DER HAUPTSTADTBRIEF 136. Ausgabe | 2016 INFORMATIONS- UND HINTERGRUND-DIENST AUS BERLIN
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Alternativlos hat ausgespielt, die Karten werden neu gemischt Die deutsche Demokratie hat Schaden genommen. Zu lange haben die Demokraten einem Spiel zugeschaut, das nur einen Stich kennt. Und das im Heimatland der Skatspieler, wo jeder weiß, dass manchmal selbst Pik-Sieben sticht.
Werner J. Patzelt: Wer Alternativlosigkeit sät, wird Alternative ernten ISSN 2197-2761
Werner Weidenfeld: Wer ratlos ist, kann nicht regieren Manfred Güllner: Die AfD wählen überwiegend „mittelalte“ Männer Brun-Hagen Hennerkes: EZB-Geldpolitik macht Panama reich Gisela Stuart versus Neil Carmichael: Pro und Kontra Brexit
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DER HAUPTSTADTBRIEF 136 – Inhalt
5 Editorial Detlef Prinz: Auf dem Wort „alternativlos“ ausruhen geht nicht länger
6 Wer Alternativlosigkeit sät, wird Alternative ernten Werner J. Patzelt: Wie es dazu kam, dass in Deutschland ein politisches Vakuum entstand, das nun die AfD besetzt hat
10 Wer ratlos ist, kann nicht regieren Werner Weidenfeld: Die Zäsur in Deutschlands Parteienlandschaft geht tief – und die AfD profitiert davon
12 Wenn Politik an Selbsttäuschung scheitert Andreas Rödder: Politische Illusionen platzen, weil Realismus von Wunschdenken (Thilo Sarrazin) verdrängt wird
16 Die AfD wählen überwiegend „mittelalte“ Männer Manfred Güllner: Die AfD ist mehrheitlich eine Alternative für Männer – für Frauen ist eher Nichtwählen die Alternative
18 Die AfD liegt konstant vor der Linkspartei Die neuesten forsa-Umfragewerte
20 Wer korrekt Steuern zahlt, muss sich für eine Briefkastenfirma nicht entschuldigen Brun-Hagen Hennerkes: Die Zahl der Briefkastenfirmen in Panama wird noch zunehmen – eine Folge der EZB-Geldpolitik
22 Impressum 24 Keine Zinsen sind gut für Staaten und schlecht für Stiftungen Petra Träg: Die Folgen der EZB-Nullzinspolitik für das Gemeinwohl in Deutschland sind sehr nachteilig
30 Im Innersten der Eurozone existiert ein Schattenreich Daniel Hoffmann: Auch der Euroraum hat seinen Darkroom – eine bis vor kurzem geheime Struktur. Ihr Akronym: ANFA
34 Die Griechenland-Rettung geht weiter – bald ohne Zustimmung des Bundestags Ursula Weidenfeld: Das Dauerthema der Athener Staatspleite soll aus dem Rampenlicht verschwinden, damit es nicht länger stört
37 Mitteleuropa ist ein Lichtblick in der EU Viktor Orbán: Die Schwerpunkte des Kontinents verlagern sich, Ungarn wächst stärker als die meisten EU-Länder
42 Die Briten brauchen einen neuen Traum Gisela Stuart: Die supranationale Identität, die für Kontinentaleuropa ein Gewinn ist, ist für die Briten ein Hemmschuh
45 Die Briten fahren besser mit der EU Neil Carmichael: Die Mitgliedschaft in der EU hat viele Vorteile für die Briten. Sie sollten die Union nicht verlassen
48 Inquisition gegen Google Philipp Bagus: Die Attacke der EU-Kommission auf Google ist ein feindseliger Angriff auf den Wettbewerb
52 Das kollektive Nein zum Neubau gehört zur Kiez-Folklore Max Thomas Mehr: In den Szene-Bezirken ist der Widerstand besonders ausgeprägt: Bauen? Klar doch, aber nicht bei uns!
56 Das Kulturforum bricht in die Zukunft auf Barbara Hoidn und Bernhard Schneider: Die Stiftung Zukunft begleitet den Um- und Neubau des Kulturforums
60 Bauen oder nicht bauen, das ist die Frage Matthias Grünzig: Nur wenige Bauvorhaben in Deutschland sind so umstritten wie der Wiederaufbau der Garnisonkirche
64 Zwanzig Berlinerinnen, denen es gelang, die „gläserne Decke“ zu durchbrechen Irena Nalepa: Die Ausstellung „Berlin – Stadt der Frauen“ lässt die Leistungen von 20 Berlinerinnen lebendig werden
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DER HAUPTSTADTBRIEF 136 – Editorial Auf dem Wort „alternativlos“ ausruhen geht nicht länger Ja, nun ist das Staunen groß! Hat man bis vor wenigen Wochen die AfD noch als politische Folklore am rechten Rand betrachten und kommentieren können, so haben die Ergebnisse der drei Landtagswahlen im März 2016 und die empirischen Zahlen der Demoskopie der vergangenen Wochen die Alternative für Deutschland auf die Bühne der ersten Liga in der Politik katapultiert. Jüngste Umfragen trennen sie nur noch wenige Prozentpunkte von der großen Volkspartei SPD. Dass die CDU statt bei 42 Prozent wie bei der Bundestagswahl nur noch bei 32 Prozent liegt und demnach 10 Prozent in der Wählergunst verloren hat, führt zwar zu verstärktem Gemurre im Hinterzimmer, eine offene und ehrliche Diskussion, warum es so kommen musste, wird aber nicht geführt. Vielleicht beginnt sie, wenn bei der nächsten Umfrage auch bei der CDU eine 2 an erster Zehnerstelle auftaucht. Auch die Prognose für die bevorstehende Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern verheißt für die Volksparteien nichts Gutes. Während sich beide Volksparteien bei zirka 22 Prozent (SPD) bzw. 24 Prozent (CDU) bewegen, werden für die AfD zirka 18 Prozent vorausgesagt – und das im Bundesland der Kanzlerin. Unsere deutschen Parteien, und damit sind alle im Bundestag vertretenen Parteien gemeint, haben sich zu lange auf dem Wort „alternativlos“ ausgeruht und dem Volk zu wenig die Absichten und Zielsetzungen ihrer Politik vermittelt. Das betrifft die Form der Griechenlandrettung in Milliardenhöhe, die Art und Weise der Flüchtlings- und Migrationspolitik, und es betrifft besonders das politische Gesamtkonzept für die EU, in der die Menschen das Gefühl haben, dass die Nationalstaaten und damit ihre eigene kulturelle Identität und Lebenswirklichkeit ausgedient haben. Da reicht es nicht aus, obwohl es richtig ist, immer auf die Friedensbotschaft der EU zu verweisen, wenn Kritik an der politischen Realität Europas artikuliert wird. Die Unzufriedenheit der Menschen mit der Art und Weise, wie sie Politik erfahren, wird dadurch größer. Nicht die AfD als Partei wird gewählt, sondern sie ist ein Ventil für das Volk, seinen Unmut zu äußern und gegen die unter dem Deckmantel der „Alternativlosigkeit“ versammelten Parteien zu opponieren. Unser Autor Prof. Werner Patzelt unternimmt eine methodisch-didaktische Analyse der Situation, und Prof. Werner Weidenfeld benennt die Ursachen der neuen Ratlosigkeit. Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz hat schon den Weg gewiesen: Inhaltliche Auseinandersetzungen über Konzept und Weg sind erforderlich! Abschließend möchten wir es nicht versäumen, unserem Autor Prof. Philipp Bagus sehr herzlich zum Erhalt des Förderpreises 2016 der Ludwig-Erhard-Stiftung zu gratulieren. Detlef Prinz Verleger
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PRIVAT
Prof. Dr. Werner J. Patzelt ist Gründungsprofessor des Dresdner Instituts für Politikwissenschaft und hat den Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich inne. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit pflegt er regen Austausch mit Vertretern des gesamten politischen Spektrums – von der Linkspartei bis zur AfD. Für den HAUPTSTADTBRIEF diagnostiziert er einen Paradigmawechsel in Deutschland.
Wer Alternativlosigkeit sät, wird Alternative ernten Wie es dazu kam, dass in Deutschland ein politisches Vakuum entstand, das nun die AfD besetzt hat – und drei Ansätze, dem zu begegnen | Von Werner J. Patzelt Hochmut kommt vor dem Fall – und die Alternatungspolitik bezweifelten. Und ratlos schauten tivlosigkeit vor der Alternative für Deutschland Minister auf Dresdens kurzhaarige alte Männer, (AfD). Zwar ist es nichts Neues, dass eine These die ihre Heimat durch Zuwanderung und Kulturihre Antithese hervorbringt, reiner Konservatiswandel bedroht sahen. Tatsächlich erregt sich mus also Revolten. Nur konnten sich viele nicht Deutschlands Zivilgesellschaft nun kaum weniger vorstellen, dass auch Linke und Grüne – schreiüber Aktive und Sympathisanten von Pegida und tend Seit‘ an Seit‘ mit der sozialdemokratisierten AfD als früher über Gammler, Ostermarschierer Union – zu Verfechtern eines alternativlosen Staund die Außerparlamentarische Opposition. tus quo werden würden. Undenkbar früher auch, dass Studentenrevolutionären von vorgestern je Als dann unter dem Eindruck von Pegidas Echo allein die Affirmation des Bestehenden als akzep- die AfD ihr Geschäftsfeld erweiterte, also auch tabel erschiene, nicht aber mehr die Kritik seiner die Einwanderungs- und Integrationspolitik ins Reproduktion. Oder das Portfolio nahm, da sah Der öffentliche Diskurs, Zerrreißen jenes Verblenman die Lufthoheit über dungszusammenhangs, gesitteten Stammtischen geführt von Journalisten, der wie eine Naturtatsain Gefahr, ja die kulturelle Politikern und Mahnern, che erscheinen lässt, was Hegemonie in Redaktidoch nichts anderes ist onen und Parlamenten, hat sich nach links als eine soziokulturelle also den Lohn des lanvon normal verschoben. Konstruktion: die Notwengen Marsches durch die digkeit der Eurorettung, die Unvermeidlichkeit von Institutionen. Was tun mit diesem rechten Gelichselbstermächtigter Einwanderung nach Deutschter? Ausgrenzen natürlich. Nicht zu Gesprächsland, das Aufgehen Deutschlands in der EU. runden einladen. In Talkshows provozieren und dann lächerlich machen. Ihnen das Schellenpaar So wie einst die Eltern der „68er“ ratlos auf jene von Nazismus und Rassismus umhängen. Keine langhaarigen jungen Leute blickten, die das aus Räume für Parteiversammlungen vermieten – aber Ruinen auferstandene Deutschland durchaus dafür Wahlplakate zerstören. Auch mal ein Wahlnicht für der Weisheit letzten Schluss halten kreisbüro von außen umgestalten – oder einem wollten, so irritiert sah nun – mitsamt ihren Mandatsträger sein Auto anzünden. Kurzum: den Klügsten – die Bundeskanzlerin auf jene ProfesAufstand der Anständigen praktizieren gegen soren, die den nachhaltigen Sinn ihrer Euroretdiese unverschämte Partei. Die es doch wagt, das
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IMAGO/RALPH PETERS
Sie kleiden sich bürgerlich-unauffällig, und viele in ihren Reihen streben an, eine bundesweite CSU zu werden – Journalisten, Politiker und zivilgesellschaftliche Mahner und Warner aber ereifern sich über Aktive und Sympathisanten von Pegida und AfD wie früher über Gammler, „68er“ und Ostermarschierer. Dabei gäbe es genügend politische Ansätze, Alternativen zur AfD aufzuzeigen.
Gewordene nicht für umstandslos gut zu befinden. Die für starke Familien, Patriotismus und Volksabstimmungen eintritt oder gegen ungesteuerte Zuwanderung sowie öffentlich sichtbaren Islam. Völkischer geht’s nimmer. So etwas wollen nur üble Demagogen (es können auch mal Demagoginnen sein), oder wenigstens Witzfiguren. Und was haben diese Reaktionen bis jetzt gebracht? Die AfD in noch mehr Parlamente. In Sachsen-Anhalt sogar als stärkste Oppositionspartei. Anscheinend hält sich der Wähler an Gregor Gysis weisen Rat: In der Wahlkabine kann man sein Kreuz machen, wo man will; da schaut niemand zu. Politische Korrektheit wird dort nicht durchgesetzt. Leider, denken sich da heute viele, und halten es vielleicht gar für an der Zeit, denen das Wahlrecht zu beschränken, die es für falsches Ankreuzen missbrauchen.
Was ist da eigentlich los in Deutschland? Erstens hat sich der öffentliche Diskurs – symbiotisch geführt von Journalisten, Politikern sowie zivilgesellschaftlichen Mahnern und Warnern – nach links verschoben im Vergleich zu dem, was an den Ess- und Stammtischen des Landes für normal gehalten wird. Der CDU zwang das jahrzehntelang einen Spagat auf zwischen der politischen Mitte, also dem rechtestmöglichen Ort für eine Partei, die als akzeptabel gilt, und jenem Narren- und Kriminellensaum, an dem jedes politische Integrieren aufhören muss. Zweitens wurde der CDU dieser Spagat vor einigen Jahren zu anstrengend. Sie wollte ganz und gar zu den Guten in der Mitte gehören, mochte sich von den moralisch besseren Linken nicht mehr als unfortschrittlich ausschimpfen lassen. Also zog sie sich vom schmuddeligen Integrationsgewerbe am rechten Rand zurück. Dort entstand herrenloses Gelände, besiedelt von
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Konservativen und wirklich Rechten, die niemand Vernünftiges mehr repräsentieren wollte.
bilität, den im parlamentarischen Regierungssystem Viel-Fraktionen-Parlamente unweigerlich bewirken. Doch leider haben schon die falschen Reaktionen auf Pegida alle diese falschen Reaktionen auf die AfD vorgezeichnet. Falschen Diagnosen folgten falsche Therapien, und allzu viele haben analytisch und politisch zu wenig gekonnt.
Genau in diese „Repräsentationslücke“ drang – drittens – die AfD nach ihrer Einsicht, dass sie nicht als „bessere FDP“ hochkommen würde, sondern als eine Mischung aus „guter alter CDU“ und „bundesweiter CSU“. Nur eben unter neuem Namen, und mit Antworten nicht mehr zum Streit Ist der AfD also gar nicht wirksam zu begegnen? zwischen Marktwirtschaft und Kommunismus, Doch. Erstens muss – wie es gegen das Widerstrezwischen Demokratie und Diktatur, sondern zur ben der deutschen Regierung inzwischen geschah Auseinandersetzung zwischen denen, die weiter– die Einwanderung in die EU und nach Deutschhin ein Deutschland mit deutscher Kultur wollen, land gedrosselt werden. Zweitens muss eine und jenen, die in der Mitte Europas eine multiIntegrationspolitik betrieben werden, die nicht ethnische Bevölkerung mit leidlichem Deutsch auf eine multikulturelle Gesellschaft setzt, sonals Umgangssprache für dern auf die IntegrationsIn der Gegenwart ein Nonplusultra halten. kraft der bundesdeutschen Von deren Warte aus muss Rahmen- und Leitkultur. stört Opposition. dann die AfD wie von Vor allem, wenn man selbst Drittens muss man eben vorgestern und als ganz auf Fehler der AfD warten: einst Opposition war, reaktionär erscheinen. auf mangelnde Abgrenzung zu rechtsradikalen es nun aber so herrlich Doch die Avantgarde von Dumpfbacken, auf skanweit gebracht hat. heute ist oft das Altdalisierbare Forderungen modische von morgen. In der Gegenwart aber wie Minarettverbote und dergleichen, auf unquastört Opposition. Vor allem, wenn man selbst lifiziertes Agieren der AfD-Landtagsfraktionen. einst Opposition war, es nun aber so herrlich weit gebracht, ja dieses Land nach eigenem Es fragt sich nur, wie viele solche Fehler die Bilde umgestaltet hat. Dankbar also sollten Ex-CDUler in der AfD zulassen werden. Sind es diese Möchtegern-Alternativler sein! Immerwenige Fehler, so wird sich früher oder später der hin ist man auch leidlich tolerant mit ihnen. Ob Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes da nicht das Rollenmodell der restaurativen in einer ähnlichen Situation wiederfinden wie Elterngeneration unfröhliche Urständ’ feiert? Holger Börner 1985, als er im hessischen Landtag dem ersten grünen Minister Joschka Fischer, Das alles ist nicht wirklich gut für unser Land. medienwirksam oppositionell in Turnschuhen Schlecht sind Allparteienkoalitionen, weil die sich erschienen, den Amtseid abnahm – nur dass mitsamt der Opposition auch vom Zwang zum diesmal niemand in Turnschuhen kommen wird, ◆ Lernen befreien. Schlecht ist jene helldeutsche sondern jemand in Anzug oder Kostüm. Arroganz, mit der man Dunkeldeutschlands Denken umstandslos als nazistisch und rassistisch ausgibt – und dabei ganz verantwortungslos den Wissenschaftliche Schwergeschichtlichen Nationalsozialismus und Raspunkte unseres Autors Prof. Werner J. Patzelt sind Parlasismus verharmlost. Schlecht ist der Siegeszug mentarismusforschung und die des Rechtspopulismus in unserem Land, das zum politische Kommunikation. Das leidenschaftliche Engagement, eigenen Vorteil bislang ohne ihn auskam, dem mit dem er sich letzterer als falsche Politik nun aber Tür und Tor geöffnet hat. Universitätsprofessor wie als Privatmann widmet, Schlecht ist auch der Verlust an Regierungsstaspiegelt seine Website wider: www.wjpatzelt.de
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BUNDESTAG.DE
Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München, Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg) und Autor zahlreicher Europa-Bücher. Für den HAUPTSTADTBRIEF legt er dar, wie es kommt, dass die Traditionsparteien in Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit zu erstarren drohen – und wie problematisch dieser rapide Verfall der alten Muster ist.
Wer ratlos ist, kann nicht regieren Die Zäsur in Deutschlands Parteienlandschaft geht tief – das politisch-kulturelle Unterfutter entzieht sich den bisherigen, allzu gewohnten Mustern, und die AfD profitiert davon | Von Werner Weidenfeld Eine neue Art von Ratlosigkeit erfasst das Land. Soziologisch definierte Gruppen und ihr recht Da etabliert sich eine neue Partei – und die stabiles Einstellungsprofil – Arbeiter, Angetraditionellen Parteien wissen nicht, wie sie stellte, Mittelständler, Unternehmer und so damit umgehen sollen. Die Suche nach einer weiter – kennzeichneten das politisch-kulturelle Antwortstrategie scheint sie geradezu zu verzehUnterfutter der Republik. Stammwähler hielten ren, politisch höchst schmerzhaft. Zunächst galt in diesem System ihrer Partei über Jahrzehnte es, das Phänomen zu negieren. Dann versuchte die Treue. Diese Epoche ist vorbei. Wir erleben man, es über den Rand des legal Hinnehmbaren eine Zäsur, die die derzeitige ratlose Hilflosigzu schieben. Der Verfassungsschutz sollte aktiv keit der Traditionsparteien verständlich macht. werden gegen solche extremistischen Kräfte. Man wollte sich mit diesen merkwürdigen ParteifunkWas kennzeichnet diese neue Epoche? Die soziotionären nicht in den Medien zeigen – den Neuen logischen Wahlprofile sind abgelöst von Stimsollte eine solche mediale Aufmerksamkeit nicht mungsmilieus. Diese Milieus sind viel fluider, viel zukommen. Und das alles instabiler, viel unkalkulierDas neue Zeitalter schadete der neuen Partei barer. Entsprechend hilfnicht. Sie bewegte sich los wirken die Parteistrader Komplexität findet im Gegenteil von Wahltegen, die in der alten Zeit keine Erklärer und Deuter. erfolg zu Wahlerfolg. – der nun untergegangeSo rutscht es hinüber in ein nen Epoche – groß geworDas alte Machtkalkül, mit den sind, als sie noch von Zeitalter der Konfusion. dem man die Architektur der „Alternativlosigkeit“ des Parteiensystems bisher vor jeder Wahl antiziihrer jeweiligen Position reden konnten. Soll man pieren konnte, ist ausgehebelt. Über Jahrzehnte sich nun nach rechts oder nach links bewegen, war die politische Landschaft geprägt von zwei mehr populistische Verkürzungen vornehmen Volksparteien und einem kleinen Zünglein an der oder mehr Emotion ins Spiel bringen? Solche Waage. Je nachdem, wohin sich die kleine libeFragezeichen bestimmen die Tagesdebatten der rale Partei neigte, wurde die Regierung gebildet. nach Lösung suchenden Parteioberen. So greift Mal konnten so die Christdemokraten, mal die man daneben. Das politisch-kulturelle Unterfutter Sozialdemokraten den Kanzler stellen. Und in entzieht sich inzwischen solchen alten Mustern. besonderer Ausnahmelage, wenn Verfassungsänderungen unausweichlich wurden, bildete man Im traditionellen Parteiensystem wäre die Altereine Große Koalition – aber nur für kurze Zeit. native für Deutschland (AfD) längst kollabiert.
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PICTURE ALLIANCE/DPA/RAINER JENSEN
Da etabliert sich eine neue Partei – und die traditionellen Parteien wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Die bisherige Architektur der Machtverteilung stützte sich auf zwei Volksparteien und ein Zünglein an der Waage und prägte über Jahrzehnte die politische Landschaft Deutschlands. Im Bild die Parteioberen Sigmar Gabriel (SPD), Angela Merkel (CDU) und Horst Seehofer (CSU) – ihnen gegenüber bleibt ein neues Stimmungsmilieu, wie es ist: auf Distanz.
Der Gründer verließ die Partei. Er gründete eine konkurrierende Partei und erklärte bezüglich der AfD, er schäme sich dafür, ein solches Monster auf den Weg gebracht zu haben. Andere Prominente verließen mit ihm die Partei. Der Bundesvorstand will einen ganzen Landesverband auflösen – erst vergeblich, dann mit knapper Parteitagsmehrheit doch. Die Bundesvorsitzende trennt sich vom Pressesprecher, aber der Bundesvorstand hält zu ihm und beschäftigt ihn weiter. Kurzum: ein parteipolitisches Chaos. Die Zustimmung der potentiellen Wähler jedoch bleibt von diesem Durcheinander unberührt. Was macht nun die neue Lage der Parteienrepublik aus? Es handelt sich um ein Zusammentreffen von Strukturproblemen und Kulturproblemen. Die Strukturprobleme bestehen in Globalisierung, Internationalisierung, Europäisierung, Digitalisierung und dem damit verbundenen Machttransfer. Dieses Zeitalter der Komplexität findet keine Erklärer und Deuter. Es rutscht hinüber in das Zeitalter der Konfusion. Und „die da
oben“ kümmern sich ja in der Wahrnehmung der Bürger sowieso nicht um die Basis, ihre Sorgen, Ängste, Frustrationen. Das so entstandene Stimmungsmilieu zeigt vor allem eine Profillinie: die Distanz zu allen traditionellen Parteien. Der Verschleißprozess der Traditionsparteien, in unserem Nachbarland Österreich noch weiter fortgeschritten, setzt sich unvermindert von Tag zu Tag fort. Schließlich bietet die Regierungspolitik ein situatives Krisenmanagement, nicht aber eine strategische Problemlösungsperspektive. Solange die Politik diese Orientierungsleistung nicht erbringt, wird das Stimmungsmilieu bleiben, ◆ wie es ist: auf Distanz. Der Autor des vorstehenden Essays, Prof. Werner Weidenfeld, ist Autor zahlreicher Bücher über die EU. Soeben erschien die 14. Neuauflage des Buchs Europa von A bis Z – Taschenbuch der europäischen Integration, dessen Herausgeber er gemeinsam mit Wolfgang Wessels ist. Nomos-Verlag, Baden-Baden 2016. 520 Seiten, 22 Euro. www.nomos.de
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BERT BOSTELMANN
Prof. Dr. Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Im HAUPTSTADTBRIEF legt er dar, warum das derzeitige offizielle politische Denken und Sprechen mit Wunschdenken treffend beschrieben ist. So lautet der Titel des neuen Buchs von Thilo Sarrazin, das im Benennen der Bedingungen gelingender Politik einen seiner stärksten Gedanken formuliert.
Wenn Politik an Selbsttäuschung scheitert Politische Illusionen platzen derzeit wie Seifenblasen, weil kluger Realismus von Wunschdenken verdrängt wird – ein Essay zum gleichnamigen Buch von Thilo Sarrazin | Von Andreas Rödder Wer das Buch Wunschdenken von Thilo Sarrazin Nicht hilfreich ist es in Wahrheit, zu tabuisieliest, wird nach wenigen Seiten merken, dass er ren und auszugrenzen. Die Folge ist, dass die es mit einem belesenen und klugen Autor zu tun öffentliche Debatte unter einer zunehmenden hat. Mit einem leidenschaftlichen Bürger, dem Sprachlosigkeit der bürgergesellschaftlichen das Gemeinwesen nicht gleichgültig ist und der Mitte leidet. Wie recht hatte Ex-Bundespräsident dies mit dem ihm eigenen Selbstbewusstsein Roman Herzog: „Streitige Debatten“ sind erste deutlich macht. Wer Wunschdenken liest, merkt Bürgerpflicht! Also beginnt diese kritische Würebenso, dass er es mit einem verletzten Autor zu digung des neuen Buches von Thilo Sarrazin tun hat. Auf der zweiten Textseite bereits sind wir mit Kritik – und kommt dann zur Würdigung. bei Angela Merkel und im Jahr 2010 – als sie ihren Regierungssprecher Steffen Seibert erklären ließ, Gleich zu Beginn des ersten Kapitels – „Weshalb das Buch Deutschland schafft sich ab sei „nicht einige Gesellschaften Erfolg haben und andere hilfreich“ und, so Sarrazin, „meine Entlassung nicht“ – heißt es: „Wir wissen heute, dass nicht aus dem Vorstand der nur die menschliche Die Folge habituellen Deutschen Bundesbank Intelligenz, sondern auch betrieb“. Nach seinem alle anderen psychischen Ausgrenzens ist, dass erzwungenen AusscheiEigenschaften erblich die öffentliche Debatte unter den im September 2010 sind und fortlaufend zunehmender Sprachlosigkeit durch die natürliche habe er seine „bürgerliche Ehre nur mit Selektion weiter geformt der Mitte leidet. Mühe retten“ können. werden.“ Nun gibt es aber bekanntlich für alles und jedes eine wissenThilo Sarrazin ist ein Enfant terrible der politischen schaftliche Studie und Statistik – und ebenso für Debatte – millionenfach verkauft und öffentlich fast jedes Gegenteil. Deshalb müssen Aussagen angefeindet. Ausgegrenzt wurde er nicht im buchwie „Wissenschaftler der Universität XY haben stäblichen Sinne; denn öffentlich sagen kann man herausgefunden“ zunächst einmal skeptisch in Deutschland fast alles. Auch über mangelnde machen, ebenso Formeln wie „wir wissen heute“. Aufmerksamkeit kann Thilo Sarrazin nicht klagen. Die Ausgrenzung verläuft habituell: über herabZumal, wenn die Argumentation nicht klar ist: lassend hochgezogene Augenbrauen, sublime Geht es bei Genetik und Intelligenz um die indimoralisierende Stigmatisierung, Rechtspopulisviduelle Ebene oder um die kollektive? Und wie mus-Stigmatisierung – „nicht hilfreich“ eben. verhält sich „genetisch“ zu „ethnisch“? Da läuft
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PICTURE ALLIANCE/DPA/STEFAN SAUER
Wunsch und Wirklichkeit: Von Angela Merkels „Wir schaffen das“ ist es nicht weit zum „Wir schaffen das nie“ – zumindest auf diesem Bauzaun am umstrittenen Neubauabschnitt der Bundesstraße B96 in Mecklenburg-Vorpommern.
eindeutig zu viel durcheinander, wenn von „Rassen, Ethnien und sozialen Gruppen“ die Rede ist. Natürlich ist es legitim, die Performance unterschiedlicher Gesellschaften zu vergleichen und festzustellen, dass zentrale Indikatoren von Wohlstand etwa in afrikanischen und arabischen Gesellschaften weit zurückliegen. Und natürlich ist es legitim festzustellen, dass muslimische Migranten in Europa aufs Ganze gesehen auf dem Arbeitsmarkt das Schlusslicht bilden. Aber kann man tatsächlich sagen, Kultur und Genetik seien nicht voneinander zu trennen, ohne in einen ethnischen Determinismus zu verfallen? Hier serviert Sarrazin eine Melange aus Kultur, Genetik und Intelligenz, ethnischer Herkunft, Religion und „Entwicklungsstand einer Gesellschaft“. Seine Aussagen bleiben im Ungefähren, sie suggerieren und insinuieren. Diese Argumentation ist nicht seriös, und das ist schade, denn es lenkt von den eigentlichen Diskussionsgegenständen und den Diskussionsanstößen dieses Buches ab.
Die zentrale These findet sich auf Seite 193 des Buches, zu Beginn des Kapitels „Wie politische Fehler entstehen und was sie bewirken“: „Wesentliche Gründe für fehlerhaftes politisches Handeln resultieren durchweg aus Fremd- und Selbsttäuschung.“ Sarrazin unterscheidet dabei fünf Formen der Täuschung, die sich freilich kombinieren lassen: Täuschung aus Unwissenheit, aus Anmaßung, aus Bedenkenlosigkeit, Täuschung aus Egoismus und Täuschung aus Selbstbetrug. Beispiel Flüchtlingspolitik: Der Herbst 2015 war paradigmatisch für deutsche Selbsttäuschungen. Die einen meinten – Kategorie Unwissenheit und Selbstbetrug –, alle ankommenden Syrer, bevor sie überhaupt registriert worden waren, seien Ärzte oder Ingenieure, die den deutschen Fachkräftemangel beheben würden. Die Form der egoistischen Täuschung betrieben die Wirtschaftsverbände, die ihre Partikularinteressen gewohnheitsmäßig als Gemeinwohl ausgeben und, wenn es dann doch nicht passt, die Probleme gern dem Staat überantworten. Andere freuten sich auf die
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Veränderung der Gesellschaft durch neu ankommende „Menschengeschenke“ – bis die Illusionen platzten, als sich die tatsächlichen Qualifikationsprofile der Eingereisten abzeichneten und als sich nach der Silvesternacht von Köln andeutete, dass unregulierte Massenzuwanderung bisher nicht gekannte Probleme nach sich ziehen könnte.
überhöhte, ideologisch überzogene Diversität ebenso wie für die Idee von der globalen Zivilgesellschaft ohne Nationalstaaten und Grenzen. Sarrazin belegt mit vielen Beispielen, wie Politik am Wunschdenken, an Fremd- und Selbsttäuschung scheitert. Wie aber kann sie sich davon freimachen und gelingen? Die Bedingung gelingender Politik liegt, so einer der stärksten Gedanken in Wunschdenken, im Ineinandergreifen von belastbaren Institutionen und politischer Kultur. Politische Entscheidungen müssen im Einklang mit institutionellen und kulturellen Rahmenbedingungen stehen. Das aber lässt sich nicht abstrakt und technokratisch verordnen. Denn was hier richtig ist, kann dort falsch sein.
Die deutsche Flüchtlingspolitik von heute, inzwischen mit deutlichem Abstand von der Euphorie des Herbstes 2015, kommt nicht an der unbequemen Einsicht vorbei, dass, wie Sarrazin schreibt, „ein Asylrecht, welches dem Grunde nach 80 Prozent der Menschen in der Welt in Europa Asyl gewährt, den Untergang Europas, so wie wir es kennen, riskiert“. Ich bin kein Freund von UntergangsDer Herbst 2015 rhetorik. In der Sache aber ist der Befund war paradigmatisch für deutsche nicht zu bestreiten.
Das heißt: Es gibt keine Patentrezepte – und auch Sarrazin hat sie Selbsttäuschungen – nicht. Nötig ist kluger Darüber hinaus hat Realismus statt utopibis die Illusionen platzten. die Flüchtlingskrise schen Wunschdenkens. zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre offen Das ist freilich kein Freibrief für Beliebigkeit, demonstriert, dass die Institutionen des vereinten vielmehr legt Sarrazin unter Rückgriff auf den Europa von Maastricht nicht funktionieren: 2010 Ideenhaushalt abendländischer politischer Thedie No-Bailout-Klausel und das Verbot monetärer orien normative Leitlinien politischen Handelns Staatsfinanzierung, nun 2015 das Schengenan: das individuelle Wohlergehen in einer poliÜbereinkommen und die Dublin-Verordnung. tischen Einheit, verbunden mit einem Maximum Und wieder stellt sich heraus, dass die wirtan Stabilität und einem Optimum an Freiheit schaftlichen ebenso wie die politisch-kulturellen und Offenheit. Das erfordert einen permanenten Differenzen innerhalb der EU von Anfang an Balanceakt und permanente Abwägungs- und massiv unterschätzt wurden – aus WunschAushandlungsprozesse. Es wäre zu wünschen, denken. Weil nicht sein konnte, was nicht sein Thilo Sarrazins grundsätzliche Überlegungen durfte. Oder, um es mit Sarrazin zu sagen: Das über gelingende Politik würden in der ÖffentSollen wurde auf Kosten des Seins umgesetzt. lichkeit ähnlich breit zur Kenntnis genommen wie jene, die sich als „Abrechnung“ vermarkten ◆ Sarrazin ist kein Freund von Utopien. In der Tat: lassen. Eine Idee wird immer dann schädlich, wenn sie sich von den Realitäten löst. Das gilt für die Dieser Essay unseres Autors großen, fatalen Ideologien – von der klassenProf. Andreas Rödder basiert auf losen Gesellschaft des Kommunismus über die seinem Vortrag, den er anlässlich der Buchvorstellung von Wunschdenken rassereine Gesellschaft des Nationalsozialismus am 25. April 2016 in Berlin hielt. bis zum Gottesstaat der Islamisten. Es gilt aber Wunschdenken. Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik auch für die Idee einer „immer engeren Union so häufig scheitert. Von Thilo Sarrazin. der Völker Europas“, es gilt für eine überreguDVA Verlag, München 2016. 570 Seiten, gebunden 24,99 Euro, als eBook 19,99 Euro. www.dva.de lierte Gleichstellungspolitik, für eine moralisch
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ARGUM/FALK HELLER
Prof. Manfred Güllner ist Gründer und Geschäftsführer des Meinungs forschungsinstituts forsa, aus dessen Dienst „Aktuelle Parteipräferenzen“ DER HAUPTSTADTBRIEF regelmäßig zitiert. Mittlerweile ein Standardwerk ist Güllners Buch Die Grünen. Höhenflug oder Abstieg? Für den HAUPTSTADTBRIEF hat er die Geschlechtertaufteilung bei AfD-Wählern und Nichtwählern verglichen.
Die AfD wählen überwiegend „mittelalte“ Männer Die Alternative für Deutschland ist mehrheitlich eine Alternative für Männer – für Frauen ist eher Nichtwählen die Alternative | Von Manfred Güllner 52 Prozent der Wahlberechtigten bei der Bundestagswahl 2013 waren Frauen, 48 Prozent Männer. Auch unter den Wählern gab es mit knapp 52 Prozent mehr Frauen als Männer. Entsprechend war der Frauenanteil auch bei den Nichtwählern höher als der Anteil der Männer. Doch bei denjenigen, die der AfD 2013 ihre Stimme gaben, waren die Frauen mit einem Anteil von nur 39 Prozent in der Minderheit.
Ganz ähnliche Relationen waren bei den Landtagswahlen im März 2016 zu registrieren. So war bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 13. März 2016 der Frauenanteil bei den Wahlberechtigten, den Wählern und den Nichtwählern mit 51 bzw. 53 Prozent größer als der Anteil der Männer. Bei den AfD-Wählern jedoch waren auch in Baden-Württemberg wie schon bei der Bundestagswahl und bei
Mehr Frauen als Männer wählen, proportional Männer- und Frauenanteile bei der Bundestagswahl 2013 und der Landtagswahl in Baden-Württemberg 2016 * Bundestagswahl 2013
Männer
Frauen
Wahlberechtigte
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Wähler
48,4
51,6
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52,3 60,7
AfD-Wähler
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Landtagswahl Baden-Württemberg 2016 Wahlberechtigte
48,6
51,4
Wähler
49,2
50,8
Nichtwähler AfD-Wähler *) Angaben in Prozent
47,2
52,8 61,1
38,9
Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistisches Landesamt Baden-Württemberg; eigene Berechnungen von forsa
Konstant seit 2013 bis 2016: Rund 61 Prozent der AfD-Wähler sind männlich, 39 Prozent weiblich. Das kontrastiert auffallend mit der Wählerschaft insgesamt: Rund 48 Prozent der Wähler sind männlich, 52 Prozent weiblich.
16 DER HAUPTSTADTBRIEF
allen anderen Wahlen seit 2013 die Männer in der Überzahl (siehe Infografik „Mehr Frauen als Männer wählen, proportional“).
Bei den Frauen waren die Unterschiede im Stimmenanteil der AfD zwischen den einzelnen Altersgruppen nicht so groß wie bei den Männern: Während die Differenz zwischen dem Dementsprechend haben bei der Landtagswahl in höchsten und dem niedrigsten Stimmenanteil Baden-Württemberg 13 von 100 wahlberechtigten bei den Männern (7,9 Prozent bei den 18- bis Männern, aber nur 8 von 24-Jährigen bzw. 15,9 Statt auf die Erfolge 100 wahlberechtigten Prozent bei den 45- bis Frauen die AfD gewählt. 59-Jährigen) 8 Prozentder AfD zu starren, Dabei haben in überpunkte betrug, betrug sollten die ‚etablierten‘ Parteien die Differenz zwischen durchschnittlichem Maße die unverändert hohe Zahl die „mittelalten“ Männer Minimum und Maxider AfD ihre Stimme mum bei den Frauen der Nichtwähler beachten. gegeben: In den beiden nur 4,5 Prozentpunkte Altersgruppen der 35- bis 44-Jährigen bzw. 45- bis (5,2 Prozent bei den über 70-Jährigen, 9,7 59-Jährigen lag der AfD-Anteil (bezogen auf alle Prozent bei den 45- bis 59-Jährigen). Wahlberechtigten) bei 15,3 bzw. 15,9 Prozent. Sowohl bei den jüngeren, 18- bis 24-jährigen als Der Stimmenanteil für die AfD war in allen Altersauch den älteren, über 70-jährigen Männern war gruppen bei den Männern höher als bei den der AfD-Anteil mit 7,9 bzw. 9,5 Prozent deutlich Frauen – allerdings in unterschiedlicher Höhe. geringer als bei den mittleren Altersgruppen. Während im Durchschnitt der Stimmenanteil der
Mehr Männer als Frauen wählen die AfD Wähler und Nichtwähler bei der Landtagswahl 2016 in Baden-Württemberg * Nichtwähler Männer
insgesamt
Wähler sonstiger Parteien 58,1
28,7
Frauen
21,4
70 Jahre und älter
21,0
60- bis 69-Jährige 70 Jahre und älter *) in Prozent der Wahlberechtigten
12,8 15,3
58,4
15,9 14,2
69,5
30,4
9,5 61,6
44,3 32,4 25,5 23,6 29,4
8,0 50,0
53,0
38,8
25- bis 34-Jährige 45- bis 59-Jährige
48,0
64,4
18- bis 24-Jährige 35- bis 44-Jährige
7,9
53,3
25,7
60- bis 69-Jährige
insgesamt
48,9
39,2 31,4
35- bis 44-Jährige 45- bis 59-Jährige
13,2
43,2
18- bis 24-Jährige 25- bis 34-Jährige
AfD-Wähler
58,7
5,7 8,2 8,9
64,8
9,7
67,2
9,2
65,4
5,2
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg; eigene Berechnungen von forsa
Nichtwähler beachten: Der Anteil männlicher Nichtwähler ist mehr als doppelt so hoch wie der Anteil männlicher AfD-Wähler, bei den Frauen ist der Anteil Nichtwählerinnen fast viermal so hoch wie der Anteil der AfD-Wählerinnen.
DER HAUPTSTADTBRIEF 17
Die aktuellen Parteipräferenzen im Bund
Die AfD liegt konstant vor der Linkspartei (Nichtw./ CDU/CSU SPD Die Linke Grüne FDP AfD Sonst. Unentschl.) Alle Angaben in Prozent
Umfrage-Werte in Woche … 18. (2.5.-6.5.) 17. (25.4.-29.4.) 16. (18.4.-22.4.) 15. (11.4.-15.4.) 14. (4.4.-8.4.) 13. (29.3.-1.4.) 12. (21.3.-24.3.) 11. (14.3.-18.3.) 10. (7.3.-11.3.) 9. (29.2.-4.3.) 8. (22.2.-26.2.) Bundestagswahl *
34 21 9 13 8 10 5 (27) 34 21 9 13 8 9 6 (28) 33 22 9 13 8 10 5 (28) 34 21 9 13 7 11 5 (29) 34 21 9 14 7 10 5 (29) 35 21 8 13 7 10 6 (27) 36 20 8 13 7 10 6 (29) 35 20 8 13 6 13 5 (30) 35 22 10 10 7 11 5 (34) 35 23 9 11 6 10 6 (33) 35 24 10 10 6 9 6 (34) 41,5
25,7
8,6
8,4
4,8
* Amtliches Endergebnis der Bundestagswahl vom 22. September 2013 (Zweitstimmen)
4,7
4,0 Quelle: forsa
Das forsa-Institut ermittelte diese Werte durch wöchentliche Befragung von in der Regel rund 2500 wahlwilligen Deutschen. „Nichtw./Unentschl.“ sind jene Befragten, die angeben, nicht wählen zu wollen oder noch unentschlossen sind, ob und wen sie wählen.
AfD bei den Männern um 5,2 Prozentpunkte höher als bei den Frauen war, betrug die Differenz bei den 18- bis 24-Jährigen nur 2,2 Prozentpunkte. Die größte Differenz zwischen den AfD-Anteilen bei Männern und Frauen gab es bei den 35bis 44-Jährigen bzw. den 45- bis 59-Jährigen (6,4 bzw. 6,2 Prozentpunkte). Siehe Infografik „Mehr Männer als Frauen wählen die AfD“. Der Anteil der Nichtwähler war bei Männern und Frauen gleichermaßen am höchsten bei den 18- bis 24-Jährigen (wobei allerdings die Erst-Wähler, also die 18- bis 20-Jährigen, häufiger zur Wahl gingen als die „Zweit-Wähler“, also die 21- bis 24-Jährigen), und am geringsten bei den über 60-Jährigen. Dabei steigt der Nichtwähleranteil bei den über 70-jährigen Frauen – anders als bei über 70-jährigen Män-
18 DER HAUPTSTADTBRIEF
nern – im Vergleich zur Gruppe der 60- bis 69-Jährigen wieder an. Dies ist auf die höheren Lebenserwartungen der Frauen und die dadurch häufiger auftretenden physischen Beeinträchtigungen im hohen Alter zurückzuführen. Generell ist die Zahl der Nichtwähler – das sollte bei allen Diskussionen über die AfD nicht außer Acht bleiben – in allen Altersgruppen deutlich höher als die Zahl der AfD-Wähler. Bei Männern war die Zahl mehr als doppelt so groß, bei den Frauen sogar rund viermal größer als die Zahl der AfD-Wähler. Statt also nur auf die Erfolge der AfD zu starren, sollten die „etablierten“ Parteien besser die unverändert hohe Zahl der Nichtwähler stärker beachten; denn die und nicht die AfD sind für den Verlust der Bindekraft von Union und SPD ◆ überwiegend verantwortlich.
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DER HAUPTSTADTBRIEF 19
THOMAS KLINK
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Brun-Hagen Hennerkes ist Vorsitzender des Vorstands der Stiftung Familienunternehmen. Für den HAUPTSTADTBRIEF legt er dar, warum sogenannte Briefkastenfirmen völlig legal sind, wenn sie nicht der Steuerhinterziehung oder der Geldwäsche dienen, und dass die Zahl der Briefkastenfirmen noch zunehmen wird – als Folge der EZB-Geldpolitik.
Wer korrekt Steuern zahlt, muss sich für eine Briefkastenfirma nicht entschuldigen Unternehmen und Bürger, die ihrer Steuerpflicht nachkommen, haben gegenüber dem Staat einen Anspruch auf Wahrung ihrer Privatsphäre | Von Brun-Hagen Hennerkes Seit dem Auftauchen vertraulicher Dokumente Geld – meist auf völlig legale Weise – jeglicher über Kunden und Nutzer panamaischer Offshoreöffentlichen Transparenz zu entziehen versucht. Gesellschaften beschäftigen sich Öffentlichkeit und Politik wieder verstärkt mit Steuerdelikten. Der deutsche Fiskus hat einer damit möglicherDabei fällt auf, dass der Begriff „Briefkastenweise verbundenen Steuerhinterziehung durch firma“ bei vielen Bürgern von vornherein negativ das 1972 erlassene Außensteuergesetz entgebelegt ist und meist mit dem Einsatz krimineller gengewirkt. Dieses Gesetz hat das in Stiftungen Energie verbunden wird. Man muss kein Anhänger und Zwischengesellschaften versteckte Vermögen von Briefkastenfirmen sein, um diese Ansicht zu so besteuert, als ob es sich weiterhin im Inland korrigieren. Es ist richtig, dass das Verstecken befände. Durch den Abschluss von Doppelbevon Geld nicht selten Ausgangspunkt von steuersteuerungsabkommen wurde die notwendige lichen Delikten und/oder Transparenz – speziell zur Was erlaubt ist, kriminellen FinanzgeschäfSchweiz und zu Liechtenten ist. Doch es gibt durchstein – dadurch hergestellt, bleibt erlaubt, aus Motive zur Errichtung dass die dortigen Banken egal ob jemand sein Geld solcher Konstrukte, ohne von ihren Regierungen in einer Briefkastenfirma dass dies mit deliktischem verpflichtet wurden, die Handeln einhergeht. verbirgt oder es unter seiner hinter den Stiftungen stehenden wirtschaftliMatratze versteckt. Das zeigt schon die Hischen Eigentümer in den torie. Im Zweiten Weltkrieg haben viele jüdische Kontounterlagen namentlich zu benennen. Familien aus Furcht vor völliger Enteignung ihr Vermögen vor der nationalsozialistischen ReichsDamit ist der Zugriff des Fiskus in den betreffenregierung versteckt – zu Recht, wie die weitere den Ländern leichter geworden, doch auch heute Entwicklung gezeigt hat. Eine zweite Welle der gibt es noch eine Vielzahl von Oasenländern, auf Intransparenz von Geldanlagen erfolgte im die der Fiskus keinen Zugriff hat. Dass sich unter Anschluss an den Mauerbau 1961. Viele wohlsiihnen auch Länder wie England, Luxemburg und tuierte Bürger befürchteten damals einen unmitdie USA befinden, die sich in der internationalen telbar bevorstehenden Einmarsch der Sowjets Öffentlichkeit als steuerliche „Saubermänner“ in die Bundesrepublik. Deshalb haben sie ihr darstellen, ist eine bedauerliche Tatsache. Da ist
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PICTURE ALLIANCE/DPA/STEPHANIE OTT
Hinter den Fassaden der Bürotürme von Panama City sind die sprichwörtlichen Briefkastenfirmen zuhause. Für sich genommen ist eine Briefkastenfirma nichts Illegales. Es ist und bleibt das Recht jedes Einzelnen, den Wohlstand, den er sich erarbeitet hat, vor anderen und auch vor dem Staat zu verbergen – solange er sich im Rahmen der Gesetze korrekt verhält.
es erfreulich, dass diese Länder von der internationalen Staatengemeinschaft zunehmend stärker unter die Lupe genommen werden. Der Anspruch auf Anonymität in Vermögensdingen befindet sich im Spannungsfeld zweier gegensätzlicher Werteprinzipien: Zum einen ist der Wunsch des einzelnen Individuums nach persönlicher Freiheit ein bei uns in Deutschland gesetzlich geschütztes Grundrecht, zum anderen ist das Verlangen des Staates nach vollständiger Transparenz der Ertrags- und Vermögenssituation seiner Bürger ein in den letzten Jahren stetig fortschreitender Prozess. Es ist Aufgabe des Staates, diesen Konflikt interessengerecht zu lösen. Dabei ist der Umfang der von den Beteiligten eingesetzten Aktivität verschieden. Dies rechtfertigt jedoch keine unterschiedliche Behandlung. Was erlaubt ist, bleibt erlaubt, egal ob jemand sein Geld
in einer Briefkastenfirma verbirgt oder ob er es unter seiner Matratze, im Kohlenkeller oder im Haustresor versteckt. Dies alles ist erlaubt, solange das Legalitätsprinzip gewahrt bleibt. Viele Bürger fürchten zu Recht, dass der Gesetzgeber sich sehr schnell in eine Überwachungsmentalität hineinbegibt, aus der er später nicht mehr herauskommt. Diese Sorge ist berechtigt. Zu warnen ist deshalb vor einer weiteren Aushöhlung des Bankgeheimnisses. Wenn der Staat auf diesem Weg mehr Transparenz zu schaffen versucht, würde dies nicht nur wohlhabende Privatpersonen und Unternehmen, sondern alle Bürger betreffen. Es ist und bleibt jedoch das Recht jedes Einzelnen, den Wohlstand, den er sich erarbeitet hat, vor anderen – auch vor dem Staat – zu verbergen, solange er sich im Rahmen der Gesetze korrekt verhält. Hieran kann im Einzelfall durchaus ein besonderes Interesse bestehen. So wird etwa ein Immo-
DER HAUPTSTADTBRIEF 21
bilien-Interessent, der ein Grundstück deshalb anonym erwerben möchte, weil er andernfalls eine Erhöhung des Kaufpreises befürchten muss, zu Recht geeignete Wege beschreiten, um unbekannt zu bleiben. Auch mancher Kunstsammler wird seine Leidenschaft nicht an die große Glocke hängen, wenn sein Wohnsitzland den Eigentumsschutz nur relativ schwach ausgestaltet hat. In solchen Fällen ist Anonymität eine effiziente Absicherung des Eigentums und der persönlichen Integrität.
Ein besonderer Bannstrahl der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit den Panama-Papieren betrifft die Banken bezüglich ihrer Mitwirkung bei der Gründung von Briefkastenfirmen. Diese Mitwirkung ist jedoch so lange legal, als die Banken keinerlei Mittäterschaft oder Beihilfe zu einer hinter der Briefkastenfirma stehenden Straftat leisten.
Wie sieht die Zukunft aus? Wir müssen davon ausgehen, dass die Zahl Anonymität ist eine der Briefkastenfirmen Die Veröffentlichung weiter wachsen wird. Die effiziente Absicherung der Panama-Papiere hat Verantwortung hierfür trägt des Eigentums einen wahren Aufschrei vorwiegend die Geldpolitik und der persönlichen des deutschen Gesetzder Europäischen Zentralgebers ausgelöst. Diese bank. Solange Mario Draghi Integrität. Reaktion ist jedoch rein die Einlagen aller Sparer politisch motiviert; sie ist zudem überzogen auch in Zukunft zinslos stellt und die Flut des und zusätzlich auch noch pharisäerhaft. Was in billigen Geldes weiterhin antreibt, wird das Verdiesen Panama-Dokumenten steht, davon hat stecken von Geld eher noch zunehmen. Die Staadie deutsche Regierung seit langem genaueste tengemeinschaft der Eurozone ist aufgerufen, Kenntnis, ebenso wie über die interne Handhadiese Entwicklung der Geldpolitik zu bekämpfen. bung möglicher Geldverstecke in den verschieGegen Briefkastenfirmen, die in finanziell krimidenen Oasenländern. Das Einzige, was neu ist, neller Weise Geld bunkern, muss sie strictissime ist die Nennung konkreter Kundennamen. angehen. Aber wo das Legalitätsprinzip gewahrt ist, hat die persönliche Freiheit des Einzelnen ◆ Die Finanzverwaltungen der Länder haben die den Vorrang. Pflicht, den bekannt gewordenen Verdachtsfällen intensiv nachzugehen. Hierbei gilt es jedoch, nicht über das Ziel hinauszuschießen, Die Stiftung Familienunternehsondern die ständige Rechtsprechung des Bunmen, deren Vorstandsvorsitzender unser Autor Prof. Brundesfinanzhofs zu beachten. Dieser hat unter Hagen Hennerkes ist, widmet Hinweis auf die persönliche Freiheit des Steusich der Förderung, Information, Bildung und Erziehung sowie erpflichtigen mehrfach expressis verbis dazu dem wissenschaftlichen Erfahaufgefordert, alle Möglichkeiten zu nutzen, um rungsaustausch auf dem Gebiet des Familienunternehmertums in Europa. Mehr dazu unter: www.familienunternehmen.de die Steuerlast auf legalem Wege zu minimieren.
Verleger: Detlef Prinz | Herausgeber: Bruno Waltert | Redaktionsdirektor: Dr. Rainer Bieling Art Director: Paul Kern | Gestaltung und Layout: Mike Zastrow | Bildbearbeitung: Manuel Schwartz Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes: Dr. Rainer Bieling (Redaktion), Janine Kulbrok (Anzeigen), beide c/o Verlag Verlag: HAUPTSTADTBRIEF Berlin Verlagsgesellschaft mbH | Tempelhofer Ufer 23-24 | 10963 Berlin Telefon 030 - 21 50 54 00 | Fax 030 - 21 50 54 47 | info@derhauptstadtbrief.de, www.derhauptstadtbrief.de Druck: ESM Satz und Grafik GmbH, Berlin | Redaktionsschluss: 10. Mai 2016 | Wiedergabe von Beiträgen nach Genehmigung stets mit der Quellenangabe: © DER HAUPTSTADTBRIEF. Für unverlangte Zusendungen keine Haftung. DER HAUPTSTADTBRIEF erscheint mit acht Ausgaben im Jahr.
22 DER HAUPTSTADTBRIEF
ISSN 2197-2761
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DER HAUPTSTADTBRIEF 23
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PRIVAT
Petra Träg verantwortet seit 2003 in ihrer Funktion als Geschäftsführung der SOS-Kinderdorf-Stiftung die Verwaltung und das Anlagemanagement der Dachstiftung sowie der 63 Treuhandstiftungen. Für den HAUPTSTADTBRIEF beschreibt sie, warum die EZB-Geldpolitik den deutschen Stiftungen schadet und das Sozialkapital Deutschlands vermindert – zulasten von Schwachen und Hilfsbedürftigen.
Keine Zinsen sind gut für Staaten und schlecht für Stiftungen Die Folgen der EZB-Nullzinspolitik für das Gemeinwohl in Deutschland sind sehr nachteilig | Von Petra Träg Kredite werden billiger – manche Staaten können mit ihren Schulden mittlerweile Geld verdienen, anstatt dafür zu zahlen. Möglich macht diese absurde Situation die derzeitige Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Die Kollateralschäden tragen die deutschen Sparer, Lebensversicherer, Pensionskassen – aber auch wohltätige Stiftungen. Die negativen Auswirkungen für das Gemeinwohl in Deutschland werden jedoch häufig übersehen oder unterschätzt. Denn für viele deutsche Stiftungen wird es zunehmend schwieriger, ausreichende Erträge zu erwirtschaften.
Deutschland auf über 21 000 mehr als verdoppelt. Das Sozialkapital, das sie verwalten, beträgt zirka 100 Milliarden Euro. Nach dem Stiftungsgesetz müssen Stiftungen ihr Stiftungskapital „sicher und wirtschaftlich“ – also ertragreich – anlegen. Das heißt, es muss ein positiver Ertrag zur Satzungszweckerfüllung erwirtschaftet sowie das Stiftungskapital dauerhaft erhalten werden. Deswegen investierten viele Stiftungen überwiegend in erstklassige Anleihen solider Unternehmen und zu geringem Teil in Aktien. Die EZB-Politik konterkariert nun nicht nur die Bemühungen des Staates, mehr private Gelder für Gemeinwohlaufgaben zu mobilisieren – sie reduziert auch drastisch die Wirkungskraft des bestehenden Sozialkapitals. Die Grafik „Renditen erstklassiger Anleihen tendieren gegen Null“ zeigt, wie die Renditen eines 7-jährigen Pfandbriefs gegen Null gedrückt wurden. In Zahlen: Erzielte eine Stiftung mit 100 000 Euro in dieser Anlageform kurz vor Mario Draghis Amtsantritt als EZB-Präsident noch einen jährlichen Ertrag von 2810 Euro, sind es heute nur noch 320 Euro – und damit 89 Prozent Ertragsrückgang innerhalb von viereinhalb Jahren! Bei weiteren
Die Nullzinspolitik der EZB reduziert nicht zuletzt auch drastisch die Wirkungskraft des bestehenden Sozialkapitals.
Gemeinnützige Stiftungen aber helfen mit ihren Erträgen genau dort, wo der Sozialstaat seine Grenzen findet, wo benachteiligte Kinder oder bedürftige oder behinderte Menschen Unterstützung brauchen. Das Sozialkapital hierfür haben meist Privatpersonen durch eigenen Konsumverzicht erspart und im Stiftungswege für das Gemeinwohl zur Verfügung gestellt. Politischer Wille hinter diesem Prinzip des Stiftungsgedankens war, das soziale Engagement der Bürger zu fördern.
Durch die Reform des Stiftungssteuerrechts hat sich seit dem Jahr 2000 die Zahl der Stiftungen in
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Nach einer aktuellen Studie des Wirtschaftsberatungsunternehmens PricewaterhouseCoopers FOTOLIA/ ROBERT KNESCHKE
FOTOLIA/WAVEBREAKMEDIAMICRO
Auch wenn die EZB ihr Ziel erreicht, die Inflation auf knapp 2 Prozent anzukurbeln, wird die Situation für Stiftungen nicht besser, im Gegenteil: Das Stiftungskapital wird real entwertet, und das Drittel der Erträge, das eine Stiftung zum Inflationsausgleich zurücklegen darf, reicht bei weitem nicht, um dem entgegenzuwirken. Je
größer die Lücke, desto rapider summiert sich der Geldwertverlust über die Jahre. (Siehe Infografik „Auch niedrige Inflationsraten führen zu hohem Geldwertverlust“.) Selbst ein mit dem Inflationsanstieg verbundener Zinsanstieg – sofern dergleichen passiert, denn das Ziel ist ja finanzielle Repression – hilft den Stiftungen zunächst kaum, weil die in der Nullzinsphase gekauften Anleihen dann noch einige Jahre laufen.
FOTOLIA/BILLIONPHOTOS.COM
Anleihekäufen der EZB wird es immer weniger Anleihen mit positiver Rendite geben. Je länger die Nullzinspolitik anhält, desto dramatischer werden die Auswirkungen und desto größer wird der Schaden für das Gemeinwohl.
FOTOLIA/SANDRO JACKAL FOTOLIA/GINA SANDERS
HR /FOTO -RU FOTOLIA GEBIE T
21 301 Stiftungen schütten (2015) die Menge von 17.000.000.000 Euro für satzungsgemäße Zwecke aus, die zu 95 Prozent gemeinnützig sind. Dazu zählen (von links nach rechts) der Umweltschutz, das Gesundheitswesen, Bildung und Erziehung, Kunst und Kultur und der Sport. Andere gemeinnützige Zwecke sind die Völkerverständigung, der Tierschutz, auch Wissenschaft und Forschung profitieren von Stiftungszuwendungen.
DER HAUPTSTADTBRIEF 25
(PwC) ist ein Stiftungssterben kleinerer Stiftuntigen Situation deutlich erhöhen konnte – und gen zu erwarten (72,4 Prozent aller Stiftungen nur ein größeres Stiftungskapital ermöglicht haben ein Vermögen von unter 1 Million Euro), eine Diversifikation in Direktimmobilien. Das sofern diese nicht in risikoreichere Anlagen sieht bei den anderen Stiftungen leider ganz mit höheren Erträgen umsteigen. Der künstlich anders aus. Die meisten deutschen Stiftungen niedrige Zins beeinflusst jedoch auch andere sind mit einem Stiftungskapital von unter 1 Anlageklassen und Million Euro ausgestatDie Stiftungen werden führte bei Sachwerttet, und je nachdem, in anlagen zu Vermöwelchem Bundesland ihre gemeinnützige Arbeit genspreisinflation. die Stiftung ihren Sitz nur weiter leisten können, Alternativanlagen mit hat, sind die Möglichwenn sie sich unabhängiger einem höheren laufenkeiten der Diversifikaden Ertrag wie Aktien tion unterschiedlich. von der Geldpolitik machen. und Immobilien könStiftungsrecht ist nen mittlerweile nur zu deutlich gestieLandesrecht, und jede Stiftungsaufsicht regelt genen Preisen gekauft werden. selbständig, welches Maß an Diversifikation sie zulässt. Je nach Maßgabe der jeweiligen Die SOS-Kinderdorf-Stiftung ist derzeit in der Stiftungsaufsichtsbehörden kann es etwa glücklichen Situation, dass sie durch Zustiftuneiner Stiftung auferlegt sein, ihren Aktiengen die Kapitalbasis trotz der insgesamt ungüns- anteil bei maximal 30 Prozent zu halten.
Auch niedrige Inflationsraten führen zu hohem Geldwertverlust Euro
Geldwertverlust bei einer Inflationsrate von 2 Prozent 4 Prozent 6 Prozent 8 Prozent
100
80
60
40
20
0 2010
2015
2020
2025
2030
2035
2040
2045
2050
2055
2060
Quelle: Deutsche Bundesbank (2010) | Infografik: MZ © DER HAUPTSTADTBRIEF 2016
2 Prozent Inflation – das scheint wenig zu sein. Auf längere Sicht allerdings führt auch eine vermeintlich niedrige Rate zu hohem Geldwertverlust. 100 Euro des Jahres 2010 sind 10 Jahre später nur noch 80 Euro wert, nach 55 Jahren ist ihr Geldwert auf 40 Euro geschrumpft. In diesem Zeithorizont planen Stiftungen.
26 DER HAUPTSTADTBRIEF
Schon die Währungsreform 1923 brachte Stiftungen in die Krise Eine verfehlte Geldpolitik der Deutschen Reichsbank führte 1923 schon einmal zum Ruin vieler deutscher Stiftungen und damit zur Vernichtung eines verglichen mit heute gewaltigen Sozialkapitals. Bereits im Jahr 1900 gab es in Deutschland über 100 000 Stiftungen (bei 53 Millionen Einwohnern).
Mit rund 50 Milliarden Mark verfügten die deutschen Stiftungen 1914 über ein größeres Vermögen als beispielsweise die in England oder in den USA. Hauptsächlich hatten sie in „sichere“ deutsche Staatsanleihen und auf staatliche Verordnung später auch zum Teil in Kriegsanleihen investiert – mit katastrophalen Folgen. Ihre Aufgaben erfüllen und Not Was 1924 von 1 Million Mark, lindern konnten danach nur 1918 investiert, übrigblieb noch solche Stiftungen, die nicht nur in Anleihen, son70 % Renten je 1/3 Aktien*, Renten, 100 % Renten dern schwerpunktmäßig in 30 % Aktien * Immobilien ** Immobilien und ProduktivM 1.000.000 M 1.000.000 M 1.000.000 kapital investiert hatten.
RM 476.666 RM 174.000 RM 0 * Durchhaltefall bei Entwicklung Deutscher Aktienindex ** Berücksichtigung der 15 Prozent Mietzinssteuer Quellen: Vossische Zeitung; Dub, M; Nölke, J.; eigene Berechnungen PT | Infografik: MZ © HSB 2016
Die Geldpolitik wirkt sich nicht nur auf die Ertrags- und Vermögensentwicklung gemeinnütziger Stiftungen massiv aus. Es gibt weitreichendere negative Effekte, die zum Teil noch kaum wahrgenommen werden. Denn die Stiftungslandschaft selbst verändert sich. Stiftungsneugründungen sind seit Jahren rückläufig und befinden sich inzwischen wieder auf dem Level von 1999. Einige Stifter, die Teile ihres Privatvermögens für das Gemeinwohl zur Verfügung gestellt haben, sind enttäuscht von dem geringen Fördervolumen beziehungsweise überfordert mit der Kapitalanlage und möchten sich aus ihrer Stiftung zurückziehen. Ehrenamtlich tätige Nachfolger sind bei diesen Rahmenbedingungen und aufgrund der persönlichen Haftung schwer zu finden.
Eine verfehlte Geldpolitik der Deutschen Reichsbank und die Währungsreform 1923 setzen den deutschen Stiftungen jener Zeit hart zu. Diejenigen, die in vermeintlich sichere Staatsanleihen („Renten“) investiert hatten, verloren alles. Wer diversifiziert und auch auf Immobilien gesetzt hatte, konnte knapp die Hälfte des Stiftungskapitals retten.
Um die Einnahmelücke aus den gesunkenen Erträgen zu stopfen, beginnen auch Stiftungen, die sich bisher nie über Spenden finanziert haben, Zuwendungen zu akquirieren. Damit machen sie den gemeinnützigen Vereinen Konkurrenz, die ihre Projekte grundsätzlich durch Spenden finanzieren. Kurz: Es findet eine Umverteilung im Spendenmarkt statt. Die Erschließung anderer Einnahmequellen ist aber unerlässlich, um die Gemeinnützigkeit nicht zu verlieren, denn die nicht vermeidbaren Verwaltungskosten (wie etwa für Abschlussprüfung, Konto- und Depotgebühren) dürfen einen angemessenen Rahmen von maximal 50 Prozent der zufließenden Mittel
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Renditen erstklassiger Anleihen tendieren gegen Null 6,0 5,5 5,0 4,5 4,0 3,5 3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 Ende Januar 2000 Ende Juli 2000 Ende Januar 2001 Ende Juli 2001 Ende Januar 2002 Ende Juli 2002 Ende Januar 2003 Ende Juli 2003 Ende Januar 2004 Ende Juli 2004 Ende Januar 2005 Ende Juli 2005 Ende Januar 2006 Ende Juli 2006 Ende Januar 2007 Ende Juli 2007 Ende Januar 2008 Ende Juli 2008 Ende Januar 2009 Ende Juli 2009 Ende Januar 2010 Ende Juli 2010 Ende Januar 2011 Ende Juli 2011 Ende Januar 2012 Ende Juli 2012 Ende Januar 2013 Ende Juli 2013 Ende Januar 2014 Ende Juli 2014 Ende Januar 2015 Ende Juli 2015 Ende Januar 2016
0,0
Quelle: Deutsche Bundesbank (2016) | Infografik: MZ © DER HAUPTSTADTBRIEF 2016
In den letzten 5 Jahren sind die Renditen erstklassiger Anleihen von der EZB systematisch gegen Null gedrückt worden. Die Zinsstrukturkurve, von der Deutschen Bundesbank gemäß Svensson-Methode ermittelt, zeigt die Entwicklung von Hypothekenpfandbriefen und Öffentlichen Pfandbriefen mit 7-jähriger Laufzeit (Halbjahreswerte in Prozent).
nicht überschreiten. Die Nullzinspolitik verschlechtert die Verwaltungskostenquote – ohne Verschulden der Stiftungsvorstände. Deshalb müssen sich Stiftungen durch breitere Anlagediversifizierung unabhängiger von der Geldpolitik machen. Ein Blick in die Geschichte zeigt die Notwendigkeit (siehe Kasten „Schon die Währungsreform 1923 brachte Stiftungen in die Krise“). Auch in der Vergangenheit wurde nach extremen Ereignissen versucht, die schlechte wirtschaftliche Situation des Landes mit Geldpolitik zu kurieren. Scheiterte dies und kam es nach der Geldverschlechterung zur Währungsreform, waren Stiftungen mit ausschließlich „sicheren“ Anleihen, gerade als ihr Wirken am dringendsten gebraucht wurde, kaum oder gar nicht mehr in der Lage, in diesen Notzeiten zu helfen.
28 DER HAUPTSTADTBRIEF
Fazit: Die aggressive Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank hat einen ungewissen Ausgang für den Bestand des Sozialkapitals – und unter den Folgen dieser Situation haben vor allem ◆ Schwache und Hilfsbedürftige zu leiden.
Informationen zu den Stiftungen in Deutschland finden sich auf der Website ihres Bundesverbands, der die Interessen der mehr als 20 000 Stiftungen in Deutschland vertritt unter www.stiftungen.org Die Studie des Wirtschaftsberatungsunternehmens PricewaterhouseCoopers „Fünf Jahre Niedrigzinsphase und kein Ende in Sicht“, auf die unsere Autorin Petra Träg sich in ihrem Beitrag bezieht, ist hier herunterzuladen: www.pwc.de/de/ steuerberatung/stiftungen-gehen-wegen-niedriger-zinsenstaerker-ins-risiko.html
EINE KLASSE FÜR SICH. „Keine anderen Schiffe erreichen zurzeit die hohen Standards, die MS EUROPA und MS EUROPA 2 und ihre Crews setzen.“ Douglas Ward, Berlitz Cruise Guide
Die EUROPA und EUROPA 2 erhielten wiederholt als weltbeste Kreuzfahrtschiffe die höchste Auszeichnung: 5-Sterne-plus*. Erleben Sie jetzt eleganten Luxus und die große Freiheit der höchsten Kategorie. Weitere Informationen erhalten Sie unter www.hl-cruises.de
*Lt. Berlitz Cruise Guide 2016
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LINDA HOFF
Dr. Daniel Hoffmann ist Experte für Geldpolitik. Von 2011 bis 2015 war er Analyst bei Europolis, einem Thinktank für europäische Ordnungspolitik in Berlin. Im Januar 2015 promovierte er an der Technischen Universität Berlin zur Geldpolitik der EZB und löste mit der Veröffentlichung seiner Ergebnisse die sogenannte „ANFA-Affäre“ aus. Für den HAUPTSTADTBRIEF beschreibt er, worum es geht und wen es angeht: den Steuerzahler.
Im Innersten der Eurozone existiert ein Schattenreich Auch der Euroraum hat seinen Darkroom – eine bis vor kurzem geheime Struktur, die hinter der Fassade der EZB im Verborgenen Verbindlichkeiten eingeht. Insider kennen ihr Akronym: ANFA | Von Daniel Hoffmann Am 5. Februar 2016 veröffentlichte die Europäibekannt gemacht wurde. Das Verschweigen hielt sche Zentralbank ein bis zu diesem Tag geheimes an, obwohl zuletzt Litauen, das zum 1. Januar Abkommen, das sie mit den Nationalen Zentral2015 dem Eurosystem beitrat, wie andere Euro banken des Eurosystems vereinbart hatte. Das neulinge auch durch seine Zentralbank nachträgAbkommen mit dem Kürzel ANFA, auf Englisch lich ANFA-Vertragspartner wurde. Erst im NovemAgreement on Net Financial Assets (zu Deutsch ber 2015, nach fast 13 Jahren Geheimhaltung, als Vereinbarung über Netto-Finanzaktiva oder Netto- der Autor dieser Zeilen seine Dissertation über die Finanzanlagen) ist ein privatrechtlicher Vertrag Geldpolitik der EZB in der Krise vorlegte und seine zwischen den 20 Mitgliedern der Eurosystems, Entdeckung der ANFA-Aktivitäten zusammen nämlich zwischen der Europäischen Zentralbank mit dem Investigativ-Team der Welt am Sonntag (EZB) und den 19 Nationalen Zentralbanken veröffentlichte, war die EZB bereit einzuräumen, (NZBs) der Mitgliedsländass es eine solche VerNach fast 13 Jahren der des Eurosystems. einbarung überhaupt Der Vertrag regelt, wie Geheimhaltung war die EZB gebe. Über deren Inhalt viel Zentralbankgeld die bewahrte sie zunächst bereit einzuräumen, dass es NZBs auf eigene Rechweiterhin Stillschweigen. die ANFA-Vereinbarung nung zusätzlich – über die kollektiven geldpoWas hat es mit dem ANFAüberhaupt gebe. litischen Geschäfte des Vertrag auf sich und worin Eurosystems hinaus – schöpfen dürfen. besteht die Schwere des Verschweigens seiner Existenz? Ist die bisherige Nicht-Existenz des VerDie Deutsche Bundesbank hat nun als erste der trages für die Öffentlichkeit tatsächlich ein Indiz 19 NZBs am 21. März in ihrem Monatsbericht für für die Existenz eines Schattenreichs im Innersten den März 2016 ausführlich zu der Existenz, dem der Eurozone? Um welche illegitime Macht geht Inhalt und der Absicht der ANFA-Vereinbarung es? Ist es die Macht, im Verborgenen VerbindStellung genommen (Seiten 87 bis 97, der Bericht lichkeiten anzuhäufen, für die Maß und Haftung ist öffentlich auf der Website der Bundesbank abhandengekommen sind? Der Reihe nach. verfügbar). Der Leser erfährt, dass das Abkommen bereits Anfang 2003 geschlossen und seither Den konsolidierten Bilanzausweisen des niemandem außerhalb des Eurosystem-Apparates Eurosystems (der „Eurosystem-Bilanz“) ist zu
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PICTURE ALLIANCE/DPA/ARNE DEDERT
Mario Draghi ist Präsident der Europäischen Zentralbank und Herr eines Schattenregimes, das jahrelang im Verborgenen Verbindlichkeiten eingingt. Im Bild spricht er in offizieller Mission zu den Gästen der Asian Development Bank (ADB), die am 2. Mai 2016 zu ihrem 50. Annual Meeting in Frankfurt zusammenkam. Und zündet eine neue Nebelkerze: Die Niedrigzinspolitik sei Notwehr – gegen den weltweiten „Exzess des Sparens“ („the global excess of savings”).
entnehmen, dass bislang immer mehr Zentralbankgeld-Liquidität vorhanden war als durch geldpolitische Geschäfte geschaffen wurde. Die geldpolitischen Geschäfte des Eurosystems (Euro-Refinanzierungsgeschäfte, Wertpapierankäufe) werden unter den Aktiv-Positionen A.5 und A.7.1 ausgewiesen. Beide Positionen zusammen wiesen zum 31. Dezember 2015 einen Bestand von 1362 Milliarden Euro aus. Die unter den Passiv-Positionen P.1-2 verbuchte Zentralbankgeld-Liquidität betrug hingegen 1852 Milliarden Euro. Es ergab sich demnach ein Saldo von 490 Milliarden Euro. Eben jene Differenz stellt die in Anspruch genommene Höhe der im Rahmen des ANFA-Abkommens geregelten Netto-Finanzanlagen (NFAs) dar. Wie ich in meiner Dissertation Die EZB in der Krise. Eine Analyse der wesentlichen Sondermaßnahmen von 2007 bis 2012 zeige, stieg die Summe der überaus intransparenten EurosystemBilanz-Aktivpositionen A.6, A.7.2 und A.9 seit dem Schwelen der Finanzkrise Anfang 2006 bis zum vorläufigen Höhepunkt Ende 2012 um rund 500 Milliarden Euro auf 724 Milliarden Euro an („EZB in der Krise“, Seite 18o ff.). So hielt allein die Banca d’Italia Ende 2014 für rund 120 Milliarden Euro Wertpapiere, die sie im Rahmen ihrer – den NZBs insgeheim gestatteten – auto-
nomen Geschäfte erwarb, darunter als größte Position für 108 Milliarden Euro Staatsanleihen. Spitzenreiter ist aber Frankreich: Die Banque de France hielt Ende 2014 unter diesen ANFA-BruttoPositionen u.a. Wertpapiere, vermutlich Staatsanleihen, vielleicht auch Bankpapiere, im Wert von 170 Milliarden Euro, ohne dass nähere Informationen über Zweck oder Zusammensetzung bekannt wurden. (Siehe Infografik „ANFA in Zahlen“.) Die bislang unbeantwortete Frage ist, in welchem Ausmaß es sich um Staatsanleihen des jeweiligen eigenen Landes handelt. Die Bundesbank kommentierte die Frage, ohne eine Antwort zu gebe, in ihrem erwähnten Monatsbericht vom 21. März 2016 so: „Im Verlauf der jüngsten öffentlichen Diskussion um nicht geldpolitische Wertpapierbestände sahen sich Zentralbanken des Eurosystems teilweise dem Vorwurf der Intransparenz ausgesetzt. So wurden nicht geldpolitische Ankäufe insbesondere von heimischen Staatsanleihen durch die jeweiligen nationalen Zentralbanken mit einer durch die europäischen Verträge verbotenen monetären Staatsfinanzierung in Verbindung gebracht – insbesondere, soweit die Ausweitung solcher Portfolios parallel zur europäischen Staatsschuldenkrise erfolgte.“
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Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ging in seinem DIW-Wochenbericht 12/13 2016 etwas weiter und stellte fest, es ließe sich „weder schlussfolgern, dass eine verbotene Haushaltsfinanzierung vorliegt, noch [...], dass sie nicht vorliegt“. Was wissen wir nach der Transparenzoffensive der EZB mehr als zuvor?
Prof. Martin Hellwig postulierte in einem Nationale Gutachten für den Wertpapierbestände Notenbanken gesamt: Bundestag bereits der Nationalen Notenbanken *) im Oktober 2014, dass im Falle der Abwicklung systemrelevanter Großbanken die anvisierte 170 Mrd. € 120 Mrd. € Haftungskaskade 19 Mrd. € 12 Mrd. € der Bankenunion unrealistisch sei Banque Banca Belgische Bundesund im Zweifelsfall de France d‘Italia Nationalbank bank auf den Europä*) Wertpapierbestände der NZBs auf eigene Rechnung unter den Bilanz-Positionen A.7.2 und A.11.3 (Stand 31. Dezember 2014, Quelle: Nationale Notenbanken, EZB) ischen Stabilitätsmechanismus Bis November 2015 geheim: Die Nationalen Notenbanken der Euro(ESM) und „die zone dürfen gemäß ANFA-Abkommen Wertpapiere, auch Bank- und Staatsanleihen ihrer Länder kaufen, um Banken und Staat zu retten, Zentralbank rekurbevor die Pleite an der großen Glocke hängt. riert“ werden wird. Es scheint so, als sei – kurz vor dem Beginn der Zunächst einmal ist jetzt bekannt, dass die jährBankenunion Anfang 2015 – die Frage nach Zentrallich festgelegten Höhen der Netto-Finanzanlagen bank-Finanzierung von Bankenabwicklungen durch (des „ANFA-Saldos“) als Jahresdurchschnittsdas im November 2014 zuletzt erneuerte ANFAwerte einzuhalten sind und nach Quoten auf die Abkommen bereits beantwortet worden, allerdings Nationalen Zentralbanken (NZBs) verteilt werden. ohne dass die Öffentlichkeit davon erfahren hat. Verzichtet eine NZB, wie die Bundesbank dies tut, auf ihren Anteil, wächst dieser anteilig den Die halbherzige Transparenzoffensive der verbleibenden NZBs zu. Die ausgehandelten EZB lässt Raum für Mutmaßungen. Das ANFAObergrenzen und tatsächlichen QuotenverteiAbkommen ermöglicht zunächst, dass die NZBs lungen sind bislang nicht bekannt gegeben. Bankenabwicklungen mit Hilfe von Notfall-Liquiditäts-Krediten und Wertpapierkäufen finanzieren Weiterhin kennen wir nun die in Artikel 5 des können. Die Indizien weisen auf die Existenz eines ANFA-Abkommens festgelegten Ausnahmen. Schattenregimes im Innersten der Eurozone hin, in Wenn es sich um Notfall-Liquiditäts-Beihilfen dem die Macht, im Verborgenen Verbindlichkeiten an Banken handelt, dürfen die NZBs ihre Quoanzuhäufen, ausgespielt wird. Verbindlichkeiten, ten überschreiten. Ferner erlauben sich die für die Maß und Haftung abhanden gekommen Mitglieder des Eurosystems dies in nicht weiter sind – für die Handelnden. Für die Betroffenen, die definierten „Ausnahmefällen“ („exceptional Gemeinschaft der Euronutzer und Steuerzahler, ◆ cases“), sofern sie sich verpflichten, die Überhingegen gilt: Am Ende haften sie – für alles. schreitungen nach einem klar spezifizierten Zeitplan zurückzuführen. Die irische Zentralbank Die Dissertation unseres Autors Daniel rechtfertigte genau mit dieser AusnahmereHoffmann, deren Veröffentlichung die in seinem Beitrag behandelte „ANFA-Affägelung in einer ergänzenden Pressemitteilung re“ ins Rollen brachte, liegt seit Oktober zur ANFA-Veröffentlichung ihre 43 Milliarden 2015 als Book on Demand vor: Die EZB in der Krise. Eine Analyse der wesentlichen Euro schwere Finanzierung der Anfang 2013 Sondermaßnahmen von 2007 bis 2012. auf Initiative der irischen Regierung durchge398 Seiten, gebunden, 100 Euro. Erhältlich bei Amazon oder unter www.book-on-demand.de/shop/14601 führten Abwicklung der Krisenbank IBRC.
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ANFA in Zahlen
560 Mrd. €
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PRIVAT
Dr. Ursula Weidenfeld ist Volkswirtin und Autorin von Wirtschaftsbüchern über Geldpolitik. Für den HAUPTSTADTBRIEF behält sie auch im Jahr 6 den Verlauf den Griechenland-Rettung im Auge; zuletzt beschrieb sie in der Ausgabe 132, wie Griechenland durch die Migrationskrise in den Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit trat. Nun beleuchtet sie die Situation angesichts der wiederkehrenden Frage: Wird es Schuldenerleichterungen geben oder nicht?
Die Griechenland-Rettung geht weiter – bald ohne Zustimmung des Bundestags Das Dauerthema der Athener Staatspleite soll aus dem Rampenlicht verschwinden, damit es nicht länger als öffentliches Ärgernis stört | Von Ursula Weidenfeld Der griechische Ministerpräsident hatte eine gute Idee. Er schlug einen Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs vor. Weil die Euroländer, der Internationale Währungsfonds und Griechenland sich wieder einmal nicht über Reformfortschritte einigen können, müssten die Staatschefs die Sache wieder einmal unter sich regeln, fand Alexis Tsipras.
aber sollte es diesmal nicht getan sein. Das griechische Parlament soll nach dem Willen der anderen Europäer Vorratsbeschlüsse für einen künftigen Automatismus fassen. Danach sollen ab 2017 die Staatsausgaben immer dann zurückgefahren werden, wenn sich die griechische Wirtschaft in den kommenden Jahren nicht so entwickelt, wie es aufgeschrieben wird – und wovon alle ausgehen.
Doch so schnell der Vorschlag gemacht war, war Spielt es eine Rolle, wie die Finanzminister der er auch schon wieder vom Tisch: EU-RatspräsiEurozone die Reformfortschritte der griechischen dent Donald Tusk winkte müde ab, der deutsche Regierung bewerten? Klar ist, dass die Griechen Finanzminister Wolfgang nichts dagegen gehabt Die Zahl der Migranten, Schäuble schüttelte hätten, wenn die Situentnervt den Kopf. Man die über Griechenland kommen, ation vor dem Sommer werde das Problem auf noch einmal eskaliert. sinkt. Damit entfällt Ministerebene lösen. Schließlich braucht man ein Hauptmotiv, Griechenland das Geld erst im Juli Am 9. Mai 2016, bei einem Treffen der Finanz2016, wenn ein Milliarentgegenzukommen. minister. Vorhang auf denkredit umgeschuldet für den nächsten Akt im griechischen Drama. werden muss. Bis dahin, so kalkuliert man in Griechenland, haben die Engländer noch über Ministerpräsident Tsipras hatte eigentlich vorgeden Euro abzustimmen, die Spanier müssen neu habt, das griechische Reformpaket zuerst auf-, wählen. Das erhöht den Druck auf die EU. Wenn dann um- und schließlich wieder zuschnüren. Neue es also noch einmal Spielraum für Gespräche Maßnahmen seien nicht nötig, doch die im verganüber Schuldenerleichterungen gibt, dann jetzt. genen Jahr getroffenen Vereinbarungen müssten gelockert werden, ließ er wissen. Im Anschluss an Aus der Perspektive des Nordens sieht die Rechden von ihm gewünschten Gipfel hätte dann die nung anders aus. Die Zahl der Migranten, die nächste Tranche aus dem dritten Rettungspaket aus der Türkei über Griechenland nach Europa fließen sollen. Doch mit Um- und Neuschnüren kommen, sinkt beständig. Damit entfällt aber
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Ginge es nach den Führungskräften in den deutschen Chefetagen, wäre jetzt der Zeitpunkt für Härte. Die Finanzmärkte sind ruhig, und die Sorgen Europas richten sich zurzeit vor allem auf England. Knapp die Hälfte der Manager, die von der Tageszeitung Die Welt und der Unternehmensberatung Roland Berger im April 2016 befragt wurden, würde es denn auch am liebsten sehen, wenn Griechenland aus der Währungsunion ausscheidet, zumindest aber die Reformliste buchstaben getreu abarbeitet, bevor neues Geld fließen kann. Befragt wurden 147 Manager des Umfrage-Pools „Leaders Parliament“, mit dem die Welt-Gruppe und Roland Berger regelmäßig Meinungsbilder aus der deutschen Wirtschaftselite ermitteln.
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auch ein Hauptmotiv, Griechenland in Stabilitätsangelegenheiten entgegenzukommen. Zudem wächst die Furcht, dass Portugal im Lauf des Sommers zurück in das Rettungsprogramm muss: Wie soll man den braven Portugiesen Reformen abverlangen, wenn man die säumigen Griechen kurz vorher hat davonkommen lassen?
Alexis Tsipras liebt es, wenn sich auf Sondergipfeln wohlwollend mit der prekären Situation Griechenlands befasst wird. Fürs Erste jedoch wird er auf die große Bühne verzichten müssen; denn das Theater um mehr Geld für Griechenland ist nun auf die Finanzministerebene delegiert.
Der deutschen Wirtschaft geht die Geduld mit Athen aus Soll Griechenland eine neue Tranche an Hilfsgeldern erhalten? Nein, die Griechenland-Krise muss ein Ende haben, das Land soll aus der Eurozone ausscheiden
12,3
Nein, die Griechen müssen alle Reformauflagen ohne Abstriche erfüllen, sonst dürfen sie keine Hilfsgelder mehr bekommen
37,4
Ja, solange die Griechen bei den Reformen guten Willen zeigen und zumindest Teile der Auflagen erfüllen, sollten sie weiter unterstützt werden
38,8
Ja, die Auflagen für Griechenland waren von Anfang an zu hart, es muss einen großen Schuldenschnitt für das Land geben Keine Angaben Angaben in Prozent
9,5
2,0 Quelle: Roland Berger/Welt-Gruppe, April 2016
In deutschen Chefetagen antwortet knapp die Hälfte der befragten Manager mit Nein, Griechenland solle keine neuen Hilfsgelder erhalten.
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Ihre Hoffnungen dürften sich nicht erfüllen. Der neue Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, hat einmal zusammengezählt, wie oft der Maastricht-Vertrag schon missachtet wurde. Fuest zählte insgesamt 109 Vertragsverletzungen, die so schwer waren, dass sie zu einem offiziellen Vertragsverletzungsverfahren führten. Nur: Die Untersuchungen blieben ohne Folgen. Nicht ein einziges Mal wurde eine Sanktion gegen einen der Vertragsbrüchigen ausgesprochen – zu denen übrigens auch Deutschland gelegentlich zählte.
Falle weiterer Rückschläge im Reformprogramm. Im Gegenzug stimmt Deutschland einer internen Umschuldung beim Europäischen Rettungsschirm ESM zu. Würden da die Laufzeiten der Griechenkredite zu günstigsten Zinsen verlängert, hätte formal niemand einen Schaden. Der besondere Charme einer solchen Aktion hat selbst den deutschen Finanzminister milde gestimmt: Sie könnte im normalen ESM-Geschäft stattfinden, der Bundestag müsste nicht zustimmen – und auch weitere Gipfelwünsche von Alexis Tsipras blieben aus. ◆
„Es wird für Griechenland keine Schuldenerleichterungen geben“, hatte Wolfgang Schäuble bei der Frühjahrstagung von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank gesagt. Inzwischen hat sich seine Position etwas abgemildert: Durch Erleichterungen für Griechenland sollen keinesfalls die Gläubiger schlechter gestellt werden. Wie das gehen kann? Griechenland erklärt seine Bereitschaft zu automatischen Haushaltskürzungen im
Ein Buch unserer Autorin Ursula Weidenfeld, Gelduntergang. Wie Banken und Politik unsere Zukunft verspielen, 2012 zusammen mit Michael Sauga geschrieben, ist auch nach vier Jahren noch aufschlussreich, weil die dort analysierte ständig wiederkehrende Beschwörungsformel der Euroretter „Aber jetzt ist das Schlimmste wirklich überstanden“ so aktuell ist wie je: Griechenland ist immer noch pleite. Bei Piper als E-Book für 5,99 Euro. Download: www.piper.de/buecher/gelduntergangisbn-978-3-492-95644-4-ebook
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WIKIPEDIA/DRAGAN TATIC
Viktor Orbán ist Ministerpräsident von Ungarn und Vorsitzender der Partei Fidesz – Ungarischer Bürgerbund. Im HAUPTSTADTBRIEF stellt er das ungarische Wirtschaftsmodell vor, das auf politischer Stabilität, soliden Staatsfinanzen und einem einfachen Steuersystem basiert. Auch EU-politisch setzt Ungarns Regierung eigene Akzente: gezielte Familienpolitik statt planloser Einwanderung.
Mitteleuropa ist ein Lichtblick in der EU Die Schwerpunkte des Kontinents verlagern sich, Ungarn und die anderen VisegrádStaaten wachsen stärker als die übrigen EU-Länder. Das liegt an einer Finanz- und Wirtschaftspolitik, die Anreize gibt und Hemmnisse beseitigt | Von Viktor Orbán Die Mitte des europäischen Kontinents steht wirtschaftlich so gut da wie nie zuvor. Früher wäre es kaum zu erwarten gewesen, dass Westeuropa wie gegenwärtig stagnieren und das Wirtschaftswachstum der Europäischen Union im Wesentlichen aus der Region Mitteleuropa kommen würde. Die dortigen Staaten expandieren derzeit ökonomisch um drei, vier oder sogar fünf Prozent jährlich – und dies nicht einmalig, sondern in einer nachhaltigen Entwicklung über mehrere Jahre.
Europäische Union (EU) mussten Ungarn lange vor Griechenland mit Hilfskrediten in Höhe von insgesamt 14,3 Milliarden Euro wirtschaftlich über Wasser halten, was wiederum mit strengen Auflagen verbunden war. Seither und seit Beginn der Regierungszeit der Partei Fidesz im Jahr 2010 hat sich viel geändert. In diesen Tagen hat Ungarn die letzte Rate in Höhe von 1,5 Milliarden Euro an die EU zurückgezahlt, womit sich das Land endgültig von dieser Altlast befreit hat. Dem deutschen und dem europäischen Steuerzahler sind dabei übrigens keine Kosten entstanden. Man darf also deutlich sagen, dass Ungarn auf eigenen Beinen steht.
Es zeigt sich, dass sich die Schwerpunkte des Kontinents verlagern: langsam, unauffällig, aber stetig. Frankreich etwa hat Früher hätte keiner 66 Millionen Einwohner, Die Wirtschaftsdaten denen 64 Millionen Menerwartet, dass Westeuropa sprechen eine unmissschen in den Visegrádverständliche Sprache: stagnieren und Staaten (V4) Polen, Ungarn, Ungarns Haushaltsdefizit das Wirtschaftswachstum Tschechien und Slowakei liegt unter zwei Prozent gegenüberstehen. In diedes Bruttoinlandsprodukts aus Mitteleuropa sem Zusammenhang haben (BIP) und erfüllt damit kommen würde. die deutschen Investitionen das Maastricht-Kriterium in Frankreich einen geringeren Anteil als jene in einer Neuverschuldung von maximal drei Prozent Mitteleuropa: Das deutsche Investitionsvolumen des BIP. Die Staatsschulden haben sich von 85 liegt in Frankreich bei 42 Milliarden Euro, in MittelProzent der nationalen Wertschöpfung auf 75 europa dagegen bei 57 Milliarden Euro. Die deutProzent reduziert, und die Arbeitslosigkeit ist um schen Einfuhren aus Frankreich betragen 67 Milliar- die Hälfte, auf sechs Prozent, gefallen. Ungarn den Euro, die aus Mitteleuropa 121 Milliarden Euro. hat 2015 ein Wachstum von 2,9 Prozent erreicht, für das laufende Jahr werden 3 Prozent erwartet. Der Blick zurück ins Jahr 2008 zeigt ein anderes Bild: Ungarn war damals noch „Rettungskandidat“. Bei diesen wirtschaftlichen Erfolgen spieDer Internationale Währungsfonds (IWF) und die len auch Deutschlands Firmen eine wich-
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FOTOLIA/ASAFELIASON
Ungarn wächst, blüht und gedeiht: Die Große Markthalle von Budapest als Sinnbild einer gelingenden Marktwirtschaft, die Menschen in Arbeit bringt und ihnen die Früchte ihrer Arbeit lässt, statt sie mit Steuern zu belegen und umzuverteilen. Auf alle Einkünfte gibt es jetzt eine „Flat Tax“ von 15 Prozent, wer drei Kinder hat, zahlt kaum noch Einkommensteuer.
tige Rolle. Mehr als 6000 Unternehmen mit deutscher Beteiligung sind in Ungarn tätig und beschäftigen 300 000 ungarische Mitarbeiter. Nimmt man die durchschnittliche Haushaltszahl von vier Personen als Maßstab, so sichern diese Unternehmen 1,2 Millionen Menschen in Ungarn die Existenz. Wirtschaftlich besonders eng ist Ungarns produktionszentrierte Wirtschaft mit der „Südflanke“ des Standorts Deutschland verwachsen, also Bayern und Baden-Württemberg. Nach meinem Verständnis sind alle Wirtschaftsbereiche wichtig, auch der Banksektor und die Dienstleistungen. Dem produzierenden Bereich kommt jedoch eine besondere Rolle zu. Ich glaube nicht an die Stärke eines Wirtschaftssystems, dessen Industrieproduktion nicht bedeutsam ist. Derzeit liegt Ungarn bei der Höhe des Anteils der verarbeitenden Industrie hinter Tschechien und noch vor Deutschland. Wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf besteht aus meiner Sicht beim Bürokratieabbau und bei der Behebung des Fachkräftemangels.
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Das ungarische Wirtschaftsmodell basiert erstens auf politischer Stabilität: Ungarn ist eines der wenigen EU-Länder, in denen die Parlamente ihre Legislaturperioden regelmäßig erfolgreich zu Ende bringen. Viele Probleme in anderen EU-Staaten rühren von mangelnder politischer Stabilität her. Die zweite Säule des Modells ist eine solide staatliche Finanzpolitik: Man soll schlicht nicht mehr ausgeben, als man einnimmt. Damit war auch eine einschneidende Reform des Sozialstaats verbunden, die dem Wähler damals nicht einfach zu vermitteln war. Arbeitslosenhilfe gibt es jetzt nur noch für drei Monate. Wer in dieser Zeit keine Arbeit im Privatsektor gefunden hat, muss eine gemeinnützige Arbeit annehmen, die mit weniger als dem Mindestlohn, aber mit mehr als dem Arbeitslosengeld honoriert wird. Tut man das nicht, so wird die Arbeitslosenunterstützung gestrichen. Ausnahmen gibt es hierbei nur für Kranke. Drittens hat die Regierung Ungarns Steuersystem radikal reformiert und vereinfacht.
AUDI
Ungarn fährt auf und davon: Die Werkhalle der Audi Hungaria Motor Kft. als Musterbeispiel eines erfolgreichen Investitionsprojekts. 2014 startete im ungarischen Györ die Serienfertigung des Audi TT Roadster (vorn) und des Audi TT Coupé (dahinter). Diese Modelle werden komplett in dem neuen Automobilwerk gefertigt – Botschafter ungarischer Exzellenz.
Auf alle Einkünfte gibt es jetzt eine „Flat Tax“ von 15 Prozent. Die sozialistisch orientierte Opposition war damals dagegen, aber der Erfolg gibt uns Recht. Zudem haben wir die Erbschaftsteuer abgeschafft. Der Aufbau von Vermögen in der Familie muss nicht gefördert, darf aber auch nicht behindert werden. Viertens unterstützt Ungarn die Familien steuerlich. Aktuell schrumpft die ungarische Bevölkerung, und dieser demografische Wandel stellt eine Herausforderung dar. Die staatliche Förderung besteht darin, dass eine Familie mit drei oder mehr Kindern nahezu keine Einkommensteuer mehr zu zahlen hat. Der Staat übernimmt auch die Entgeltfortzahlung in der Elternzeit, mit 100 Prozent des Gehalts für drei Monate und 75 Prozent für drei Jahre. Hinzu kommen eine hohe Summe einer nicht zurückzuerstattenden Unterstützung sowie günstige Kredite für den Haus- oder Wohnungskauf für Familien, die drei oder mehr Kinder haben beziehungsweise haben möchten. Diese Familienförderung entspricht den ungarischen Wertvorstellungen.
Bei der Bewältigung des demografischen Wandels gibt es einen großen Dissens zwischen der ungarischen Regierung und der Europäischen Union. So kursiert in der EU der sogenannte Juncker-Plan, der besagt, dass die demografischen Probleme Europas durch Einwanderung gelöst werden müssen. Einzelne Länder können das durchaus tun, wenn sie es für richtig halten. Ungarn jedoch strebt an, sein demografisches Problem mit Familienpolitik zu lösen. Wir lehnen eine Masseneinwanderung ab, für die in Ungarn keine Notwendigkeit besteht. Der ungarische Weg braucht allerdings Zeit: Erst in acht bis zehn Jahren werden sich Resultate der Familienpolitik zeigen, während Einwanderung, zumindest mathematisch, das Problem sofort löst. Die derzeit wichtigste Aufgabe der EU nach meiner Ansicht ist es, ihre Errungenschaften zu schützen, zu denen Freizügigkeit und freier Handel gehören. Dies gelingt aber nur, wenn die EUAußengrenzen geschützt sind. Sind sie es nicht, werden wieder viele Binnengrenzen von neuem entstehen. Das Schengen-System setzt Kontrolle
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und Registrierung der Einwanderer bei der Einreise voraus. In der EU hat dies nur ein einziges Land in dieser Form vorgenommen, und zwar Ungarn. Dass wir dafür scharf kritisiert werden, ist völlig absurd – umso mehr, wenn andere Staaten quasi freigesprochen werden, die ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht erfüllt haben. Ich finde: Verträge müssen im gemeinsamen Europa eingehalten werden. Wenn man die gegenwärtigen Regeln als nicht sinnvoll betrachtet, müssen sie geändert werden. Aber fortlaufende Rechtsbrüche darf es in Europa nicht geben.
führen können nur starke, demokratisch gewählte Politiker auf staatlicher Ebene. Viele EU-Bürger wünschen sich wieder solche Persönlichkeiten.
Als ich in meiner ersten Amtszeit als ungarischer Ministerpräsident 1998 das erste Mal an europäischen Gremien teilnahm, waren dort Politiker wie Helmut Kohl, Jaques Chirac, Silvio Berlusconi und José María Aznar. Man kann über diese Personen geteilter Meinung sein, aber es zeichnete sie aus, dass sie ganz klar wussten, was sie für ihr jeweiliges Volk erreichen wollten. Zwölf Jahre später, im Jahr 2010, nahm ich als Ebenso wenig sollten Ministerpräsident wieder an 2008 war Ungarn EU-Staaten gezwungen noch ‚Rettungskandidat‘ – europäischen Gesprächswerden, ihre innere Sicherrunden teil. Im zeitlichen 2016 ist die letzte Rate heit aufs Spiel zu setzen. Vergleich fiel auf, dass die Viele der Menschen, die Stimmung außerordentlich zurückgezahlt, ohne Kontrolle eingedefensiv war und sehr enge Ungarn steht wieder lassen werden, kommen rechtliche oder technische auf eigenen Beinen. aus Staaten, mit denen Fragen dominierten. Dieser die EU-Mitgliedstaaten starke Kontrast hat mich auch militärische Konflikte haben. Diese Tatsaseither immer wieder beschäftigt. Es ist unerlässche nutzen unsere Feinde aus: Sie töten unsere lich, auf der Ebene der EU persönliche Führung und Bürgerinnen und Bürger, und sie legen SprengVerantwortlichkeit wieder stärker zu verankern. sätze in unseren Flughäfen. Dazu, dass sich Migranten, deren Status nicht klar ist, in Europa Persönlich gehe ich davon aus, dass die Flüchtvöllig frei bewegen können, besteht im Übrigen lingskrise in zwei, drei Monaten ausgestanden keine Veranlassung. Als 1956 viele Ungarn das sein wird. Die Hauptwanderungsrouten sind Land wegen der sowjetischen Invasion verließen, geschlossen. Für alternative Wege ist das ebenlandeten die meisten von ihnen in Aufnahmelafalls leicht möglich, und zudem gibt es das gern in Österreich, wo sie Asylanträge für unterAbkommen mit der Türkei, um die Flüchtlingszahschiedliche Länder stellen mussten. Sie durften len zu reduzieren. Die Hoffnung dabei ist, dass die Lager nicht ohne weiteres verlassen. Das war sich die EU danach wieder stärker darauf konzendamals auch gar nicht umstritten. Unsere Freitriert, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und heit zu schützen, heißt, unsere Außengrenzen zu die wirtschaftliche Entwicklung voranzubringen. ◆ kontrollieren. Dazu gehört auch, illegale Einwanderer ohne Asylgrund konsequent abzuschieben. Europas teils ineffektive Reaktion auf die verschiedenen Krisen im Inneren und im Äußeren liegt in der Führungsstruktur begründet. Die europäischen Gremien und Institutionen können nicht führen, weil in ihnen nur allzu leicht die persönliche Verantwortlichkeit verwischt wird. Die Schwäche solcher Gremien fällt in guten Zeiten nicht auf, in Krisen zeigt sie sich aber überdeutlich. Wirklich
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Der Beitrag unseres Autors Viktor Orbán dokumentiert eine Rede, die er im April 2016 in Stuttgart vor 200 Gästen aus der Wirtschaft gehalten hat. Veranstalter waren das ungarische Generalkonsulat und die Stiftung Familienunternehmen. Mehr über die Politik des Ministerpräsidenten und Aktuelles und Wissenswertes über das politische Geschehen in Ungarn findet sich in englischer Sprache auf der Website der ungarischen Regierung: www.kormany.hu/en
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LABOUR PARTY
Gisela Stuart ist eine britische Politikerin der Labour Party, seit 1997 Abgeordnete des House of Commons und Vorsitzende von „The Vote Leave Board“, der Dachorganisation der „Vote Leave“-Kampagne, die sich für ein Ja zum „Brexit“ beim Referendum am 23. Juni 2016 einsetzt – also für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU. Im HAUPTSTADTBRIEF erläutert sie, warum Großbritannien die EU verlassen soll.
Die Briten brauchen einen neuen Traum Die supranationale Identität, die für Kontinentaleuropa ein Gewinn ist, trotz institutioneller Mängel der EU, ist für die Briten ein Hemmschuh | Von Gisela Stuart Wenn wir am 23. Juni 2016 abstimmen werden, ob das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union (EU) bleibt, wird sich dieses Referendum deutlich von dem unterscheiden, das im Juni 1975 abgehalten und in dem die Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bestätigt wurde. Dieses Mal haben sich die vier konstitutiven Teile des Vereinigten Königreichs – England, Schottland, Wales und Nordirland – sowohl innen- wie außenpolitischen Spannungen in Zusammenhang mit der Abstimmung im Juni zu stellen.
supranationalen Identität mit einem gemeinsamen Staatsvolk. Der Nationalstaat, die Herrschaft des Rechts und die Monarchie mit parlamentarischer Souveränität leisteten den Briten überwiegend gute Dienste. Es war nie in ihrem Interesse, dass eine einzige Macht den Kontinent dominierte.
Ganz anders gestaltete sich die Lage für Deutschland. Geographisch im Herzen Europas gelegen, ist es erst seit der Wiedervereinigung 1989 ein Land, in dem alle Deutschen in den Grenzen eines gemeinsamen Nationalstaats leben. Die Deutschen hatten – wie fast ganz KontinentalIn Deutschland scheint diese Problematik vereuropa – Krieg, Flüchtlingswellen, den Kollaps breitet und verkürzend ihrer Währung und das auf die Frage herunterVersagen des NationalIch werbe für den Austritt, gebrochen zu werden: erlebt, von den weil ich überzeugt bin, dass wir staats Warum können die Mängeln der demokraim Vereinigten Königreich Briten nicht so sein wie tischen Institutionen wir? Die Antwortet lauganz zu schweigen. So Besseres liefern können. tet: Weil wir historisch ist es nicht erstaunund geographisch unterschiedlich geprägt sind. lich, dass auf dem ganzen Kontinent die Suche Als gebürtige Deutsche, die über zwei Jahrzehnte nach einer supranationalen Identität, die all das in der britischen und europäischen Politik aktiv beendete, zum gemeinsamen Anliegen wurde. ist, ist mir inzwischen klar, warum das so ist. Europäisch und deutsch zu sein – das ist für die Vor 300 Jahren war England beides, See- und Nachkriegsgeneration existentiell. Für die Briten gilt Kontinentalmacht. Georg I. war König von England das nicht. Britisch und europäisch zu sein ist für sie und Kurfürst von Hannover. Der „Act of Union“, das eine Wahlverwandtschaft, optional, und wenn es Vereinigungsgesetz von 1707, brachte England und nicht klappt, gibt es immer noch den Rest der Welt. Schottland zusammen. Das schottische Parlament wurde aufgelöst, England und Schottland Die Briten bringen grundsätzlich wenig Enthuwurden ein Land. Das waren die Anfänge einer siasmus für die EU auf. Aber die Sogkraft, die
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„Vote Leave“ – unter diesem Motto läuft die britische Kampagne pro „Brexit“, deren Vorsitzende unsere Autorin ist.
dafür sorgt, dass Menschen in Krisenzeiten zueinander drängen – wie wenig hilfreich das auch sein mag –, und die Angst vor dem Unbekannten sind ebenfalls stark. David Cameron sagte anfangs, er würde nicht zögern, sich für eine Ablehnung des Deals einzusetzen, falls das Reformpaket nicht gut genug sei. Das hat sich rasch zu Feuer-und-SchwefelProphezeiungen bezüglich der Konsequenzen eines Ausstiegsvotums gewandelt. War es ihm von Anfang an nicht ernst mit dem Referendum – oder schürt er bewusst Angst? Ich werbe für den Austritt, weil ich überzeugt bin, dass wir Briten Besseres liefern können und müssen. Die EU als Institution hat die Fähigkeit verloren, einen notwendigen Wandel herbeizuführen. Sie hat zu akzeptieren, dass es hier nicht um eine Reise mit zwei Geschwindigkeiten, sondern um eine Reise zu unterschiedlichen Zielen geht. Einige Staaten haben eine gemeinsame Währung – mit der Erfordernis für tiefere politische und fiskalische Integration –, andere aber nicht. Die institutionelle Struktur der EU hat diese Unterschiede von Rechts wegen widerzuspiegeln. Ein
Sonderstatus würde bedeuten, dass es immer um die Briten geht, während es um die Länder gehen sollte, die nicht zur Eurozone gehören. Die EU muss aufhören, einen Konkurrenzkampf mit der NATO zu führen in dem Glauben, sie könne sie ersetzen. Mir fällt kein einziger wichtiger Militäreinsatz ein, den die EU ohne NATO-Mittel hätte durchführen können. Die echte Gefahr ist, dass die USA in ihrem Engagement für die europäische Verteidigung nachlassen. Die europäische Militärkapazität aber wird bislang mehr herbeigeredet, als dass sie tatsächlich erfolgreich existiert. Die Abstimmung am 23. Juni wird – wie immer sie auch ausgehen mag – Konsequenzen haben. Eine Abstimmung mit „Ja“ für die EU bedeutet, dass eine kurzfristige Korrektur mit einem Referendum verbunden worden ist, wie es gewöhnlich nur einmal in einem Menschenleben vorkommt. Wenn dann ein britischer Premier das nächste Mal für eine britische Sonderrolle plädiert, wird er sich in aller Deutlichkeit daran erinnern lassen müssen, dass sein Volk die Vereinbarung, so wie sie ist, in demokratischer Abstimmung gebilligt hat.
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Eine Abstimmung mit „Nein“ aber ist der erste Schritt in einem Entwicklungsprozess – und wir sollten begeistert sein, diesen Schritt zu gehen. Es gibt nichts zu fürchten: Die Britischen Inseln werden nicht zu den Zeiten von Schwarz-WeißFernsehern, warmem Bier und Nylonlaken von Brentford zurückkehren. Wir sind weder Norwegen noch Schweden – unser Wettbewerbsvorteil basiert auf Innovation und besseren Produkten. Und wer eine anständige soziale Sicherung und den Mindestlohn haben will, braucht nur für eine Labour-Regierung zu stimmen. Die britische Labour Party, meine Partei, scheint ihre radikalen Wurzeln irgendwo verlegt zu haben. Wir gehen nicht auf die Barrikaden, nur um den Status quo aufrechtzuerhalten, um die Interessen großer Konzerne zu vertreten und den Schaden, der am Sozialgefüge von Ländern wie Griechenland angerichtet wird, zu ignorieren. Wir haben keine Angst vor der Zukunft.
EUROPA am Scheideweg
Wir möchten, dass die Welt ein besserer Ort wird. Ich lehne den erdrückenden Konsens des Establishments, der quer durch die politischen Parteien geht, ab. Die EU hat ihren Traum, Krieg zwischen Frankreich und Deutschland zu verhindern, wahr gemacht. Sie braucht jetzt einen neuen Traum. Den braucht auch das Vereinigte Königreich. Deshalb stimme ich für den Aus◆ stieg.
Aktuelles von und über unsere Autorin Gisela Stuart und ihr Engagement für „Vote Leave“ ist über ihren Twitter-Account zu verfolgen: www.twitter.com/ GiselaStuart Mehr zu „Vote Leave“ findet sich auf der Website der Kampagne (auf der fortlaufend aktualisiert die Beiträge in englischen Pfund angezeigt werden, die das Vereinigte Königreich an die EU zahlt): www.voteleavetakecontrol.org
Karlspreis an kus Papst Franzis
Wachsende Flüchtlingsbewegungen, beängstigendes Erstarken rechter Parteien, fragile Finanz- und Wirtschaftssituation: Der Zusammenhalt Europas ist massiv gefährdet. Wo stehen wir? Welche Fehler werden gemacht? Was müssen wir dringend ändern? Anlässlich der Verleihung des Karlspreises 2016 an Papst Franziskus geben Gestalter der europäischen Politik und der Kirchen sowie frühere Träger des Karlspreises wichtige Denkanstöße zur Zukunft unseres Kontinents. Mit Beiträgen u.a. von: Heinrich Bedford-Strohm, Ulrich Grillo, JeanClaude Juncker, Helmut Kohl, Annegret Kramp-Karrenbauer, Armin Laschet, Jürgen Linden, Reinhard Kardinal Marx, Angela Merkel, Annette Schavan, Martin Schulz, Thomas Sternberg und Donald Tusk.
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€ 19,99 | 978-3-451-37587-3
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Neil Carmichael ist ein britischer Politiker der Conservative Party, Vorsitzender des Bildungsausschusses des House of Commons und der „Conservative Group for Europe“, die sich für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union einsetzt. Für den HAUPTSTADTBRIEF erläutert er, warum sich die britischen Interessen als ein engagiertes Vollmitglied in der EU am besten vertreten lassen.
Die Briten fahren besser mit der EU Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hat so viele Vorteile für die Briten, dass sie schlecht beraten wären, die Union zu verlassen | Von Neil Carmichael In den vier Jahrzehnten, seitdem wir durch unsewir die EU verlassen würden – aber wir können ren Beitritt zur damaligen Europäischen Wirtdie auf der Hand liegenden Risiken einschätzen, schaftsgemeinschaft (EWG), die jetzt die Eurovon denen einige potentiell hochgefährlich sind. päische Union (EU) ist, zu einem Vollmitglied der europäischen Familie geworden sind, haben wir Hier ist besonders die Größenordnung unseres diese Mitgliedschaft zu einem außerordentlichen Warenaustauschs mit dem Rest der EU hervorErfolg gemacht. Wir haben eine führende Rolle zuheben, der sich 2014 auf 230 Milliarden Pfund gespielt – um nicht zu sagen die führende Rolle Sterling (GBP) beim Export von Waren und Dienst– bei der Schaffung des gemeinsamen Binnenleistungen (45 Prozent aller Exporte) und auf 289 marktes in den 1980er- und 1990er-Jahren, und Milliarden GBP beim Import belief (53 Prozent wir haben noch immer eine Vorreiterrolle inne. aller Importe). Der Zugang zum gemeinsamen Die britische ist nun die fünftgrößte Wirtschaft Binnenmarkt ist mit der britischen Wirtschaft fest weltweit, nicht zuletzt dank der Jahrzehnte des verdrahtet, rund 3 Millionen britische ArbeitsFriedens und des Wohlstands in Europa – und plätze stehen mit unserem Handel innerhalb aufgrund des freien der EU in Verbindung. Wenn die Briten Zugangs zum größten Markt der Welt, den unsere für oder gegen den Verbleib 2014 hatte Großbritannien Unternehmen genießen. einen Außenhandelsüberin der EU abstimmen, schuss von 17,1 Milliarden wird unsere Stellung Unsere Mitgliedschaft in GBP mit der EU im Bereich der EU ist eine der größder Dienstleistungen, 16,6 in der Welt in der ten Erfolgsgeschichten Milliarden GBP davon bei Waagschale liegen. der Moderne. Und unsere den FinanzdienstleistunMitgliedschaft in der EU (und vorher in der EWG) gen, die 25 Prozent des britischen Dienstleistungswar nie nur eine Angelegenheit von Wirtschaft und Exports in die EU ausmachten, mit einem Umfang Handel. Niemand hat sie je nur dafür gehalten. von 20,2 Milliarden GBP im Jahr 2014. Bei einem Wenn die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs „Brexit“ würden unsere Finanzdienstleistungsim Referendum für oder gegen den Verbleib in Unternehmen den „Pass“ abgeben müssen, der der EU abstimmt, wird nichts weniger als unsere ihnen freie Betätigung innerhalb der EU erlaubt. Stellung in der Welt in der Waagschale liegen – und ebenso wird unsere wirtschaftliche Sicherheit auf Befürworter des „Brexit“ sagen: Nun gut – aber dem Spiel stehen. Niemand kann eindeutig voraus- keiner braucht ein Vollmitglied der EU zu sein, sagen, was mit unserer Wirtschaft geschähe, wenn um Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt
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Ein Herz und zwei Seelen, so innig verbunden soll das Vereinigte Königreich in der EU bleiben. Das rät die Conservative Group gegen den „Brexit“, deren Vorsitzender unser Autor ist.
zu haben. Das stimmt. Die EU ähnelt jedoch einem Club, bei dem eine assoziierte Mitgliedschaft ohne Mitentscheidungsrecht unterm Strich teurer kommt als eine Vollmitgliedschaft. In Zusammenhang mit den vermeintlichen Vorteilen eines „Brexit“ sind Schlagworte zu hören wie „die Kontrolle über unsere Grenzen zurückgewinnen“ und „Milliarden an Beitragszahlungen einsparen“. Tatsache ist allerdings, dass jedes Land, das vollen Zugang zum Binnenmarkt hat, auch in den EU-Haushalt einzahlen muss – und dass jedes dieser Länder dem freien Reiseverkehr zuzustimmen hatte. Jeder, der dem freien Reiseverkehr und den Beitragszahlungen ein Ende machen will, würde damit Großbritannien den Zugang zum Binnenmarkt verweigern – mit potentiell ruinösen wirtschaftlichen Konsequenzen. Die vielleicht bösartigste Mär ist die, wir könnten jeden Rückgang im Handel nach dem „Brexit“ dadurch ausgleichen, dass wir uns statt der EU dem Commonwealth zuwenden. Dieses Argument ergibt keinen Sinn: Die EU hindert ihre Mitgliedstaaten in keiner Weise daran, bilateral oder multilateral mit Nicht-EU-Staaten wirtschaftliche Beziehungen zu pflegen. So war etwa die britische Mitgliedschaft in der EU von absolut keinem Belang beim
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kürzlich beschlossenen, 9 Milliarden Pfund Sterling schweren Handelsabkommen zwischen Großbritannien und Indien. Kurz, britische Unternehmen liefern rund 45 Prozent ihrer Exporte in die EU – und unser Handelsvolumen mit dem Commonwealth beläuft sich derzeit auf weniger als ein Viertel dessen. Folglich müsste Großbritannien, um einen Rückgang von 25 Prozent bei den EU-Exporten auszugleichen, seine Exporte in den Commonwealth verdoppeln. Und wie glaubhaft wäre das? Die EU ist eine Zollunion mit einer gemeinsamen Handelspolitik. Seit unserem Beitritt hat sich diese Handelspolitik gewandelt – nicht zuletzt aufgrund der Führungsrolle Großbritanniens. Die EU hat ihren Horizont erweitert, weit über Handelsabkommen mit benachbarten Ländern hinaus. Die EU hat nun Freihandelsabkommen – oder ist dabei, über Freihandelsabkommen zu verhandeln – mit rund 90 Prozent der 50 Commonwealth-Länder außerhalb der EU, einschließlich jener 6 Länder, die zusammengenommen für mehr als 80 Prozent des britischen Commonwealth-Handels stehen. Die britischen Exporte in CommonwealthLänder steigen bereits jetzt um rund 10 Prozent jährlich – mit jüngsten Steigerungsraten
(über 2 Jahre) von 33 Prozent nach Indien, je rund 30 Prozent nach Südafrika und Australien und 18 Prozent nach Kanada. Diese Zuwächse, alle in Zeiten unserer Mitgliedschaft in der EU, haben Tausende von Arbeitsplätzen in Großbritannien geschaffen oder gesichert. Für sich allein agierend würde Großbritannien zweifellos seine eigene, unabhängige Stimme in der Welt wiedererlangen – theoretisch auch in neuen, weltweiten Wirtschaftsverhandlungen. Nur: Wer würde zuhören? Die EU jedenfalls würde nicht länger in unserem Interesse verhandeln, und es ist erschreckend, sich auch nur vorzustellen, wie schwach unsere Verhandlungsposition tatsächlich wäre gegenüber großen Industrienationen wie China – falls sie sich denn überhaupt noch mit uns an den Verhandlungstisch setzen würden. Die EU und China sind zwei der größten Handeltreibenden weltweit. China ist inzwischen
der zweite große Handelspartner der EU, nach den USA – und die EU ist für China der Handelspartner Nummer 1. Derzeit bereitet die EU – mit starker britischer Unterstützung – ein umfassendes Handelsabkommen mit China vor. Es ist von enorm hohem nationalen Interesse für uns, dass wir ein Teil dieses Prozesses bleiben, der sich stetig seiner Verwirklichung nähert. Darüber hinaus spielen viele weitere Faktoren eine Rolle bei der Argumentation für unsere Mitgliedschaft in der EU. Ich frage meine Landsleute ◆ deshalb stets: „Brexit“? Why risk it?
Mehr über die „Conservative Group for Europe“, deren Vorsitzender unser Autor Neil Carmichael ist, findet sich in englischer Sprache auf der Website der EU-Befürworter: www.conservativegroup foreurope.org.uk
With the fourth »Energy Security Summit« Frankfurter Allgemeine Forum places the future challenges for the business community, science and politics as a result of major changes on the international energy markets into the spotlight of the public debate.
#4 ENERGY SECURITY SUMMIT 2016 INNOVATIONS FOR A DIVERSE ENERGY SUPPLY
Under the title »Innovations for a Diverse Energy Supply« the new technologies and visionary projects to achieve a diversified energy supply and ambitious climate goals as well as the necessary critical framework conditions take centre stage. This year’s Summit will focus on future-oriented technologies and strategies for the diversification of energy supplies. With a view to the achievement of ambitious climate goals, the competition conditions on markets undergoing major changes and the role of politics against the backdrop of these considerable challenges, solutions for joint actions are to be discussed with decision-makers from the business community and politics as well as scientists and representatives of international non-governmental organisations.
2 June 2016: Summit and Evening Reception at the ESMT – European School of Management and Technology, Berlin #EnerSec2016
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More information and registration: www.faz-forum.com/ess2016
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DER HAUPTSTADTBRIEF 47 TouGas Oilfield Solutions
LUDWIG VON MISES INSTITUTE
Prof. Dr. Philipp Bagus lehrt Volkswirtschaft an der Universidad Rey Juan Carlos in Madrid. Der Geld- und Konjunkturtheoretiker legte 2011, nach einem Jahr Eurokrise, seine grundlegende Studie Die Tragödie des Euro. Ein System zerstört sich selbst vor. Für den HAUPTSTADTBRIEF macht er auf eine weitere Seite der Selbstzerstörung aufmerksam: auf die Tragödie der EU-Kommission als Wettbewerbskiller.
Inquisition gegen Google Die Attacke der EU-Kommission auf Google ist ein Angriff auf den Wettbewerb – aus tief verwurzelter Feindseligkeit gegenüber allem Wettbewerb | Von Philipp Bagus Die Inquisitoren ziehen die Daumenschrauben an. bedeutet ein hoher Marktanteil eines UnterDie EU-Kommission will das Wettbewerbsverfahnehmens, dass dieses die Konsumentenwünren gegen Google verschärfen. Googles Betriebssche besser und günstiger befriedigt hat, als system Android kommt bei mobilen Geräten auf es seine Rivalen vermochten. Zumindest bis einen Marktanteil von 80 Prozent. Die Kommiszu diesem Zeitpunkt. Denn das Unternehmen sare erheben drei Vorwürfe gegen Google: wird seine Position nur halten können, wenn es ihm weiterhin gelingt, ein besseres Produkt • Erstens „zwinge“ Google die Produzenten von Handys und Tablets dazu, oder Gesamtpaket als seine Rivalen anzubieeinige seiner Apps wie Play Store oder ten. Aus Sicht der Konsumenten sollten diese Google Maps vorzuinstallieren. besonders erfolgreichen Unternehmen mit Bundesverdienstkreuzen dekoriert werden. • Zweitens ließe es Google nicht zu, dass Hardwareproduzenten von Dritten entwickelte Android-Versionen installierten. Dem gegenüber steht die Konzeption des Wettbe Drittens zahle Google den Produzenten bedeuwerbs als einer Situation, in der viele Unterneh• tende Summen, damit men mit geringen MarktanAus Sicht sie exklusiv die Googleteilen das gleiche Produkt Suchmaschine auf ihren zum gleichen Preis anbieder Konsumenten Geräten installierten. ten. Der Marktprozess wird sollten besonders In den Augen der Kommisangehalten und die Situerfolgreiche Unternehmen ation betrachtet. Hat ein sion verhindert Google auf diese Weise, dass mit Bundesverdienstkreuzen Unternehmen einen sehr die Apps, Betriebssyshohen Marktanteil, weil es dekoriert werden. teme und Suchmaschinen ihm gelungen ist, besser anderer Anbieter mit Google auf völlig ebenem als seine Rivalen die Konsumenten zu befriedigen, Terrain konkurrieren könnten. Das Sanktionieren wird ihm nach dieser Konzeption kein VerdienstGoogles könnte 6 Milliarden Euro übersteigen. kreuz verliehen. Im Gegenteil wird das erfolgreiche Unternehmen von den „Wettbewerbshütern“ Wie konnte es so weit kommen? Grundsätzlich verfolgt. Die inkompetenten Rivalen applaudiegibt es zwei entgegengesetzte Konzeptionen ren. Oft initiieren und forcieren sie die Verfolgung. des Wettbewerbs. Die erste betrachtet den Wettbewerb als einen Prozess der Rivalität Die EU-Kommission hat sich letztere Wettbevon Geschäftsmodellen. Wenn es keine staatwerbskonzeption zu eigen gemacht. So hüten lichen Eintrittsschranken in einen Markt gibt, die modernen „Wettbewerbshüter“ die Inkom-
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Die Google-Welt und die Apple-Welt sind ihren jeweiligen Nutzern vertraut und genehm. Es sind ausschließlich kalifornische Unternehmen, die solche digitalen Erlebniswelten schaffen. Kunden in aller Welt lieben sie dafür. Der EU-Kommission ist das ein Dorn im Auge. In ihrem Herrschaftsgebiet liefert kein Unternehmen Vergleichbares. Deshalb versucht sie, zunächst dem Erfolgreicheren der beiden zu schaden: durch Bestrafung von Google.
petenz. Sie schützen nicht die Konsumenten vor der Ausbeutung. Vielmehr schützen sie kleinere Unternehmen vor der überlegenen Konkurrenzfähigkeit größerer Unternehmen. Der beste Schutz des Wettbewerbs ist aber nicht, die konkurrenzfähigen Unternehmen anzugreifen, damit die inkompetenten triumphieren, sondern staatliche Barrieren zu beseitigen, sodass neue kompetitivere Geschäftsmodelle entstehen können. Anstatt die konkurrenzfähigsten Geschäftsmodelle zu verbieten, sollten staatliche Regulierungen und Privilegien gekappt werden. Wettbewerb bedeutet das Schaffen eines Leistungsspektrums, ja einer ganzen Leistungswelt, die für die Konsumenten zu niedrigeren Preisen mehr Wert generiert als Konkurrenzwelten. Es geht im Wettbewerb nicht darum, homogene Produkte zu identischen oder leicht niedrigeren Preisen an den Markt zu bringen. Wettbewerb bedeutet vielmehr, dem Nutzer kontinuierlich ein immer wertvolleres Gesamt
erlebnis zu geringeren Kosten zu ermöglichen. Unternehmen brauchen Freiheiten, um neue Geschäftsmodelle und Nutzungserlebnisse zu entwickeln und stetig zu verbessern und so ihre Wettbewerbsposition zu stärken. Die Attacke auf Google ist letztlich ein Angriff auf den Wettbewerb. Man fragt sich, warum Apple eigentlich noch nicht im Fokus der „Wettbewerbshüter“ steht. Denn auf allen iPhones und iPads wird außer iOS kein anderes Betriebssystem zugelassen. Apps wie Safari oder der Onlineshop iTunes werden vorinstalliert. Schränkt Apple durch das Verbot alternativer Betriebssysteme und die Installation von iTunes auf seinen Geräten nicht auch den Wettbewerb ein? Wahrscheinlich ist Apple noch nicht ins Visier der Wettbewerbskiller geraten, weil sein Marktanteil von 15 Prozent viel geringer als der von Googles Android ist. Stellen wir uns vor, dass Apple seine Leistungswelt unverändert lässt, dass die Konsumen-
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ten beginnen, diese höher zu schätzen und sich massiv der Apple-Welt zuwenden, sodass Apples Marktanteil explodiert und Apple zum dominanten Unternehmen im Handy- und Tabletmarkt aufsteigt. Dann hätte nach der Logik der EU-Kommission Apple seine dominante Marktposition ausgenutzt und mit wettbewerbsverzerrenden Maßnahmen Rivalen zum Schaden der Konsumenten unfair aus dem Markt gedrängt, obwohl Apple gar nichts anderes gemacht hätte, als es heute schon macht.
Twitter, Uber, Amazon und Google durch Geldbußen zu dekapitalisieren und aus dem Markt zu regulieren, sollten sich die Kommissare besser einmal fragen, warum diese Unternehmen in Kalifornien und nicht in Europa entstanden sind. All diese Unternehmen stehen für Silicon Valley. Warum gibt es kein Silicon Valley in Europa? Silicon Valley steht für finanzielle und regulatorische Freiheiten ebenso wie für Bildungsfreiheit. Ein freies Bildungssystem, niedrige Steuern, die Sparen und Investieren fördern, und ein Ende erdrückender Regulierungen würden die Wettbewerbsfähigkeit Europas enorm stärken.
Apple würde dann von den Kommissaren gezwungen, seine digitale Leistungswelt auseinanderzuzerren und zu zerstören. Es müsste Leider ist die Feindseligkeit gegenüber dem erlauben, dass auf iPhones und iPads andere Wettbewerb in der EU tief verwurzelt. Sie trifft Betriebssysteme als iOS nicht nur Unternehmen, Aus Sicht der EU liefen, und dürfte keine sondern auch ganze StaaApps mehr vorinstalliesind kleinere Unternehmen ten. Institutioneller Wettren. Ein Wahnsinn. Denn bewerb wird nicht geförvor der überlegenen Applenutzer schätzen ja dert, sondern bekämpft. Konkurrenzfähigkeit gerade die einzigartige Kompetitivere Staaten integrierte Apple-Welt. Die mit niedrigeren Steuern, größerer Unternehmen Käufer wollen die Ganzheit Defiziten, Schulden und zu schützen. des Produktes, Hardware Leistungsbilanzüberund Software mit ihrer Qualität, Funktionalität schuss sollen geschwächt werden. So klagen die und Kohärenz. Wenn die Kunden diese Ganzheit inkompetenteren EU-Staaten, Deutschland sei zu der Apple-Welt schätzen, warum sollen sie sich wettbewerbsfähig. Sie fordern von Deutschland nicht weiterhin daran erfreuen dürfen – egal ob höhere Lohnabschlüsse, höhere Staatsausgaben der Marktanteil 15 Prozent oder 80 Prozent ist? und Defizite sowie eine Vergemeinschaftung von Schulden und Bankrisiken. Aber auch auf StaaWarum gilt nicht das Gleiche für Google, das tenebene gilt: Wettbewerbsfähigkeit und Wohlmit den Produzenten verhandelt, sein Betriebsstand für alle entstehen in Freiheit und nicht system und Apps auf der Hardware vorzuinsdurch eine Inquisition gegen die Fähigsten zum ◆ tallieren, und somit seine Leistungswelt, die Schutz der Inkompetenten. Google-Welt, gegen Rivalen verteidigt? Wenn Apple seine Welt komplett abschottet, warum kann Google keine halboffene haben? Google zerstört durch seine Maßnahmen nicht den Wettbewerb, Google konkurriert. Warum wirft die EU-Kommission den fähigsten Wettbewerbern Knüppel zwischen die Beine? Weil die Kommissare es nicht ertragen können, dass in der digitalen Ära die US-amerikanischen Unternehmen triumphieren und die EU-europäischen auf der Strecke bleiben. Doch statt Facebook,
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„Anstatt die konkurrenzfähigsten Geschäftsmodelle zu verbieten, sollten staatliche Regulierungen und Privilegien gekappt werden“, sagt unser Autor Prof. Philipp Bagus. Diese ordnungspolitische Grundhaltung hat ihm nun den Förderpreis für Wirtschaftspublizistik 2016 der Ludwig-Erhard-Stiftung eingebracht. DER HAUPTSTADTBRIEF gratuliert herzlich! Einzelheiten über die Verleihung am Dienstag, dem 20. September 2016, in Berlin finden Sie auf der Website der Stiftung: www.ludwig-erhard-stiftung.de/erhard-aktuell/standpunkt
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THE BERLIN TIMES – A GLOBAL LOCAL NEWSPAPER Die publizistische Stimme Berlins in englischer Sprache. Die nächste Ausgabe erscheint am 13. Mai 2016. er Berlin ist als innovativ Technologie- und Wissenschaftsstandort eine dynamische Wirtschaftsregion Deutschlands. dt Die deutsche Hauptsta er m im erfindet sich wieder neu und gilt als Kreativmetropole en mit vielen Möglichkeit en. für Startup-Unternehm
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2016
THE BERLIN TIMES
hige bietet als englischsprac dt sta pt Zeitung aus der Hau eine einzigartige . publizistische Plattform Weltweit. Das ist Standortmarketing g. im internationalen Dialo
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people
ing the city m o v DER HAUPTSTADTBRIEF 51
PRIVAT
Max Thomas Mehr ist freier Autor. Im Jahr 1977 Mitbegründer der Tageszeitung taz, fühlt der Kreuzberger dem grünroten Milieu seither den politischen Puls. Für den HAUPTSTADTBRIEF beschreibt er, warum die aktuelle Schwerpunksetzung des Senats für den Wohnungsbau, die auf die Entwicklung von 12 zumeist innenstadtfernen neuen Wohnquartieren setzt, es dem Gewohnheitsprotest in Kreuzberg und Friedrichshain zu leicht macht.
Das kollektive Nein zum Neubau gehört zur Kiez-Folklore In den Szene-Bezirken ist der Widerstand besonders ausgeprägt: Es finden sich immer Bürgerinitiativen gegen den Wohnungsneubau. Bauen? Klar doch, aber nicht bei uns! | Von Max Thomas Mehr Berlin wächst. Allein in den letzten fünf Jahren stadtbezirken. Zurzeit scheint der Protest gegen um 220 000 Einwohner. Für die Zukunft geht Gentrifizierung und Wohnraumspekulation in den man im Senat von noch mehr Zuzüglern aus. einschlägigen Bezirken wie Kreuzberg oder FriedDie Wohnungsreserven sind bereits jetzt aufrichshain zwar in relativ ruhige Bahnen gelenkt. gebraucht. Die Mieten steigen rasant, doch der Doch die Regierenden wissen: Diese Bewegung Wohnungsneubau und die Verdichtung kommen hat starke Wurzeln – sie reichen zurück bis in nur schleppend voran. Andreas Geisel, sozialdie Hausbesetzerszene der späten 1970er-Jahre. demokratischer Senator für Stadtentwicklung Der Senator dürfte sich auch noch gut daran und Umwelt, hat jetzt zwölf neue Wohnungsbau erinnern, wie schnell etwa in Sachen Flughafen standorte, die meisten davon am Rande der Stadt, Tempelhof daraus ein reißender Strom wurde, für insgesamt 100 000 Bewohner vorgestellt, auf der seinen Vorgänger Michael Müller als Stadtdenen „ein wichtiger entwicklungssenator Wo sich die Szene Teil“ des Wachstums wegzureißen drohte. stattfinden soll. Bauen früher gegen die Zerstörung sollen die landeseiEinen solchen Konflikt gewachsener urbaner Strukturen genen Wohnungswollen die Verantwandte, verteidigt sie jetzt baugesellschaften, wortlichen jetzt wohl ebenso private Untervermeiden. Während ihren Vorgarten. nehmen, aber auch etwa in München oder Baugruppen oder Genossenschaften in Freiburg jeder Quadratzentimeter der Innenstadt sind aufgefordert, sich zu beteiligen. immer wieder daraufhin abgeklopft wird, ob da nicht doch Wohnungen gebaut werden könnten, Der Senat musste handeln; denn ein Ende des kämpft das grünrote Milieu in Berlins gefragten stetigen Bevölkerungswachstums ist nicht abzuInnenstadtbezirken um jede Pappel und gegen sehen – und auch nicht die zügige Rückkehr der jede Verdichtung. Im einstigen West-Berlin ist Migranten von 2015 in ihre Heimatländer. Warum der Widerstand besonders ausgeprägt. Ob es aber geht er mit solchen großen Projekten an den um die Randbebauung des Tempelhofer Feldes Stadtrand? Ein Grund dürfte die Hoffnung sein, oder um eine Baulücke am Kreuzberg geht, ob dass dort die Widerstände gegen Neubebauung um eine Brache am Kleistpark oder eine Kleinmerklich geringer sein werden als in den Innengartenkolonie in Wilmersdorf – wohlgemerkt:
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IMAGO/PEMAX
Brachflächen mitten in Berlin gibt es genug. Die wenigsten sind so weithin bekannt wie das Gelände um das ehemalige Kunsthaus Tacheles, auf dem in diesen Tagen, nach Jahren massiven Widerstands, die Bagger anrollen werden. Und etliche Brachen sind noch nicht einmal als Bauland ausgewiesen.
beste City-Lage! – es finden sich immer Bürgerinitiativen gegen die Bebauung mit Wohnungen. Und manchmal wird daraus ein Volksentscheid. Dieses kollektive Nein hat Tradition, es gehört gewissermaßen zur Berliner Kiez-Folklore. Und es treibt zuweilen seltsame Blüten. So formierten sich die Kreuzberger Grünen bis in die 1990erJahre hinein im entschlossenen Widerstand gegen den Ausbau von Dachgeschossen nach dem Motto: keine Verdichtung! Anderslautende Verwaltungsvorschriften wandelten Bezirkspolitiker der Grünen kaltschnäuzig um. So genehmigte das Bauamt etwa Fenster in einer Brandwand – und schrieb damit fest, dass auf dem angrenzenden Blockrandgrundstück in einer Straße am Kreuzberg kein neuer Wohnraum entstehen kann. Quer zur südlichen Friedrichstraße beispielsweise gibt es eine Kriegsbrache. In den 1970er-Jahren träumten Berlins Stadtentwickler von einer Stadtautobahn, die dort parallel zur Mauer gebaut werden sollte. Deshalb: Umwidmung in Straßenland. Dank Häuserkampf und behutsamer Stadterneuerung wurde diese Autobahn nie realisiert – die Brache aber gilt noch immer als Straßenland. Vor dem Krieg standen hier Wohn- und Geschäftshäu-
ser – die Grundmauern der Kellergewölbe sind noch vorhanden. Warum also wurde das Gelände nie in Bauland zurückverwandelt? Unterdessen baut man hier jedoch – einen kleinen Park. Noch ein Beispiel: das Areal der einstigen Bockbierbrauerei im beliebten Kreuzberger ChamissoKiez. Hier will ein Investor 140 Wohnungen – darunter „preisgedämpfte“ Mietwohnungen – bauen. Anwohner protestieren, das grün regierte Bezirks parlament beeilt sich mit dem Beschluss, das bisherige Mischgebiet in ein reines Gewerbegebiet umzuwandeln und so jeden Wohnungsneubau zu verhindern. Die Einsicht drängt sich auf: Wo sich der Widerstand der Szene früher gegen den Abriss alter Mietshäuser und damit gegen die Zerstörung gewachsener urbaner Strukturen wandte, verteidigt man jetzt ganz spießig seinen Vorgarten – oder den freien Blick aus dem Küchenfenster. Wer heute befriedeter ehemaliger Hausbesetzer ist, Miteigentümer in einer Hausgemeinschaft oder Altmieter einer mit öffentlichen Mitteln sanierten Wohnung mit nach wie vor günstiger Miete, kann bequem protestieren gegen Gentrifizierung und Spekulanten. Denn der Protestler von heute schlägt damit gleich zwei
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SENATSVERWALTUNG FÜR STADTENTWICKLUNG UND UMWELT, REFERAT I A, STADTENTWICKLUNGSPLANUNG
Senats-Schwerpunkte beim Wohnungsneubau Nach den aktuellen Senatsplänen sollen an 12 Standorten neue „Stadtquartiere“ entstehen – das kleinste mit 500 Wohnungen auf den Buckower Feldern im Süden der Stadt, das größte mit 5000 bis 6000 Wohnungen am Blankenburger Pflasterweg in Heinersdorf im Nordosten. Ziemlich jottwede, wie der Berliner sagt, sind sie fast alle: janz weit draußen.
Fliegen mit einer Klappe: Sein Eigentum wird wertvoller und seine Miete oder Pacht in Relation zu Neuvermietungen günstiger, je knapper der Wohnraum in der Innenstadt bleibt. Und am Rand der Stadt soll dafür jetzt geklotzt werden: 50 000 Wohnungen. Dort werden die großen städtischen Wohnungsbaugesellschaften, aber auch private Investoren mit viel Staatsknete „metern“, wie es in der Baubranche heißt. Allein die Ankündigung der neuen Siedlungsprojekte hat die Baupreise in ganz Berlin in die Höhe getrieben. Selbstverständlich legt der Senat Wert auf die Feststellung, dass er nicht Banlieues à la Paris zu bauen beabsichtige. Der
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Bausenator verkündete, er wolle keine öden Vorstädte hochziehen, sondern die „Gartenstadt des 21. Jahrhunderts“ entstehen lassen. Das Versprechen eines urbanen Schlaraffenlands am Stadtrand klingt verdächtig nach dem Versuch einer Quadratur des Kreises. Der Anteil an sozialem Wohnungsbau soll 30 Prozent betragen. Das klingt eher – trotz erkennbar guter Absichten – nach zukünftigen Problemvierteln. Denn es gibt an den meisten der geplanten Bebauungsschwerpunkten keine gewachsenen Strukturen und Anbindungen zur Innenstadt. Die Siedlungen drohen Satelliten am Rande Berlins zu bleiben; denn Urbanität lässt sich nicht aus dem Boden
stampfen. Sie ist das Ergebnis zahlloser individueller Interessen, zahlreicher persönlicher Versuche, das eigene Leben durch Arbeit und Investitionen zu gestalten. Sie entsteht nicht am Reißbrett – sie entsteht, wo Generationen von Menschen miteinander und in Konkurrenz zueinander Stadt gestalten, Geschäfte eröffnen, Häuser bauen. Und das Verrückte ist: Genau dafür gäbe es in der Berliner Innenstadt genug Platz. Nur lässt sich dann nicht großflächig bauen, sondern nur kleinteilig, Parzelle für Parzelle, Brache für Brache, Dachgeschoss für Dachgeschoss – und, ja, auch über Aufstockung als Mittel des Zugewinns von Wohnraum muss gesprochen werden. Eine solche Stadtentwicklung böte die Chance, zu einer sinnvollen, nachhaltigen Gentrifizierung zu gelangen – auch wenn das zunächst ebenfalls wie eine Quadratur des Kreises anmuten mag. Dennoch: Je mehr Wohnungen es in der Innenstadt gibt, desto günstiger müssten die Mieten werden
– Angebot und Nachfrage, wie eh und je: bezahlbare Mieten durch Verdichtung in der Innenstadt. Wenn sich nach den Wahlen im Herbst 2016 eine neue Koalition bildet, dann wäre zu wünschen, dass sie die Verdichtung und den Neubau in der Innenstadt zu einem Kernprojekt der nächsten Legislaturperiode macht. Wollten Grüne da zum Beispiel mitregieren, müssten sie sich selbst und ihre Wähler davon überzeugen, dass bezahlbare Mieten nur durch Wettbewerb, Verdichtung und Neubau in der Innenstadt möglich werden und nicht durch Besitzstandswahrung, Verhinderung und Verteidigung des Status quo. Wenn Politik das langsame Bohren dicker Bretter ist, wie der Soziologe Max Weber einst sagte, dann hat man in Berlin gerade bei den Politikern des grünroten Milieus, die in den innerstädtischen Bezirken das Sagen haben, allzu oft den Eindruck: Sie wollen nur den Bohrer halten – Löcher bohren, Neues ◆ schaffen, das wollen sie lieber nicht.
Limited Edition of 1000
Keyser Verlag
112 Seiten €49,90 ISBN 978-3-86886-033-7 keyser-verlag.com
„Robbies Abenteuer: Tracy Barnes hätte dir gefallen; nahm einen Fallschirm und sprang hinter den feindlichen Linien ab.“
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Barbara Hoidn ist Partnerin im Architekturbüro Hoidn Wang Partner und Herausgeberin des Katalogs „DEMO:POLIS: Das Recht auf Öffentlichen Raum“ zur gleichnamigen Ausstellung in der Akademie der Künste. Bernhard Schneider ist Architekt und Mitglied im Kuratorium des Vereins Architekturpreis Berlin. Für den HAUPTSTADTBRIEF stellen die beiden Mitglieder der „Initiative Kulturbaustelle“ bei der Stiftung Zukunft Berlin deren Engagement am Kulturforum vor.
Das Kulturforum bricht in die Zukunft auf Dem westlichen Pendant zur Museumsinsel stehen unruhige Zeiten bevor, Bauarbeiten werden auf Jahre das Bild bestimmen – die Stiftung Zukunft begleitet den Um- und Neubau | Von Barbara Hoidn und Bernhard Schneider Dieser Bau wurde geplant, bevor es die Mauer Es zeigt sich anfangs in den mittelalterlichen gab. Er ist den Mitbürgern im anderen Teil entgeUrsprungskernen Berlin und Cölln und prägt gengebaut. Und das wird sich erst recht als richtig später das Gegenüber und Miteinander von hiserweisen, wenn die Mauer nicht mehr steht.“ So torischer Stadtmitte um das Hohenzollernschloss eröffnete der Regierende Bürgermeister Willy und neuem Westen um die Gedächtniskirche. Brandt am 20. September 1963 die Philharmonie. Die Berliner Philharmoniker, kultureller AnkerSo findet auch die Museumsinsel in der Stadtpunkt im eingemauerten West-Berlin, hatten mitte, Anfang des 19. Jahrhunderts als „Freistatt wieder ein eigenes Haus, und was für eines! Das der Künste und Wissenschaften“ begonnen und Publikum nahm das unerhörte Raumwunder des heute Weltkulturerbe, ihr westliches Pendant Architekten Hans Scharoun begeistert in Besitz im Kulturforum, das seinen Ursprung im Geist und liebte es von Anfang an. Fünf Jahre später westlicher Moderne des 20. Jahrhunderts hat. kam eine weitere Großtat der modernen ArchitekSein Gründungsgedanke beschwor angesichts tur dazu, die „Galerie des der Teilung Berlins im KalDie Gründung 20. Jahrhunderts“, heute ten Krieg die irgendwann Neue Nationalgalerie, das wiedervereinte Gesamtdes Kulturforums letzte Werk von Mies van stadt und manifestierte beschwor angesichts der Rohe. Es folgten weizugleich den emphatischen der Teilung Berlins die tere staatliche Museen und Willen zu politischer und die Staatsbibliothek mit einst wiederzuvereinende kultureller Selbstbehaupdem Ibero-Amerikanischen tung der eingemauerten Gesamtstadt. Institut. Als bisher letzte westlichen Teilstadt. Zutat zum Kulturforum wurde 1987 der Kammermusiksaal der Philharmonie beigesellt. Ein Forum der Hauptstadt – mit nur zum Teil genutztem Potential. Ein tatsächliches 19. Jahrhundert und westliche Moderne – das Forum, ein kulturell aufgeladener öffentlicher zweipolige Berlin. Willy Brandts Eröffnungsrede Raum, in dem die Stadt im wörtlichen wie im von 1963 war bewegt von einer Gründungsidee übertragenen Sinn zusammenkommt, wurde für ein wiederzuvereinigendes Gesamtberlin. In allerdings auch nach dem Fall der Mauer aus der Wendung „den Mitbürgern im anderen Teil dem Areal rund um die Philharmonie nicht so entgegengebaut“ klingt auch das historische recht. Berlin hat sich dieser für sein kulturelBerliner Grundmotiv der zwei Stadtkerne an. les Leben und für die Wahrnehmung seiner
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Mit der Philharmonie fing alles an. Der markante Scharoun-Bau (rechts im Bild, davor im Anschnitt das Sony-Center) wurde 1963 eröffnet. Es folgten nach und nach unter anderem die Neue Nationalgalerie (oben links, mit Flachdach) und die Gemäldegalerie. Nun hat auf dem Kulturforum eine Zeit der Sanierung und Neubebauung begonnen – auf dem gelb markierten Areal soll das „Museum das 20. Jahrhunderts“ entstehen.
Hauptstadtfunktion unschätzbaren Ressource bisher nicht so bemächtigt, wie diese einzigartige Bündelung von Angeboten es verdient hätte – ja, das Kulturforum kam gar als öde „Brachfläche“ in Verruf. Dieser öffentliche Raum, so wie er jetzt ist, verbindet in der Tat seine Einrichtungen und die sie besuchenden Menschen nicht so recht, er hält sie auf Distanz. Es tut sich was am Kulturforum – Berlin baut. Nun zeigt auch der Deutsche Bundestag ein gesamtstaatliches Interesse am Berliner Kulturforum, und der Haushaltsausschuss hat 200 Millionen Euro für ein Museum für Sammlungen der Moderne des 20. Jahrhunderts bereitgestellt, das das vorhandene Angebot ergänzen soll. Zunächst warten jedoch auf die vorhandenen Kultureinrichtungen und ihre Besucher belastungs- und entbehrungsreiche Jahre. Die Neue Nationalgalerie wird wegen Sanierungsarbeiten noch für viele Jahre geschlossen bleiben. Die Freiflächen des Kulturforums werden Zug um
Zug umgestaltet werden. Auch die Philharmonie trägt sich mit Erweiterungsplänen, und ab 2020 wird die Staatsbibliothek einer Grundsanierung unterzogen. Eine Großbaustelle – auch und vor allem wegen des Bauvorhabens für das neue „Museum des 20. Jahrhunderts“ neben der neuen Nationalgalerie in dem Geviert von Potsdamer Straße, Sigismundstraße, Matthäikirchplatz und Scharounstraße. Das Beste daraus machen – die Initiative Kulturbaustelle. Die „Initiative Kulturbaustelle“ unter dem Dach der Stiftung Zukunft Berlin will mit kulturellen Aktivitäten und umfassender Information aus dem Handicap der Baustellensituation das Beste und damit bereits im Vorfeld Lust auf das Kulturforum der Zukunft machen. Das findet den Beifall aller umliegenden und von Bauaktivitäten betroffenen Einrichtungen. Auch die Senatsverwaltungen für Stadtentwicklung und für Kultur begrüßen die Initiative und begleiten sie in fachlicher und politischer Hinsicht.
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Die Baustellen selbst werden freilich nicht viel Aufregendes bieten. Im Unterschied zur vielbeachteten „Schaustelle“ der 1990er-Jahre am Potsdamer Platz geht es hier nicht nur um die Überbrückung misslicher Baustellenjahre, sondern um die grundlegende und nachhaltige Veränderung des Umgangs mit dem Kulturforum der Hauptstadt. Der öffentliche Raum des Kulturforums ist mit gleicher Intensität neu zu denken und zu planen wie die Bauten selbst. Und das nicht erst, wenn alles fertig gebaut und saniert ist, sondern schon jetzt während der Bauzeit. Prägnante Merkmale – was Kulturforum und Museumsinsel unterscheiden wird. Die „Initiative Kulturbaustelle“ will zwei prägnante Unterscheidungsmerkmale des Kulturforums gegenüber der Museumsinsel stärker herausstellen. Zum einen ist das die große Breite des hier versammelten kulturellen Repertoires, von den Kunstsammlungen über die
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Musik bis zum Universum des Buches und der iberoamerikanischen Welt. Die „Kulturbaustelle“ soll weitere Kultur- und Kunstsparten wie Tanz, Film, Theater und Performances ins Spiel bringen. Wechselnde temporäre Aktionen und Experimente sollen in Dialog treten mit den großen Institutionen am Kulturforum. Zum Zweiten soll stärker ins öffentliche Bewusstsein gelangen, wie beträchtlich das Kulturforum seit dem Fall der Mauer seinen Umfang bereits erweitert hat. Um den Potsdamer Platz hat der Film seine Adressen etabliert, nicht nur mit der jährlichen Berlinale, sondern auch mit dem Filmmuseum und großen Kinos. Diplomatische Vertretungen von Kanada bis Japan verstehen sich mit ihren nationalen Kulturinstituten als Partner der deutschen und Berliner Einrichtungen am Forum selbst. Auch Vertretungen von Bundesländern können in diesem erweiterten kulturellen Netzwerk um das Kulturforum aktiv
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werden. Eng mit der historischen Dimension des Gebiets verbunden sind schließlich auch die benachbarte Gedenkstätte Deutscher Widerstand und die Gedenkstätte T4 an der Philharmonie. Die Programme für den öffentlichen Raum zu entwickeln, wird Aufgabe von Kuratoren und eines Eventmanagements sein, das nicht nur Einzelereignisse organisiert, sondern in regelmäßigen Abständen und über Jahre das Kulturforum zu einem anregenden Anlaufpunkt für Kulturinteressierte machen wird. Wo und wann das zwischen den Baustellen der kommenden Jahre seinen Platz finden kann, wird jeweils vom Stand der Bauarbeiten abhängen. Sie sorgen für Abwechslung. Rundum-Information – die Zeit des Umbaus aktiv erleben. Angelpunkt der „Initiative Kulturbaustelle“ soll eine über die gesamten Baustellenjahre gut sichtbare und gut erreichbare One-StopInformationsstelle für das gesamte Kulturforum
werden. Dort können die Besucher alles erfahren, was es über das Kulturforum und alle seine Einrichtungen zu wissen oder zu fragen gibt. Aktuelle und geplante Angebote, Öffnungszeiten, Tickets, die Geschichte und Zukunft des Ortes – das alles wird hier verfügbar sein. Zumindest elektronisch werden Interessierte weiter ungehinderten Zugang zu den unerschöpflichen Schätzen der ◆ einzelnen Häuser bekommen.
Die Stiftung Zukunft Berlin, deren „Initiative Kulturbaustelle“ unsere beiden Autoren angehören, ist ein unabhängiges Forum für bürgerschaftliche Mitverantwortung zum Wohle Berlins. Mehr über die Aktivitäten der Stiftung unter www.stiftungzukunftberlin.eu Die Staatlichen Museen zu Berlin haben auf ihrer Website eine Infoseite zum Kulturforum unter www.smb.museum/museenund-einrichtungen/kulturforum/home.html Zu dem geplanten Neubau eines „Museums des 20. Jahrhunderts“ findet sich Näheres auf der Website der Stiftung Preußischer Kulturbesitz: www.preussischer-kulturbesitz.de
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Matthias Grünzig ist Wissenschaftlicher Fachexperte für Architektur, Stadtentwicklung und Denkmalpflege und Verfasser eines Buchs über die Potsdamer Garnisonkirche, das im Herbst 2016 im Berliner Metropol Verlag erscheinen wird. Für den HAUPTSTADTBRIEF gibt er einen Einblick in die Ergebnisse seiner historischen Forschung, die kein gutes Licht auf das Vorhaben eines Wiederaufbaus der Garnisonkirche werfen.
Bauen oder nicht bauen, das ist die Frage Nur wenige Bauvorhaben in Deutschland sind so umstritten wie der Wiederaufbau der Garnisonkirche in Potsdam | Von Matthias Grünzig Der totale Krieg, der in Potsdam seinen Ausfürworter allerdings nicht beeindrucken. Dergang nahm, fand am Ende in die Stadt zurück. zeit findet ein Bürgerbeteiligungsverfahren zur 1945 fielen das Zentrum und in dessen Mitte Garnisonkirche statt – der Ausgang ist offen. die Garnisonkirche bei einem Bombenangriff in Trümmer. Seit die freie Rede wieder möglich ist, Den Hintergrund des Konflikts bilden die seit 1990, wird in Potsdam über den Sinn eines Geschichte und die Symbolkraft des Gebäudes. Wiederaufbaus der Garnisonkirche kontrovers Die kurz vor Kriegsende im April 1945 zerstörte diskutiert. Nach einem Vierteljahrhundert zeichGarnisonkirche war eben keine „normale“ Kirche, net sich ab: Auf der Befürworterseite stehen sondern sie war schon lange vor dem berüchdie „Fördergesellschaft für den Wiederaufbau tigten „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933 und der Garnisonkirche Potsdam“ und die „Stiftung dem Händedruck zwischen Adolf Hitler und Paul Garnisonkirche Potsdam“, die sich bislang eher von Hindenburg ein politisches Symbol. Die erfolglos für das Projekt engagieren. Zwar fand Garnisonkirche war im frühen 20. Jahrhundert schließlich 2005 eine feierliche Grundsteinleder Symbolbau der extremen politischen Rechtsgung statt, doch kräfte schlechthin Die kurz vor Kriegsende 1945 weitere Baumaßund übte eine geranahmen scheiterdezu magnetische zerstörte Garnisonkirche ten an fehlenden Anziehungskraft auf war nie eine normale Kirche, Spendeneinnahmen. nationalistische, sie war immer Stattdessen wurde antisemitische und als Übergangslösung demokratiefeindliche ein politisches Symbol. am ursprünglichen Gruppierungen aus. Standort der Garnisonkirche eine Das Gebäude galt diesen Organisationen „Nagelkreuzkapelle“ errichtet. als „Heiligtum Preußen-Deutschlands“, als „heiliger Berg im verflachenden Alltag“, als Auf der anderen Seite stehen die Bürgerinitia„Wallfahrtsort von Millionen Deutschen“. tive „Für ein Potsdam ohne Garnisonkirche“ und die Initiative „Christen brauchen keine GarniDiese Symbolkraft hatte eine lange Vorgesonkirche“, die sich gegen den Wiederaufbau schichte. Die Garnisonkirche war bereits bei aussprechen. Dieses Engagement gipfelte 2014 ihrer Einweihung 1735 keine Kirche wie jede in einem erfolgreichen Bürgerbegehren gegen andere, sondern sie war die einzige Kirche in das Vorhaben. Von dem Nein der Potsdamer Preußen, die direkt dem König unterstellt war. Bevölkerung ließen sich die WiederaufbaubeHier fand eine Form der Religionsausübung statt,
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Die Novemberrevolution von 1918 ließ das Kaiserreich zusammenbrechen. Doch die Anziehungskraft der Garnisonkirche verblasste nicht. Im Gegenteil: Die Symbolkraft des Gebäudes wurde stärker als je zuvor. Denn nun entwickelte sich die Garnisonkirche zu einem wirkmächtigen Bollwerk gegen die Republik und ihre Symbole. Die junge Republik bezog ihre symbolische Legitimation aus dem Geist der Weimarer Klassik, dem „Geist von Weimar“, und aus der Distanzierung gegenüber der preußisch-deutschen Militärmonarchie. Bereits während der ersten Tagung der Weimarer Nationalversammlung am 6. Februar 1919 beschwor Friedrich Ebert den „Geist von Weimar“ als Alternative zur preußischen Militärtradition.
Das republikfeindliche Lager reagierte auf diese Umbrüche mit einer trotzigen Glorifizierung der preußischen Militärvergangenheit, die zu einem „Geist von Potsdam“ verdichtet wurde. Dieser „Geist“ war so unscharf und diffus, dass sich Republikfeinde aller Couleur mit ihm identifizieren konnten. Die Garnisonkirche wurde zum Inbegriff dieses „Geistes von Potsdam“ und entwickelte sich zum Pilgerort für deutschnationale und nationalsozialistische, für deutschvölkische und monarchistische Gruppierungen.
Trügerische Idylle: Was hier unschuldig im Sommerlicht steht, war einmal Wallfahrtsort für Dunkeldeutschland. Die Garnisonkirche in Potsdam zog Anhänger des autoritären Staates schon im Kaiserreich magisch an. Im Bild eine Aufnahme von 1904.
Den Auftakt markierte eine Veranstaltung der Deutschnationalen Volkspartei am 24. November 1919, die wegen ihrer aggressiven Tonlage deutschlandweit Aufsehen erregte. Der General Erich Ludendorff bejubelte in seiner Rede den preußisch-deutschen Militarismus, der das ganze deutsche Volk zu „Manneszucht, Pflichttreue und Vaterlandsliebe“ erzogen hätte. Der Pfarrer und spätere Nationalsozialist Johann Rump hetzte gegen die Demokratie und prophezeite den Sturz der Republik durch eine nationale Erhebung: „Dem Winter deutscher Schmach wird der Frühling deutscher Herrlichkeit folgen.“ WIKIPEDIA/ONAR
die bis in das kleinste Detail durch den König geregelt wurde. Diese Unterordnung sollte bis zum Ende des Kaiserreichs Bestand haben. In der Garnisonkirche verkündeten handverlesene Hofprediger den bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Kaiser und in Kriegen den Kampf bis zum letzten Blutstropfen, den Hass auf andere Völker, vor allem auf die Franzosen. Eine wachsende Rolle spielte die Diffamierung von demokratischen, liberalen und sozialdemokratischen Kräften, die als Mörder, Brandstifter und Diebe verunglimpft wurden. Diese Predigten machten die Garnisonkirche zu einem Identifikationsort des rechtsextremen politischen Lagers.
Diese Ideen sollten auch in den folgenden Jahren die Veranstaltungen der Garnisonkirche bestimmen. Immer wieder versammelten sich die Deutschnationale Volkspartei, der Reichskriegerbund „Kyffhäuser“, die „Vereinigten Vaterländi-
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PICTURE ALLIANCE/DPA/RALF HIRSCHBERGER
Über diese Geschichte ist noch kein Gras gewachsen: Seit Juni 2011 steht die „Nagelkreuzkapelle“ (im Hintergrund rechts) auf dem Gelände der einstigen Garnisonkirche, ein temporäres Gebäude mit Blick auf freigelegte Fundamente, vorn im Bild erinnert ein gemauerter Gewölbebogen an die zerstörte Kirche.
schen Verbände“, der „Bund Königin Luise“ und andere republikfeindliche Organisationen in dem Gebäude. Ein besonders gern gesehener Gast war der „Stahlhelm-Bund der Frontsoldaten“. Der „Stahlhelm“ war eine rechtsradikale Wehrsportorganisation, die antisemitische Hetze mit einer fast schon obsessiven Verherrlichung des Krieges verknüpfte. Bereits während der Weimarer Republik propagierte der „Stahlhelm“ Boykottaktionen gegen jüdische Gewerbetreibende.
gestellte „Heilig-Kreuz-Haus“, das als Ersatz für die Garnisonkirche errichtet wurde. Hier fanden in den 1970er- und 1980er-Jahren Veranstaltungen statt, die dem Frieden und der Demokratie verpflichtet waren. Das „Heilig-Kreuz-Haus“ wurde seinerseits zum Symbol – für eine demokratisch geläuterte Kirche. Der Anstoß für den Wiederaufbau der Garnisonkirche kam daher auch nicht aus Potsdam, sondern aus Iserlohn, wo 1984 die „Traditionsgemeinschaft Potsdamer Glockenspiel“ gegründet wurde.
Der „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933 machte die Garnisonkirche schließlich weltberühmt. Doch dieser Tag war eben kein „Ausreißer“, sondern nur der Höhepunkt einer langen antidemokratischen Tradition. Während der NS-Zeit diente die Garnisonkirche als Weihestätte nationalsozialistischer Organisationen. Fahnenweihen, Gautage und Feierstunden der NSDAP wechselten sich nun in rascher Folge ab.
Die fatale Rolle der Kirche als politische Bühne gibt der Wiederaufbaudebatte eine besondere Schärfe. Verstärkend kommt hinzu, dass die Wiederaufbaubefürworter widersprüchliche Signale aussenden. Einerseits betonen Stiftung und Fördergesellschaft immer wieder, dass an diesem belasteten Ort an die Schrecken von Nationalismus und Krieg erinnert werden soll. Auf der anderen Seite aber wird die Geschichte der Garnisonkirche nach Kräften verharmlost und retuschiert. Zum Beispiel wurde 2014 mit Unterstützung der Stiftung das Buch „Pflugscharen zu Schwertern – Schwerter zu Pflugscharen“ herausgebracht. Dieses Buch von Anke Silomon blendet die umfangreiche politische Nutzung der
Nach 1945 änderte sich die Situation grundlegend. Die Zivilgemeinde der Garnisonkirche, die sich nun Heilig-Kreuz-Gemeinde nannte, distanzierte sich von den Traditionen der Garnisonkirche. Sichtbares Zeichen dieser Umkehr wurde das 1974 fertig
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Garnisonkirche während der Weimarer Republik und während der NS-Zeit fast vollständig aus.
Der Widerstand gegen den Wiederaufbau der Garnisonkirche lässt sich im Internet verfolgen auf den Websites der Projektgegner: www.ohnegarnison kirche.wordpress.com und: www.christen-brauchen-keine-garnisonkirche.de Auch die Befürworter sind netzaktiv: www.garnisonkirche-potsdam.de
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Emil Nolde. WEISSE WOLKEN. 1926. Öl auf Leinwand. 73,2 × 88 cm. Signiert. Urban 1034. Provenienz: Adalbert und Thilda Colsman. © Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde. Schätzpreis EUR 1.200.000–1.600.000
2015 fand in der Nagelkreuzkapelle die Premiere des Films „Geheimnisvolle Orte – die Potsdamer Garnisonkirche“ statt. Dieser Film von Joachim Castan behauptet wahrheitswidrig, dass der Händedruck zwischen Hitler und Hindenburg in der Garnisonkirche nicht stattgefunden hätte. Stattgefunden hätte lediglich ein kurzer Händedruck vor der Garnisonkirche, und dieser wäre auch nur ein flüchtiger Handschlag ohne jede Bedeutung gewesen. In die gleiche Richtung zielt das Buch „Die Garnisonkirche Potsdam – Krone der Stadt und Schauplatz der Geschichte“, das Ende 2015 von der Fördergesellschaft herausgegeben wurde. Auch dessen Autor Andreas Kitschke behauptet, dass der Händedruck in der Garnisonkirche am „Tag von Potsdam“ nicht stattgefunden hätte. Hitler hätte am „Tag von Potsdam“ sogar eine „Demütigung“ erfahren.
Der Argwohn gegen das Wiederaufbauprojekt wird durch solche Geschichtsdeutungen nicht geringer. Im Gegenteil: Viele Wiederaufbaugegner haben nun erst recht den Eindruck, dass am Standort der Garnisonkirche eben kein Ort des Gedenkens an die Verbrechen von radikalem Nationalismus und Krieg beabsichtigt ist, sondern dass ein Symbol der Restauration und schleichender Geschichtsrevision entstehen soll. Potsdam und der totale Staat – im „Geist von Potsdam“ fanden beide zusammen und in der Garnisonkirche ihren Ort, bis der totale Krieg sie zertrümmerte. Die Garnisonkirche, das ◆ war Dunkeldeutschland.
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STADTMUSEUM BERLIN/MICHAEL SETZPFANDT
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Irena Nalepa (links) ist im Kunsthandel tätig. Sie war Gründerin der Galerie Nalepa und Geschäftsführerin der Galerie Schoen+Nalepa in Berlin. Dr. Martina Weinland ist Abteilungsdirektorin des Stadtmuseums Berlin. Für den HAUPTSTADTBRIEF sprachen die beiden über die Ausstellung „Berlin – Stadt der Frauen“ im Ephraim-Palais.
Zwanzig Berlinerinnen, denen es gelang, die „gläserne Decke“ zu durchbrechen Die Ausstellung „Berlin – Stadt der Frauen“ lässt die Lebenswege und Leistungen von zwanzig bemerkenswerten Berlinerinnen lebendig werden | Von Irena Nalepa In Berlin ist, wie fast überall in der Welt, Ausstellungsfläche mit immerhin über 700 QuaGeschichte lange Zeit von Männern geschrieben dratmetern und 14 Ausstellungsräumen nicht worden. In Politik und Verwaltung, in Wirtschaft ausgereicht. Zudem hatten wir die Aufgabe, und Wissenschaft, in Kunst und Kultur taten sich in diesem Zusammenhang an das 150-jährige ganz überwiegend Männer hervor – auf Frauen Jubiläum des Lette-Vereins zu erinnern, der lastete der politische und gesellschaftliche 1866 in Berlin gegründet worden ist mit dem Zwang, sich auf die drei K aus Küche, Kindern, Ziel, als „Verein zur Förderung der ErwerbsfäKirche zu beschränken. Aber es gab Ausnahmen, higkeit des weiblichen Geschlechts“ zu wirken. besonders in Berlin. Die Ausstellung „Berlin – Insofern lag es nahe, Frauen auszuwählen, die Stadt der Frauen“ im Ephraim-Palais stellt zwanim Lette-Verein aktiv tätig waren oder ihm nahezig von ihnen aus den hundert Jahren zwischen standen. Ferner war uns wichtig, die letzten 150 1850 und 1950 vor. Im Gespräch mit Irena Nalepa Jahre abzudecken und mit der Auswahl auch erläutert Martina Weinein allgemeines Zeitdoland, Abteilungsdirektokument vorzulegen. Frauen wurden erst 1908 rin Sammlung des Stadtzum Universitätsstudium museums Berlin, die Beim Ausstellungszugelassen und erhielten Hintergründe und Highrundgang ertappt man lights der Ausstellung. sich in der Rolle des erst 1918 das Wahlrecht. neugierigen Voyeurs. IRENA NALEPA: Wie sind Sie auf die zwanzig porDie inszenierten Räume und lebendig nachgeträtierten Frauen gekommen – und wie schwierig zeichneten Lebenswege der couragierten Frauen war es, ein so komplexes Thema in einer kulturmachen die damalige Atmosphäre und die Wüngeschichtlichen Ausstellung sichtbar zu machen? sche und Träume der Porträtierten spürbar. MARTINA WEINLAND: Das ist tatsächlich schwie- Ja, das war auch unsere Intention bei der Ausstelrig gewesen; denn wen wählt man aus und wen lung. Wir haben alle „unsere Frauen“ sehr ins Herz lässt man weg? Das Ausstellungsprojekt „Berlin geschlossen. Wir wollten nicht nur die Biografien – Stadt der Frauen“ liegt im Grunde genommen und ihre Pionierleistungen erzählen. Wir haben auf der Hand; denn jeder zweite Berliner ist versucht, in der jeweiligen Biografie die Zäsur, die eine Frau. Eigentlich hätten wir eine Ausstellung Krise aufzuspüren und auch darzustellen – also mit und über rund 1,5 Millionen Berlinerinnen die Momente, in denen bei diesen Frauen der machen können. Dafür hätte freilich unsere vorgezeichnete Lebensweg, ob durch politische
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JEANNE-MAMMEN-STIFTUNG
ARCHIV GERDA SCHIMPF BERLIN
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DEUTSCHES HISTORISCHES MUSEUM/OLIVER ZIEBE
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BPK/LISELOTTE ORGEL-KÖHNE
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Selbstverwirklichung, den gesellschaftlichen und politischen Widerständen zum Trotz: ❶ Fritzi Massary, legendärer Berliner Bühnenstar – ❷ Louise Schroeder, Berlins erste und bisher einzige Bürgermeisterin – ❸ Anni Mittelstädt, Vorsitzende des Klubs der Berliner Trümmerfrauen – ❹ Katharina Heinroth, Berlins erste und bisher einzige Zoodirektorin – ❺ Elly Beinhorn, Flugpionierin – ❻ Jeanne Mammen, Malerin und Bildhauerin.
Einflüsse von außen oder durch die persönlichen Lebensumstände, eine Wendung erfährt. Es fällt auf, dass alle vorgestellten Frauen aus der bürgerlichen Schicht stammen. Das stimmt, man könnte die Ausstellung auch mit „Emanzipation durch Bildung“ betiteln; denn wir sprechen hier von sehr emanzipierten Frauen. Die Voraussetzungen und Möglichkeiten dafür, dass sie lesen, schreiben und eigenständig denken und handeln konnten, waren
damals vorrangig im Bürgertum gegeben. Nur so konnte es einzelnen Frauen gelingen, die „gläserne Decke“ zu durchstoßen, die den Weg ins Licht der Öffentlichkeit versperrt. Zu Beginn der Ausstellung zeigen Sie in einer angestrahlten Glasvitrine ein Korsett, das beeindruckend und bedrohlich zugleich wirkt. Was hat es damit auf sich? Mit dem Korsett wollen wir auf die zahlreichen Zwänge hinweisen, von denen Frauen sich einge-
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FRIEDHELM ORIWOL-STIFTUNG, WALCHENSEEMUSEUM URFELD/OLIVER ZIEBE
schränkt sahen. So wurden etwa Frauen erst 1908 zum Universitätsstudium zugelassen und haben erst 1918 das Wahlrecht erhalten. Diese und weitere Restriktionen gegen Frauen haben wir auf den Korsettstäben festgehalten, beispielsweise dass bis 1958 der Ehemann das Recht hatte, den Arbeitsvertrag einer Frau zu kündigen, oder dass Frauen bis 1962 kein eigenes Bankkonto eröffnen konnten.
loren hat. Nicht zu vergessen ist Katharina Heinroth (1897-1989), die erste Zoodirektorin in Berlin. Es gelang ihr, in diese Männerdomäne einzudringen, weil es der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg an männlichen Fachleuten mangelte. Das traf auch auf die bisher einzige Oberbürgermeisterin Berlins, Luise Schroeder (1887-1957), zu.
Verlangt das nicht nach einer FolgeAusstellung zu den Selbstbildnis, dem Malverbot zum Trotz: Charlotte BerendCorinth, Ehefrau des Malers Lovis Corinth, fertigte dieses Selbst- Lebensumständen porträt 1921 – heimlich, weil gegen den Willen ihres Mannes. Alle zwanzig der zeitgenössischer Nach dessen Tod 1925 betreut sie seinen Nachlass, malt und porträtierten Frauen Frauen, da doch zeichnet und gründet eine Malschule. 1939 geht sie ins amerikanische Exil, wo sie weiter künstlerisch erfolgreich ist und eine haben die gesellauch heute noch eigene Malschule betreibt. schaftlichen KorsettUnternehmen und stäbe zerbrochen. Sie führten trotz Höhen und Chefetagen von „Boy Groups“ dominiert sind? Tiefen ein selbstbestimmtes Leben. Welche der Die Filmemacherin Helge Sander-Brahms hat Pionierinnen hat Sie am meisten beeindruckt? mich darauf hingewiesen, dass 2018 in diesem Ich kann nur sagen: Hut ab vor jeder dieser Zusammenhang ein interessantes Doppeljubiläum Frauen. Jeanne Mammen (1890-1976) etwa konnte ansteht: das hundertjährige Wahlrecht für Frauen sich selbständig mit ihrer Kunst ernähren. Doch in Deutschland seit 1918 – und vor 50 Jahren der 1933 will sie mit dem „braunen Pack“ nichts zu Beginn der Nachkriegs-Frauenbewegung 1968. tun haben und zieht sich komplett in die innere Das Jahr 2018 gibt also tatsächlich gebührend Emigration zurück. Sie verliert ihre AuftraggeAnlass, eine weitere Ausstellung über Frauen zu ber und damit ihre Existenzgrundlage. Bis 1945 machen, mit anderen Themen und Zeitverläufen – hält sie sich mit Gelegenheitsarbeiten über Berliner Geschichte auf der Blickachse der Frauen ◆ Wasser – und behält bis zu ihrem Tod 1976 ihre von heute. unangepasste Gradlinigkeit bei. Oder Clara von Simson (1897-1983): Sie hat eine kolossale WisBerlin – Stadt der Frauen. senschaftskarriere gemacht, nach dem Zweiten Ephraim-Palais, Poststraße 16, Weltkrieg wurde sie Direktorin des Lette-Vereins. 10178 Berlin. Bis 28. August 2016, geöffnet Dienstag und Eines meiner Lieblingszitate ist das der SchriftDonnerstag bis Sonntag von 10 stellerin Hedwig Dohm (1831-1919), deren Motto bis 18 Uhr, Mittwoch 12 bis 20 Uhr. Eintritt 6 Euro, ermäßigt 4 „Werde die, die Du bist“ aus dem Jahr 1874 einen Euro, bis 18 Jahre und jeden 1. permanenten Entwicklungsprozess beschreibt Mittwoch im Monat Eintritt frei. www.stadtmuseum.de/ausstellungen/berlin-stadt-der-frauen und somit bis heute seine Gültigkeit nicht ver-
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Donnerstag, 21. Juli, 19.30 Uhr
First NightHighlights – Die Jubiläumsgala aus 25 Jahren In Zusammenarbeit mit dem Rundfunk Berlin–Brandenburg (rbb)
– Großes Feuerwerksfinale – Freitag, 22. Juli, 19.30 Uhr
Wiener Blut – von Strauß bis Udo Jürgens Traummelodien aus Oper, Operette, Musical & Austropop Samstag, 23. Juli, 19.30 Uhr
Die Welt der Oper in Licht und Feuer Die große Operngala mit Werken von Verdi, Rossini, Wagner, Donizetti, Bizet Sonntag, 24. Juli, 19.30 Uhr 25 Jahre – Das Konzerthausorchester gratuliert
Gershwin, Bernstein & Friends Cameron Carpenter, Ray Chen u.v.m. Montag, 25. Juli, 19.30 Uhr
Chris de Burgh
Ein Weltstar gratuliert zum 25. Jubiläum
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