Die Jenaer Hofvernissagen 1986–1989

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Die
1986–1989
Jenaer Hofvernissagen

Die Jenaer Hofvernissagen 1986–1989

Autonome Kunst und Kultur in der späten DDR

Herausgegeben von Katharina Kempken und Michaela Mai unter Mitarbeit von Anna Ebert für das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ und den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena

4 Inhalt

Katharina Kempken

Der Hinterhof als kommunikativer Ort. Entstehung und Entwicklung der Jenaer Hofvernissagen 14

Yvonne Fiedler

„Immer diese Künstler bewundert“. Private Galerien in den späten Jahren der DDR 70

Michaela Mai

„… etwas grundlegend eigenes“. Die Jenaer Hofvernissagen als Knoten im Netzwerk einer ‚anderen‘ Kultur in der DDR 80

Anna Ebert und Michaela Mai

Kunstwerke aus drei Jahrzehnten –von den Jenaer Hofvernissagen in die Gegenwart 98

Autorinnen 152

Impressum 156

5 Vorwort 8
8 Vorwort

Die Jenaer Hofvernissagen sind kein singuläres Phänomen in der DDR. Immer hat es Künstler:innen gegeben, die ‚gegen den Strich‘ gearbeitet haben, sich frei gemacht haben von kulturpolitischen Vorgaben. Insbesondere seit den 1980er Jahren drangen solch vormals im Klandestinen verharrende Aktivitäten zunehmend nach außen in den (halb-)öffentlichen Raum und schufen lebendige Orte der Kunst, der Kultur und des alternativen Lebens, die nach außen wirkten. Selbst wenn bereits zahlreiche Publikationen zu ‚autonomer‘, ‚unangepasster‘ oder ‚rebellischer‘ Kunst erschienen sind — zu Kunst und Künstler:innen, die sich den staatlichen Vorgaben nicht gebeugt haben —, bleibt bis heute das Bild von einer normierten Kultur in der DDR sehr prä sent. Dabei sind all jene oftmals als ‚nonkonform‘ benannten Aktivitäten im Kontext der SED-Diktatur und deren Niedergang von immenser Bedeutung, denn sie bildeten Keimzellen des Widerständigen, die sich zu einem DDR-weiten Netzwerk fügten. So trugen sie zur Herausbildung einer zweiten Öffentlichkeit bei, deren Impulse für ge sellschaftliche und politische Veränderungsprozesse nicht zu unterschätzen sind. Sind die Jenaer Hofvernissagen also auch kein singuläres Phänomen in der späten DDR, so bieten sie doch das Potenzial, exemplarisch die Bedeutung ‚anderer‘, auto nomer, widerständiger, von der sogenannten ‚Staatskunst‘ abweichende Formen von Kunst und Kultur in der DDR zu vermitteln und den Blick auf freie Kunstausübung innerhalb der SED-Diktatur freizulegen.

Die Jenaer Hofvernissagen werden in bislang publizierten Überblickstexten stets erwähnt, verharren jedoch meist im Status einer Marginalie. Vollständig aufgearbeitet wurde dieses Beispiel für autonome Kunst und Kultur in der DDR keinesfalls — bis jetzt. Die Geschichte der Jenaer Hofvernissagen wird in diesem Katalog zur Ausstellung Autonome Kunst und Kultur in der späten DDR. Die Jenaer Hofvernissagen 1986-1989 en détail dargestellt. Dabei konnte aus den Beständen des Thüringer Archivs für Zeit geschichte „Matthias Domaschk“ (ThürAZ) geschöpft werden. Diese Institution hat sich zu Beginn der 1990er Jahre zur Aufgabe gemacht, Dokumente der Repression durch das Ministerium für Staatssicherheit zu sammeln und aufzubewahren. Seit Mitte der 1990er Jahre stehen die Überlieferungen der Opposition und des Wider standes im Mittelpunkt der Sammlungstätigkeit. So befinden sich auch zahlreiche Quellen und Dokumente zu den Jenaer Hofvernissagen im Bestand des ThürAZ, die im Zuge der Vorbereitung von Ausstellung und Katalog eingeworben, ausgewertet und aufbereitet wurden. Für das Projekt schloss sich das ThürAZ mit dem Teilprojekt Kunst zur ‚Wende‘-Zeit. Künstlerische Reflexionen des Umbruchs 1989/90 und der DDR-Transformation des BMBF-Forschungsverbundes „Diktaturerfahrung und Trans formation“ als Kooperationspartner zusammen. Im interdisziplinären Zusammenwirken von Archiv und Forschungsverbund sowie durch vielfältige Beiträge und Impulse von Zeitzeug:innen konnte das Projekt schließlich umgesetzt werden.

Von den konkreten Ereignissen der Jenaer Hofvernissagen ausgehend stellt Kempken in ihrem Aufsatz detailliert die Ergebnisse ihrer Forschungen dar. Hierfür wurde das im Archiv gesammelte und zusätzlich recherchierte Material sowie eigens für das Projekt geführte Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aufgearbeitet. Zahlreiche Abbildungen und Auszüge aus historischen Quellen veranschaulichen die Geschichte und Entwicklung der Jenaer Hofvernissagen. Deutlich wird in ihrem Beitrag, wie sich Programm, Bedeutung und Wirkung nach außen im Laufe der Jahre entwickelten. An dieser Stelle sei Dr. Rüdiger Stutz gedankt, der die Ergeb nisse eigenständiger Quellenrecherchen in den Aufsatz von Katharina Kempken einbrachte. Seine Befunde belegen im Einzelnen, wie ein geheimes Flechtwerk aus SED-Funktionären des Rates der Stadt Jena, insbesondere der 1. Stellvertretenden Oberbürgermeisterin, und Mitarbeitern der Staatssicherheit 1988/89 versuchte, die Jenaer Hofvernissagen zu unterbinden. Durch die Zusammenführung der Perspek tiven von an den Hofvernissagen Beteiligten und staatlichen Institutionen ergibt sich ein spannender Blick in vielgestaltige Aushandlungsprozesse zwischen Staat und Gesellschaft. Dass es bei den Jenaer Hofvernissagen um weit mehr als um Ausstellungen ging, zeigt Katharina Kempken auf, wobei sie nachvollziehbar macht,

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inwiefern die Jenaer Hofvernissagen zur Herausbildung einer Gegenöffentlichkeit in der DDR beigetragen haben.

Den Blick weitet der Beitrag von Yvonne Fiedler, die den Fokus auf ähnli che, doch anders geartete Aktivitäten in anderen Städten richtet und die Jenaer Hofvernissagen so in einem breiteren Kontext verortet. Am Beispiel der Galerie De‘loch und der ACC Galerie Weimar verweist sie auf die Allgegenwärtigkeit dieser gegenkulturellen Phänomene, die sie zuvor umfassend in ihrer Publikation Kunst im Korridor. Private Galerien in der DDR zwischen Autonomie und Illegalität dar gestellt hat. In dieser Publikation werden die Jenaer Hofvernissagen bereits in Grundzügen vorgestellt und die Aktivitäten von freien Kulturakteur:innen in der DDR überregional beleuchtet.

Die Hofvernissagen als Phänomen einer ‚anderen‘ Kultur in der DDR beleuchtet Michaela Mai, wobei sie die Jenaer Veranstaltungen als Artikulationen des Wider ständigen betrachtet. Dabei werden die Jenaer Hofvernissagen im in/offiziellen Kul turbetrieb der DDR verortet und das Verhältnis von Kunst und Politik in der DDR, aber auch in aktuellen Diskursen über Kunst aus der DDR diskutiert. Schlussendlich steht die Frage im Zentrum, welche Bedeutung den Jenaer Hofvernissagen als Keimzellen demokratischer und pluralistischer Tendenzen auf dem Weg zum Umbruch 1989/90 zukommt, — ebenso wie die Frage nach der Haltbarkeit von Begrifflichkeiten, die den Diskurs über die ‚andere‘ Kunst in der DDR auch heute noch bestimmen.

In einem letzten Kapitel skizzieren Anna Ebert und Michaela Mai die individuellen Schaffenskontexte und Arbeitsbedingungen der an den Hofvernissagen beteiligten Künstlerinnen und Künstlern in den 1980er Jahren. Ausgehend von Kunstwerken aus der Zeit der Hofvernissagen spannen sie anhand von Bildbetrachtungen den Bogen über die ‚Nachwendezeit‘ bis in die Gegenwart. So gehen sie an ausgewählten Bei spielen der Frage nach, inwiefern sich mit dem Wandel der staatlichen Strukturen Brüche oder Kontinuitäten im Œuvre und der künstlerischen Praxis feststellen lassen und wohin sich die Künstler:innen bis heute entwickelt haben.

Dank gilt allen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die ihre Erinnerungen mit uns geteilt haben, Fotografien, Plakate, Texte oder Dokumente zur Verfügung gestellt und dem ThürAZ überlassen haben. Auch den Leihgeber:innen von Kunstwerken sei gedankt. Besonderer Dank gebührt den Künstlerinnen und Künstlern, die uns Werke aus drei Jahrzehnten für die Ausstellung zur Verfügung gestellt haben, Gespräche mit uns geführt haben und uns einen Einblick in ihr Schaffen gewährt haben.

Dank gilt auch dem Team des Trafo für das Herrichten und Stellen der Räumlich keiten dieses lebendigen Ortes freier Kultur.

Unser Dank gilt insbesondere den fördernden Institutionen: dem städtischen Kulturbetrieb JenaKultur für die Finanzierung der Vorarbeiten, der Kulturstiftung Thüringen für die Unterstützung der Ausstellung sowie der Bundesstiftung zur Auf arbeitung der SED-Diktatur und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für die Finanzierung von Ausstellung und Katalog.

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Michaela Mai

Der Hinterhof als kommunikativer Ort. Entstehung und Entwicklung der Jenaer Hofvernissagen

14 Katharina Kempken

Der Bericht der Enquête-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland hielt 1994 zum Themenkomplex „Kulturpolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ fest, alternative Kultur sei in der DDR eine „ausgegrenzte“ Kultur gewesen, die erst in zweiter Hinsicht eine politische Protestkultur gewesen sei. Ihre Sprengkraft habe weniger darin bestanden, dass sie den Konflikt mit dem Staat suchte, sondern vielmehr darin, dass allein ihre Existenz „die kulturpolitische Hoheit und den Alleinvertretungsanspruch des Staates in Frage stellte“. Nur in einge schränktem Maße sei Alternativkultur als bewusst gewählte politische Alternative zum offiziellen Kulturbetrieb und der Kulturpolitik der DDR zu verstehen. Stattdessen hätten viele Kunstschaffende keine anderen Möglichkeiten mehr für die unabhängige Arbeit und die öffentliche Wirksamkeit gesehen. So habe sich ab Mitte der 1970er Jahre in der DDR eine „eigenständige kulturelle Infrastruktur mit einer zwar eingeschränkten, aber lebendigen und stetig wachsenden Öffentlichkeit“ entwickelt.1

Dieser Beitrag zeigt am Beispiel der Jenaer Hofvernissagen, dass auch in Jena in den späten 1980er Jahren eine Form von alternativer Kultur allein durch ihre Exis tenz zu provozieren und staatliche Reaktionen herauszufordern vermochte, indem sie den „Alleinvertretungsanspruch des Staates in Frage stellte“. Auch das alter native Kulturangebot in einem Jenaer Hinterhof entstand zunächst eher als Folge der Ausgrenzung eines bildenden Künstlers aus dem offiziellen Kulturbetrieb denn aus einer politischen Protestkultur heraus. Exemplarisch zeigen die Hofvernissagen, dass die Eroberung von Nischen und damit die Entwicklung und Verteidigung von kulturellen Freiräumen in der DDR der späten 1980er Jahre trotz Misstrauen, Unbe hagen und Eindämmungsversuchen durch staatliche Organe durchaus möglich war. Für die Akteur:innen boten die Hofvernissagen zum einen die Möglichkeit, außerhalb offizieller Strukturen aktiv zu werden. Die Veranstaltungen wurden zum Experimen tierfeld, in dem freier Austausch und gegenseitige geistige Anregung, Vernetzung und Stärkung untereinander möglich waren.2 Zum anderen wurde der soziale Raum des Hinterhofs, der in die Gesellschaft hineinwirkte, zum Resonanzraum und schuf damit eine ‚Gegenöffentlichkeit‘3 .

Welche Motivationen die an den Hofvernissagen beteiligten Künstler:innen und Organisator:innen antrieben, wie sie mit Eindämmungsversuchen durch die staatli chen Organe umgingen, wie sie die Idee der Hofvernissagen umsetzten und im Laufe der Zeit weiterentwickelten, beleuchtet dieser Beitrag. Er zeichnet die Entstehung, Enwicklung und Gestaltung der Jenaer Hofvernissagen nach und fokussiert dabei die Erfahrungen und Handlungen konkreter Individuen im Kontext der SED-Diktatur in den späten 1980er Jahren. Entsprechend des von Alf Lüdtke geprägten4 und von Thomas Lindenberger weiterentwickelten 5 Konzeptes des ‚Eigen-Sinns‘ werden Be ziehungen zwischen Herrschaft und Bevölkerung dabei als soziale Praxen und — mit der Kunsthistorikerin Yvonne Fiedler — als Prozesse des Aushandelns begriffen, in deren Verlauf „Formen und Grenzen durch variierende Kräfteverhältnisse für jeden Einzelfall aufs Neue geformt werden“.6

Die asymmetrischen Kräfteverhältnisse zwischen Vertreter:innen des SEDRegimes, die mit regulierender und repressiver Macht ausgestattet waren, und den Akteur:innen der Hofvernissagen als Adressat:innen von Herrschaft stehen dabei im Zentrum. Im Sinne einer Alltagsgeschichte der DDR wird das Verhältnis von Partei und Bevölkerung als Abhängigkeitsverhältnis betrachtet, das gekennzeichnet war durch „Prozesse des Gebens und Nehmens und der Kompromisse“7. Untersucht wird, wie diese Prozesse sich mit Blick auf die Hofvernissagen gestalteten, in welchen Graube reichen sich die Akteur:innen zwischen strategischer Anpassung und Unangepasstheit bewegten, wie sie vorhandene Handlungsspielräume nutzten und gegebenenfalls ausweiteten, in welchen Punkten sie staatliche Vorgaben akzeptierten und wann sie ‚eigen-sinnig‘ agierten.

Die Etablierung der Hofvernissagen verweist auf eine Reihe von Krisensymp tomen bzw. unbefriedigte Bedürfnissen in der DDR-Gesellschaft der späten 1980er Jahre, in der die Entwicklungen in Richtung einer Liberalisierung wie in der Sowjetunion

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auch kulturpolitisch abgelehnt wurden. Mangelnde Kunstfreiheit, fehlende Möglich keiten selbstbestimmter Lebensgestaltung, nicht umgesetzte Reise-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie wirtschaftliche und weitere Einschränkungen führten zu Unmut innerhalb der Bevölkerung. Rückzüge in die private Nische und Flucht oder Ausreise waren Möglichkeiten, mit der Unzufriedenheit umzugehen. Eine andere Mög lichkeit bestand in Versuchen, Alternativen zu schaffen und die Verhältnisse zu ändern. Ähnlich wie andere Andersdenkende in der späten DDR machten die Akteur:innen um den Bildhauer und Maler Gerd Wandrer mit ihrem Handeln in Jena darauf aufmerksam, dass sich „die Ansprüche des erstarrten Systems kaum mehr mit ihrer individuellen Lebensdynamik vereinbaren ließen“.8

Zwischen Anerkennung und Ausgrenzung: Gerd Wandrer — vom Kunststudium zum Antrag auf Ausreise

Gerd Wandrer, 1952 in Rudolstadt geboren, lebte und arbeitete nach seinem Studium an der Hochschule für industrielle Formgestaltung (HiF) Burg Giebichenstein in Halle und an der Akademie der Künste in Berlin an der Sektion Bildende Kunst seit 1985 als freischaffender Künstler in Jena. Seit Beginn des Jahres 1986 stellte er nicht mehr in öffentlichen Galerien aus, nachdem dies nur noch unter hohen zensorischen Auflagen möglich gewesen wäre. Diesen verweigerte er sich. Am 1. November 1986 initiierte er die erste Hofvernissage in einem Hinterhof zwischen der Johannisstraße 16 und der Jenergasse 7 im Jenaer Stadtzentrum. Der Hof grenzte an das Gebäude, in dem er sich ein Atelier eingerichtet hatte. Zusammen mit Freund:innen hatte er den im Eigentum des VEB Gebäudewirtschaft befindlichen Hof aufgeräumt, um einen offen zugänglichen Raum für die Ausstellung seiner Kunstwerke zu schaffen.[→ Abb. 01 + 02]

An der Ausbildungs- und Berufsbiografie Gerd Wandrers wird ersichtlich, dass eine Zuordnung des Künstlers zu den Polen „angepasst“ oder „unangepasst“ nicht trägt.9 Schon der zeitgenössische Umgang mit ihm durch einzelne Akteur:innen aus Kunsthochschulen, dem Verband Bildender Künstler (VBK) und dem Staatlichen Kunsthandel zeigt, wie unterschiedlich seine Kunst rezipiert und eingeordnet wurde. Wandrer bewegte sich auf dem Weg seines künstlerischen Werdegangs zwischen Förderung und Anerkennung durch Hochschuldozent:innen und staatliche Einrich tungen und der Ausgrenzung vom offiziellen Kunst- und Kulturgeschehen aufgrund seiner eigenwilligen, unverstellten Art und seiner modernen Herangehensweise an die Kunst, die sich oft nicht mit den kulturpolitischen Leitlinien des Sozialistischen Realismus10 in Einklang bringen ließen.

1979 an der Hallenser HiF Burg Giebichenstein im Bereich Bildende und An gewandte Kunst im Fachbereich Plastik angenommen, wurde er zwei Jahre später aus politischen Gründen von der Hochschule exmatrikuliert. Im für alle Studieren den obligatorischen gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudium des Marxis mus-Leninismus hatte er in einer Prüfung seine kritische Haltung gegenüber dem SED-Regime geäußert und die Prüfung nicht bestanden. Zuvor hatte er sich bereits mithilfe eines Krankenscheins von der Teilnahme am verpflichtenden Wehrlager befreien lassen.

Neun Monate nach seiner Exmatrikulation wurde Gerd Wandrer nach Fürsprache des ebenfalls aus Thüringen stammenden Rektors der Hochschule für Bildende Künste Dresden, Prof. Gerhard Kettner, zur Aufnahmeprüfung an der Akademie der Künste in Ost-Berlin zugelassen. Nachdem er die Prüfung mit sehr gutem Ergebnis abge schlossen hatte, nahm die Akademie der Künste ihn als Meisterschüler auf. Wandrer begann ein Aufbaustudium der Malerei, das ihm einige Freiheiten gewährte: neben einem festen Gehalt und einem Atelier in der Nähe des Brandenburger Tors zählte dazu eine relativ freie Arbeitsweise. Aus Sicht der Kunsthistoriker:innen Claudia Petzold und Paul Kaiser erklärt der „Raumgewinn“, der mit der Zuweisung eines Ateliers nach erfolgreichem Abschluss eines bildkünstlerischen Hochschulstudiums verbunden war,

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Abb. 02: Hinterhof Johannisstraße 16/17 Jenergasse 7, Foto: Bertram Hesse (ThürAZ, Sammlung Andrea Müller, Sg.: F-MA-025).

Abb. 01: Gerd Wandrer in seinem Atelier in der Johannisstraße 16, Foto: unbekannt (ThürAZ, Sammlung Gerd Wandrer, Sg.: P-WG-K-01.16).

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die „ambivalent erscheinenden Verhaltensweisen der bildkünstlerischen Gegenkultur“, deren Akteur:innen trotz eines inneren Abstands zum SED-Regime oft ein Hochschul studium und eine Aufnahme in den Verband Bildender Künstler (VBK) anstrebten.11

Gerd Wandrer wurde von der Akademie vier statt, wie üblich, drei Jahre lang unterstützt. In seiner Zeit als Meisterschüler konnte er bereits in öffentlichen Galerien wie der Theaterpassage in Leipzig ausstellen und erhielt unter anderem einen Förder preis des Staatlichen Kunsthandels der DDR für eine Grafik (Mir ist kalt, Holzschnitt, 1981), die in einem Wettbewerb von der Jury für die Ausstellung 100 ausgewählte Grafiken (1985) des Staatlichen Kunsthandels der DDR ausgesucht worden war. Über einen Mangel an Angeboten für Ausstellungen in staatlich angebundenen Einrichtun gen konnte Wandrer sich zu dieser Zeit nicht beklagen.

Im Gegensatz zu seiner Anerkennung als Künstler bis 1986 steht die Wahr nehmung Wandrers durch die Sicherheitsorgane der DDR. Diese waren gemäß ihrer Funktion, den Staat vor ‚inneren und äußeren Feinden‘ zu schützen, unbesehen einer kulturpolitischen Liberalisierung seit Beginn der 1980er Jahre bis zum Ende der DDR bestrebt, ‚feindliche Tendenzen’ auch im Kulturbereich aufzudecken und ‚unschädlich‘ zu machen. Schon vor seiner Studienzeit war Wandrer, der 1968 eine Ausbildung zum Steinmetz begann und bis 1979 als solcher arbeitete, den staat lichen Behörden aufgefallen. Im Alter von 16 Jahren hatte er zu Beginn seiner Aus bildung den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in Prag abgelehnt. Als junger Erwachsener bewegte er sich in der unangepassten Jugendsubkultur der Tramper, die sich mit Kleidungs- und Musikstil gegen die Uniformiertheit der Pionierorgani sation und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) stellten. Die Staatssicherheit ver ortete ihn im intellektuellen Umfeld des Jenaer Arbeitskreis Literatur und Lyrik um Lutz Rathenow, der von 1973 bis 1975 existierte und im Operativen Vorgang (OV) ‚Pegasus‘ „bearbeitet“ wurde. 1976 schloss sich Wandrer zusammen mit anderen in Jena ansässigen Künstler:innen einer Protestresolution gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann an.

Ein Ausreiseantrag, den er im Februar 1986 mit seiner Frau, der Kunsthandwer kerin Annette Wandrer stellte, führte dazu, dass das Ministerium für Staatssicherheit gegen ihn und zwei weitere in Jena tätige bildende Künstler den OV ‚Plastik‘ eröffnete, um Anhaltspunkte für ein Ermittlungsverfahren gegen sie zu finden und Maßnahmen gegen ihr ‚staatsfeindliches‘ Verhalten einzuleiten.12 Im selben Jahr wurde Wandrer nach der üblichen Kandidatenzeit von drei Jahren in den VBK Gera aufgenommen. Der Verband diente als Berufsorganisation und gesellschaftliche Interessenvertre tung von Künstler:innen der Förderung der fachlichen Entwicklung seiner Mitglieder, deren sozialer Unterstützung sowie auch ihrer politisch-ideologischen Anleitung und Lenkung. Die Mitgliedschaft war für Künstler:innen existenziell, da mit ihr die Berechtigung zur freischaffenden Tätigkeit einherging, eine Steuernummer vergeben wurde, ein begünstigter Steuersatz in Anspruch genommen und das Auftragswesen mitsamt seiner Ausstellungs- und Verkaufsmöglichkeiten genutzt werden konnte.13 1984 war noch versucht worden, eine Kandidatur Wandrers unter dem Vorwand zu verhindern, er habe die Frist zur Einreichung nicht eingehalten. Dem gegenüber stand die Tatsache, dass die Kandidatur Annette Wandrers akzeptiert wurde, obwohl sie sich zum selben Zeitpunkt beworben hatte.14 In diesem Kontext war bei Gerd Wandrer und seiner Frau Annette erstmals der Drang entstanden, die DDR zu verlassen.15 Zwei weitere Jahre hielt das Ehepaar aus, bis es die finale Entscheidung traf, die ständige Ausreise aus der DDR zu beantragen. Zur Entscheidungsfindung führten vor allem die erlebten Drangsalierungen durch die staatlichen Behörden.16 Dazu zählte auch ein Vorfall um eine Ausstellung in der vom Staatlichen Kunsthandel getragenen Jenaer Galerie im Stadthaus, in der ab dem 27. Februar 1986 Malerei und Grafik von Gerd und Keramik von Annette Wandrer gezeigt werden sollten. Die Eröffnung konnte noch wie angekündigt stattfinden, doch bereits am Folgetag griff die Staatssicherheit zensorisch ein, indem die Fenster der Galerie mit grauem Flor verhangen wurden. Auf Ablehnung stieß vor allem eine Lithografie mit dem Titel Pseudocroup (1986),

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die das offiziell tabuisierte Thema der industriellen Umweltverschmutzung berührte. Die Grafik griff den Krupp-Husten auf, der bei vielen Kindern in der DDR aufgrund der hohen Schadstoffkonzentration in der Luft auftrat. Auch die Tochter Wandrers war an Pseudokrupp erkrankt. Neben Pseudocroup erregte ein Bild mit dem Titel Zwei Fische über dem Bran denburger Tor das Misstrauen der Sicherheitsorgane. Das expressionistisch anmu tende Bild entfernte sich motivisch wie stilistisch von den kulturpolitischen Orien tierungspunkten, die — wie der erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Gera, Herbert Ziegenhahn, noch im Januar 1985 formulierte — dazu angedacht waren, „sozialistische Überzeugungen und Verhaltensweisen auszuprägen, die entscheidend auf die Erhö hung des Leistungsbetrages wirken, Werte und Ideale des Sozialismus zu vermitteln, […] Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, Freude, Optimismus und Wohlbefinden zu fördern“.17 Diese Formulierung verrät, dass Ziegenhahn, der bereits seit 1963 die Funktion des ersten Sekretärs der Bezirksleitung innehatte, noch in den kulturpoliti schen Vorstellungen der SED aus den 1950er und 1960er Jahren verhaftet war. Wie die Historikerin Jeanette van Laak aufzeigt, vertraten auch andere Funktionäre in der SED-Bezirksleitung weiterhin die Auffassung, dass Kunst eine politisch-erzieherische Funktion im Sinne des Sozialismus übernehmen müsse. Damit unterschied sich der Kurs der SED-Bezirksleitung von jenem des Zentralkomitees, dessen Kulturbeauf tragter Kurt Hager bereits 1981 eine „einseitige Politisierung“ der Kunst abgelehnt und damit eine vorsichtige kulturpolitische Liberalisierung eingeleitet hatte.18

Gerd Wandrer weigerte sich, die kritisierten Bilder aus der Ausstellung in der Ga lerie im Stadthaus zu entfernen oder auszutauschen, indem er sich auf den bestehen den Vertrag mit dem Staatlichen Kunsthandel berief. Die Ausstellung wurde daraufhin nach kurzer Zeit geschlossen. In weiteren Ausstellungen, die sich angeschlossen hätten19, darunter eine Ausstellung am Haus im Waldsee in Berlin, konnte Wandrer von diesem Zeitpunkt an die vorgesehenen Werke nicht mehr offiziell zeigen. Hier wird deutlich, dass der Umgang der Staatssicherheit mit dem Künstler — verstärkt durch dessen Ausreisebegehren — rigoros war. Dies fügte sich ein in den staatlich fest gelegten Umgang mit Ausreiseantragsteller:innen: Noch 1982 hatte das Ministerium für Staatssicherheit die „Unterbindung und Bekämpfung von Antragstellungen auf Ausreise“ als bedeutende Aufgabe zur Gewährleistung der Ordnung und Sicherheit innerhalb der DDR festgehalten.20

„Aus der Not geboren“21: Die Entstehung der Hofvernissagen

Die eigenen Bilder nicht mehr ausstellen zu können, führte nicht nur zur finalen Ent scheidung Gerd und Annette Wandrers, ihre Ausreise zu beantragen, sondern auch dazu, nach eigenen Ausstellungsmöglichkeiten abseits der staatlichen Galerien zu suchen. Der Hinterhof der Johannisstraße 16 als öffentlich zugänglicher und dennoch abgeschirmter Raum schien ihm passend: „ich ging zurück nach jena und fand einen geeigneten raum. vermutlich puff. überflüssiger müll. dachaufriß. alles raus. abfuhr. eine wunderbare räumlichkeit war entstanden. akzeptabler hinterhof. damit ergab sich eine ungeahnte möglichkeit für anstehende aktivitäten, die einfach in galerien versagen müssen.“ 22

Die Tatsache, dass Gerd Wandrer von Beginn an für jede Hofvernissage eine Veranstaltungsgenehmigung bei der Polizei beantragte, zeugt davon, dass er ver suchte, der Ausstellungsaktivität einen legalen Rahmen zu verleihen. Die regelmäßige Kontaktaufnahme zur Abteilung Erlaubniswesen der Volkspolizei führte jedoch nicht zum gewünschten Ergebnis: Die Veranstaltungen wurden nicht genehmigt. Nach dem Wandrer die ersten drei Hofvernissagen trotz fehlender Erlaubnis durchgeführt hatte, verhängte das Volkspolizeikreisamt (VPKA) mit Verweis auf die geltende Veranstaltungsverordnung empfindliche Ordnungsstrafen gegen ihn.23 Auch sein

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Abb. 03: Schreiben Gerd Wandrers an den Vorstand des VBK Gera und die Stadträtin für Kultur der Stadt Jena, 11.06.1987 (ThürAZ, Sammlung Joachim Hoffmann, Sg.: P-HJ-K-01.19).

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