» DER ARBEIT DIE SCHÖNHEIT GEBEN« Tiepolo und seine Werkstatt in Würzburg
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Tiepolo und seine Werkstatt in Würzburg
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Tiepolo und seine Werkstatt in Würzburg
Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg in Kooperation mit dem Museum für Franken, Würzburg Herausgegeben von Damian Dombrowski unter Mitarbeit von Aylin Uluçam Mit Beiträgen von Damian Dombrowski, Verena Friedrich, Claudia Lichte, Alexander Linke, Aylin Uluçam und Ulrike Weikart
Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung »Der Arbeit die Schönheit geben« Tiepolo und seine Werkstatt in Würzburg Veranstalter: Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg in Kooperation mit dem Museum für Franken, Würzburg 31. Oktober 2020 bis 31. Januar 2021 Gemäldegalerie des Martin von Wagner Museums der Universität Würzburg Ausstellung und Katalog wurden großzügig gefördert durch: Ernst von Siemens Kunststiftung Herbert Wellhöfer, Würzburg va-Q-tec, Würzburg Wolfgang Ratjen Stiftung, Liechtenstein Dr. Hedwig Waldmann-Klement, Langgöns Tanja-Natascha und Jens Geisendörfer Tavolozza Foundation, München Julius-Maximilians-Universität Würzburg Sparkassenstiftung für die Stadt Würzburg Dr. Peter Schlagbauer, Würzburg Knauf Gips KG, Iphofen Lauda Dr. R. Wobser GmbH & Co. KG, Lauda-Königshofen Freunde der Würzburger Residenz e. V. Frankenbund (Ortsgruppe Würzburg) Soroptimist International, Club Würzburg Alumni Universität Würzburg Engel & Völkers Immobilien Würzburg
WOLFGANG RATJEN STIFTUNG
Liechtenstein
Inhalt
7
Grußwort
8
Vorwort und Dank
Essays 12 »Der Arbeit die Schönheit geben« Tiepolo und seine Werkstatt in Würzburg Damian Dombrowski 26
Originale, Pauskopien, V orstudien, Merkskizzen Das Würzburger Tiepolo-Urlaub-Zeichnungskonvolut und die Werkstattpraxis Ulrike Weikart
43
Morgenlicht und Schaffensdrang Entdeckungen bei der Restaurierung der G emälde Die Frauen Roms vor Coriolan und Mucius Scaevola vor Porsenna von Giambattista Tiepolo Julia Pracher und Georg F. R. Pracher
Katalog 51
Kapitel 1 Um Tiepolo Die Künstler bei Hofe
69
Kapitel 2 In Würzburg Tiepolo in Dokumenten
89
Kapitel 3 Vor Würzburg Generalprobe Palazzo Labia
107
Kapitel 4 »In seiner Mahlerey zimlich avanciret« Die Ausstattung der Residenz
139
Kapitel 5 Entwerfen, Pausen, Kopieren Die Tiepolo-Werkstatt in Aktion
195
Kapitel 6 Zweiklänge Pendantgemälde der Würzburger Zeit
217
Kapitel 7 Vielfalt der Stile, Virtuosität des Strichs Tiepolo als Meisterzeichner
251
Kapitel 8 Geistesblitze und Formenspiele ›Kapriziöse‹ Erfindungen
273 Kapitel 9 Historien mit Sehnsuchtsmotiv? Die Flucht nach Ägypten in Zeichnung und Radierung 299 Kein Kapitel Greser & Lenz Eine Hommage an Tiepolo in Würzburg
303 Bibliografie 311
Bildnachweis
312
Impressum
Grußwort Das Martin von Wagner Museum der Julius- Maximilians-Universität Würzburg (JMU) ist eines der bedeutendsten Universitätsmuseen Europas. Die seit 1832 zusammengetragene Kunstsammlung umfasst Bestände antiker und nachantiker Kunst aus sechs Jahrtausenden Kunst- und Kulturgeschichte. Die Würzburger Residenz, in deren Südflügel das Museum seit 1963 seinen Sitz hat, gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Mit diesem Titel darf sich das ehemalige Stadtschloss der Fürstbischöfe vor allem wegen seiner unvergleichlichen Fresken schmücken, welche Giambattista Tiepolo dort zwischen 1750 und 1753 ausführte. Mit der Ausmalung des Kaisersaals und des Treppenhausgewölbes hat dieser bedeutendste Künstler des 18. Jahrhunderts echte Meisterwerke geschaffen. Weniger bekannt ist der Umstand, dass auch das Martin von Wagner Museum selbst ein ›Tiepolo-Ort‹ erster Güte ist. Nicht nur hat dieses älteste Museum Unterfrankens schon sehr früh zwei Gemälde erwerben können, die der Venezianer hier in Würzburg für den Architekten der Residenz, Balthasar Neumann, anfertigte. Auch bewahrt die Graphische Sammlung des Universitätsmuseums ein üppiges Konvolut von Arbeiten, die unmittelbar mit dem dreijährigen Aufenthalt Tiepolos in Würzburg zusammenhängen. Glanzlichter unter den Exponaten aus dem Besitz des Martin von Wagner Museums sind nicht nur Zeichnungen von Giambattista Tiepolo selbst. Auch die Entwürfe und Nachzeichnungen seines Sohnes Giandomenico, der ihn nach Franken begleitete, haben ihre unbestrittene Faszination. Hinzu kommen Merkskizzen und Pauskopien, die der wichtigste Mitarbeiter Tiepolos in dessen Würzburger Jahren, Georg Anton Urlaub, für sich anfertigen durfte. Ferner zahlreiche Radierungen,
denn auch in diesem druckgrafischen Medium haben die Tiepolo ihre Meisterschaft bewiesen. Das 250. Todesjahr des großen Venezianers ist willkommener Anlass, in Gestalt einer Ausstellung seiner zu gedenken. Die gegenwärtige Ausstellung hat sich zum Ziel gesetzt, die Werkstattpraxis auch und gerade hinsichtlich der Übertragungswege vom Entwurf bis hin zur Ausführung der Kunstwerke zu veranschaulichen. So erklärt sich ihr Titel »Der Arbeit die Schönheit geben«, der auf eine Äußerung von Tiepolos Auftraggeber, Carl Philipp von Greiffenclau, zurückgeht. Der Würzburger Fürstbischof brachte damit zum Ausdruck, was er von dem soeben verpflichteten Künstler erwartete. In einem Universitätsmuseum gehen Wissenschaft und Kunst Hand in Hand. Die Ausstellung, die im vorliegenden Katalog dokumentiert ist, zeigt eine Vielzahl künstlerischer Werke von höchster Qualität, aber auch die wissenschaftlichen Wege, die ein besseres Verständnis dieser Werke erschließen. Insbesondere baut die Tiepolo-Ausstellung auf Einsichten auf, die im Rahmen einer Dissertation am Würzburger Lehrstuhl für Kunstgeschichte gewonnen worden sind. Für ihre Initiative danke ich dem Direktor und dem Kurator der Neueren Abteilung, Prof. Dr. Damian Dombrowski und Dr. Markus Josef Maier, sowie ihrer Projektmitarbeiterin Aylin Uluçam. Dank gebührt auch dem Museum für Franken, insbesondere seiner Leiterin, Dr. Claudia Lichte, für die stets gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Ich wünsche allen Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung viele interessante Einblicke. Prof. Dr. Alfred Forchel Präsident der Julius-Maximilians-Universität Würzburg
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Vorwort und Dank 1770 starb Giambattista Tiepolo, der berühmteste Maler seines Zeitalters, in Madrid. Sein 250. Todesjahr motivierte das Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg dazu, mit einer Ausstellung des Künstlers zu gedenken, dessen Werke für die Identität der Kulturstadt Würzburg ein unersetzlicher Bestandteil sind. Gerade dort wird Tiepolo, verständlicherweise, in erster Linie als Schöpfer der unvergleichlichen Fresken in der Residenz wahrgenommen. Eine Ausstellung, die sich überwiegend aus Proben seiner Zeichenkunst (und der seiner Mitarbeiter) zusammensetzt, verspricht eine intimere Annäherung an den Künstler als das berauschende Erlebnis von Treppenhaus und Kaisersaal. Die unmittelbare Nachbarschaft des im Südflügel der Residenz gelegenen Martin von Wagner Museums zu Tiepolos Wand- und Deckengemälden erlaubt Nah- und Fernblick in einem Zug, woraus sich ein vollständigeres Bild der Künstlerpersönlichkeit ergeben mag als aus der exklusiven Betrachtung von Malerei oder Zeichnung. Beide Gattungen verfügen jedoch über eine gemeinsame Wurzel, nämlich eine voraussetzungslose Freiheit in der Handhabung der künstlerischen Mittel. Aussehen und Struktur der Ausstellung, die sich auch im Aufbau des vorliegenden Katalogs widerspiegeln, ergaben sich aus dem nahezu täglichen Austausch mit Dr. Markus Josef Maier, dem Kurator der Neueren Abteilung des Martin von Wagner Museums der Universität Würzburg. Er brachte sich mit zahlreichen Anregungen ein und war Korrektiv in Zweifelsfragen, ganz zu schweigen von seiner unverzichtbaren Präsenz bei der praktischen Realisierung der Ausstellung. Zudem hat er die ausgestellten Tiepolo-Dokumente im Staatsarchiv neu transkribiert. Ihm sei an dieser Stelle auf das Herzlichste gedankt – wie auch der zweiten Person, die sich um die Ausstellung größte Verdienste erworben hat: Aylin Uluçam wurde in der Hochphase der Vorbereitungen bei sämtlichen kuratorischen Vorgängen sowie für die Katalogredaktion zur so unentbehrlichen wie unermüdlichen Stütze des Projekts. Ihr organisatorisches Geschick, ihre fachliche Kompetenz und nicht zuletzt ihre Begeisterung für die Sache haben Ausstellung und Publikation in vielerlei Gestalt mitgeprägt. Ihre Stelle wurde in großzügiger Weise von der Universität Würzburg finanziert; dafür geht ein besonderer Dank an T homas Leimeister, den Leiter der Finanzabteilung. 8
Ohne die Expertise von Dr. Ulrike Weikart, der besten Kennerin unseres Bestandes an Zeichnungen der Tiepolo-Werkstatt, wäre das wissenschaftliche Niveau der Ausstellung deutlich niedriger ausgefallen. Dank ihrer Mitarbeit tritt dieser Komplex, der für die Entstehung der in Würzburg geschaffenen Fresken und Staffeleibilder nicht gerade unwesentlich ist, hier ins Licht der Öffentlichkeit, zum ersten Mal in dieser Breite und Tiefe. Einmal mehr gilt es den massiven Beitrag der Restauratorin des Martin von Wagner Museums Inge Klinger M. A. zu würdigen, die fast alle Zeichnungen für die Präsentation vorbereitet und neu gerahmt hat. Das gesamte Team des Martin von Wagner Museums verdient einen herzlichen Dank, besonders Carolin Koch, Ramin Shafiai, Max Nalbach und Hans-Jörg Berghammer. Mit dem Museum für Franken wurde frühzeitig vereinbart, diese Ausstellung als Kooperation zwischen unseren Häusern durchzuführen. Dies findet in der Mitarbeit von Museumsleiterin Dr. Claudia Lichte seinen sichtbaren Ausdruck im Katalog, doch darüber hinaus verdient die zuvorkommende Unterstützung und Kollegialität in allen Belangen besondere Erwähnung; dabei sei ausdrücklich die immer hilfsbereite Sammlungsmanagerin Katharina Nittel hervorgehoben. Auch den übrigen externen Autoren des Katalogs sei herzlich gedankt. Neben Dr. Verena Friedrich und Dr. Alexander Linke gehören zu ihnen Julia Pracher M. A. und Dipl.-Restaurator Georg F. R. Pracher, dem die grundlegende Restaurierung der beiden Historienbilder Giambattista Tiepolos im Besitz des Martin von Wagner Museums anvertraut worden war. Die Maßnahme konnte über eine hochherzige Spende von Dr. Hedwig WaldmannKlement und eine Beteiligung der Universität Würzburg finanziert werden; wir sind sehr dankbar dafür, in der Ausstellung mit den restaurierten Gemälden aufwarten zu können; sie stellen eine kleine Sensation dar. Dasselbe gilt für die Zeichnung, in der die Aschaffenburger Karikaturisten Greser & Lenz einen Entwurf Tiepolos für die Darstellung des Kontinents Australien erkannt haben. Die Zusammenarbeit mit ihnen war von umwerfender Komik. Der Dank des Museums gilt ferner der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, namentlich Susanne Streichfuß und
onstanze Köppe, für die Erlaubnis, in den PrunkK räumen der Residenz Fotografien anfertigen zu dürfen, um sie in der Ausstellung und im Ausstellungskatalog zu verwenden, sowie André Mischke vom Würzburger Institut für Kunstgeschichte für die brillanten Neuaufnahmen. Er fotografierte auch sämtliche Werke aus dem Bestand des Martin von Wagner Museums, die das Gros der Exponate stellen; wir bedanken uns sehr herzlich für die Möglichkeit, auf den Institutsfotografen zurückgreifen zu dürfen. Weitere unentgeltliche Unterstützung erfuhr die Bildredaktion des Katalogs durch die Staatsgalerie Stuttgart (Christiane Benecke) und die Fondazione Giorgio Cini in Venedig (Monica Bassanello). Selbstverständlich gäbe es die Ausstellung nicht, wenn nicht andere Sammlungen ihre Bereitschaft erklärt hätten, sich für die Dauer der Ausstellung von ihren Werken zu trennen. Hier geht unser Dank an die Staatlichen Museen zu Berlin (Gemäldegalerie und Kupferstichkabinett), an das Stadtmuseum Fürth, an das Nationalmuseum Stettin, an die Musei Civici di Venezia (Museo Correr), an das Staatsarchiv Würzburg, an das Stadtarchiv Würzburg und an eine Schweizer Privatsammlung. Den Verantwortlichen dort sei für ihr freundliches Entgegenkommen gedankt. Ein ebenso wichtiger Pfeiler für die Realisierung dieser Ausstellung ist die Finanzierung. Hier
konnten wir auf das Sponsoring durch eine Reihe von Stiftungen, Institutionen, Vereinigungen, Unternehmen und Privatpersonen bauen: die Ernst von Siemens Kunststiftung, die Tavolozza Foundation, die Stiftung Wolfgang Ratjen, die Sparkassenstiftung für die Stadt Würzburg, die Universität Würzburg, den Soroptimist International Club Würzburg, die Alumni der Universität Würzburg, die Freunde der Würzburger Residenz, den Frankenbund (Ortsgruppe Würzburg), die Firma va-Qtec Veitshöchheim, die Knauf Gips KG, die Lauda Dr. R. Wobser GmbH & Co. KG, Engel & Völkers Würzburg, Tanja-Natascha und Jens Geisendörfer, Dr. Peter Schlagbauer und nicht zuletzt unseren langjährigen Mäzen Herbert Wellhöfer. Jede einzelne Spende hat zum Gelingen des Vorhabens beigetragen, wofür das Museum zu großem Dank verpflichtet ist. Der Gegenstand der Zuwendung ist in diesem Fall von unbestreitbar hoher kultureller Bedeutung. Mögen sich unsere Förderer überzeugen lassen, dass ihr Betrag zur Tiepolo-Ausstellung gut investiert ist. Und unsere Besucherinnen und Besucher, dass ihre Zeit in der Ausstellung gut investiert ist! Prof. Dr. Damian Dombrowski Direktor der Neueren Abteilung des Martin von Wagner Museums der Universität Würzburg
9
Essays
DAMIAN DOMBROWSKI
»Der Arbeit die Schönheit geben« Tiepolo und seine Werkstatt in Würzburg Die Fresken, die Giambattista Tiepolo zwischen 1750 und 1753 in der Würzburger Residenz hinterlassen hat, gehören ohne Frage zu den bedeutendsten Schöpfungen des venezianischen Jahrhundertkünstlers. Wenn uns diese Meisterwerke auch wie Der Himmel auf Erden vorkommen mögen, wie es der Titel der letzten großen Tiepolo-Ausstellung in Würzburg treffend verkündete,1 so sind sie dennoch nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis unablässiger kreativer und handwerklicher Arbeit. Die Produktivität der Tiepolo-Werkstatt war enorm. Schon die Bewältigung des in seinen Ausmaßen beispiellosen Treppenhausfreskos der Würzburger Residenz erforderte eine zweckgenaue Rekrutierung und ausgefeilte Koordination der Mitarbeiter (von Aspekten wie Materialbeschaffung, Gerüstaufbau oder Rechnungswesen einmal ganz abgesehen).2 Bei der letzten Restaurierung (2003 – 2006) wurde aus den technischen Untersuchungen des Freskos geschlossen, dass Tiepolo drei bis vier Arbeitsteams beaufsichtigt haben muss, jedes einzelne bestehend aus einem Maler, einem Putzer und einem Gehilfen.3 Daneben entstand eine Vielzahl an Staffeleigemälden, von Altarretabeln über Historienbilder bis hin zu Werken nach dichterischen Stoffen. Der spiritus rector hinter allen diesen Unternehmungen war der bei Ankunft vierundfünfzigjährige Giambattista Tiepolo, der sich in Würzburg auf dem Gipfel seiner schöpferischen Kräfte zeigte. Als einsames Genie hätte er den Projekten der Jahre 1750 bis 1753 dennoch nicht zur Verwirklichung verhelfen
können; vielmehr sorgte er dafür, dass für wenige Jahre so etwas wie eine Würzburger »industry of art« entstand.4 Tiepolo sollte, so die Erwartung des Fürstbischofs, »nach seiner gerühmten stärcke der arbeit die schönheit geben«.5 Eine seiner Stärken bestand darin, die Arbeitslast so zu verteilen, dass er die ästhetische Seite – die Stimmigkeit von Komposition und Kolorit, die Anpassung an die Lichtverhältnisse, die Wohlgestalt der einzelnen Figur – umso kontrollierter im Blick behalten konnte. Auf dass das Ergebnis den Prozess vergessen mache; auf dass die Arbeit am Ende unsichtbar werde und den Platz an die Schönheit abtreten könne. Genau dafür brauchte Tiepolo eine perfekt aufeinander abgestimmte Werkstatt. Es gehört zu den eher wenig beachteten Anzeichen von Genialität, wenn ein Künstler seine Assistenten so zu formen versteht, dass sie gleichsam zur Verlängerung seiner Hand werden. Von Tiepolos Schüler Francesco Lorenzi wird berichtet, er habe von einer Fassung des Gemäldes Gebet am Ölberg eine Kopie angefertigt, die dem Original so nahegekommen sei, dass der Meister selbst die beiden Bilder nicht habe auseinanderhalten können.6 Nur wenigen ist eine solche Ausdehnung der eigenen Handlungsmacht vollständig gelungen: Raffael, Rubens, Bernini, nur große und größte Namen kommen einem in den Sinn. Wenn sich diese Größe nicht zuletzt an ihrer Schaffenskraft bemisst, so gehört Tiepolo ganz gewiss in die überschaubare Reihe jener seltenen Künstler, die Jacob Burckhardt als die »primären Meister« bezeichnet hat.7
1
Ausst.-Kat. Würzburg 1996 (Tiepolo).
6
Siehe Zannandreis 1891, S. 427.
2
Siehe dazu Staschull 2006, S. 80 – 93.
7
Burckhardt 1984, S. 294 u. 299.
3
Ebd., S. 91.
8
Siehe Kat. 23, 30, 31, 33 – 42, 44 – 46.
4
In Anlehnung an den Titel des epochalen Buches von Jennifer Mon-
9
Siehe Kat. 16, 17, 43, 49 – 51, 53 – 56, 58 – 61.
tagu, Roman Baroque Sculpture. The Industry of Art, New Haven 1989.
10 Siehe van der Wall 1996, S. 76f.
Nachricht über die Bereitschaft Tiepolos, nach Würzburg zu kommen,
11 Siehe van der Wall 1996, S. 77f. Öhm 2009, S. 133 – 151 unternahm eine
5
vom 29. Mai 1750 (Kat. 7).
12
stilkritische Zuschreibung weiter Teile der sogenannten »Tiepolo-
Die ›Tiepolo-Zeichnungen‹ des Martin von Wagner Museums: Zuschreibungsfragen Ein Organismus wie die Würzburger Tiepolo-Werkstatt wirft zwangsläufig das Problem der Händescheidung auf. Nur relativ wenige Blätter, die in den Inventaren des Martin von Wagner Museums den Namen Giambattista Tiepolos tragen, werden heute noch als eigenhändige Schöpfungen angesehen. Viel öfter handelt es sich um Nachzeichnungen seines Sohnes Giandomenico, entweder nach Studien oder nach ausgeführten Werken Giambattistas, um einzelne Figurenerfindungen für eine spätere Wiederverwendung zu bewahren.8 Ein noch größeres Konvolut bilden die Kopien, die Georg Anton Urlaub nach malerischen und grafischen Arbeiten Giambattistas, häufiger jedoch nach Zeichnungen Giandomenicos anfertigte, und zwar sowohl nach dessen eigenen Entwürfen als auch nach ricordi, mit denen der Sohn die Bildideen des Vaters aufzeichnete.9 Der Maler aus Thüngersheim hatte sich in den späten 1740er-Jahren in Venedig aufgehalten und in der Tiepolo-Werkstatt entweder mitgearbeitet oder zumindest in regem Austausch mit ihr gestanden.10 Urlaubs Rückkehr nach Würzburg erfolgte 1750 oder 1751 und damit wohl nicht zufällig zeitgleich mit der Ankunft der Tiepolo. Zahlreiche Kopien und ricordi nach ihren Werken – hauptsächlich Zeichnungen 11 – lassen keinen anderen Schluss zu, als dass er in Würzburg zum innersten Kreis der Tiepolo-Werkstatt gehörte. Aber auch Lorenzo, der jüngere der TiepoloSöhne und ebenfalls angehender Maler, hat in Würzburg gezeichnet; welche Blätter ihm zuzuweisen sind, wird in der Forschung freilich kontrovers beurteilt. Zu diesem ›Kernatelier‹ stießen weitere Künstler; einige sind namentlich fassbar (Franz Ignaz Roth, Johann Andreas Urlaub, Johann Christoph Fesel, Lukas Anton Flachner, Johann Octavian Salver), ohne dass ihnen bestimmte Zeichnungen aus der fraglichen Zeit zugeschrieben werden
könnten. Daneben existieren solche Zeichnungen, die auf eine Entstehung in der Tiepolo-Werkstatt schließen lassen, deren Urheber aber in der Anonymität verbleiben.12 Die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit von Tiepolos Zeichenstil – die traumwandlerische Sicherheit des Strichs, die Flüssigkeit der Übergänge, die Effizienz der Mittel und die Freiheit des Zugriffs darauf, die Lebendigkeit des Ausdrucks, das zielsichere Zusammenfinden zu bildmäßiger Geschlossenheit 13 – tritt in seinen autografen Kreideund Federzeichnungen unübersehbar hervor. Doch noch in den Kopien, ricordi oder Übungen nach seinen Werken, die in der Ausstellung die Mehrzahl der Exponate stellen, schwingt immer etwas von diesen Qualitäten mit, mal als unmittelbare Resonanz, mal als ferneres Echo. Auf jeden Fall geht aus der Fülle des Materials, gleich wie eng oder lose im Einzelnen der Zusammenhang mit den Originalen Giambattistas ist, eines unmissverständlich hervor: In der Würzburger Tiepolo-Werkstatt beanspruchte das zeichnerische Medium einen enormen Stellenwert – nicht nur hinsichtlich der praktischen Vorbereitung und Durchführung von Wand- oder Staffeleigemälden, sondern auch als Speicherort kreativen Wissens. Schließlich war Zeichnen für jeden Maler das vorrangige Mittel sowohl der Weltaneignung, also des Lernens und Übens, als auch der Hervorbringung von Welt, des Konzipierens und Komponierens. Die Zeichnung ist das, was der Erfindungsmacht und Entwurfskraft am nächsten steht; sie bezeichnet den Übergang von der Imagination zur Materialität, vom Nichtstofflichen zum Stofflichen, von dem, was nur dem Künstler vor Augen steht, zu einer ›objektiven‹ Sichtbarkeit. Schon in dieser Hinsicht kommen wir Tiepolo in seinen Zeichnungen sehr nahe.
Skizzenbücher« im Martin von Wagner Museum (bes. WS 132 und WS
Alpers/Baxandall 1996, S. 51 – 63; Schulze Altcappenberg 1996;
134) an Urlaub. Siehe dazu auch den Beitrag von Ulrike Weikart im
Ausst.-Kat. Rom 2014/15; Höper 2019; Klemm 2019; Ausst.-Kat. Vene-
vorliegenden Band.
dig 2020.
12 Zu diesem Themenkomplex siehe Öhm 2009, S. 102 – 178. 13 Zum Zeichner Tiepolo siehe (in Auswahl): Hadeln 1928; Lorenzetti 1946; Knox 1960; Ausst.-Kat. Stuttgart 1970; Pallucchini 1971; Ausst.Kat. Stuttgart 1997; Knox 1980; Ausst.-Kat. Cambridge, Mass. 1996;
13
1 | Giambattista Tiepolo, Apoll und die Kontinente, Detail: Amerika und der Götterhimmel, 1752/53. Würzburg, ehemalige Fürstbischöfliche Residenz.
14
Ornamentale Strukturen in Zeichnung und Malerei Freilich geht bei ihm die Bedeutung der Zeichnung über den Charakter eines Entwurfsmediums weit hinaus. Das Zeichnerische ist für Tiepolo vielmehr eine künstlerische Grundhaltung, die sich auch in seinen malerischen Werken nicht verliert, sie bis zu einem gewissen Grad sogar dominiert. Die Fresken der Residenz befinden sich hoch über den Köpfen der Besucher; aus der Entfernung nehmen wir sie als ein einziges Schwelgen in der Farbmaterie wahr. Von Nahem gesehen zeigt sich jedoch, dass ein eminent grafischer Duktus über ihre Erscheinungsweise gebietet.14 Bei der Betrachtung von Details kann bisweilen der Eindruck farbig lavierter Zeichnungen entstehen. Wir sehen uns Schraffuren, Strichelungen, Weißhöhungen, Liniengeflechten gegenüber.15 Zudem sind immer wieder Partien eingestreut – mal einzelne Figuren, mal ganze Gruppen –, die fast ohne koloristische Anteile auskommen.16 Dieselben Phänomene prägen seine Staffeleigemälde, in denen die koloristische Brillanz ein enges Bündnis mit der zeichnerischen Matrix eingeht. Wenn Tiepolo demnach auch in seinen malerischen Werken als Zeichner am Werk ist, so kommt darin ein zentrales Merkmal seines Gestaltens zum Vorschein: die Nähe zum Ornament,17 die sich ohne die Medialität der Linie nicht einstellen würde. Tiepolo muss bei seiner Verpflichtung in Venedig schon in Aussicht gestellt worden sein, dass nach dem Kaisersaal die Decke des Treppenhauses – und damit das größte freitragende Gewölbe, das je über einen Raum gespannt worden war – auf ihre Ausmalung wartete.18 Vermutlich hat er darin die Chance erkannt, den ihm eigenen ornamentalen
Modus in seiner wahrhaft welterschließenden Funktion anzuwenden. Das Ornamentale als Möglichkeit, die Welt in ihren Rhythmen zu fassen, ist nirgendwo überzeugender verwirklicht als im Fresko des Treppenhauses, wo ja Sichtbares, Sinnbildliches und Göttliches ineinander über- und aufgehen.19 Es veranschaulicht die Tatsächlichkeit der Welt genauso wie ihre höheren Kräfte. Die Globalität des Freskos geht freilich nur vordergründig aus der Ikonografie ›Erdteile mit Götterhimmel‹ hervor; sie gründet vielmehr in einer ornamentbewussten Gestaltung.20 Aus der Natur abgeleitet, sie aber nicht nachbildend, verkörpert jedes Ornament unser Wissen um die Prinzipien von Wachstum und Form. Ringe, Schichtungen, Aus- und Einrollungen, Verzweigungen, die in der Natur vorkommen (in den Jahresringen eines Baumes ebenso wie in den Spiralen einer Galaxie), bilden die Grundlage sowohl für ornamentale als auch für kosmologische Systeme.21 Auf genau diese, Erkenntnis stiftende Weise – eine direkte, sinnliche Erkenntnis, keine sittliche über den Umweg des Denkens – weitet sich in Würzburg die Darstellung der Kontinente zu einem umfassend welthaltigen Bild. Die über 677 Quadratmeter sich ausdehnende Fläche, die sich ihm im Treppenhaus darbot, hat Tiepolo dergestalt bewältigt, dass er die Gesamtkomposition nach Art einer gigantischen Rocaille organisierte [Abb. 1], bestehend aus grauen, bräunlichen, gelblichen, orangenen und roséfarbenen Wolken, die jede für sich zeichnerisch umrissen sind. Doch nicht nur für die Großform bediente sich Tiepolo grafischer Prägnanz, auch die einzelnen Figuren des Freskos wahren in Konturierung und Modellierung eine Nähe zum Zeichnerischen. Die Gestalt des Merkur, der oberhalb des Europafrieses
14 Diese Eigenart wurde bereits sehr treffend beschrieben von Hetzer
18 Siehe den Brief des Hofkammerpräsidenten Adam Friedrich von
1996 (1943), S. 226: »Und doch besteht zwischen dem Schattenton
Seinsheim an Joseph Franz von Schönborn vom 16. Dezember 1750:
der Zeichnung und der Farbigkeit des Freskos ein Zusammenhang,
»[…] vorgestern haben wir den famosen Mahler Tieppolo aus Venedig
wie wir ihn so bei keinem Venezianer kennen. Die der Zeichnung ent-
hier zu sehen bekommen, welcher berufen worden, den Saal und die
stammende Schwarz-Weiß-Reihe als Ausdruck von Licht und Schatten schwingt in aller natürlichen Farbigkeit Tiepolos mit […] Es ist dies ein abstrakter Zug in der sinnlichen Welt des Venezianers.« 15 Staschull 2006, S. 116 findet dafür den treffenden Ausdruck »kalligrafisches Finito«. 16 Beispielsweise die Gruppe aus Jupiter und einem Jüngling links oberhalb des himmelfahrenden Greiffenclau-Porträts [Abb. 13].
Stiegen hier zu mahlen […]«; zit. nach Kossatz 1996 a, S. 179. 19 Zum Treppenhausfresko siehe Hetzer 1996 (1943), S. 283 – 303; von Freeden/Lamb 1956, S. 51 – 64 und 76 – 98; Büttner/von der Mülbe 1980, S. 93 – 122; Ausst.-Kat. Würzburg 1996 (Tiepolo), Bd. 1, S. 98 – 121; Helmberger/Staschull 2006; Staschull/Rösch 2009. 20 Vgl. Dombrowski 2013, S. 129 – 132. 21 Vgl. Phillips 2002, Nr. 5.
17 Vgl. Hetzer 1996 (1943), S. 234: »Seine Figuren haben zum Ornament Beziehung, nachahmende und absolute Gestaltung werden von demselben Rhythmus durchpulst.«
15
2 | Giambattista Tiepolo, Apoll und die Kontinente, Detail: Merkur, 1752. Würzburg, ehemalige Fürstbischöfliche Residenz.
3 | Giambattista Tiepolo, Apoll und die Kontinente, Detail: Vögel unterhalb Apolls, 1752/53. Würzburg, ehemalige Fürstbischöfliche Residenz.
4 | Giambattista Tiepolo, Apoll und die Kontinente, Detail: Personifikation Afrikas, 1752/53. Würzburg, ehemalige Fürstbischöfliche Residenz.
16
5 | Giambattista Tiepolo, Apoll und die Kontinente, Detail: Papagei über der Tigerjagd im Asienfries, 1752/53. Würzburg, ehemalige Fürstbischöfliche Residenz.
6 | Giambattista Tiepolo, Apoll und die Kontinente, Detail: Merkur und leere Himmelszone, 1752/53. Würzburg, ehemalige Fürstbischöfliche Residenz.
mit elastischer Verve emporfliegt [Abb. 2], ist dafür ein geradezu emblematisches Beispiel.22 Die Figur setzt sich aus der Kombination von C- und S-Bögen zusammen und trägt damit das Grundvokabular des Rokoko in die menschliche Gestalt hinein.23 Darin besteht der einzige Sinn von Merkurs ausladender Gebärde: Der C-Bogen der Arme kehrt wieder in dem Schwung, welcher Fackel, Arm und Kopf des begleitenden Putto verbindet, aber auch in den geflügelten Schlangenköpfen des caduceus in Merkurs linker Hand, in den Schwingen seines – wegen der Untersicht unsichtbaren – Helms und seines linken Schuhs (der rechte Fuß darf keinen Schuh tragen, weil das ornamentale Motiv sich sonst überkreuzen würde), in der gespreizten Haltung von Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. Dieselbe Grundform unterliegt allen möglichen Richtungswechseln, bis hin zu dem nach unten gerichteten Bogen, der sich aus dem rechten Bein und der hinteren Schwinge des Putto ergibt. In dieser ornamentalen Bestimmtheit ähnelt die Figur der großen Wolkenkartusche, die in umgekehrter Richtung von der Amerikaseite hinaufwirbelt, aber genauso dem Kranich über der Ecke zwischen Afrika und Amerika. Ja, morphologisch ist Merkurs Kontur mit den überall eingestreuten, aus
zwei an- und abschwellenden Strichen aufgebauten Vogel-Chiffren verwandt [Abb. 3], in denen die Leiblichkeit der Götter- und Menschenwelt auf einen geometrischen Begriff reduziert erscheint. Das kleinste, fast abstrakte Zeichen trägt die Semiotik der Kosmogenese in sich, die auch im größten Motiv – der Wolkenkartusche – aufgehoben ist. Wie eine beständige Erinnerung daran kommen die Vögel, das vielleicht am meisten zeichnerisch aufgefasste Element des ganzen Freskos, über die gesamte Malfläche verstreut vor. Ihre Kreise ziehen sie über den Erdteilen, aber genauso dringen sie auch in den innersten Bezirk um Apoll. Zwei dieser Vögel sind nahe der huldvollen Geste der Personifikation Afrikas [Abb. 4] angeordnet; ihre Umrissform wiederholt den Knick ihres Arms. Das Prinzip der Selbstähnlichkeit, des Wiederkehrens einer Form in den Ausprägungen verschiedener Zustände und Größenordnungen,24 bestimmt die formale Erscheinung des Treppenhausfreskos, seiner Gesamtheit wie seiner Einzelheiten. Der Papagei über der Tigerjagd [Abb. 5], nahe der südwestlichen Ecke des Asienfrieses, entspricht in seinem Umriss den Zweistrich-Vögeln, die in dieser Rückenfigur (damit möglichst viel Form erhalten bleibt) aus dem geometrischen in den organischen Zustand überzugehen scheinen.
22 In der Ausstellung ist sie in Form eines besonders gelungenen ricordo
23 Vgl. Alpers/Baxandall 1996, S. 143 – 153 über die »Syntax des Rokoko«
vertreten (Kat. 31). Die Freskierung des Treppenhausgewölbes begann mit der Figur des Merkur; siehe Staschull 2006, S. 99 und Staschull 2009, S. 357f.
im Würzburger Treppenhausfresko. 24 Ohne direkte Referenz in der Wirklichkeit kennt das Ornament keinen absoluten Maßstab. Vgl. Phillips 2002, Nr. 39.
17
7 | Giambattista Tiepolo, Armida und Rinaldo im Zauber garten, zwischen 1750 und 1753. Würzburg, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Zweiggalerie in der Residenz (Leihgabe der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen).
8 | Giambattista Tiepolo, Armida und Rinaldo im Zauber garten, Anfang 1740er-Jahre. Chicago, The Art Institute.
Man könnte endlos fortfahren mit dem Aufdecken solcher ornamentalen Bezugnahmen und Zusammenhänge in Tiepolos Weltfresko. Aber schon mit den bisherigen Beobachtungen dürfte klargeworden sein, dass die beschriebene Formenkohärenz keine malerische, sondern eine lineare, das heißt zeichnerische Wurzel hat. Betrachtet man den Merkur als lebendige Ganzheit, vor der Leere des dunstigen Himmels [Abb. 6], so verstärkt sich dieser Eindruck noch, denn es ist der Umriss, der sich glasklar abzeichnet (schon die unvermittelt sich einstellende Wortwahl ist von der grafischen Erscheinungsweise geprägt). Theodor Hetzer hat dieses Phänomen darauf zurückgeführt, dass Tiepolo immer den Raum Venedigs in sich getragen habe, den ungegliederten Raum des Meeres und des freien Horizonts, »gegen den jede Figur und jede Bewegung sich groß abhebt«25 Und so wird auch die Gestalt des Götterboten als Ganze zu einem großen grafischen Zeichen. Häufiger als in Einzelfiguren begegnet einem dieser charakteristische Kontur in Gruppen wie der Heiligen Familie in der Ruhe auf der Flucht (Kat. 105), die Tiepolo vielleicht in Würzburg ge-
zeichnet hat, oder in Figurenpaaren wie in den verschiedenen Versionen von Armida und Rinaldo, von denen eine ganz sicher in Würzburg entstand [Abb. 7].26 Zehn Jahre früher hatte er sich desselben Stoffes in einem Gemäldezyklus für den Palazzo Corner in Venedig angenommen [Abb. 8].27 Trotz aller Unterschiede zwischen den beiden Fassungen – Verhältnis Figur-Format, Figurenzuordnung, landschaftliche Einbettung, koloristische Grundstimmung – geht das Zusammenspiel Armidas, Rinaldos und der bauschenden Gewänder beide Male auf den rhomboiden Prototyp zurück, der eine, wenn nicht die Basisfigur in Tiepolos formalem Repertoire darstellt. Weil dieses Grundelement sich in der Nähe zum Rocaille-Ornament hält, eignet Tiepolos Figuren von Grund auf nichts Monadisches. Vielmehr sind sie von einer Weltteilhabe bestimmt, wie sie nur ein Gestalten aus tiefer Neigung zum Ornamentalen vermitteln kann. Besagter Prototyp ist auch für eine Art der Konfiguration grundlegend, die für Giambattista und den jungen Giandomenico Tiepolo besonders typisch ist, jene zentrifugalen Konglomerate aus Allegorien,
25 Hetzer 1996 (1943), S. 234.
28 Besonders ansprechende Ausprägungen dieses Typs sind: die Gruppe
26 Würzburg, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Staatsgalerie
um Venus und Saturn im Deckenfresko der Galleria Clerici (Mai-
in der Würzburger Residenz (Leihgabe der Bayerischen Verwaltung
land, Palazzo Clerici), 1740; die Gruppe um Virtus und Nobilitas aus
Schlösser, Gärten und Seen). Siehe Pedrocco 2003, S. 287f. und Ausst.-
dem Palazzo Barbarigo (heute Venedig, Ca‘ Rezzonico), 1744/45; die
Kat. Stuttgart 2019/20, S. 138f. (Damian Dombrowski).
Gruppe um den Fanfarenengel im Jüngsten Gericht als modello für
27 Siehe Pedrocco 2003, S. 249.
die Kapelle von Schloss Ludwigsburg (Vicenza, Intesa Sanpaolo, Gallerie d’Italia), Mitte 1740er-Jahre; die Gruppe um Virtus und Nobili
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9 | Giambattista Tiepolo, Apoll und die Kontinente, Detail: Porträtmedaillon Carl Philipps von Greiffenclau mit Herzogshut und Herzogsmantel, begleitet von Fama und Virtus, über dem Europafries, 1752/53. Würzburg, ehemalige Fürstbischöfliche Residenz.
10 | Giambattista Tiepolo, Apoll und die Kontinente, Detail: ›Kapriziöse‹ Gruppe aus dem Asienfries, 1752/53. Würzburg, ehemalige Fürstbischöfliche Residenz.
Putten, Draperien und oft allerlei wesensfremden Objekten, die in vielen seiner Bildschöpfungen verdichtende Wirbel ausbilden.28 Einzelne Gliedmaßen, Engelsflügel, Lanzen, Zepter, Fanfaren oder Banderolen ragen aus einem kompakten Kern hervor und verleihen diesen figürlichen Knäueln einen stachelig-viralen Charakter. In Würzburg ist das prominenteste Beispiel für diesen Kompositionstyp die Gruppierung um das Greiffenclau-Porträt [Abb. 9]. Mit volltönender Dynamik tritt es am Anfang von Giandomenicos Idèe pittoresche sopra La Fugga in Egitto in der Apotheose von Wappen und Insignien desselben Fürstbischofs in Erscheinung (Kat. 96). Weitere Exempel in diesem Katalog sind: das wirbelnde Rad aus Armen, Beinen und Flügeln, das die Gottesmutter vor den Seligen Simon Stock trägt (nach dem Deckengemälde der Scuola Grande del Carmine von 1748/49, das Giandomenico Tiepolo kurz darauf in eine Radierung übertragen hat [ Kat. 52]), und die Gruppe aus sechs Engeln (Kat. 23), einem ricordo nach einem Detail aus der Marien krönung an der Decke von Santa Maria della Pietà in Venedig, das seinerseits eine Würzburger Bild-
idee weiterführt. Auch in seinen Capricci und Scherzi (Kat. 83 – 91) ballen sich regelmäßig mehrere Figuren und Gegenstände zusammen, wenn auch aus Gründen, die uns verborgen bleiben. Wie sich etwas Kapriziöses (»Launenhaftes«) allen Gebilden dieser Art nicht absprechen lässt.
Freiheit und Verweigerung Tiepolos erster Biograf hat es als hervorstechendes Merkmal benannt, dass er »ganz Witz und Feuer« sei; auf diese Weise habe er schon früh eine »flotte und entschlossene Handschrift« angenommen.29 Dieses »ganz« (»tutto spirito e foco«) lässt sich so verstehen, dass der Maler sich mit solcher Verve auf das Künstlerische der Gestaltung warf, dass bei ihm das zu Gestaltende – ›Bedeutung‹ im gegenständlichen Sinne – an die zweite Stelle rückte.30 Im vertraulichen Raum der Zeichnung, aber genauso auch in seinen großen, in der Mehrzahl öffentlich oder halböffentlich sichtbaren Kompositionen, unterläuft Tiepolo die Gebote von
tas aus dem Palazzo Dolfin-Manin (heute Pasadena, Norton-Simon-
29 In der Lebensbeschreibung von Tiepolos Lehrer Gregorio Lazzarini;
Museum), um 1745/50; die Gruppe um die himmelfahrende Maria im
siehe Canal 1809, S. 31f.: »G. B. Tiepolo […], ora di gran nome, gli è
rechten Altarbild der Hofkirche der Würzburger Residenz; die Gruppe
stato discepolo, quantunque si dipartisse dalla di lui maniera di-
um Gottvater in dem Altargemälde Die heilige Thekla betet für die
ligente, giacchè tutto spirito e foco ne abbracciò una spedita e riso-
Pestkranken (Este, Dom), 1759; die Gruppe um die Assunta im Deckenfresko des Oratorio della Purità (Udine), 1759.
luta.« 30 Zu Bereichen jenseits der Gegenständlichkeit in Tiepolos zeichnerischem Œuvre vgl. Alpers/Baxandall 1996, S. 60f.; Fassl 2004.
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Impressum Ausstellungskonzeption und Katalog: Damian Dombrowski unter Mitarbeit von Aylin Uluçam Ausstellungsparcours und -aufbau: Markus Josef Maier Ausstellungsgestaltung: Markus Josef Maier, Choon-Hee Bae Konservatorische und restauratorische Betreuung: Ingeborg Klinger Umschlaggestaltung und Kataloglayout: Choon-Hee Bae Lektorat: Aylin Uluçam Korrektorat (Verlag): Katrin Boskamp-Priever, Christiane Weidemann Korrektorat (Museum): Carolin Koch, Hans-Jörg Berghammer
Satz und Umbruch, Bildbearbeitung: Rüdiger Kern, Berlin Druck und Bindung: Graphisches Centrum Cuno, Calbe (Saale) © 2020 Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin München und Martin von Wagner Museum der Universität Würzburg
Deutscher Kunstverlag GmbH Berlin/München Lützowstraße 33 D-10785 Berlin www.deutscherkunstverlag.de Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH Berlin Boston www.degruyter.com ISBN: 978-3-98598-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.
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Covermotiv: Giambattista Tiepolo, Die Frauen Roms vor Coriolan, 1752/53 (Kat. 62), Detail: Gesicht Vergilias. Rückencover: Giambattista Tiepolo, An einer Vase sitzender Junge und Gruppe aus einer stehenden Frau und Orientalen vor Ruinen, Radierung, vor 1742 (Kat. 83), Detail: Gesicht des Jungen.