ist; und dann muss

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man es vermeiden, falsche Hoffnungen zu verbreiten. Man muss die Hoffnungslosigkeit der Lage erkennen und die Realität mutig ins Auge fassen können. Um die Realität erkennen zu können, muss man träumen können; um die Hoffnungslosigkeit erkennen zu können, muss man realistisch sein können. Keine Hoffnung und nichts zu verlieren zu haben und das zu erkennen und zu akzeptieren, gewährleistet einen sehr soliden Ausgangspunkt. Es bietet die Voraussetzungen für eine überaus radikale und kritische Haltung. Dieser Radikalismus erfordert es, eine gleichermaßen radikale moralische Haltung ohne Bezug zu irgendeiner Hoffnung oder Erfolgsaussicht einzunehmen. Es gibt Unterdrücker und Unterdrückte, Sieger und Besiegte, die da oben und die da unten, Frauen und Männer, Schwarze und Weiße. Hier muss man immer auf der Seite der Verdammten sein, das muss man immer versuchen; es ist nicht wichtig, ob die Geschichte und die Zukunft eine Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung versprechen oder nicht. Auf welcher Seite des Schalters oder der Barrikade man steht, muss eine moralische Frage sein. Was dem Menschenleben eine Bedeutung gibt, ist sein Ziel. Und es gibt kein anderes Ziel, als sein Äußerstes zu tun, um eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung zu erreichen. Es geht darum, mit Hilfe der Phantasie die Schändlichkeit der Wirklichkeit zu begreifen, mit Hilfe des Realismus die Hoffnungslosigkeit zu akzeptieren und durch eine moralische Wahl, die dem Unterschied zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit keine Bedeutung beimisst, seine Position zu bestimmen. Eine solche Haltung, die ihre Motivation aus der hoffnungslosen Lage der Menschheit und aus einer moralischen Entscheidung herleitet, bedarf nicht einmal einer Siegeserwartung. Wenn in der Geschichte in der Sache der Emanzipation der Unterdrückten von Zeit zu Zeit der eine oder andere Fortschritt zu verzeichnen gewesen ist, dann ist das nicht denen, die einen Sieg errungen haben, zu verdanken, sondern den Besiegten. Der äußerste Beitrag zur Befreiung hat häufig eine Niederlage erfordert, nicht einen Sieg. Nicht die siegreiche Kirche, sondern die von ihr Verbrannten, die Hexen zum Beispiel, haben einen größeren Beitrag zur Befreiung der Menschheit geleistet. Nur eine Haltung, die einen Sieg nicht einmal erwartet, die sich in einer hoffnungslosen Lage auf den Weg macht und nicht einmal eine Hoffnung hat, beinhaltet vielleicht selbst eine Art Hoffnung. Nach einer Metapher, derer sich die Chaostheorie bedient, kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in China in Amerika einen Tornado auslösen. Das heißt nicht, dass er ihn notwendigerweise auslöst, aber er kann ihn auslösen. Das ist immerhin eine Möglichkeit, wenn auch eine klitzekleine. Wenn es so ist, dann liegt auf der Hand, was zu tun ist. Man muss der Flügelschlag eines Schmetterlings sein. *** Die Geschichte hätte nicht zwangsläufig so geschehen müssen, wie sie geschehen ist. Die Geschichte, auf die wir heute zurückblicken, ist nur eine von vielen möglichen. Es gibt überhaupt kein kategorisches gesellschaftliches Gesetz, welches besagt, dass die Geschichte den Verlauf, den sie bis heute genommen hat, notwendigerweise hätte nehmen müssen. Das 83


trifft nicht nur für die Gesellschafts-, sondern auch für die Naturgeschichte zu. Es gibt immer andere Möglichkeiten. Das heutige Universum ist nur eins von vielen möglichen. Vielleicht existieren sogar jene anderen möglichen Universen außerhalb unseres eigenen Universums. Aber dieser Gedanke kann auch folgendermaßen ausgedrückt werden: Wenn die Geschichte des Universums seit dem Urknall noch einmal von vorne aufgerollt werden sollte, dann gäbe es keine Garantie dafür, dass sich noch einmal der gleiche Film abspielen würde. Es könnte ein völlig anders geartetes Universum entstehen, dass sich aus ganz anderen Bausteinen zusammensetzen würde. Dieses trifft auch auf die Naturgeschichte zu. Wäre es möglich, die Naturgeschichte seit der Entstehung des Lebens noch einmal aufzurollen, so gäbe es keinerlei Garantie oder Gesetz, dass die heutigen Formen des Lebens noch einmal auf die gleiche Weise entstünden. Im Gegenteil; der Mensch, der uns als das unausweichliche Ergebnis der natürlichen Evolution erscheint, ist nichts anderes als “ein Zufall” (S. J. Gould). Die Paläontologie und die Geologie liefern dafür Beweise zuhauf. Trifft denn nun das gleiche für die Gesellschaft vielleicht nicht zu? Ist denn die Geschichte, die wir heute erleben, etwa nicht nur eine von vielen möglichen? Spulte man das Band zurück, so gäbe es keine Garantie oder Notwendigkeit, dass wir die gleiche Musik noch einmal zu hören bekämen. Und jeder einzelne Moment in der Geschichte – was ist er anderes als ein Ausgangspunkt, von dem aus das Band noch einmal gespielt werden könnte? Sonntag, 22. November 1998 Übersetzung: Annette Herkenrath

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Der Vorsitzende der kurdischen nationalen Befreiungsbewegung ist eine Geisel in den Händen seiner Feinde Abdullah Öcalan der Vorsitzende der bewaffneten Bewegung, die sich auf die Unterdrückten der kurdischen Nation stützt und die größte und radikalste Bewegung im mittleren Osten darstellt, befindet sich als Ergebnis einer gemeinsam durchgeführten Operation seitens der CIA, Mossad und MIT also Amerika Israel und Türkei als Geisel in den Händen seiner Feinde. “Recht auf politisches Asyl für Öcalan” hieß ein Aufruf die Kurden betreffend, den ich formuliert habe weil ich schlimme Entwicklungen befürchtete, als sich Öcalan noch wartend in Italien befand. „Zu der Zeit gab viele Stimmen unter den Kurden , die falsche Illusionen Europa betreffend verbreiteten. (...)“ Leider zeigen die Entwicklungen das diese Sensibilität berechtigt und sogar noch ungenügend war. Als ich diesen Aufruf verfaßte hatte ich niemals daran gedacht, daß Abdullah Öcalan in die Hände des türkischen Staates fallen würde. Als eine schlimme Möglichkeit sah ich damals nur, daß Öcalan in Libyen, Korea oder Südafrika isoliert werden könnte. Was Öcalan widerfahren ist zeigt folgendes: 1. Früher konnten die Unterdrückten aus den Widersprüchen der Herrschenden profitieren um sich einen gewissen wenn auch kleinen Raum zu verschaffen in dem sie atmen konnten. In der Welt von heute ist diese Situation kaum noch möglich. Wenn die USA sich entschieden hat etwas zu eliminieren, wird keine einzige Person kann auf der Welt eine Zuflucht finden können. Die gesamte Erdoberfläche ist unter der totalen Kontrolle der USA. 2. Die europäischen Staaten haben trotz ihrer Widersprüche zu den USA nicht die Stärke wie einst die Sowjets, die Funktion eines Gegenparts zu übernehmen. Sie haben Öcalan ganz eindetig an die USA übergeben. Öcalan war vielleicht der einzige Trumpf in ihren Händen den sie gegen die Neuordnung der USA im mittleren Osten hatten. Öcalan sah dies und bestand bis zum Schluß auf diesen Punkt. 3. Öcalan ist der Preis den die USA für die Unterstützung der Türkei für ihre Ordnungspläne im Irak bezahlen. Jetzt wird in Süd-Kurdistan eine selbstbestimmte kurdische Region unter der Leitung der

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Türkei aufgebaut, was auch zum Plan der Zerschlagung des Iraks gehört. Sie wird unter dem Einflußgebiet der Türkei bleiben. Für die künftigen Widerstandskämpfe sind die Lehren aus diesem Widerstand und der Niederlge zu ziehen.

16.Februar 1999 Demir

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Türkische Initiative zur Verteidigung des Lebens von Abdullah Öcalan

Politische Einordnung der Entführung Der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, ist durch ein internationales Komplott in die Hände seiner Feinde übergeben worden. Das es soweit kommen konnte, hat sich in den Wochen und Monaten zuvor immer deutlicher abgezeichnet. Zunehmend hatte sich vor seiner Ausreise der Druck auf Syrien verstärkt. Die türkische Regierung drohte offen mit einem Angriffskrieg und der Sperrung der Wasserzufuhr. Als Abdullah Öcalan gezwungen wurde Syrien zu verlassen, nahm er sich bewußt Europa zum Ziel. Öcalans Ankunft in Rom hatte eine Perspektive für eine politische Lösung geboten. “Ich bin her gekommen, um den Schlüssel zu übergeben. Den Schlüssel für eine friedliche und politische Lösung”, sagte Öcalan in Rom in einem 7 Punkte Programm zum Kurdistankrieg. Einzelne europäische Staaten hatten in der Vergangenheit direkt oder indirekt eine politische Lösung befürwortet. Zwar hatte die EU keine einheitliche Linie im Kurdistankrieg, jedoch auch keine kategorische Ablehnung gegen eine politische Lösung wie die USA. Öcalan hatte gehofft diese Widersprüche der einzelnen Staaten nutzen zu können und den EuropäerInnen die Gelegenheit zu geben den Einfluß der USA im Mittleren-Osten zu schwächen. Insbesondere eine starke militärische und politische Achsenbildung zwischen der Türkei-Israel und der USA ließ Europa kaum noch Einflußmöglichkeiten in dieser Region. Öcalan wollte ihnen diese Möglichkeit anbieten, um ihre Position gegen den Türkeipartner USA zu stärken. Das diese Möglichkeit von den europäischen Ländern nicht genutzt wurde, wirft ein deutliches Licht auf die Machtverhältnisse in der internationalen Tagespolitik, deren Tragweite nicht zu unterschätzen ist. Die USA haben von Anfang an eine bestimmendere Rolle spielen können. Sie sind es, die das Weltgeschehen nach ihren Interessen bestimmen. Es gibt keine Macht, die sich dem ernsthaft entgegenstellen könnte und damit die Chance hat zu bestehen. Die “neue Weltordnung”, wie es die USA seit dem Golfkrieg verkündet hat, scheint sich verfestigt zu haben. Diese Weltordnung lautet totale Kontrolle durch die USA. Kein Staat stellt diese Tatsache noch ernsthaft in Frage. Zur Zeit gibt es zu der USA keine gleichwertige Gegenmacht. Dies hatte sich bereits im Bosnien-Herzogowina abgezeichnet und trat bei der Entführung von Öcalan noch mehr hervor. Spätestens bei den Bombenangriffen auf Jugoslawien hat die USA ihre Position endgültig gefestigt. Italien hat seine wohlwollende Position im Falle Öcalan aufgegeben nachdem Premierminister D´Alema zu Besuch in den USA war. Sämtliche europäische Staaten haben die Aufnahme Öcalans strikt abgelehnt. Selbst die griechische Regierung hat eine Rolle

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angenommen, die von niemanden so vorhergesehen werden konnte. Dies alles hätte ohne die USA nicht so eindeutig stattfinden können. Im Grunde entspricht diese Haltung der europäischen Staaten jedoch derzeit auch ihren Interessen, da sie ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehung zu der Türkei längerfristig nicht gefährden wollen. Der USA geht es um eine Neuordnung des Mittleren-Osten. Als die Türkei vor einigen Monaten andeutete, daß sie die Unterstützung für die Angriffe auf Irak von der türkischen Basis Incirlik aus, nicht mehr gutheißen könnte und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem Irak diskutierte, war die USA unter Zugzwang. Im September 1998 wurden den kurdischen Stämmen um Barzani (KDP) und Talabani (PUK) Zugeständnisse für den Südkurdistan (Nordirak) gemacht als diese zu Gesprächen nach Washington geladen wurden. Sie konnten weiter auf das “Protektorat” und Teilautonomie hoffen und sich ihre Einnahmequellen durch Handelszölle und Steuern auch künftig sichern. Auf Druck der USA schlossen sie einen gemeinsamen Pakt in dem ihnen die Bildung einer Föderation mit einer neuen irakischen Regierung in Aussicht gestellt wurde. Gleichzeitig wurde vereinbart, daß die PKK-Basen aus Südkurdistan verschwinden sollten. Oppositionelle Gruppen im Irak sollen militärisch und finanziell gegen S. Hussein aufgebaut werden. Die USA kann, kaum noch in der Öffentlichkeit wahrnehmbar, ihre Bombenangriffe auf den Irak fortführen, um Saddam Hussein zur Aufgabe zu zwingen oder das Volk gegen ihn aufzuwiegeln. Einen kurdischen Staat würde es mit der USA nicht geben. Die Einflußmöglichkeit der Türkei auf diese Region könnte nach diesen Plänen sogar vergrößert werden und die Türkei kann weiter von einem Großtürkischen Reich träumen. Irans Einfluß würde noch mehr verdrängt werden. Die Türkei hat ein aufgefrischtes 12 Punkte Programm, den Irak betreffend, am 29.01.1999 in der Tageszeitung Cumhuriyet vorgestellt, um so den Druck auf die USA zu erhöhen. Insoweit war die Auslieferung Öcalans unter anderem der Preis dafür, wenn die USA S. Hussein stürzen wollten. Diesen Wunsch der Türkei hat die USA erfüllt.

Recht auf Asyl Neben der politischen Einordnung muß das Augenmerk auch noch auf ein weiteren Umstand gelenkt werden, der bisher kaum Beachtung fand. Ein politischer und juristischer Skandal ohne Gleichen hat stattgefunden. Schließlich ging es auch um das ganz persönliche Schicksal von A. Öcalan, der zumindest in Rußland, Italien, Griechenland und Niederlanden um politischen Schutz und Asyl nachsuchte. Es zeigt wie perfide mittlerweile die europäische Asylpraxis ist, daß selbst einem Menschen wie Öcalan in Europa keine Chance gewährt wird, seine persönliche Sicherheit zu gewährleisten. Er wird sehenden Auges seinen Folterern und Henkern übergeben. Ein Mensch, der der größten Guerillaorganisation der Welt vorsitzt, wird gedemütigt und von Staat zu Staat geschickt und letztendlich fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Dies dürfte ein einmaliger Vorgang in der Geschichte sein.

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Für sein weiteres persönliches Schicksal haben sämtliche europäische Staaten die Verantwortung zu übernehmen.

Bedeutung für die kurdische und türkische Bevölkerung Die Entführung Öcalans und die erniedrigende Vorführung seitens der türkischen Regierung wurde von sämtlichen kurdischen Menschen auch als eine persönliche Erniedrigung empfunden. Egal ob PKK SympathisantInnen oder GegnerInnen alle haben sie das Komplott und die Behandlung Öcalans als einen Angriff gegen KurdInnen empfunden. Weltweit haben kurdische Menschen unterschiedlichster Fraktionen ihren Protest zum Ausdruck gebracht. Öcalan wird seither als ein Symbol für die kurdische Befreiung angesehen. Darin mag auch in der Niederlage eine Chance stecken. Die mögliche Hinrichtung Öcalans wird eine unüberwindbare Feindschaft zwischen den Türken und Kurden bringen. Öcalan ist zur Zielscheibe geworden in dem Moment als er sich am vehementesten für den Frieden einsetzte. Die Seiten, die seine Hinrichtung fordern, haben die Fortführung des Krieges im Sinn. Es sind Kriegstreiber und Profiteure eines Völkermordes. Öcalan ist die letzte Chance für den Frieden. Durch seine Hinrichtung wird sich die türkische Gesellschaft noch mehr militarisieren und menschenverachtende Politik wird mehr als zuvor auf der Tagesordnung stehen. Bereits jetzt ist ein chauvinistischer und nationaler Ruck in der Gesellschaft zu spüren. Gleichzeitig werden die ohnehin wenigen Gegenstimmen der türkischen Seite zum Krieg in Kurdistan, zum Verstummen gebracht.

Warum unsere Initiative? Unsere Initiative ist die Antwort für die Forderung nach einem menschenwürdigen Leben der kurdischen Bevölkerung. Wir möchten den stillschweigenden oder zustimmenden Konsens brechen, der zur Zeit in der Türkei herrscht. Das Leben Öcalans zu verteidigen bedeutet das Einstehen für eine Gesellschaft, das befreit ist von Unterdrückung der Menschen. Mit unserer Initiative setzen wir uns gleichzeitig auch für unsere eigenen Interessen ein. Wir empfinden die Entführung Öcalans auch als einen persönlichen Angriff gegen unser Verständnis vom gleichberechtigten Leben der Völker, so auch von KurdInnen und TürkInnen. Die Befreiung der KurdInnen ist auch unsere Befreiung. Deshalb haben wir diese Initiative als TürkInnen ins Leben gerufen. Während Europa immer wieder vom Bürgerkrieg in der Türkei oder Krieg gegen die KurdInnen und Verletzung der Menschenrechte sprach und die Türkei anprangerte, hat es Position genau für diesen Staat ergriffen. Mit dieser Parteinahme haben sich die EuropäerInnen eindeutig und ohne Verschleierung für den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung entschieden.

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Deshalb rufen wir alle Menschen in Europa dazu auf ähnliche Initiativen in ihren Städten/Ländern zu gründen. Wir stehen einer Zusammenarbeit mit Gruppen für das Ziel zur Verteidung des Lebens von A. Öcalan offen gegenüber.

Türkische Initiative zur Verteidigung des Lebens von Abdullah Öcalan e-mail: apohki@topmail.de homepage: http://home.t-online.de/home/apohki/

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Die Anklage gegen Abdullah Öcalan und seine Folgen Abdullah Öcalan hat sich bis jetzt in seinem Prozess weder juristisch noch politisch verteidigt, im Gegenteil, als Führer Vorsitzender einer der Seite der PKK hat er sogar der Türkei den Frieden vorgeschlagen zugleich einen konkreten Plan für die Demokratisierung des Landes angeboten und dabei noch die notwendigen diplomatischen Handlungen vollzogen. Die Medien, die unter der Kontrolle der Kriegsgewinnler stehen, haben dieses Vorgehen Öcalans mit Methoden der psychologischen Kriegführung in Form eines regelrechten Propaganda Bombardements, manipulierend begleitet, Öcalan habe sich ergeben, habe Angst bekommen und wolle nur seine Haut retten. Sogar viele seriöse Medienanstalten verbreiteten vergleichbare Nachrichten. Auch viele Freunde der Kurdischen Nationalbewegung, die unter den Einfluß dieser Propaganda standen, fingen an Öcalans Verhalten anzuzweifeln. Jetzt, nachdem sich die Rauchschwaden, die die Medien unter ihrem Bombardement verursacht haben, langsam verziehen, zeigt sich zunehmend, dass Öcalan sich nicht ergeben hat, im Gegenteil durch seinen taktischen Rückzug und seine taktische Offenheit, sieht man, dass er dadurch für die Lösung des Konflikts neue Horizonte eröffnet hat. Die prokurdische Partei HADEP, die stärkste Partei in Kurdistan, konnte bei den letzten Wahlen zeigen, daß sie trotz aller Unterdrückung, aufgrund der vielen Stimmen, die sie erhielt, eine legale Partei ist, die auch in vielen Einzugsgebieten die kommunalen Bezirksverwaltungen stellt. Die PKK mit seinen Tausenden Guerillas, AnhängerInnen und SympathisantInnen, die einen Guerillakrieg mit einer der weltweit größten und effizientesten Armeen, nämlich der türkischen Armee führt, ist eines der größten und wirksamsten Guerillabewegungen, die es gibt. Nun signalisieren beide Organisationen, daß sie das von Öcalan eingebrachte Programm unterstützen und sich somit auf die Seite Friedens stellen, so daß dieses Minimale eigentlich nicht ein mal von den Generälen verneint werden könnte. Diese in der Türkei einflußreichsten und weltweit größten beiden kurdischen Organisationen erklären ganz unmißverständlich offiziell, daß sie die Vorschläge von Öcalan unterstützen. Diese deutlichen Stellungnahmen, geben dem von Öcalan im Gerichtsverfahren vorgeschlagenen Projekt einen wichtigen Nachdruck. Dieses Projekt soll im Rahmen eines auf die Verfassung begründeten Staatsbürgerschaft (also nicht auf Abstammung beruhende) die Anerkennung der kurdischen Kultur und Identität, die positive Akzeptanz von kulturellen und sprachlichen Differenzen, die Gewährung von größeren Kompetenzen für örtliche und kommunale Verwaltungen, also demokratische

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Reformen umfassen und garantieren. Im Gegenzug bieten die Kurden an den bewaffneten Kampf zu beenden und im existierenden einheitlichen Staatsgebilde zu verbleiben. Diejenigen, die bis jetzt den Kampf des Kurdischen Volkes als einen Kampf für den Aufbau eines eigenen Staates gesehen haben, betrachten dieses Projekt als einen Verrat gegen ihre eigenen Ziele. Nur ist dies weder richtig noch realistisch. Diese Einschätzung ist deshalb nicht richtig, weil die PKK in ihrer ganzen Vergangenheit immer schon betont hat, daß sie nicht für eine Abspaltung an sich, sondern vielmehr für ein demokratisches System, wo das Recht auf Abspaltung gewährt ist, gekämpft haben. Darüber hinaus hat sie immer betont, dass das Problem nicht bloß ein "Abspalten oder NichtAbspalten" zur Gründung eines eigenen Staates ist, vielmehr ging es ihr um die Anerkennung der Identität und die Emanzipation eines Volkes. Diese Einschätzung ist nicht realistisch, da die Kurden nur dann einen eigenen Staat errichten können, wenn die Interessensverhältnisse der Mächtigsten dieser Erde und die historischen Bedingungen so günstig liegen, dass vielleicht einige von ihnen es wagen den ebenso mächtigen Türkischen, den Iranischen und den Arabischen Staat entgegenzutreten. Heute hat dies keine Grundlage mehr. Weder von der USA, noch von Europa und erst recht nicht von Russland, dessen Einfluss inzwischen immer mehr schwindet, ist zu erwarten, dass sie durch Unterstützung dieses Projekts die angesprochenen Staaten herausfordern werden, dass dies nicht zu erwarten ist, hat sich vor allem bei den dramatischen Entwicklungen während Öcalans tragisch endender Odyssee gezeigt. In einer historisch einmaligen Weise hat die Kurdische Nationale Befreiungsbewegung, wegen der globalen amerikanischen totalen Hegemonie und Kontrolle, seinen Vorsitzenden an die Mächte, die sie bekämpft verloren und mußte so eine erhebliche Niederlage einstecken. Selbst diese Niederlage, hat denjenigen in der Türkei, die vom Krieg profitieren, weitere Kraft für die Verleumdung der Existenz und für die Unterdrückung der Kurden geliefert. Bei dem vor kurzen stattgefundenen Wahlen erzielten diejenigen Parteien, die diese Politik verfolgten, eine erdrückende Mehrheit. Als Abdullah Öcalan, personifiziert durch ihn auch die Kurdische Nationalbewegung, dem Tod und der Auslöschung seines Lebens gegenüberstand, befreite er sich aus dieser schwierigen Situation mit einem salto mortale von seinem bisherigen Selbst und ging hervor als Keim einer ganz neuen Nation. Hätte die Kurdische Nationalbewegung nur für die Gründung eines eigenen Staates gekämpft, wäre diese nicht erfolgreich gewesen, solange sich die Kräfteverhältnisse bestimmter Staaten nicht ändern. Nur durch die Entwicklung eines allgemeinen Programms auch für die Unterdrückten der Unterdrückernation, also nicht nur für die Kurden und nicht nur für sich selbst, kann sie sich mit einem salto mortale aus seinem bisherigen Selbst befreien und von einer nationalen

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Befreiungsbewegung zu einer sozialen Befreiungsbewegung werden und kann dadurch den Versuch unternehmen, die Unterdrückten zu befreien. Unter den verschiedenen kurdischen Bewegungen konnte allein die PKK mit seiner plebejischen Basis bis zum heutigen Tag solche Selbstüberwindungspotentiale und -ansätze zeigen. Durch Öcalan selbst, erkennt man, daß unter den widrigsten Umständen, aufgrund der vorhergehenden Veränderungen, die Kurdische Nationalbewegung, um sich selber zu befreien auch seinen Unterdrücker befreien muß, um den Sieg davon zu tragen und sich noch größeren Aufgaben stellen muß. Auf der einen Seite ist diese Bewegung sie selbst geblieben, hat aber gleichzeitig begonnen sich zu verändern. Diesen Umstand als Reue, Angst etc. darzustellen, war das wahre Motiv der Medien. Öcalan verhält sich von nun an nicht nur als Vorsitzender einer Kurdischen Nationalbewegung, er verhält sich wie jemand der die Kurden, Türken und andere Minderheiten mit einem neuen Staatsangehörigkeitsrecht zusammenbringen möchte, um so den Grundstein für die Gründung einer neuen Nation zu legen. Nun sind seine Ansprechpartner nicht nur die Kurden, sondern auch die Türken. Aufgrund seines großen Prestige/ Ansehen bei Kurden müßten eigentlich jetzt die Türken gewonnen werden. Die Kurden bieten den Türken an sich unter einer anderen Nation zu vereinigen. Kurz gesagt, die Kurdische Nationalbewegung verändert sich und legt somit die Grundlage für eine völlig neue Nation. So hat es die Kurdische Nationalbewegung geschafft, ohne wie im letzten Jahrhundert in ethnische Säuberungen zurückzufallen, wie zuletzt auf dem Balkan und dem Kaukasus geschehen; ohne wie in Afrika einem monolithischen Nationalismus zu erlegen, der große Wunden und Morde mit sich gebracht hat; angepasst an die heutigen Verhältnisse, wie bereits in den USA, in Europa oder in der Schweiz vorhanden, schafft sie ein neues nationales Projekt, das unterschiedliche Kulturen und Sprachen als Gewinn betrachtet. Die Kurdischen Nationalbewegung ist nicht durch ihr Zuspätkommen erstickt, durch das entwickeln dieses Projektes hat sie ebenso bewiesen, dass man auch die Vorteile des Zuspätkommens für sich nutzen kann. Äußerlich betrachtet, läßt die Anerkennung des Türkischen als offizielle Sprache, die Anerkennung des Kurdischen als Zweitsprache für die Kurden und die Stärkung gewählter regionaler Selbstverwaltungen; also demokratische Reformen, für die Kurdische Nationalbewegung zunächst wie ein Rückschritt aussehen. Waren es nicht gerade einige Reformisten bzw. kurdische Gruppen, die den bewaffneten Kampf ablehnen, die seit Jahren diese Reformen verteidigt haben ? Wenn das also absehbar war, wozu ein so langer Guerillakrieg ? Zeigt dieser erreichte Umstand nicht, dass diese Gruppen im Recht sind ? Diese Herangehensweise, die gesellschaftliche Umformungen nur mit politischen, verwaltungstechnischen, juristischen oder ökonomischen Umformungen begrenzt, ist eine oberflächliche Anschauung. Diese Herangehensweise begreift die Bedeutung der Veränderungen und Umformung der Menschen und der Kurden nicht.

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Zwischen den heutigen Kurden und denen vor zwanzig Jahren bestehen riesige Unterschiede. Noch bis gestern herrschte eine Sklavenmentalität. Der seit zwanzig Jahren anhaltende Guerillakrieg hat aus den Kurden, die sich bis dahin über ihrer eigene Identität schämten, völlig andere Kurden gemacht; Kurden, die sich nicht vor ihrer Identität schämen und sich auf diese verlassen; die durch das Feuer der Rebellion gelaufen sind; die sich statt in feudalen Sippen in modernen Parteien und Vereinen organisierten; dabei spielen die Frauen offen oder versteckt eine führende Rolle. Ohne das Durchleben dieser Phase, käme das von Öcalan vorgetragene Projekt, nicht dem Angebot einer mit Selbstvertrauen dastehenden Nation gleich, sondern es wäre ein sklavisch flehendes und bettelndes Angebot. Diejenigen, die früher den Guerillakrieg ablehnten, wären jetzt genau in dieser Lage. Die besten Freundschaften können sich erst nach den härtesten Kämpfen entwickeln. Die Engländer entstanden im Tiegel der harten und langen Kriege der Normannen und Sachsen. Selbst zu einer gesunden psychischen Entwicklung des Menschen gehört das Rebellieren gegen die Eltern, diese Phase ist notwendig zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Diejenigen, die eine solche Rebellion nicht ausleben, sind dazu verurteilt seelisch kindlich und unreif zu bleiben. Die so nach der Rebellion auf gegenseitige Akzeptanz gegründete neue Beziehung mit den Eltern unterscheidet sich grundsätzlich von der vorherigen Beziehung, auch wenn diese äußerlich ähnlich erscheint. Für eine gesunde /stabile Entwicklung des Kurdischen Volkes war eine/diese Rebellion notwendig, ohne sie wäre höchstens eine Herr-Knecht-Beziehung möglich geworden. Hieraus hätte sich keine wahre, respektvolle Freundschaft und keine Verschmelzung entwickelt. Ohne einen Kampf könnte kein echter, gleichberechtigter und auf gegenseitige Akzeptanz beruhender Frieden entstehen. Der Kurdische Befreiungskampf hat sich, persönlich durch Öcalan, selbst überwunden und erfährt eine Wiedergeburt unter besonders schwierigen Bedingungen. Der Feind ist sehr mächtig, die Zeit zudem knapp. Das Programm und das Angebot Öcalans zielen daraufhin, alle Gesellschaftsschichten, die von diesem Krieg profitieren, für sich zu gewinnen. Die Karten sind neu gemischt und verteilt worden. Die Spaltung wird nicht mehr zwischen Kurden und Türken, vielmehr innerhalb dieser selbst sein. Jedoch eine Neuformierung und Herauskristallisierung dieser Fronten, also diese Veränderungen im Bewußtsein der Gesellschaft, entwickeln sich langsam. Die Erhängung Öcalans kann diesen Prozeß auf Jahrzehnte zurückwerfen. Im Falle einer Nicht-Verurteilung oder einer Verspätung könnte diese neue Gespaltenheit in der Gesellschaft mehr an Gewicht erlangen und die kriegsbeführwortenden Verleugner könnten isoliert werden. Das bedeutet gleichzeitig, daß Öcalan von einer Verurteilung befreit und ein Verhandlungspartner wird. Die Gründer der Spezialkriegsapparaturen, die illegal und ohne jede juristische Kontrolle operieren, beabsichtigten anfänglich damit den Guerillakrieg und den Volksaufstand in Kurdistan zu unterdrücken. Um nach vollendeter Arbeit diese wie ein einfaches Werkzeug beiseite zu legen, was aber nicht gelang. Die Gründer gleichen dem Zaubererlehrling, der die Geister herbeirief und sie dann nicht mehr los wurde. Sie waren die Ersten, die merkten, daß man mit Gewalt dieses Problem nicht lösen wird. Sie waren auch die Ersten, die eine 94


Einigung mit der PKK suchten, um den Krieg zu beenden, dabei zogen sie mit ihrer Initiative die Gewalt dieser Apparaturen auf sich und wurden so zu Opfern des von ihnen selbst erschaffenen Ungeheuers. Unter den Opfern befanden sich Leute wie General Eşref Bitlis, Turgut Özal und nach ihnen viele andere mehr. Diese Morde haben eine Einigung unmöglich gemacht, haben Tausenden von Menschen das Leben gekostet und führten zum Verfall der türkischen Bevölkerung. Die Spezialkriegsapparaturen sind die wahren Herrscher in der Türkei. Versuche von anderen Staatskreisen diese Apparaturen zu schwächen, wie es in "Susurluk" versucht worden ist, reichten nicht aus, um diese zu stürzen. Der Krieg ist für diese Apparaturen nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln, sondern zum Selbstzweck geworden. Um ihre momentane Machtposition, die mit nicht zu unterschätzenden juristischen, politischen und wirtschaftlichen Privilegien ausgestattet ist zu wahren, werden sie alles erdenkliche unternehmen. Ihr Fortbestand ist mit der Unterdrückung der Kurden und der Verleugnung ihrer Existenz verbunden. Das Schüren der Feindschaft zwischen den Türken und den Kurden ist die einzige Möglichkeit für diese Apparaturen um Leben zu bleiben. In dieser Situation tritt die Absicht der Kriegsgewinnler offen zu Tage. Sie wollen Öcalan so schnell wie möglich hinrichten. Auf diesem Wege verhindern sie eine Spaltung unter den Türken in die, die friedlich mit den Kurden zusammenleben wollen und die, welche die Existenz der Kurden leugnen. Sie werden alles erdenkliche unternehmen, um die Türken gegen die Kurden auszuspielen, in dem sie die Spaltung zwischen Türken und Kurden verstärken. Das Amlebenbleiben Öcalans wird ein Ausdruck der Stärke und des Einflusses der für Frieden eintretenden Kräfte sein. Der Frieden zwischen dem türkischen und kurdischen Volk ist mit Öcalans Leben unzertrennbar verbunden. Das Eintreten für das Leben Öcalans ist gleichzusetzen mit dem Eintreten für den Frieden. Das scheint heute eine noch dringendere und wichtigere Aufgabe als je zuvor zu sein. Das Leben von Öcalan zu verteidigen, bedeutet sich gegen die Kriegsgewinnler zu stellen, die diesen verleumderischen Krieg fortführen wollen. Türkische Initiative zur Verteidigung des Lebens von Abdullah Öcalan Apohki@topmail.de http://home.t-online.de/home/apohki/ V. i. S. d. P. Avni Yolalan, Bartelstr. 2a, 20357 Hamburg

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