Armenien & Deutschland
Deutsche Verfassung auf den Kopf gestellt Cem Özgönül und der Völkermord an den Armeniern VON WOLFGANG GUST Landauf, landab wird in türkischen Kreisen ein Mann gefeiert, der es den Deutschen so richtig gegeben hat: Cem Özgönül, ein deutsch-türkischer Akademiker, will mit seinem Erstlingswerk „Der Mythos eines Völkermordes“1 den „wissenschaftlichen“ Beweis liefern, dass der Genozid an den Armeniern 1915/16 nichts anderes war als ein Gespinst - vor allem von Deutschen. Das Buch soll eine Ohrfeige sein für die deutschen Bundestagsabgeordneten, die damaligen deutschen Diplomaten und die heutigen Publizisten. Einen wahren Teufel aber sieht Özgönül in dem Theologen und Missionar Johannes Lepsius, der Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts lebte und gleich mehrere Todsünden begangen hatte: Er hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts auf die Seiten der von den Osmanen geschundenen Armenier gestellt und ihnen tatkräftig geholfen. Dann hatte er praktisch als einziger deutscher Publizist noch während des Ersten Weltkriegs die deutsche Öffentlichkeit davon informiert, dass die jungtürkischen Verbündeten den Krieg dazu nutzten, die Armenier im Osmanischen Reich endgültig auszurotten, nachdem der von ihnen gestürzte osmanische Sultan es zuvor mit landesweiten Massakern jahrzehntelang versucht hatte. Der Gipfel sei dann die Resolution des deutschen Bundestags vom vergangenen Jahr, in der quasi im Namen von Lepsius die Türkei aufgefordert wird, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen, auch wenn der nicht expressis verbis in dem einstimmig verabschiedeten Text der deutschen Parlamentarier so genannt wurde. Johannes Lepsius, so die These Özgönüls, habe seine Hände überall im Spiel gehabt. Erst habe er die deut1
Cem Özgönül: Der Mythos eines Völkermords - eine kritische Betrachtung der Lepsiusdokumente sowie der deutschen Rolle in Geschichte und Gegenwart der ‚Armenischen Frage’“; Köln, 2006 [? (keine Jahresangabe im Impressum)].
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sche Politik dahin gelenkt, dass die Armenier ins Schussfeld der regierenden Jungtürken gerieten, dann habe er seine Leute als „armenische Spione“ und „Berater“ in die deutsche Botschaft in Istanbul eingeschleust und schließlich über ein von ihm aufgebautes Missionars-Netzwerk dafür gesorgt, dass nur Berichte in seinem Sinn verfasst würden, die er dann von Skandinavien bis nach Südamerika verbreitete. Nach dem Krieg habe er auch noch die Dokumente des Auswärtigen Amtes manipuliert und sie 1919 als Aktensammlung herausgegeben. Mehr noch: Auch die inzwischen herausgegebenen bereinigten deutschen Original-Akten2 seien nichts wert, denn Lepsius habe auch bei den deutschen Diplomaten schon in die Entstehung der Berichte eingegriffen und sie verfälscht. Diesem Lügengewebe des Johannes Lepsius säßen die Historiker aller Welt bis heute auf und eben auch die deutschen Parlamentarier, denn sie hätten sich auf Lepsius berufen. Mit anderen Worten: Nicht die Türken haben einen Völkermord begangen, sondern Lepsius habe einen vorgetäuscht. Nun kann man durchaus auch einen Missionar und Menschenfreund wie Johannes Lepsius kritisieren, denn die deutsche Lepsius-Forschung hat leider die politischen Hintergründe ihres Protagonisten systematisch ausgeklammert. Der von mir erstmals geführte Nachweis einer geheimdienstlichen Tätigkeit von Lepsius zum Kriegsende hin brachte mir von Seiten der Lepsius-Forscher den Vorwurf „unethischen“ Handelns ein. In der Folgezeit habe ich intern meine Bedenken angemeldet, dass ein Mann, der die Weimarer Demokratie verachtete („Knochenerweichung“), vehement für eine Rückkehr der Hohenzollern und nach dem Ende imperialistischer deutscher Träume, die er mit genährt hatte, für Großdeutschland eintrat, nicht eines der überra2
Wolfgang Gust (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe, 2005. A D K
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genden Vorbilder für die heutigen Deutschen sein kann, zu dem ihn die Lepsius-Forschung zu machen versucht. Doch gerade weil ich einer der wenigen Kritiker des Politikers Johannes Lepsius in Deutschland bin, kann und muss ich zur LepsiusDarstellung des Autors Özgönül sagen, dass sie geradezu grotesk ist. Wer Geschichte in Form einer Verschwörungstheorie lesen will, dem sei dieses Buch empfohlen. Cem Özgönül erweist sich als ein Meister der Verdrehungen und Verfälschungen - und wissenschaftlichen Bräuchen durchaus abgeneigt. Seine angeblich von ihm aufgedeckten Manipulationen deutscher Dokumente habe ich bereits vor sechs Jahren Dokument für Dokument im Internet (www.armenocide.net) publiziert. Özgönül hat diesen Manipulationen nicht eine einzige hinzugefügt. Und er hat sich nicht nur diese Vorarbeit zu Nutzen gemacht, sondern unsere Texte ohne Quellenangabe heruntergeladen, um sie als eigene auszugeben, wie ich in einer erweiterten Fassung dieses Artikels in unserem Internet-Portal detailliert nachweisen werde. Selbst Originaldokumente hat er nicht selbst erfasst, sondern abgeschrieben. So viel schon einmal zur „wissenschaftlichen“ Arbeitsweise des Autors, auf die er sich immer wieder beruft. Die Massenmorde des osmanischen Sultans Abdul Hamid in den Jahren 1894 bis 1896 an den Armeniern seines Machtbereichs hatte Johannes Lepsius mit seinem Werk „Armenien und Europa“ in Deutschland bekannt gemacht und dazu beigetragen, dass die Armenier vornehmlich als christliche Brüder angesehen wurden und nicht nur als eine der vielen Völkerschaften des Orients. Deutsche Missionsvereine bauten - wie zuvor schon französische, englische und vor allem amerikanische - in der Türkei Hilfswerke für armenische Witwen und Waisen auf, darunter Johannes Lepsius mit der von ihm 1900 gegründeten Deutschen Orient-Mission. Auch politisch setzte sich Lepsius in Deutschland für die Armenier ein, doch bildeten er und seine Freunde Jg. 2006 / Heft 1 & 2