Schmähung - Provokation - Stigma

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SCHMÄHGEMEINSCHAFTEN UND FEINDBILDER

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Auch in seinem jetzigen Alter – möchten ihn die Götter zugrunde richten! – ist, mit Respekt zu sagen, sein ganzes Haus ein Kupplerhaus, seine ganze Familie durch Unzucht besudelt: er selbst schamlos, seine Frau eine Hure, die Söhne ähnlich … Apul. 74,5–75,2

Antike invektiv

Profilierung durch Schmähreden im alten Rom

Im alten Rom waren ö entliche Schmähreden, etwa in Gerichtsprozessen auf dem Forum als dem gesellschaftlichen Zentrum der Stadt, ein regelmäßiger Begleiter von politischen Auseinandersetzungen.1 Hier war der Zugang nicht reglementiert und es konnten neben den unmittelbar Beteiligten auch Parteigänger sowie alle an einem Fall Interessierten dem Prozess beiwohnen. Es war vorteilhaft, dieses Publikum mittels invektiver Rede für sich zu gewinnen und gegen die andere Seite aufzuwiegeln. Um eine Schmähgemeinschaft zu begründen, wurden Klienten und Freunde dazu gebeten oder im Vorfeld Claqueure angeworben, um lautstark für eine der Seiten Partei zu ergreifen. Das invektive Arsenal der Gerichtsreden zielte auf die vollständige Diskreditierung des Gegners sowie der von ihm aufgerufenen Zeugen. Die Angri e richteten sich deshalb gegen die Person in ihrer gesamten Erscheinung und Lebensführung: äußere Merkmale, Auftreten, Herkunft, Beruf, Charaktereigenschaften, Moralvorstellungen, angebliche Sexualpraktiken und auch das soziale Umfeld. So setzte der versierte Redner, Schriftsteller und Philosoph Apuleius, als er sich vor Gericht selbst gegen den Vorwurf der Zauberei verteidigen musste, zum rhetorischen Gegenschlag an, indem er seine Ankläger ad personam angri und heftig schmähte, wie im Fall des Herennius Ru nus:

Er ist nämlich Makler aller möglichen Prozesse, Er nder aller denkbaren Fälschungen, Künstler in allen Verstellungen, P anzschule alles Bösen, zugleich aber auch aller Lüste und Völlereien Lagerplatz, Lumpenstätte und Luderhaus, schon seit Beginn seines Lebens durch alle möglichen Schandtaten ö entlich bekannt. […] Auch in seinem jetzigen Alter – möchten ihn die Götter zugrunde richten! – ist, mit Respekt zu sagen, sein ganzes Haus ein Kupplerhaus, seine ganze Familie durch Unzucht besudelt: er selbst schamlos, seine Frau eine Hure, die Söhne ähnlich; […]. Auf diese Weise dient ihm die Schande seines Bettes als Einnahmequelle. Einstmals anstellig mit seinem eigenen Körper, macht er jetzt bei aller Welt Geschäfte mit dem seiner Frau.2

Ankläger und Verteidiger konnten in diesem Rahmen über besonders ausgefeilte, spektakuläre oder neuartige Herabsetzungen persönliches Ansehen erlangen und sich so für

Fulvio Orsini: Imagines et elogia virorum illustrium, Rom: Antonio Lafreri 1570, Bl. 26v (Ausschnitt).

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eine weitere Karriere pro lieren, wie das Beispiel des späteren Konsuls Cicero zeigt, der seine politische Laufbahn als Prozessredner begann.

Eine weitere Form invektiver Rede, die der eigenen Pro lierung dienen konnte, war das Schmähgedicht. Auch dieses wurde ö entlich, also vor Publikum vorgetragen. In einer ersten Fassung wurden diese Texte zunächst Freunden oder anderen Dichtern vorgestellt. Sie dienten auch der Unterhaltung bei Gastmählern und Symposien. Zum Teil wurden solche Gedichte durch professionelle Sänger auf der Bühne aufgeführt und so einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Denkbar ist auch, dass eine gestische Untermalung des Textes während der Darbietung erfolgte.

Bekannt sind etwa Catulls Schmähgedichte, die sich unter anderem gegen prominente Persönlichkeiten wie Caesar oder Pompeius richteten. Ein anderes von ihnen (Carmina 16) gibt sich als Reaktion auf eine vorangegangene Beleidigung aus: Der Dichter greift die Unterstellung auf, er sei ebenso verweichlicht wie die Verse seiner „Kussgedichte“. Diese in der römischen Antike geläu ge Beleidigung dreht er gekonnt um. Dabei spricht er seinen Widersacher in einer ngierten face-to-face-Situation direkt an. Die explizite Formulierung, die das Gedicht für die Zuhörer so eindrücklich machte, sorgte dafür, dass lange Zeit keine englische Übersetzung des Textes angefertigt wurde:

Ich werde euch in den Arsch cken und in den Mund, dich, Schwuchtel Aurelius, und dich, Tunte Furius, die ihr mich aufgrund meiner Verslein, weil sie weichlich sind, für zu wenig anständig haltet.

[…]

Ihr da – weil ihr von vielen tausend Küssen gelesen habt, haltet ihr mich für keinen richtigen Mann? Ich werde euch in den Arsch cken und in den Mund!3

22 Antike invektiv

Anmerkungen

1 Martin Jehne: Freud und Leid römischer Senatoren. Invektivarenen in Republik und Kaiserzeit (Karl-Christ-Preis für Alte Geschichte, Bd. 004), Göttingen 2020; Dennis Pausch: Virtuose Niedertracht. Die Kunst der Beleidigung in der Antike, München 2021; Valentina Arena: Roman Oratorical Invective, in: William Dominik, Jon Hall (Hgg.): A Companion to Roman Rhetoric, Malden 2007, S. 149–160

2 Apul. apol. 74,6–75,2. Apuleius: Verteidigungsrede. Blütenlese. Lateinisch und deutsch, hg. von Rudolf Helm (Schriften und Quellen der alten Welt, Bd. 36), Berlin 1977, S. 113–115.

3 C. Valerius Catullus: Carmina/Gedichte. Lateinisch–deutsch, übers. und hg. von Niklas Holzberg (Sammlung Tusculum), Düsseldorf 2009, S. 27.

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Hanna Maria Degener

Feindbild Rom

Topoi antirömischer Invektiven der Reformationszeit

Der reformatorische Kon ikt entzündete sich im frühen 16. Jahrhundert auch an der Frage des Verhältnisses zu Rom, wobei ‚Rom‘ nicht nur räumlich das Zentrum der europäischen Christenheit bezeichnet, sondern metonymisch für die politische Strategie und die ökonomischen Praktiken der Kurie und des Papstes stehen. Rom als Feind zu begreifen und dementsprechend zu schmähen, hat eine längere Vorgeschichte.1 Sie knüpft an den besonderen historischen und symbolischen Status der ‚ewigen‘ Stadt (urbs aeterna) an. Hinzu kommt die spezi sche Konstitution päpstlicher Herrschaft im lateinischen Westen und die daraus resultierenden Spannungen zwischen geistlicher und weltlicher Macht, die im Heiligen Römischen Reich von besonderer Brisanz gewesen sind.

In dieser kon iktiven Konstellation prägte sich eine Topik aus, die Rom Arroganz, Fremdherrschaft, Tyrannei und Habgier (avaritia romana) zuschrieb, um die päpstliche Politik zu delegitimieren. Wenn sich die lutherische Partei als antirömische Opposition inszenierte, konnte sie also an ältere romfeindliche Diskurse anknüpfen. Eine wichtige Rolle spielten etwa die Gravamina nationis germanicae, die seit 1450 immer wieder erhobenen Beschwerden der deutschen Stände über die Ausbeutung durch die Kurie (Abb. 1). Die anonyme Trias Romana von 1518/19, eine Spruchsammlung über die ‚römische Dreifaltigkeit‘, richtet dagegen den Blick auf Rom selbst: In insgesamt 58 dreigliedrigen Sprüchen werden die Verweltlichung der Kurie und die Kommerzialisierung religiöser Praktiken verspottet:

Drey sein bürger zu o Rom / Simon / Judas / populus gomorre.2

Der abschließende Epilog ruft in einem apokalyptischen Gestus zur radikalen Umkehr auf:

Der Sünde sein worden vil zu o vil/ Rom ker wider du bist U e bers zil.3

Zahlreiche namhafte Poeten und Gelehrte schlossen sich der antipäpstlichen, beziehungsweise antikurialen, Opposition an. So etwa der fränkische Humanist Ulrich von Hutten,4 der mit seinem Dialog Vadiscus sive Trias Romana Titel und Form der satirischen Merksprüche der Trias Romana aufgri . 5 In einem ngierten Dialog mit einem Freund namens Ernhold erläutert Hutten diese Merksprüche und schreibt sie einem

Ulrich von Hutten: Gespräch büchlin herr Ulrichs von Hutten. Feber das Erst. Feber das Ander. Wadiscus, oder die Römische dreyfaltigkeit. Die Anschawenden, Straßburg: Johann Schott [1521], Titelblatt.

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1. Jakob Wimpfeling [u. a.]: Gravamina Germanicae nationis ad Carolum electum Ro. Regem, Coloniae: Apud Eucharium Cervicornum & Heronem Fuchs 1520, Titelblatt.

als Romkenner ausgewiesenen Vadiscus zu. Die Vergegenwärtigung von „Mißleben, Übermut und Tyrannei“ der Römer führt bei Ernhold schließlich zu einem Zornesausbruch und der Forderung, diesem Treiben endlich Einhalt zu gebieten.6 Huttens Text erschien 1520 zunächst im Rahmen seiner lateinischen Dialogi und in der deutschen Übersetzung 1521 im Gesprächsbüchlein (Abb. S. 24):

Die Ro e mer handlen mit dreyerley kau schatz/ Christo/ geystlichen Leen/ und weybern.7

Sowohl die anonyme Trias Romana als auch Huttens Vadiscus wurden im 16. Jahrhundert mehrfach nachgedruckt.8

Ganz ähnlich argumentiert Martin Luther in seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung vom August 1520 (Abb. 2). Auch er rekurriert auf Rom als Stadt des Niedergangs, der Korruption und des Unheils, 9 verknüpft jedoch die antirömische Invektive mit einer theologischen Argumentation: Die für die mittelalterliche Kirche grundlegende Unterscheidung von Klerikern und Laien wird als ‚Er ndung‘ der „Romanisten“ gekennzeichnet; eine Regulierung der römischen

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Albrecht Dröse, Marius Kraus 2. Martin Luther: An den Christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen standes besserung, Leipzig 1520, Titelblatt.

Kirche durch die weltliche Obrigkeit sei demnach nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten. Hinter der Herrschaft der „Romanisten“ aber steht, so Luther, der Antichrist selbst.10

Der Topos von der römischen Tyrannei bildet dann in Luthers De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium vom Oktober 1520 auch das Leitmotiv.11 Luther beschreibt hier die geltende sakramentale Ordnung als Gewissenszwang und als Form der Gefangenschaft, der er den Begri der christlichen Freiheit gegenüberstellt, die allein im persönlichen Glauben (sola de) gründe. Damit weist er jeglichen Anspruch klerikaler Heilsvermittlung ab. Ob Hutten diese theologische Konsequenz mitvollzogen hat, ist ungewiss, dennoch beklagt er im Oktober 1520 in seiner gereimten Klag und Vermahnung ebenfalls die übergri ge und „unchristliche Gewalt“ des Papstes (Abb. 3): In 1.578 Reimpaarversen liefert er eine konzentrierte Zusammenschau all seiner Vorwürfe gegen die vorgebliche Ausbeutung Deutschlands durch Rom und den Niedergang der Kirche. Der letzte Vers schließt mit seinem persönlichen Motto: „Ich habs gewagt, das ist mein reim.“12

28 Feindbild Rom
3. Ulrich von Hutten: Clag vnd vormanu[n]g gegen dem übermässigen vnchristlichen gewalt des Bapsts zu Rom vnd der vngeistliche[n] geistlichen, [Straßburg: Johann Schott 1520], 1v–2r.

Anmerkungen

1 Josef Benzinger: Invectiva in Romam. Romkritik im Mittelalter vom 9. bis zum 12 Jahrhundert, Lübeck/Hamburg 1968; Michael Matheus: Papst- und Romkritik in der Renaissance, in: Ders. [u. a.] (Hgg.): Die Päpste der Renaissance. Politik, Kunst und Musik, Regensburg 2017, S. 301–352.

2 Trias Romana, [Mainz: Johann Schö er 1519], Bl. 2a.

3 Ebd., Bl. 4b.

4 Heiko Wulfert: Die Kritik an Papsttum und Kurie bei Ulrich von Hutten. 1488–1523 (Rostocker eologische Studien, Bd. 21), Berlin 2009.

5 Arnold Becker: Ulrichs von Hutten polemische Dialoge im Spannungsfeld von Humanismus und Politik (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike, Bd. 15), Göttingen 2013, S. 184–196.

6 Achim Aurnhammer: Vom Humanisten zum „Trotzromanisten“. Huttens poetische Rom-Polemik, in: Martin Disselkamp, Peter Ihring, Friedrich Wolfzettel (Hgg.): Das alte Rom und die neue Zeit. Varianten des Rom-Mythos zwischen Petrarca und dem Barock, Tübingen 2006, S. 153–169, hier S. 163–167.

7 Ulrich von Hutten: Gespräch büchlin herr Ulrichs von Hutten. Feber das Erst. Feber das Ander. Wadiscus, oder die Römische dreyfaltigkeit. Die Anschawenden, Straßburg: Johann Schott [1521], Bl. k ij.

8 Josef Benzing: Ulrich von Hutten und seine Drucker. Eine Bibliographie der Schriften Huttens im 16. Jahrhundert (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, Bd. 6), Wiesbaden 1956, S. 76–79.

9 Marina Münkler: Luthers Rom. Augenzeugenschaft, Invektivität und Konversion, in: Christoph Mauntel, Volker Leppin (Hgg.): Transformationen Roms in der Vormoderne, Basel/Stuttgart 2019, S. 213–242, hier S. 228.

10 Albrecht Beutel: Dreifach vermauertes Rom. Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation, in: Reformatio. Zeitschrift für Kultur, Politik, Kirche 42 (1993), S. 12–18, hier S. 13; Ingvild Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik in der Zeit der Reformation und der Glaubenskämpfe bis Anfang des 17. Jahrhunderts. Argumentation, Form und Funktion, Frankfurt a. M. [u. a.] 2003, S. 81–93.

11 Johannes Klaus Kipf: Martin Luther und die Wortfamilie ‚Tyrann(ei)‘, in: Julia Gold, Christoph Schanze, Stefan Tebruck (Hgg.): Tyrannenbilder. Zur Polyvalenz des Erzählens von Tyrannis in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/New York 2022, S. 515–529, hier S. 520.

12 Herbert Jaumann: Hutten, Ulrich von, in: Franz Josef Worstbrock (Hg.), Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Bd. 1, Berlin [u. a.] 2008, Sp. 1185–1237, hier Sp. 1224–1237

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Albrecht Dröse, Marius Kraus

Der Triumph des ‚gemeinen Mannes‘

Frühreformatorische Gelehrtenkritik im Karsthans-Dialog

Wiebke Voigt

1520, drei Jahre nach Verö entlichung der 95 esen Martin Luthers, warnte der Elsässer Franziskaner omas Murner eindringlich vor der Aufwiegelung von „Hans Karst und der ungelehrten und aufrührerischen Gemeinde“1 durch die Reformation. In der Folge sollte er selbst zur Zielscheibe einer über das damals neue Medium der Flugschrift betriebenen Schmähkampagne werden.2 Eines der gegen den Kleriker gerichteten Pamphlete wurde in Dialogform verfasst und trägt den schlichten Titel Karsthans (Abb. 1).

Der anonyme Autor gri damit den alemannischen Begri des Hans Karst auf, den Murner zuvor im ursprünglichen Sinne als Bezeichnung für einen Bauerntölpel verwendet hatte,3 und deutete ihn geschickt um: Der gleichnamige Protagonist im KarsthansDialog, ein selbstbewusster Dorfvogt, verkörpert nun den Prototyp des bibelfesten, lutherisch gesinnten ‚gemeinen Mannes‘, der mit dem ‚Bauernklotz‘ von Murner nichts gemein hat.4 Vielmehr erscheint der ungelehrte Laie dem eologen in jeglicher Hinsicht überlegen. Der „Mur-Narr“ habe hingegen „mehr auf der Narrenwiese gevögelt als in der Heiligen Schrift studiert“5. Mit seiner Überheblichkeit, der vulgären Ausdrucksweise und seinem lasterhaften Lebenswandel erfüllt er fast jedes antiklerikale Klischee und verkörpert den reformatorischen Topos des ‚verbildeten eologen‘.6 Die Murner zugeschriebenen negativen Eigenschaften werden durch das katzenköp ge Mischwesen auf dem Titelblatt visualisiert, handelt es sich bei dem Motiv doch um eine Verballhornung seines Namens (‚murner‘ bedeutet im Frühneuhochdeutschen Kater).7 Der „Murmau“, so heißt es später im Text, sei „eine böse Katz’, die vorne leckt und hinten kratzt“.8

Mit insgesamt zehn Au agen wurde Karsthans zum ‚Beststeller‘. Neben der Abrechnung mit Murner werden auch zentrale theologische Kontroversen verhandelt. Die dialogische Struktur des Textes erlangte rasch Vorbildcharakter und begründete ein neues literarisches Genre: die sogenannten Reformationsdialoge, in denen ein einfacher Laie über einen Kirchenmann triumphiert.9 Diese Konstellation, in der das hierarchische Bildungsgefälle auf invektive Weise umgekehrt und der ‚falsche Geistliche‘ durch den ‚gemeinen Mann‘ demaskiert wird, war nicht zuletzt Ausdruck reformatorischer Gelehrtenkritik. Auch die egelschwingende Figur des Karsthans lebte in Folgepublikationen weiter – etwa im dialogischen Anhang Karsthans und Kegelhans von Hermann

omas Murner: Von dem grossen Lutherischen Narren wie in doctor Murner beschworen hat […], Straßburg: Johann Grüninger 1521, Titelblatt.

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von dem Busches Passio (1522) oder im ebenfalls anonym verö entlichten Gesprächbüchlein Neukarsthans (1521), das dem Straßburger Reformator Martin Bucer zugeschrieben wurde.10 Der schlaue Bauer, als Symbol der geistigen Mündigkeit des ‚gemeinen Mannes‘, ist dabei keineswegs identisch mit dem realen Standesbauern, sondern war ein literarisches Konstrukt, das dem Ideal der Priesterschaft aller Gläubigen ein markantes Gesicht verlieh.11

Doch vermochte Murner die Kunst gur Karsthans ein weiteres Mal invektiv umzudeuten: In seinem monumentalen Schmähgedicht Von dem großen lutherischen Narren (Abb. S. 30) tritt er als katzenköp ger Gegenreformator auf, während die Bauern gur dem beschworenen Narrenungetüm, das die Reformation symbolisiert, buchstäblich aus dem Hintern gekrochen kommt: Es sei ihm „von Herzen leid“, dichtet Murner ironisch spöttelnd, Karsthans in einer derart erbärmlichen Lage vorgefunden zu haben. Damit der Bauer wieder in einen „ehrlicheren Stand“ komme, solle er vom Narrenmonster „geschissen“ werden. Auf diese Weise hätte Karsthans, die Gallions gur der reformatorischen Bewegung, aus Murners Sicht wohl ihr verdientes Ende gefunden.12

Der Triumph des ‚gemeinen Mannes‘

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1. [Johann Prüß d. J.]: Karsthans, [Straßburg] 1521, Titelblatt.

Anmerkungen

1 omas Murner: Von Doctor Martinus luters leren vnd predigen, 1520, in: omas Murners Deutsche Schriften, Bd. 6, Berlin/Leipzig 1927, S. 91–122, hier S. 91.

2 omas Kaufmann: Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der eologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung, Tübingen 2018, S. 376–400.

3 Rudolf Bentzinger (Hg.): Die Wahrheit muß ans Licht! Dialoge aus der Zeit der Reformation, Leipzig 1983, S. 114.

4 Albrecht Dröse: Anfänge der Reformation, in: Werner Röcke, Marina Münkler (Hgg.): Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München/Wien 2004, S. 198–242, hier S. 220

5 Unbekannter Verfasser [Johann Prüß d. J.]: Karsthans, [Straßburg] 1521, Bl. ccr.

6 Zuvor hatte bereits Luther die geistliche Elite als die ‚Verkehrten‘ di amiert. Hierzu Heiko A. Oberman: Die Gelehrten die Verkehrten. Popular Response to Learned Culture in the Renaissance and Rerformation, in: Steven Ozment (Hg.): Religion and Culture in the Renaissance and Reformation, Kirksville 1987, S. 43–65, hier S. 46.

7 omas Neukirchen (Hg.): Karsthans. omas Murners „Hans Karst“ und seine Wirkung in sechs Texten der Reformationszeit, Heidelberg 2011, S. 289.

8 Karsthans 1521, Bl. dd 3v.

9 Susanne Schuster: Dialog ugschriften der frühen Reformationszeit. Literarische Fortführung der Disputation und Resonanzräume reformatorischen Denkens, Göttingen 2019.

10 Siegfried Bräuer: Martin Bucer und der Neukarsthans, in: Christian Krieger, Marc Lienhard (Hgg.): Martin Bucer and Sixteenth Century Europe. Actes du Colloque de Strasbourg (28–31 Août 1991), Leiden 1993, S. 103–128, hier S. 104–108.

11 Ninna Jørgensen: Bauer, Narr und Pa e. Prototypische Figuren und ihre Funktion in der Reformationsliteratur, Leiden [u. a.] 1988, S. 12

12 omas Murner: Von dem grossen Lutherischen Narren wie in doctor Murner beschworen hat […], Straßburg: Johann Grüninger 1521, Bl. R iiir.

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Wiebke Voigt

Wider Hans Worst

Hetzende Fürsten in der Frühen Neuzeit

Stefan Beckert

Ein „Hans Worst“, so schrieb Martin Luther 1541, sei ein grober Tölpel, der vorgibt, klug zu sein, aber eigentlich nur unwissend daherrede.1 Der Wittenberger Reformator widmete dieser Beleidigung ein ganzes Werk, das den pointierten Titel Wider Hans Worst trägt. Mit diesem beteiligte sich Luther an einer Streitschriftenfehde zwischen den Hauptmännern zweier befeindeter Militärbündnisse: auf der einen Seite die Protestanten Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen (Schmalkaldischer Bund), denen das katholische Lager unter Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel (Nürnberger Bund) gegenüberstand.2

Seit 1539 warfen sich die Parteien im Rahmen ausufernder juristischer Streitschriften wechselseitig vor, gegen die Regeln der Adelsgesellschaft verstoßen zu haben und einen Religionskrieg vorzubereiten. Auf dem Reichstag zu Regensburg (1541) verbreiteten die Kontrahenten ihre jeweiligen Vorwürfe dann in satirischer Form und in di amierenden Schmähschriften. Ziel der Schmalkaldischen Bundeshauptleute war es, Heinrich vor den versammelten Fürsten des Reiches bloßzustellen, von seinen Verbündeten zu trennen und damit einen bereits geplanten Krieg gegen den Herzog legitimatorisch vorzubereiten.3 Der sächsische Kurfürst beauftragte Martin Luther, gegen Herzog Heinrich zu schreiben. Luther, selbst erbost über die Gerüchte, Herzog Heinrich beauftrage Brandstiftungen gegen protestantische Städte,4 gri eine Passage aus der herzoglichen Streitschrift Duplicae (1540) auf. Hier behauptete Heinrich, Luther würde seinen eigenen Landesherren, den Kurfürsten Johann Friedrich, einen „Hans Worst“ nennen.5

Luthers Antwort darauf, Wider Hans Worst (Abb. 1), enthält mehr Beleidigungen als Seiten und wurde gleich zu Beginn des Reichstages im April 1541 in Regensburg verbreitet.6 Herzog Heinrich wird darin zum Hans Worst und Heintz Mordbrenner der im Bund mit Teufel und Papst die deutschen Protestanten mit Feuer und Schwert bekämpft:

der Esel aller Esel zu Wol enbüttel schreiet daher sein Esel geschrey urteilt und ketzert so er doch nimer mehr lernen kann wenn er hundert jar studirt und seine Meister im gantzen Bapstumb höret was Kirche sey […]. Was aber Mordbrennen sey das kundte er seine Meister auch den Bapst selbs wol leren.7

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Lucas Cranach d. J.: Die Belagerung von Wolfenbüttel, 1542, Holzschnitt/Papier (Ausschnitt).

Luther rief dazu auf, die Schmähungen gegen den Herzog ö entlich zu verbreiten, von den Kanzeln der Kirchen zu rufen und vor dem katholischen Fürsten auszuspucken. Die reformatorischen Druckerzentren, allen voran Wittenberg und Magdeburg, kamen dieser Au orderung zur ö entlichen Schmähung bereitwillig nach. So stehen etwa die Zween Sendbrie an Hansen Worst (1541), ebenfalls auf dem Regensburger Reichstag in Umlauf gebracht, beispielhaft für die vielen satirischen Schriften der Folgezeit. Als besondere Spitze gegen den Herzog wird auf dem Titelblatt der Zween Sendbrie als ngierter Druckort Wolfenbüttel genannt; demnach wäre die Schmähschrift gegen den Herzog in dessen eigener Hofdruckerei erschienen. Beliebte Beschimpfungen des angeblichen Kriegstreibers Heinrich waren weiterhin Scharrhans oder „deudscher Türck“.

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Wider Hans Worst 1. Martin Luther: Wider Hans Worst, Wittenberg: Hans Lu t 1541, Titelblatt.

Dass diese Beleidigungen wirkten, zeichnet sich an der Eroberung Wolfenbüttels ab (Abb. S. 34). Im Sommer 1542 nahm der Schmalkaldische Bund die Festung des geschmähten Herzogs in aller Eile und ohne nennenswerten Widerstand der anderen Reichsstände ein.8 Auch die Eroberung wurde von einer printmedialen Kampagne des Schmalkaldischen Bundes begleitet und erneut durch satirische Werke reformatorisch gesonnener Buchdrucker befeuert.9

Anmerkungen

1 Martin Luther: Wider Hans Worst. Wittenberg: Hans Lu t 1541, Bl. A3a.

2 Stefan Beckert [u. a.]: Ö entlichkeit und Invektivität im 16 Jahrhundert, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 22 (2020), S. 36–82, hier S. 60–62.

3 Friedrich Bruns: Die Vertreibung Herzog Heinrichs von Braunschweig durch den Schmalkaldischen Bund. Erster Teil: Vorgeschichte, Marburg 1889, S. 89–92.

4 Mark Edwards: Luther’s Last Battles. Politics and Polemics 1531–1546, Ithaca 1983, S. 145–147

5 Herzog Heinrich II . von Braunschweig-Wolfenbüttel: Ergrünte bestendige erhebliche warha tige Göttliche Christliche Fürsten und Adel liebende Duplicae [...] Wolfenbüttel: Henning Rüdem 1540, Bl. A4b.

6 Georg Kuhaupt: Verö entlichte Kirchenpolitik. Kirche im publizistischen Streit zur Zeit der Religionsgespräche (1538–1541), Göttingen 1998, S. 286.

7 Martin Luther: Wider Hans Worst, Bl. G1b.

8 Franz Petri: Herzog Heinrich der Jüngere von Braunschweig-Wolfenbüttel. Ein niederdeutscher Territorialfürst im Zeitalter Luthers und Karls V., in: Archiv für Reformationsgeschichte 72 (1981), S. 122–157, hier S. 145.

9 Gabriele Haug-Moritz: Der Wolfenbütteler Krieg des Schmalkaldischen Bundes (1542), die Ö entlichkeit des Reichstags und die Ö entlichkeiten des Reichs, in: Maximilian Lanzinner, Arno Strohmeyer (Hrsg.): Der Reichstag 1486–1613. Kommunikation – Wahrnehmung – Ö entlichkeiten, Göttingen 2006, S. 269–80, hier S. 263–265.

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