KUNST UND LEBEN 1918 BIS 1955
Herausgegeben von Karin Althaus, Sarah Bock, Lisa Kern, Matthias Mühling und Melanie Wittchow Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München
8 100 Jahre Lenbachhaus. 1929 bis 2029
9 Vorwort Matthias Mühling mit Karin Althaus, Sarah Bock, Lisa Kern, Melanie Wittchow
12 Kunst und Leben 1918 bis 1955. Zeitgeschichten im Spiegel unserer Sammlung Karin Althaus, Sarah Bock, Lisa Kern, Melanie Wittchow
17 Editorische Notiz
20 Punkt und Panorama, Kunstwerk und Kunststadt, Mikro und Makro Christian Fuhrmeister
36 Ausstellungen in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus 1929 bis 1955 Stephanie Weber
BIOGRAFIEN A–Z
Jussuf Abbo Dorothea Schöne
Rudolf Belling Burcu Dogramaci
Charlotte Berend-Corinth Susanne Böller
Karl Caspar Karin Althaus, Caroline Sternberg
Maria Caspar-Filser Karin Althaus
Fridel Dethleffs-Edelmann Lisa Kern
Erna Dinklage Sarah Bock
Heinrich Ehmsen Stephanie Weber
Edgar Ende Adrian Djukic
Elisabeth Epstein Oksana Oliinyk
Maria Franck-Marc Melanie Vietmeier
Otto Freundlich Julia Friedrich
Willi Geiger Julia Geiger
George Grosz Ralph Jentsch
Emilie von Hallavanya Susanne Böller
Marie Heilbronner Lisa Kern
Wilhelm Heise Karin Althaus
Erwin Henning Laura Buschbeck
Hannah Höch Cara Schweitzer
Käte Hoch Lisa Kern
Karl Hofer Ilka Voermann
Karl Hubbuch Sylvia Bieber
Julius Hüther Karin Althaus
Peter Kálmán Susanne Böller
Hermann Kaspar Caroline Sternberg
Paul Klee Marie Kakinuma
Moissey Kogan Susanne Böller
Lotte Laserstein Anna-Carola Krausse
Else Lasker-Schüler Astrid Schmetterling
Alfred Leithäuser Julia Reich
Rudolf Levy Lisa Kern
Maria Luiko Diana Oesterle
Gabriele Münter Isabelle Jansen
Halil Beg Mussayassul Melanie Wittchow
Herbert Ploberger Ingrid Radauer-Helm
Carl Theodor Protzen Anke Gröner
Henny Protzen-Kundmüller Anke Gröner
Franz Radziwill Karin Althaus
Anita Rée Melanie Wittchow
Charlotte Salomon Astrid Schmetterling
Gertrude Sandmann Lisa Kern
Christian Schad Bettina Keß
Josef Scharl Lisa Kern
Rudolf Schlichter Sigrid Lange
Georg Schrimpf Felix Billeter
Erwin Steiner Karin Koschkar
Hermann Tiebert Ursula Winkler
Hans Wimmer Melanie Wittchow
Fritz Winter Anna Rühl
Adolf Ziegler Joanna Beck
THEMEN
268 Künstlerinnenausbildung. Protest und Solidarität Karin Althaus
272 die juryfreien. Künstler*innenvereinigung in München Christina Bauer, Lisa Kern
276 Linke Künstler*innen-Gruppen seit der Weimarer Republik Adrian Djukic
280 Die Akademie der Bildenden Künste München 1920 bis 1955 Caroline Sternberg
286 Kunstverein München e. V. Adrian Djukic
290 Kunsthandel in München Birgit Jooss
293 Der Städtische Kunstbeirat Sarah Bock
297 Kampfbund für Deutsche Kultur Jörg Osterloh
300 Notstandsaktionen Michael Herrmann
304 Die Reichskammer der bildenden Künste Nina Kubowitsch
308 Kulturbund Deutscher Juden Jörg Osterloh
311 »Ich habe mir selber Welt werden müssen«. Emigration und Exil nach 1933 Andreas Heusler
315 »Innere Emigration« Ilka Voermann
317 Florenz als künstlerischer Arbeits- und Rückzugsort 1918 bis 1955 Philipp Kuhn
323 »Entartete Kunst« und »Jüdischbolschewistische Kunst«. Über die Herkunft und Verwendung zweier Kampfbegriffe der NS-Propaganda Christoph Zuschlag
326 Die Diffamierung moderner Kunst im Nationalsozialismus und ihre Folgen für die betroffenen Künstler*innen Christoph Zuschlag
330 »Haus der deutschen Kunst« und die »Großen Deutschen Kunstausstellungen« Sabine Brantl
334 »Münchener Kunstausstellungen im Maximilianeum« 1938 bis 1943 Melanie Wittchow
340 Nationalsozialistische Kunst Olaf Peters
344 Der Münchner Künstlerhausverein und die Kameradschaft der Künstler Marita Krauss
348 Lenbachpreis der Stadt München 1936 bis 1942 Sarah Bock, Melanie Wittchow
352 Provenienz- und Sammlungsforschung am Lenbachhaus Sarah Bock, Lisa Kern, Melanie Wittchow
358 Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder in der Kunst und Kultur des National sozialismus Elke Frietsch
364 Queer Lives in Kunst und Leben zwischen 1900 und 1950 Anna Straetmans
368 Von der »Gottbegnadeten-Liste« in das Nachkriegsdeutschland. 1944 bis 1955 Wolfgang Brauneis
372 »Antithese« und »Phantom«. Zeitgenössische deutsche Kunst im Programm der US-Militärregierung für Bayern 1945 bis 1952 Iris Lauterbach
376 Die Rezeption des Blauen Reiter Matthias Mühling
380 Die erste documenta 1955 Birgit Jooss
386
ANHANG
Verzeichnis der ausgestellten Werke
396 Bildnachweis und Copyrights
398 Impressum
100 JAHRE LENBACHHAUS
1924 wurde Eberhard Hanfstaengl (1886–1973) der erste Direktor des Lenbachhauses. Kurz zuvor hatte Lolo von Lenbach, Witwe des »Malerfürsten« Franz von Lenbach, die Künstlervilla an die Landeshauptstadt Mün chen verkauft und einen Teil des Inventars sowie zahlreiche Werke Lenbachs als Schen kung mitgegeben. Mit dem Kauf erfüllte sich die Stadt den lange gehegten Wunsch, ein Museum einzurichten, das der Kunst der Münchner Schule bis in die Gegenwart ge widmet sein sollte.
Zusätzlich zu vorhandenem städtischen Kunstbesitz wurden Werke der Malerei und Skulptur für das neue Museum erworben –vom Kunsthandel, von ortsansässigen Künstler * innen und deren Nachfahr * innen. Um genügend Raum für die Sammlungen und Sonderausstellungen zu gewinnen, ergänzte der Architekt Hans Grässel Lenbachs Ate lier und Wohnhaus zu einer Dreiflügelan lage. Am 1. Mai 1929 konnte die Städtische Galerie eröffnet werden.
Das Lenbachhaus ist somit eines der we nigen Kunstmuseen in Deutschland, das in der ersten deutschen Demokratie – der Wei marer Republik – gegründet worden ist. Dank seines historischen wie aktuellen Sammlungsauftrags gehört es zu den ersten Museen Deutschlands für zeitgenössische Kunst.
Im Mai 2029 wird das Lenbachhaus als Kunstmuseum der Landeshauptstadt Mün chen sein 100 jähriges Jubiläum feiern. Bis dahin werden wir unserem Publikum eine Serie von Ausstellungen zur wechselvollen Geschichte des Museums präsentieren.
Den Anfang machte im Sommer 2022 Was von 100 Tagen übrig blieb … Die docu menta und das Lenbachhaus, eine Ausstel lung, die anlässlich der documenta fifteen in Kassel auf den engen Zusammenhang zwi schen der Sammlung des Lenbachhauses und den seit 1955 veranstalteten vierzehn documenta Ausstellungen fokussierte.
Daran schließt sich nun die Ausstellung Kunst und Leben 1918 bis 1955 an. Sie be schäftigt sich mit der Vielfalt der Lebens läufe und Schicksale von Künstler * innen während der Weimarer Republik, der Zeit des Nationalsozialismus bis zur ersten docu menta im Jahr 1955 in der noch jungen Bun desrepublik Deutschland.
Beide Ausstellungen sind Ergebnisse der intensiven Auseinandersetzung mit der Ge schichte und Sammlungspolitik unseres Mu seums. Weitere Forschungsprojekte in Vor bereitung auf das 100 jährige Jubiläum folgen.
Im Zentrum von Kunst und Leben 1918 bis 1955 stehen Lebensläufe und Schicksale von Künstler*innen während der Weimarer Re publik, im Nationalsozialismus und in der jungen Bundesrepublik Deutschland. Die vielfältigen Kunstwerke und Biografien be richten von erfolgreichen, unterbrochenen und vollständig abgebrochenen Karrieren, von Widerstand und Anpassung, von Verfol gung, Exil und Mord.
Wir nennen an dieser Stelle explizit die Künstler *innen unserer Publikation, die in der Zeit des Nationalsozialismus deportiert und ermordet wurden und gedenken ihrer: Otto Freundlich, Marie Heilbronner, Mois sey Kogan, Rudolf Levy, Maria Luiko und Charlotte Salomon.
Ein Nebeneinander verschiedenster Strö mungen prägte den gewählten Zeitraum. Das Zeitgeschehen und dessen institutionelle Be dingungen werden parallel zu den Lebens läufen untersucht; auch künstlerische Positionen, die den NS Ideologien nahestanden, werden nicht ausgeklammert.
Mithilfe zahlreicher Expert * innen be leuchten wir Themen, die derzeit intensiv er forscht werden. Wir danken insbesondere Christian Fuhrmeister für seine Begleitung des Projekts und seinen Essay, der am Bei spiel der Kunststadt München systemisch in das Thema einführt. Er plädiert für eine Komplexitätssteigerung durch die Einbet
tung konkreter Werke in den historischen Kontext von Akteur*innen und Institutionen und das stete Mitdenken der Überlieferungs und Deutungsgeschichte. Dieses Vorgehen hat sich auch bei unserer Arbeit an der Samm lung im Rahmen dieses Ausstellungsprojekts immer wieder als fruchtbar erwiesen.
Den Autor*innen der vorliegenden Publi kation danken wir für die Zusammenfassungen ihrer Forschung: Christina Bauer, Joanna Beck, Sylvia Bieber, Felix Billeter, Sabine Brantl, Wolfgang Brauneis, Laura Busch beck, Burcu Dogramaci, Julia Friedrich, Elke Frietsch, Julia Geiger, Anke Gröner, Michael Herrmann, Andreas Heusler, Isabelle Jansen, Ralph Jentsch, Birgit Jooss, Marie Kakinuma, Bettina Keß, Karin Koschkar, Marita Krauss, Anna Carola Krausse, Nina Kubowitsch, Phi lipp Kuhn, Sigrid Lange, Iris Lauterbach, Diana Oesterle, Jörg Osterloh, Olaf Peters, Ingrid Radauer Helm, Julia Reich, Anna Rühl, Astrid Schmetterling, Dorothea Schöne, Cara Schweitzer, Caroline Sternberg, Anna Straetmans, Ilka Voermann, Ursula Winkler und Christoph Zuschlag. Wir sind auch dank bar für alle Hinweise und Unterlagen, die viele weitere Forscher*innen mit uns geteilt haben, worauf die Texte im Detail eingehen. Alle Beiträge machen deutlich, dass präzises Hinschauen und konkretes Nachfragen zu neuen Erkenntnissen, aber auch immer zu weiteren offenen Fragen führt.
Die gewählten Schwerpunkte orientieren sich an der Sammlungs und Ausstellungsge schichte des Lenbachhauses. Damit ergibt sich ein Fokus auf die Stadt München inner halb nationaler und internationaler Kontexte. Neben vertrauten Werken des Lenbachhauses präsentieren wir Neuankäufe und kürzlich restaurierte Werke; sorgfältig ausge suchte Leihgaben vervollständigen die Präsentation.
Wir danken unseren Leihgeber * innen, dass sie uns wertvolle Werke für rund ein hal bes Jahr überlassen haben: Bayerische Staats gemäldesammlungen, Pinakothek der Mo derne; Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Archi tektur; Ernst von Siemens Kunststiftung; Förderverein Lenbachhaus e. V.; Gabriele Münter und Johannes Eichner Stiftung, München; Münchner Stadtmuseum; Stadt archiv München; Erwin und Gisela von Stei ner Stiftung sowie den Sammler *innen, die anonym bleiben möchten. Sie alle haben uns nicht nur mit wertvollen Leihgaben, sondern auch mit ihrer Expertise und ihren Archiven unterstützt.
Wir danken dem Förderverein Lenbach haus e.V. für seine kontinuierliche Unterstützung unserer Ausstellungstätigkeit, For schung und Vermittlung, insbesondere danken wir für die Initiierung des Ankaufs programms »Mehr Moderne für das Len
bachhaus«. Wir freuen uns, erstmals in dieser Ausstellung zwei Neuankäufe von Elisabeth Epstein und Maria Franck Marc zeigen zu können. Im zweiten Obergeschoss in der Ausstellung Gruppendynamik – Der Blaue Reiter finden sich zudem zwei frühe Arbeiten von Moissey Kogan, die der Förderverein ebenfalls unlängst erworben hat.
Themenübergreifende Unterstützung haben wir von zahlreichen weiteren Institu tionen und Personen erfahren: NS Doku mentationszentrum München (Juliane Bi schoff, Angela Hermann, Karolina Kühn, Anna Straetmans, Ulla Britta Vollhardt und Mirjam Zadoff), Bundesarchiv Berlin mit Bildarchiv (Michael Schelter), Bundesarchiv Koblenz (Sandra Burkhardt), Kulturamt der Stadt Kempten (Christine Müller Horn) und Galerie Dethleffs (Bernd Riedle).
Herzlich danken wir unseren Ausstellungsgestalter*innen aus Wien, Koerdtutech (Irina Koerdt, Sanja Utech) und Cerny / Em bacher (Larissa Cerny, Martin Embacher). Der ungemein dichte und umfangreiche Ka talog wurde in kollegialer Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kunstverlag Berlin er stellt: Wir danken Imke Wartenberg für die Betreuung, Andrea Schaller für das Lektorat sowie Edgar Endl von booklab München für die Gestaltung.
Last but not least ein großer Dank an un sere Kolleg*innen im Lenbachhaus, die uns
in allen Phasen des Projekts begleitet haben. Sie sind vollzählig im Impressum dieser Pu blikation zu finden. Wir danken insbeson dere den Restaurator*innen Franziska Motz, Daniel Oggenfuss, Isa Päffgen, Roxanne Schindler und Iris Winkelmeyer, deren res tauratorische und konservatorische Maßnah men es ermöglichen, dass zahlreiche Werke adäquat oder überhaupt erstmals präsentiert werden können; unser Dank geht auch an die Fotograf *innen Simone Gänsheimer, Ernst Jank und Lukas Schramm, die eine große Zahl von Werken unserer Sammlung und Materialien aus dem Archiv neu aufgenom men haben. Wir danken außerdem allen Mitarbeiter*innen des Betriebsdienstes, der Verwaltung, der Öffentlichkeitsarbeit und dem wissenschaftlichen Team des Lenbach hauses für ihre Arbeit. Mit wertvollen For schungsbeiträgen haben uns Susanne Böller, Adrian Djukic, Oksana Oliinyk, Melanie Vietmeier und Stephanie Weber unterstützt.
Matthias Mühling mit Karin Althaus, Sarah Bock, Lisa Kern und Melanie Wittchow
KUNST UND LEBEN 1918 BIS 1955 ZEITGESCHICHTEN IM SPIEGEL UNSERER SAMMLUNG
Zwischen 1918 und 1955 waren Menschen in Deutschland mit mehreren Zeitenwenden konfrontiert: Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs mit Revolutionen, der Abschaf fung der Monarchie und der Gründung der Weimarer Republik – dem ersten deutschen demokratischen Staat; ab 1933 mit der nationalsozialistischen Diktatur, die für viele Men schen bald existenz und lebensbedrohende Dimensionen annahm, und dem Zweiten Weltkrieg; ab 1945 mit der Erfahrung des er schütternden Ausmaßes des Holocaust, der Entnazifizierung und dem Wiederaufbau in einem geteilten Deutschland.
Ausgangspunkt für unsere Untersuchung, wie Kunst mit Zeitgeschichte, Politik und Le bensumständen zusammenhängt, sind die Biografien von Akteur*innen. Der Fokus auf Lebensläufe erlaubt es nachzuvollziehen, »was Menschen […] bewegt hat, wie sie ver sucht haben, durch die Zeitläufte zu kom men, sich zu orientieren, Anteil zu nehmen und ihr Leben zu gestalten.« 1 Wir stellen rund fünfzig Biografien von Künstler*innen vor, deren Schaffenszeit – oder große Teile davon – in den Zeitraum zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und der ersten documenta Ausstellung in Kassel im Som mer 1955 fällt. Ihre beruflichen Wege waren aufs Engste verknüpft mit persönlichen Schicksalen. Die vielfältigen Kunstwerke und Biografien berichten von erfolgreichen,
unterbrochenen und vollständig abgebro chenen Karrieren, von Widerstand und An passung, von Verfolgung, Exil und Mord. In ihrer »Pluralität, Vielgestaltigkeit und Vielzeitigkeit« 2 verweisen sie auf Brüche, aber auch auf Kontinuitäten über die Zeitenwen den hinweg.
Eine gründliche Analyse der jeweils vor handenen Handlungsräume ist dabei zwin gend notwendig, aber bei vielen Biografien noch nicht abschließend erfolgt. So wirft auch das Projekt Kunst und Leben 1918 bis 1955 möglicherweise mehr Fragen auf, als Antworten zu geben. Die Lebensrealitäten in dieser Zeit waren geprägt von ungeheuren politischen und gesellschaftlichen Umwäl zungen und Umbrüchen in kurzen zeitlichen Abständen. Ein fokussierter Blick auf kon krete Lebenswege macht deutlich, unter welchen Umständen jemand nichts mehr bewegen konnte und wann ihm oder ihr durch Verfolgung weitgehend Handlungs möglichkeiten genommen wurden. Die Strukturen dieser Handlungsräume im sozi alhistorischen Sinne sind durch vielfältige Faktoren festgelegt, wie etwa Herkunft, Re ligion, Ausbildung, Klassenzugehörigkeit, Geschlecht, Netzwerke und politische Rah menbedingungen. 3 Im untersuchten Zeit raum erhöht sich das Gewicht dieser Faktoren auf entscheidende und häufig unaus weichliche Weise. Zugleich beeinflussen die
persönliche Wahrnehmung und das Ausloten von Grenzen und Chancen das Agieren innerhalb dieser Räume.4
Das nationalsozialistische Regime be schränkte zahlreichen Menschen nicht nur ihre Handlungsräume in extremster Weise, sondern sprach ihnen jegliche Existenzbe rechtigung ab. So war die Berliner Künstle rin Gertrude Sandmann als lesbische Frau jüdischer Herkunft und als Vertreterin der modernen Kunst in der Gesamtheit ihrer Persönlichkeit den Repressalien und der Verfolgung des NS Staats ausgesetzt; sie ver steckte sich viele Jahre im Untergrund unter ständiger Bedrohung ihres Lebens. Künstler wie Josef Scharl oder Paul Klee, deren Werke diffamiert wurden und die durch fehlende Ausstellungs und Verkaufsmöglichkeiten ihre Lebensgrundlage in Deutschland verlo ren, wurden zur Emigration gezwungen.
Zur Katastrophe führten jedoch die Ent scheidungen vieler: Die »soziale Praxis des Nationalsozialismus konstituierte sich […] nicht nur aus zielgerichteten Taten, sondern auch aus Handlangerdiensten und Beifalls bekundungen, aus Indifferenz und Anteil nahme, Willfährigkeit und Resistenz.«5 Die nationalsozialistische Diktatur erfuhr einen breiten Rückhalt in der deutschen Bevölke rung, der sich durch alle Schichten zog. Mit der Analyse von Entscheidungsspielräumen geht also auch immer die Frage nach der per
sönlichen Verantwortung einher, die sich so wohl auf Tun als auch auf Unterlassen be zieht.6
In den letzten rund zwanzig Jahren hat sich die Kunstgeschichte besonders intensiv mit dem von uns gewählten Zeitraum beschäftigt und durch die Analyse konkreter histori scher, sozialer und kultureller Ereignisse, In stitutionen, Personen und Themen sowie einzelner Biografien, Einzelwerke und Le benswerke immer weiter ausdifferenziert. Das Lenbachhaus reiht sich mit der Ausstel lung in eine Folge von Projekten ein, die die Brüche und Kontinuitäten von der Weimarer Republik über die NS Zeit und die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erforschen. Dazu ge hörten zuletzt Kunst für Keinen 1933–1945 der Schirn Kunsthalle Frankfurt, 7 Docu menta. Politik und Kunst 8 und Die Liste der »Gottbegnadeten« . Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik, 9 beide im Deutschen Historischen Museum in Berlin, oder Auf Linie. NS Kunstpolitik in Wien des Wien Museums10 sowie das Kolloquium Un bewältigt. Ästhetische Moderne und Natio nalsozialismus: Kunst, Kunsthandel, Ausstel lungspraxis in Berlin 2019.11
Wir präsentieren bewusst ein sehr breites Spektrum künstlerischer Positionen und Le benswege. Zahlreiche Biografien in einem Arbeitsgebiet wie der bildenden Kunst zu
vergleichen, hat uns dabei geholfen, den Blick auf formale und informelle Institutio nen und zeitgeschichtliche Phänomene zu schärfen. Solch übergreifende Themen neh men Ausstellung und Katalog auf und vertie fen sie an prägnanten Stellen, ohne eine Ge samtdarstellung anzustreben.
Lebensläufe von Künstler *innen lassen sich in erster Linie über von ihnen geschaf fene Werke und zugehörige materielle Zeug nisse fassen. Auf die vergessene Marie Heil bronner sind wir nur durch die Schenkung eines Gemäldes an das Lenbachhaus auf merksam geworden. Auch Kunstwerke haben eine Biografie. Die Ebenen der individuellen Lebensgeschichten, der einzelnen Objekte sowie der zeitgeschichtlichen Phänomene verknüpfen sich miteinander und ergeben ein komplex verflochtenes Bild. Alle drei Ebenen bilden einen Konnex zur Instituti onsgeschichte des Lenbachhauses, legen Umstände der Ankaufspolitik im untersuch ten Zeitraum offen. Die Ausstellung zeigt überwiegend Werke aus dem eigenen Be stand, erworben über den gesamten Zeit raum des Bestehens des Museums. Die Sammlungs und Ausstellungspolitik in den Jahren 1918 bis 1955 und ihre Protagonist*innen werden durch eine Verknüpfung mit der Provenienz der Objekte und den Biografien der Urheber*innen schlaglichtartig beleuch tet und haben uns zu weiteren Forschungen
angeregt. Genannt seien die sogenannten »Notstandsaktionen« der 1920er und 1930er Jahre, die Rolle des »Kunstbeirats« oder aber das Agieren des Lenbachhauses im Zusam menhang mit der Aktion »Entartete Kunst« ab 1937. Es bleiben vorerst auch Desiderate wie die umfassende Aufarbeitung des Perso nals des Museums und des Lenbachhauses als kommunale Institution im Nationalsozia lismus.
Mit dem Unbehagen, das sich mit Blick auf die eigene Institutionsgeschichte und die Sammlung mitunter einstellt, möchten wir transparent umgehen und versuchen, der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Sammlung in all ihren Zeitschichten in der Analyse und Darstellung gerecht zu werden. Deshalb haben wir uns auch entschieden, ein möglichst großes Spektrum an Kunst dieser Periode abzubilden und dabei sowohl die Hitlerkarikaturen von George Grosz wie auch unterschiedliche NS konforme Positio nen zu zeigen. Denn nur die Auseinanderset zung mit konkreten Werken hilft dabei, die Bildwelten einer Diktatur zu analysieren, womöglich zu entmystifizieren und als »kri tisch informierte, liberale und pluralistische Gesellschaft sich über den Begriff von Kunst [zu] verständigen.«
Um der historischen Komplexität zu begeg nen, haben wir eine alphabetische Ordnung
der Lebensläufe gewählt. Durch die Anord nung nach Familiennamen von A–Z – ähnlich einem Telefonbuch, den Verzeichnissen einer Verwaltung oder der Tektonik eines Archivbestands – kommen Nachbarschaften zustande, die realiter so vermutlich nie be standen haben. Diese Ordnung imitiert eine Kontingenz, wie sie sich in einer zufälligen Begegnung auf dem Bahnsteig oder neben einanderliegenden Ateliers finden mag. Die ses Ordnungssystem ist ein experimenteller Vorschlag und ist dem Unvermögen oder besser der Unmöglichkeit geschuldet, Le bensläufe moralisch zu bewerten und in eine Reihenfolge zu bringen.
Die Präsentation folgt deshalb auch nicht ästhetischen Gesichtspunkten mit formalen und inhaltlichen Leitmotiven, wie dies beim kuratorischen Arbeiten in einem Kunstmu seum eher die Regel wäre. Wir haben eine ähnliche Erfahrung gemacht wie Raphael Gross anlässlich der Ausstellung zur Ge schichte der documenta im Deutschen His torischen Museum: »Unsere Forschung und unsere Erfahrung mit der Geschichte der do cumenta haben gezeigt, wie sehr ästhetische Urteilskraft auch vom historischen Wissen bestimmt wird.«13 Deshalb erscheint es uns umso wichtiger, an einem »historische[n] und nicht überzeitlich normativ gefasste[n] Begriff von Kunst« zu arbeiten.14 Dies entge gen der wirkmächtigen Vorstellung, die unter
anderem die erste documenta 1955 begrün dete, dass »die Moderne« der Inbegriff von Freiheit, Fortschritt und Aufklärung sei. Bis heute ist die nationalsozialistische Kulturpo litik in der deutschen Kunstgeschichte inso fern präsent, als seit der Nachkriegszeit die Ausstellungspolitik in beiden deutschen Staaten eine unmittelbare Reaktion auf die Verfolgung der »modernen« Kunst war. Die sogenannte Stunde Null im Jahr 1945 hat es jedoch nie gegeben. Häufig setzte dasselbe Personal, das in die NS Kunstpolitik ver strickt war, nach 1945 die Bemühungen um einen vermeintlichen Neustart um. Es kam zu einer unreflektierten Glorifizierung der vormals als »entartet« diffamierten moder nen Kunst. In der DDR dominierten realistische Spielarten, für kurze Zeit auch mit Rückgriff auf linke Tendenzen der Moderne, in der Bundesrepublik verdrängten die mit Freiheit assoziierten Abstraktionen zeitweise andere mögliche Bildsprachen.
Das Projekt der »Wiedergutmachung« wurde in der BRD zu einem zentralen Ele ment der Museumsarbeit seit 1945. Auch wir sind davon überzeugt, dass sich Museen wei terhin mit der Moderne, ihren Inhalten und Idealen auseinandersetzen müssen. Verengungen in der Rezeption sollten jedoch immer weiter analysiert und revidiert wer den: So wurden einzelne Künstler *innen in den neu geschriebenen Kanon aufgenom
men, andere aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt. Unter ihnen beschäftigen wir uns insbesondere mit vom NS Regime als jü disch verfolgten Künst ler * innen wie bei spielsweise Lotte Laserstein, Rudolf Levy, Maria Luiko und Charlotte Salomon.
Im Lauf der Recherche und der Vorbe reitung der Ausstellung sowie des Katalogs haben wir auf viele drängende Fragen Ant worten erhalten, vor allem durch den ergie bigen Austausch mit den beteiligten Expert * in nen. Gleichzeitig sind mindestens ebenso viele neue Fragestellungen und For schungsdesiderate zutage getreten, die es nun gilt, im Kontext unserer Sammlung für diesen Zeitraum im Blick zu behalten.
Karin Althaus, Sarah Bock, Lisa Kern, Melanie Wittchow
7 Kunst für Keinen 1933–1945, hrsg. von Ilka Voer mann, Ausst. Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, München u. a. 2022.
8 documenta. Politik und Kunst, hrsg. von Raphael Gross u. a., Ausst. Kat. Deutsches Historisches Mu seum Berlin, München u. a. 2021.
9 Die Liste der »Gottbegnadeten«. Künstler des Natio nalsozialismus in der Bundesrepublik, hrsg. von Wolf gang Brauneis und Raphael Gross, Ausst. Kat. Deut sches Historisches Museum Berlin, München 2021.
10 Auf Linie. NS Kunstpolitik in Wien, hrsg. von Ingrid Holzschuh und Sabine Plakholm Forsthuber, Ausst. Kat. Wien Museum MUSA, Basel 2021.
11 Das Kolloquium wurde initiiert von der Ferdinand Möller Stiftung und durchgeführt in Kooperation mit der Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin sowie der Forschungsstelle »Entartete Kunst« der Freien Universität Berlin im Mai 2019 im Berliner Brücke Museum und im Hamburger Bahnhof – Mu seum für Gegenwart. Publikation: Meike Hoffmann und Dieter Scholz (Hrsg.), Unbewältigt. Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus: Kunst, Kunsthandel, Ausstellungspraxis, Berlin 2020.
12 Vgl. den Beitrag von Olaf Peters in diesem Band, S. 340.
1 Michael Heldt, Zerborstene Zeit. Deutsche Ge schichte 1918–1945, München 2022, S. 11 f.
2 Ebd., S. 11.
3 Maximilian Strnad, Privileg Mischehe? Handlungs räume »jüdisch versippter« Familien 1933–1949, (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, 54), Göttingen 2021, S. 24.
4 Vgl. Kirsten Heinsohn u. a. (Hrsg.), Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland (Reihe Geschichte und Geschlechter, 20), Frankfurt am Main u. a. 1997, S. 14.
5 Ebd., S. 12.
6 Ebd., S. 13.
13 Raphael Gross, »Vorwort«, in: Ausst. Kat. Berlin 2021 (wie Anm. 8), S. 7.
14 Olaf Peters, »Nationalsozialistische Kunst oder: die Verneinung des Außerordentlichen«, in: Hoffmann/ Scholz 2020 (wie Anm. 9), S. 46.
Bei der Vorbereitung von Ausstellung und Katalog zu Kunst und Leben 1918 bis 1955 hat uns die Frage nach einer angemessenen und sensiblen Verwendung von Sprache per manent begleitet. Es ist uns ein Anliegen, keine rassistischen, antisemitischen, sexisti schen oder in anderem Kontext diskriminie renden Begriffe zu reproduzieren oder Ter mini der NS Sprache ohne zwingende Notwendigkeit zu nutzen. Im Bemühen um historische wie sprachliche Präzision haben wir das Gespräch mit vielen Expert*innen ge sucht und uns bemüht, an den aktuellen Dis kurs über die Verwendung von Sprache und Fachbegriffen anzuschließen. Dies mag al lerdings an der ein oder anderen Stelle schon bald wieder überholt sein. Bezeichnungen von Personengruppen sind gegendert (wir haben uns hier für die Asterisk Version ent schieden) – außer, wenn es sich im histori schen Kontext nachweislich um eine Gruppe rein männlicher Vertreter handelte. Dies war vor allem der Fall bei der entscheidenden
NS Führungselite. NS Terminologie wurde ersetzt oder durch Anführungszeichen kenntlich gemacht. Die Bezeichnung »Nationalsozialisten« haben wir, wo möglich, ver sucht zu differenzieren, um kenntlich zu ma chen, wer damit konkret gemeint ist.
Die Ortsnamen sind in historischer Schreibweise und in historischem Kontext angegeben, auf eine zusätzliche zeitgenössi sche Bezeichnung haben wir bewusst ver zichtet.
PUNKT UND PANORAMA, KUNSTWERK UND KUNSTSTADT, MIKRO UND MAKRO
I.
Dieser Beitrag ist eine auch methodische Reflexion, also eine prüfende Betrachtung unseres Umgangs mit Kunst. Eine Reflexion dessen, was wir unter Kunst verstehen und wie mit Kunst umzugehen uns zur Gewohn heit geworden ist, erscheint schon deshalb geboten, weil Produktion, Distribution und Rezeption von Kunst erstens eine so außer ordentlich dynamische Entwicklung vollzogen haben; ein Ende dieser Entwick lungsdynamik ist nicht abzusehen. Zweitens liegen mittlerweile empirische Daten in einem Umfang und einer Beschaffenheit vor, dass eine kritische Reevaluierung der bisherigen Perspektiven sinnvoll und gebo ten erscheint.
Das Vorhaben, anlässlich der Ausstellung Kunst und Leben 1918 bis 1955 erneut über Verhältnisse und Beziehungen von Einzel werk und System nachzudenken, ist nicht tri vial. Denn die Modi und Strukturen der Re cherche, der Informationsverarbeitung und somit der Wissensgenerierung – im Muse ums und Ausstellungswesen ebenso wie im Kunsthandel oder in der akademischen Dis ziplin Kunstgeschichte, um exemplarisch drei wichtige Bereiche zu nennen – sind ih rerseits nicht unabhängig von unserem Ver hältnis zur Welt schlechthin. Die Reflexion hat daher zwangsläufig eine grundsätzliche oder kategoriale Dimension.
Im Kern dieses Nachdenkens geht es um die Frage, ob unsere tradierten Wahrneh mungsweisen und Deutungsmuster in der Lage sind, das Verhältnis des einzelnen Kunstwerks zur Welt in adäquater Weise zu begreifen? Meine Vermutung ist: Nein.
Die Relation von Objekt und Entste hungs oder Hervorbringungssituation (Welt) ist jedenfalls prinzipiell mehrdimensional.1 Statt nun die – auch historischen –Gründe für die teils exkludierende Fokussie rung auf das Einzelobjekt (oder auf eine latent werkimmanente, vor allem formale As pekte hervorhebende Analyse) zu rekapitu lieren, möchte ich vielmehr versuchen dar zulegen, was durch eine andere – erweiterte – Sichtweise gewonnen werden könnte: Pano rama statt Punkt. Der bilanzierende Blick ist zudem nicht allein rückwärtsgerich tet, sondern will auch unser heutiges Tun im Umgang mit Kunst besser verstehen. Die Grundthese dieser Betrachtung lautet somit: Ein stärker systemisches Verständnis, also eine ganzheitliche oder holistische Perspek tivierung, trägt maßgeblich zu einer wesent lich komplexeren Auffassung des Werks bei, da sowohl der Entstehungskontext (in einem umfassenden Sinn) als auch die nachfol gende Überlieferungs , Besitz und Deu tungsgeschichte als genuin objektbezogene Entitäten integriert werden können und müssen.