Hoffnungsträger. Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen (Diakonie Themen 02/2014)

Page 1

Diakonische Information Nr. 174-4/14

Themen Hoffnungsträger

Kindern und Jugendlichen Zukunft ermöglichen

Theaterstück „Romeo und Julia – freestyle“ mit jungen AsylwerberInnen im Dschungel Wien (S. 15)

WORD Interview

Wordrap

Seite 10

Seite 14

Maria Maiss

Hilde Dalik

RAP

Jugendliche in der Krise

Paulus Hochgatterer

Seite 20

Seite 22

Zuflucht im Wàki

Magische Momente


EDITORIAL

Hoffnung zu haben ist ein Geschenk Wenn die Jugend nicht unsere Hoffnung ist, was ist sie dann? „Die Jugend ist unsere Hoffnung!“ Der Satz fehlt nie in den Reden der BildungspolitikerInnen, der Verantwortlichen für die Jugendhilfe, der Sozialund FamilienpolitikerInnen, ja sogar der SeniorenvertreterInnen. Ein Satz, so wahr und ehern, un­ab­änderlich eingemeißelt in den Diskurs über die Zukunft unserer Gesellschaft. An dem Satz ist nichts falsch, er hat keinen Makel. Denn wo sonst sollen die Hoffnungen einer Gesellschaft wachsen, wenn nicht in der jungen Generation? Denen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, klingt der Satz aber oft schrill in den Ohren. Wie gehen wir mit „unserer Hoffnung“ um, wenn die Bildungsreform „Die Hoffnung aber lässt nicht seit Jahren stockt und das zugrunde gehen; denn die Liebe Bildungsministerium im letzten Jahr 500 Millionen Gottes ist ausgegossen in unbei den Schulen einsparen sere Herzen durch den Heiligen musste? Wie gehen wir Geist, der uns gegeben ist.“ mit den Hoffnun­gen junger Römer 5,5 Asyl­ werberInnen um, die um jeden Fahrschein bangen müssen, mit dem sie der Bus zum Deutschkurs bringt? Wie gehen wir mit den Hoffnungen junger SchülerInnen um, die unser Bildungssystem entlässt, ohne ihnen das Rüstzeug mitgegeben zu haben, am Arbeitsmarkt fit zu sein? Die MitarbeiterInnen der Diakonie arbeiten in vielen Feldern, in denen ihnen der Glaube an die Hoffnung so manches Mal abhandenzukommen droht. Was sie weiterarbeiten lässt, sind nicht die Hoffnungen, die eine Gesellschaft in die junge Generation hineinprojiziert und beschwört, sondern die Hoffnungen, die in den Herzen der Kinder und Jugendlichen lebendig sind. Davon soll in diesem Heft zu lesen sein. Von jugendlichen AsylwerberInnen, die ihr Herz fürs Theater entdeckt haben und dort ihre Träume und Sehnsüchte wiederfinden, die auf

AN DIESEM HEFT MITGEARBEITET HABEN 2

Themen

einer langen, beschwerlichen Flucht verschüttet zu werden drohten. Von Kindern und Jugendlichen, die vor dem Streit, der Überforderung der Eltern, vor Kälte und Enge ihren Ausweg in einem Leben auf der Straße gesucht haben, die aber „das Potenzial für wundersame Entwicklungen“ in sich tragen und oft nach Monaten intensiver Betreuung in ihre Familien zurückkehren können. Sie alle tragen Hoffnung in sich, und diese Hoff­nung lässt sie selbst in schwierigsten Situationen nicht „zugrunde gehen“. Diese Potenziale für gelingendes Leben sind uns allen geschenkt. Es gibt Situationen im Leben, die diese Potenziale an ihrer Entfaltung hindern, und es gilt, sie zur Entfaltung zu bringen. In jeder und jedem stecken Möglichkeiten und Begabun­gen, die zu den wundersamsten Hoffnungen Anlass geben. Es gilt, sie sichtbar und lebbar zu machen. Die Jugend ist nicht unsere Hoffnung, sondern sie trägt ihre Begabungen, Potenziale und Hoffnungen in sich, in ihren Herzen. Hindern wir sie nicht daran, sie auch zu leben. Jede und jeder trägt die Hoffnung in sich. Alle sind HoffnungsträgerInnen. Die MitarbeiterInnen der Diakonie ebenso wie die, mit denen wir arbeiten und leben. HoffnungsträgerInnen bringen Hoffnung, sie teilen Hoffnung, sodass anderen Hoffnung zuteilwird und sie selbst zu HoffnungsträgerInnen werden können. Hoffnung zu haben ist ein Geschenk. Es ermöglicht, heute und jetzt die Zukunft zu leben.

Pfarrer Mag. Michael Chalupka, Direktor Diakonie Österreich

Karin Brandstötter. Hannelore Kleiss, Gernot Mischitz, Verena Reisinger, Hansjörg Szepannek


INHALT

4

Was mir Mut macht ...

Junge Menschen aus Diakonie-Einrichtungen über ihre Hoffnungen und Ziele.

6

Wie läuft das Spiel?

Spieleentwickler, Psychologen und Wirtschaftsforscher sagen: Nur wo wir gestalten können, Anerkennung erfahren und sozialen Ausgleich erleben, ist Entwicklung möglich.

Inhalt 16

Mythos: „Jede/r schafft es, wenn er/sie nur will“

Stimmt’s? Mythen, Märchen und Pauschalansichten.

17

Gras wächst nicht schneller ...

Nachrichten, Theater, Bibliothek, Kino und Internet: Die Polytechnische Schule Karlsplatz in Wien.

18

Die Welt in Zahlen

9

Junge Menschen und ihre Bedürfnisse.

Über Kapital, Capabilities und Ressourcen.

Bücher, Europa

Chancen und (Un)Gleichheit

10

Das Bedürfnis zu wachsen

In jedem Menschen stecken Potenziale. Wie können sie wachsen? Die Philosophin Maria Maiss im Interview.

13

Projekte

Hausgärten für Ruanda, neuer Jahrgang bei „Spring ins Leben“, Catering-Service Kulinarium.

14

19 20

Kommen und Gehen im Wàki

Ein Zufluchtsort für Jugendliche in Krisensituationen.

21

Kurz gemeldet

Kindergarten Mostar, 20 Jahre Michael Chalupka und Roland Siegrist, www.diakonie.at.

22

Moritz und der Glitzerzauberstab

Neugieriges Miteinander

Paulus Hochgatterer erlebte einen magischen Moment.

15

Spendenkonto Diakonie: IBAN AT492011128711966399 BIC GIBAATWWXXX

Wordrap mit Hilde Dalik.

Romeo und Julia – freestyle

Ein Theaterworkshop mit AsylwerberInnen.

IMPRESSUM: Medieninhaber, Herausgeber und Redaktion: Diakonie Österreich, ZVR-Zahl: 023242603. Redaktion: Dr.in Roberta Rastl-Kircher (Leitung), Mag.a Katharina Meiche­nitsch, Mag. Martin Schenk, Mag.a Magdalena Schwarz. Alle: 1090 Wien, Albert Schweitzer Haus, Schwarzspanierstraße 13. Tel.: (0)1 409 80 01, Fax: (01) 409 80 01-20, E-Mail: diakonie@ diakonie.at, Internet: www.diakonie.at. Verlagsort: Wien. Geschäftsführer Diakonie Österreich: Pfr. Mag. Michael Chalupka, Mag. Martin Schenk. Grafik-Design: Info-Media Verlag für Informationsmedien GmbH/Natalie Dietrich, Volksgartenstraße 5, 1010 Wien. Druckerei: AV + Astoria Druckzentrum GmbH, Faradaygasse 6, 1030 Wien. Fotos: Cover: Melica Ramik, Nadja Meister, Ingo Pertramer, Diakonie Zentrum Spattstraße, Daniela Klemencic; S. 2: Nadja Meister, Diakonie; S. 3: privat, Hilde Dalik, Diakonie Zentrum Spattstraße; S. 4: Diakonie Zentrum Spattstraße, Diakonie de La Tour; S. 5: LIFEtool, Diakoniewerk; S. 6: Fotolia.de/29mokara; S. 7: Korbinian Polk, Diakoniewerk; S. 8: Elke Wetzig, Ulrike Wieser; S. 9: Fotolia.de/ Alexander Raths, Fotolia.de/JackF; S.10–12: Nadja Meister, Robin Holland, Maria Szöllösi; S. 13: Karin Desmarowitz/Brot für die Welt, Diakonie Österreich, Diakoniewerk; S. 14: Ingo Pertramer; S.15: Hilde Dalik; S.16: istockphoto.com/erierika; S.17: Diakonie Bildung, privat; S.18: istockphoto.com/gilaxia, istockphoto.com/pepifoto, istockphoto.com/isthnjw1224, Fotolia.de/missbobbit; S. 19: Helsinki Deaconess Institute; S. 20: Diakonie Zentrum Spattstraße; S. 21: Diakoniewerk, Diakonie Österreich, Marco Uschmann; S. 22–23: istockphoto. com/ozgurcoskun, Christian Stemper; S. 24: Christian Stemper. Die Diakonische Information bringt Sachinformationen und Nachrichten zur Diakonie der Evangelischen Kirchen. Die gendersensible Schreibweise ist uns ein wichtiges Anliegen. Der Bezug ist kostenlos. DVR: 041 8056 (201). Gedruckt nach der Richtlinie „Schadstoffarme Druckerzeugnisse des Öster­reichischen Umweltzeichens“. Umweltzeichen (UWZ 734)

Themen

3


PORTRÄTS

„Was mir Mut macht ...“

Junge Menschen aus Diakonie-Einrichtungen über ihre Hoffnungen und ihre Ziele.

CLAUDIA REISNER

ELIAS

„In unserem Kindergarten ,Für Dich und Mich‘ möchten wir den Kindern ein Gefühl von Geborgenheit schenken. Was gibt es Schöneres, als Kindern eine wunderbare, schöne Kindergartenzeit zu schaffen, in der sie sich in ihrem Sein angenommen fühlen können. Kinder lernen über Beziehung und über das Tun! Oft sagen Berührungen, Umarmungen mehr als tausend Worte. Konflikte gewaltfrei zu lösen, Gefühle zeigen zu können und jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit anzunehmen macht mir Mut für die Zukunft!“

„Es macht mir Mut, wenn ich etwas schaffe, das ich mir selbst nicht zugemutet habe. Ich habe schon vieles gelernt. Wie ich mich richtig benehme und mit anderen Kindern spiele und viel in Geografie. Mut machen mir auch Leute, die mir helfen und mir neue Sachen zeigen. Leute haben mir Mut gegeben, und das macht mich dann stolz, wenn ich etwas schaffe. Das ist schön so und dafür bin ich auch dankbar.“

Claudia Reisner ist gruppenführende Sonderkindergartenpädagogin in einer heilpädagogischen Kin­dergartenGruppe im Diakonie Zentrum Spattstraße. Im Bild mit Gabriel bei der Waldwoche.

Elias (11) wurde drei Jahre in der heil- und sozialpädagogischen Tagesgruppe im Diakonie Zentrum Spattstraße betreut. Ein normaler Schulalltag mit Hortbesuch war zu Beginn aufgrund seiner Verhaltensauffälligkeiten nicht möglich. Seitdem ist ihm eine sehr gute Entwicklung gelungen. Er besucht seit Herbst wieder eine Regelschule und einen Hort. Elias lebt mit seinen Eltern und seiner Schwester in Linz.

MELISSA HOFER „Wenn ich ein Ziel vor Augen habe, das macht mir Mut. Auch in schwierigen Zeiten fühle ich mich dann sicher und weiß, was ich in meinem Leben machen will. Mut machen mir vor allem meine Freunde, die mich immer unterstützen und mir bei Problemen beistehen.“ Melissa Hofer ist 17 Jahre alt und lebt in Spittal/Drau. Unter der Woche wohnt sie im Haus Ausblick der Diakonie de La Tour in Treffen und absolviert dort eine Anlehre in der Malerei. Sie ist eine offene, lustige junge Frau, die keine Probleme dabei hat, sich in einer „Männerdomäne“ durchzusetzen. Melissa ist herzlich und bei KollegInnen und Aus­bild­nerIn­­nen sehr beliebt. 4

Themen


PORTRÄTS

ANNA DOPPELBAUER „Ich bin immer gut drauf und verliere selten den Mut. Aber manchmal passiert etwas wie letztens: Da wurde unsere Katze überfahren und ich war sehr traurig und mutlos. In der Schule konnte ich meinen Mitschülern und Mitschülerinnen davon erzählen und mein Freund hat mich dann ganz fest umarmt. Das hat mir wieder neuen Mut gegeben und es ging mir gleich wieder besser. Aber auch ich bin für andere eine „Mutmacherin“. Viele sagen, dass meine fröhliche Art und mein sonniges Gemüt ihnen oft Mut machen.“

SIMONE AICHINGER „Am liebsten reite ich ohne Sattel und Zaumzeug. Das erfordert einerseits Mut, aber vor allem auch gegenseitiges Vertrauen und ein Aufeinander-Eingehen. Nach einem solchen Ausritt fühle ich mich wie beflügelt und das gibt mir Mut. Mut, den ich brauche, wenn Bekannte schlecht oder einfach unbedacht über Menschen mit Behinderung sprechen. Seit ich bei LIFEtool arbeite, erlebe ich, dass ein Leben mit Behinderung jeden treffen kann, dass es aber auch wertvolle Hilfen gibt – auch das macht mir Mut!“

Anna Doppelbauer, 16, geht in die JohannEisterer-Landesschule in Peuerbach.

Simone Aichinger, 16, ist Lehrling bei LIFEtool Solutions in Linz.

SOPHIE LINDTNER

KARIM HEIB, LUCIA PLÖCHL

„Es macht mir Mut, gesellschaftlich benachteiligte Menschen zu erleben, mit ihnen mitzuleben und sie so gut wie möglich in ihrem ganz individuellen Sein zu unterstützen. Diese neuen Erfahrungen nehme ich dankbar an und ich schätze es wert, wie viel ich dadurch auch über mich selbst erfahre. Momente der guten Erfahrungen genieße ich und die der schlechten sehe ich als Lernaufgaben an, um es beim nächsten Mal besser zu machen.“ Sophie Lindtner, 19, absolviert in der Behindertenhilfe des Diakoniewerks ihr Freiwilliges Sozialjahr. Im Haus Emmaus in Engerwitzdorf begleitet sie Menschen mit Behinderung. Zuvor hat sie im Rahmen eines Freiwilligen Sozialjahres in Honduras mit Kindern gearbeitet. Ab Herbst 2015 möchte sie Soziale Arbeit studieren.

„Mut macht mir das soziale Umfeld, meine Freunde“, so Karim Heib. „In Zeiten, wo es einem nicht so gut geht, motivieren sie und machen Mut. Auch die eigene Willensstärke macht Mut. Sie macht Ziele erreichbar, die man für unerreichbar gehalten hat.“ „Am meisten Mut hat man, wenn man sich in einer Situation sicher fühlt“, meint Lucia Plöchl. „Die Unterstützung des Umfeldes, wenn einem gut zugeredet wird, das macht Mut.“ Karim Heib, 23, und Lucia Plöchl, 20, machen die Ausbildung in Fach-Sozialbetreuung/Behindertenbegleitung in der Schule für Sozialbetreuungsberufe des Diakoniewerks in Gallneukirchen. Karim Heib ist gelernter Stahlbauschlosser, hat das Bundesheer absolviert und war zuletzt als persönlicher Assistent tätig. Lucia Plöchl ist über das Freiwillige Soziale Jahr zur Ausbildung in Behin­ dertenbegleitung gekommen.

Themen

5


SCHWERPUNKT

Wie läuft das Spiel?

VON MARTIN SCHENK

Menschen. Zukunft. Ermöglichen. Wo wir gestalten können, Anerkennung erfahren und sozialen Ausgleich erleben, dort ist Entwicklung möglich.

Wenn in jeder Runde neue Ressourcen ausgegeben werden, verlieren weniger SpielerInnen den Anschluss.

Menschen müssen das Gefühl haben, dass ihr Handeln Einfluss hat.

Nicht wie reich wir sind, ist entscheidend, sondern wie groß die Unterschiede ­zwischen uns sind.

Den ganzen Tag quälen die Sorgen und das Getöse im Kopf: Miete, Heizkosten, Lebensmittel

6

Themen


SCHWERPUNKT

W

enn der erste Spieler sich sofort die Lebensqualität der Kinder viel schlechter. Der alljährliche Report der UNICEF misst mehalle großen Straßen unter den Nagel reißt und die anderen nur rere unterschiedliche Aspekte des Wohlergenoch abzockt, dann können die das kaum mehr hens von Kindern: Einkommenssituation, Geaufholen.“ Marcel-André Merkle entwickelt Brett­ sundheitszustand, Bildung, Selbstbestimmung. Das Ergebnis: Je größer die Unterschiede spiele. Mit seinen KollegInnen zählt er weltweit zwischen Arm und Reich, desto schlechter die zu den innovativsten SpielemacherInnen. Lebensqualität von Kindern. Der ZusammenDer Startvorteil der ersten SpielerInnen gehört zu den größten Herausforderungen für Spiele- hang war in jenem Land am stärksten, in dem entwickler. Die Dynamik des Spiels führt oft die höchste Anzahl der Kinder mit weniger als dazu, dass sich ein Vorsprung über die Spiel- der Hälfte des durchschnittlichen Einkommens im Land auskommen muss. Nicht wie reich wir dauer verstärkt und ab einem bestimmten Punkt kaum mehr umkehrbar ist. Es werde als frustrie- insgesamt sind, ist hier entscheidend, sondern wie stark die Unterschiede zwischen uns sind. rend und ungerecht erlebt, erklärt Merkle, wenn Nicht gestalten können, keine Anerkennung, der Verlauf davon abhängt, wer begonnen hat. kein Ausgleich zeigen ihre negative Wirkung. Die SpielegestalterInnen haben darauf mit unterschiedlichen Strategien reagiert. Wenn Hamsterrad im Kopf zum Beispiel in jeder Runde neue Ressourcen ausgegeben werden, dann sinke die Gefahr Es sei wie ein „Hamsterrad im Kopf“, sagt Maria, massiv, dass einzelne SpielerInnen den An- die mit ihren drei Kindern fast zwei Jahre am soschluss verlieren. „Zentral ist das Gefühl von zialen Limit leben musste. Den ganzen Tag quäSelbstwirksamkeit. Menschen müssen das Ge- len die Sorgen und das Getöse im Kopf: Miete, fühl haben, dass ihr Handeln Einfluss auf den Heizkosten, Lebensmittel. Jetzt nur keinen Verlauf des Spiels hat.“ Schulausflug, der was kostet! Und nichts, was Der Spielegestalter testet seine Regeln mit kaputt wird! Und ja nicht krank werden! Und bitmehreren Gruppen, bevor ein Spiel produziert te nicht noch ein Problem im Betrieb! „Ich lebte wird. Dabei beobachtet er, welche Wirkung die von einem Tag auf den anderen“, erzählt Maria. Regeln haben und ob sich die SpielerInnen an „Ich war ziemlich allein mit all den Gedanken, die Spielanleitung halten. Ein Spiel, das als ge- Sorgen und Befürchtungen.“ recht empfunden wird und dessen Regeln anerEine „reduzierte Bandbreite“ nennen der Harkannt werden, verbindet laut Merkle auf ideale vard-Ökonom Sendhil Mullainathan und der Weise Elemente des Zufalls, der Geschicklich- Psychologe Eldar Shafir von der Princeton Unikeit und des „sozialen Ausgleichs“. Abgeschla- versity dieses Phänomen. Die Bandbreite ist ein gene SpielerInnen, die die Regeln als ungerecht Maß für unsere Fähigkeit, Aufempfinden, können sich Brettspiel-MacherInnen merksamkeit zu zeigen, gute Enteinfach nicht leisten. Wo wir gestalten können, scheidungen zu treffen, Pläne einAnerkennung erfahren und sozialen Ausgleich zuhalten und A ­blenkungen zu erleben, dort ist Entwicklung möglich. widerstehen. Knappheit im Leben macht Knappheit im Kopf. Wie läuft das Spiel zur Zeit? Die Autoren vergleichen die Jetzt brodelt es in Spanien, in Portugal, in Grie- Knappheitsfolgen mit dem Surfen chenland. Vor einiger Zeit brannte es auf Eng- im Internet. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen guten Laptop. lands Straßen. Das kommt eben nicht aus dem Nun sind aber im Hintergrund vieNichts. Schauen wir uns drei Indikatoren an, die über le Programme geöffnet. Es spielt Lebensqualität und sozialen Zusammenhalt ei- Musik, Files werden heruntergeladen und ein ganzer Haufen von Browser-Fensniges aussagen: 1. die Gewaltrate, 2. die Anzahl tern ist geöffnet. Plötzlich kriechen Sie nur noch der Gefängnisinsassen und 3. das Wohlergehen von Kindern. Verknüpfen wir diese drei Indikato- im Netz herum. Die Programme im Hintergrund ren mit der sozialen Ungleichheit, die in unter- zehren die Prozessorleistung auf. Knappheit und Armut gebären Sorgen und schiedlichen Ländern besteht, dann bekommen wir als Ergebnis: Wo die soziale Schere ausein- Stress. Das ist, wie wenn jemand vor einer andergeht, dort herrscht mehr Gewalt, dort sit- knappen Projekt-Deadline steht, aber an einem Meeting teilnehmen muss, das damit nichts zu zen mehr Menschen im Gefängnis und dort ist

Brettspiel-Entwickler Marcel-André Merkle: Sozialer Ausgleich ist wichtig – im Spiel wie im Leben

Je größer die Unterschiede zwischen Arm und Reich, desto schlechter die Lebensqualität von Kindern

u

Themen

7


SCHWERPUNKT

u

tun hat. Er wird dabeisitzen, versuchen, sich zu konzentrieren, aber er kann sich noch so sehr anstrengen, seine Gedanken wandern zurück zu jener Deadline. Die Deadline zieht ihn in den Bann. Knappheit zwingt unsere Sinne, sich auf sie zu konzentrieren, fesselt unsere Aufmerksamkeit, erschwert unsere Fähigkeit, uns auf andere Dinge einzulassen.

Das Experiment

„Mangel an Möglichkeiten, die eigenen Fähigkeiten auch auszuspielen“ Amartya Sen

Allein das Denken an Geldsorgen verschlechtert die kognitive Leistungsfähigkeit

8

Themen

Der Psychologe Shafir und der Ökonom Mullainathan gingen in ein Einkaufszentrum. Sie legten PassantInnen eine Aufgabe vor: Ihr Auto hat ein Problem. Die Reparatur kostet 300 Dollar. Was tun Sie? Dann mussten die Versuchspersonen kognitive Aufgaben lösen. Die Probanden wurden in solche mit wenig und solche mit ausreichend Einkommen geteilt. Beide hatten kein großes Problem, die Autoreparatur zu zahlen, und erzielten beim Leistungstest gleich gute Ergebnisse. Aber Shafir und Mullainathan machten einen zweiten Durchgang. Die Aufgabe lautete nun: Die Reparatur kostet 3000 Dollar. Was tun Sie? Die Personen mit den geringen Einkommen hatten massive Probleme, das zu bezahlen. Beim Leistungstest schnitten sie plötzlich signifikant schlechter ab als die Gruppe mit ausreichenden Ressourcen. Allein das Denken an Geldsorgen verschlechtert die kognitive Leistung bei der Aufmerksamkeit, beim Planen und bei der Selbstkontrolle. Der Effekt ist so groß wie eine Nacht ohne Schlaf. Geldsorgen beeinträchtigen die Aufmerksamkeit ebenso wie schwerwiegender Schlafentzug. Ein ähnliches Ergebnis bei Zuckerrohrbauern und -bäuerInnen in Indien: In Zeiten der Armut – vor der Ern­te – schnitten sie schlechter ab, als sobald sie das Zuckerrohr eingefahren hatten – nach der Ernte. Für diesen Effekt sind nicht die persönlichen Fähigkeiten ausschlaggebend, betonen die Autoren. „Hätten wir den Bauern/die Bäuerin nur vor der Ernte, in der Zeit der Knappheit, getestet, hätten wir seine/ihre begrenzte Kapazität als sein/ihr persönliches Merkmal fehlinterpretiert.“ Knappheit reduziert auf direkte Weise die Bandbreite. Es sind dafür nicht mangelnde Fähigkeiten ausschlaggebend, sondern die geringere Bandbreite, um sie einzusetzen. Knappheit reduziert nicht die Fähigkeiten, die jemand hat, aber sie bestimmt, wie viele dieser Fähigkeiten im Moment zur Verfügung stehen.

Wir sehen gerne die kognitive Kapazität als fixe Größe, während sie sich in Wirklichkeit entsprechend den Umständen ändern kann. Die beiden Uni-Professoren verbinden in ihrer Forschung Ansätze der kognitiven Psychologie mit wirtschaftswissenschaftlichen Theorien. Immer wieder hinterfragen sie scheinbare Gewissheiten im ökonomischen Mainstream und Annahmen zum Verhalten von Menschen.

Zu wenig Einfluss Die Erfahrung, dass Armut mit einem „Mangel an Möglichkeiten“ zu tun hat, „die eigenen Fähigkeiten auch auszuspielen“, erinnert an das Capability-Konzept des Wirtschaftsnobelpreisträgers Amartya Sen, der von Armutsbetroffenen als „agents“ spricht, als Handelnde, die nicht zu Objekten gemacht werden dürfen. Es geht nach Sen immer auch um die Erhöhung der Handlungsspielräume und Verwirklichungschancen. „Prekär“ heißt ja wörtlich nicht nur „unsicher“, sondern, aus dem Lateinischen übersetzt, „auf Widerruf gewährt“, „auf Bitten erlangt“. Da steckt der geringe Umfang an Kontrolle und Handlungsspielräumen bereits im Begriff. Auch in der Sozial­ psychologie und in der Public-Health-Forschung finden sich Parallelen. Lebenssituationen, die hohe Anforderungen stellen und gleichzeitig mit einem niedrigen Kon­ trollspielraum ausgestattet sind, erzeugen schlechten Stress.

Zukunft statt Hoffnungslosigkeit Die niedrige Kontrolle kann in zwei Formen auftreten: zum einen nicht über die Gestaltung der Aufgaben entscheiden zu können, zum anderen nicht die Möglichkeit zu haben, die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu nutzen. Dauern diese Ohnmachtserfahrungen an, lernen wir Hilflosigkeit: Lass mich erleben, dass ich nichts bewirken kann. Wenn soziale Ungleichheit wächst, heißt das, dass die Knappheit steigt und die Bandbreite sinkt. Knappheit reduziert nicht die Fähigkeiten, die jemand hat, aber sie bestimmt, wie viele dieser Fähigkeiten im Moment zur Verfügung stehen. Die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu zeigen, gute Entscheidungen zu treffen, unsere Pläne einzuhalten und Ablenkungen zu widerstehen, ist eine Schlüsselressource. Im Hamsterrad aber können wir sie nicht ausspielen. Die aktuelle Spielaufstellung produziert zu viele abgeschlagene SpielerInnen. Wo wir gestalten können, Anerkennung erfahren und sozialen Ausgleich erleben, dort wächst Zukunft und sinkt Hoffnungslosigkeit.


WISSEN

EN S S I W

Die Gesellschaft ist umso gerechter, je mehr Mitglieder über Capabilities verfügen

g Chancen(un)gleichheit

Wenn Einkommen oder Vermögen ungleich verteilt sind, spricht man von Verteilungsungleichheit. Unter Chancenungleichheit hingegen versteht man, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Frauen oder Zugewanderte innerhalb der Verteilung eines knappen, begehrten Gutes eine bessere oder schlechtere Stellung einnehmen.

g Verwirklichungschancen, Capabilities

Eine Gesellschaft ist umso gerechter, je mehr ihre Mitglieder über „Verwirklichungschancen“ (Capabilities) verfügen. Von der grundsätzlichen Funktion der Freiheit sind ihre instrumentellen Funktionen zu unterscheiden. Letztere dienen den Menschen als Mittel, den Grundwert der Freiheit und damit die Verwirklichungschancen sicherzustellen. Zu den instrumentellen Freiheiten zählt der Ökonom und Sozialphilosoph Amartya Sen die folgenden: • politische Freiheiten (Kritik, Widerspruch, Wahlrecht etc.) • ökonomische Institutionen (Ressourcen, Bedingungen des Tausches, Verteilung) • soziale Chancen (Bildung, Gesundheit) • Transparenzgarantien (Pressefreiheit, Informationspflichten, z. B. gegen Korruption) • soziale Sicherheit (Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe, Mindestlöhne)

Weil der Capabilities Approach nicht nur bei der Bewertung von Armut, sondern auch bei der Diskussion von sozialer Ungleichheit und Fragen der Gerechtigkeit verwendet werden kann, hat Sen zwischen Verwirklichungschancen allgemein und Basischancen, als Teilmenge, die das Mindestmaß einer Verwirklichungschance bezeichnen, unterschieden. So gehören zur grundlegenden Verwirklichungschance der Gesundheit die Basischance der Verfügbarkeit eines Arztes oder von sauberem Wasser.

g Ressourcen

Mittel, um eine Handlung zu tätigen oder einen Vorgang ablaufen zu lassen. Eine Ressource kann ein materielles oder immaterielles Gut sein. Meist werden darunter Betriebsmittel, Geldmittel, Boden, Rohstoffe, Energie oder Personen und (Arbeits-)Zeit verstanden, in der Psychologie auch Fähigkeiten, Charaktereigenschaften oder eine Haltung, in der Soziologie auch Bildung, Gesundheit und Prestige.

g Kapitalsorten

Die Kapitalsorten ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital und soziales Kapital bilden zusammen das Kapital­ volumen. Die Kapitalsorten werden in gesellschaftlichen Bereichen eingesetzt, die der Soziologe Pierre Bourdieu soziale Felder nennt. In diesen Feldern findet ein beständiger Kampf um den Wert und die Konvertierbarkeit der einzelnen Kapitalsorten statt. • Sozialkapital. Umfang und Ausprägung hängen dabei von der Größe und Qualität des Beziehungsnetzwerkes sowie der Verzahnung mit dem ökonomischen und kulturellen Kapital ab. Sozialkapital kann nur auf der Basis von Vertrauen entstehen und sorgt dafür, dass sich Kooperation und gegenseitige Unterstützung entwickeln können. • Kulturelles Kapital. In unterschiedlichen Kulturen stehen unterschiedliche kulturelle Güter zur Verfügung, die sich die Einzelpersonen in unterschiedlichem Umfang angeeignen. Außerdem erhält jedes Individuum durch die Beachtung sozialer Regeln und Normen in diesem Netzwerk eine bestimmte Anerkennung. • Symbolisches Kapital. Man kann diesen Begriff mit Prestige übersetzen – es ist die Fähigkeit, durch Habitus, Lifestyle, Körpersprache, Umgangsformen und Kleidung gesellschaftliche Anerkennung durchzusetzen und wahrnehmbar zu machen, dass man über materielles, soziales und kulturelles Kapital verfügt

Themen

9


INTERVIEW

Das Bedürfnis zu wachsen

Maria Maiss über Potenziale, Ressourcen, Talente und Möglichkeiten. Mit der Philosophin und Ethikerin sprach Martin Schenk. INTERVIEW: MARTIN SCHENK | FOTOS: NADJA MEISTER

10

Themen


INTERVIEW

DiakonieThemen: Möglichkeiten, Fähigkeiten,

Potenziale: Was steckt hinter diesen Begriffen? Maria Maiss: Zum einen der Ansatz der Funktionsfähigkeiten, im Englischen „capabilities“. Dieser Zugang entstand als Kritik an der „Theorie der Gerechtigkeit“ des Philosophen John Rawls. Er hatte eine Liste jener Güter beschrieben, die es in einer Nation möglichst gerecht an alle zu verteilen gilt. Diese Liste umfasste Freiheit, Chancen, Wohlstand, Vermögen, Einkommen. Die Kritik der Philosophin Martha Nussbaum und des Ökonomen Amartya Sen war nun, dass sie diese genannten Komponenten als zu dünn klassifizierten. Sie legten eine dichte Liste an Gütern vor, die Grundlage für ein gutes Leben sein sollen.

? Was heißt das? „Capabilities“ kann man mit Funktionsfähigkeiten übersetzen, aber auch mit Ermöglichungsbedingungen oder Teilhabebedingungen. Nussbaum geht stärker auf die Funktionsfähigkeiten ein, die sie von Aristoteles herleitet. Was macht ein gutes menschliches Leben aus? Was sind die Möglichkeiten, die entwickelt werden müssen, damit wir unser Mensch-Sein verwirklichen können? Damit wir das, was wir von Natur aus an Potenzialen mitbekommen, durch entsprechende Bedingungen so entwickeln können, dass wir dann tatsächlich mit diesen Fähigkeiten so etwas wie ein erfülltes, gutes Leben realisieren können? Sen war stärker daran interessiert, daraus Indikatoren zu entwickeln, die ja auch zum Teil bereits in den Human Development Index als Messinstrument eingeflossen sind.

MAG. DR. MARIA MAISS, Studium der Philosophie, Pädagogik sowie Sonderund Heilpädagogik an der Universität Wien; Dozentin für Theorien, Geschichte und Ethik der Sozialen Arbeit an den Studien­ gängen Soziale Arbeit der FH St. Pölten; wissenschaftliche Mitarbeiterin des Ilse Arlt Instituts für soziale Inklusions­ forschung.

ten, schimmligen Wohnung leben und leide als Folge davon an Atemwegserkrankungen. Die Liste der Funktionsfähigkeiten ist ein Maßstab, der weltweit Gültigkeit haben soll. Es hängt immer von den realen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen ab, wie weit es jedem Individuum (ob jung, alt, gesund, behindert, krank, weiblich, männlich ...) in einer Nation tatsächlich gelingt, diese Potenziale zu entfalten. Die nächste Frage: Kann man die entfalteten Fähigkeiten adäquat in die Gesellschaft einbringen? Es geht nicht nur um die individualistischen Ziele, die man verfolgt, sondern immer um die Ermöglichungsbedingungen rundum.

? Die Fähigkeiten müssen zusammenpassen mit den Ermöglichungsbedingungen, also der Möglichkeit, sie auch einzusetzen. Genau. Die Realisierung von Fähigkeiten ist immer rückgebunden an die Teilhabe an sozialer Wohlfahrt.

? Man kann es aber auch umdrehen: Wer seine Poten­ziale nicht nutzt, ist selbst schuld … Nein. Es gibt Grundeigenschaften, die sich bei uns allen finden. Und dieses Potenzial wartet darauf, entwi? Wie sehen Sie Begriffe „Es geht nicht nur um wie Chancen und Resilienz? ckelt und entfaltet zu werden. die Ziele, die man verfolgt, Der Begriff der Bedürfnisse Je nachdem, ob und in welsondern immer um die gehört da auch dazu. Ancher Qualität und Quantität ­Ermöglichungsbedingungen triebskräfte nennt sie der Psyäußere Rahmenbedingungen bildungsbezogener oder machologe Abraham Maslow. Er rundum“ beschreibt das als „Vormächterieller Art diese Entfaltung ermöglichen, wird der Mensch seine Fähigkeiten ent- tigkeit“. Wenn ein Mensch Hunger hat – wir in Wohlwickeln können. Der Capability Approach arbeitet mit standsländern verspüren Appetit –, dann spürt er einer Liste von zehn Funktionsfähigkeiten, die bei der vordringlich diesen Hunger, dies bewegt ihn durch Verteilung von Transferleistungen und diversen infra- und durch. Die zweite Antriebskraft ist das Bedürfnis strukturellen Verbesserungen wie Bildungsunter­fan­ nach Sicherheit. Wenn Kinder nie erfahren haben, gen und Gesundheitsförderungsmaßnahmen be- dass die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse mögrücksichtigt werden müssen. lich ist, sondern erleben mussten, dass dieser Mangel immer wiederkommen kann, dann können sie ? Das muss aber zusammenpassen. Ich kann schwer innerhalb der Antriebs­kräfte die Vormächtigviele tolle Bildungsabschlüsse machen und dann keit verschieben, sind also diesen Kräften ausgeliegibt es keine Jobs. Oder ich darf nicht arbeiten. fert. Da kommt die Resilienz ins Spiel, die WiderOder ich rauche nicht, muss aber in einer feuch­ standsfähigkeit. Nach der Sicherheit käme das

MARTHA C. NUSSBAUM ist Professorin für Recht und Ethik an der University of Chicago. Ihre Arbeitsgebiete umfassen u. a. Antike, Feminismus, Entwicklungspolitik und Theorie der Emotionen.

u

Themen

11


INTERVIEW

„Das Potenzial ist bei den meisten Kindern groß, die Bedingungen des Aufwachsens und der Förderung sind aber sehr unterschiedlich“

Be­dürf­nis nach Zugehörigkeit, Liebe. Sucht jemand einen Partner aus Gründen der Sicherheit oder ist die Beziehung nicht wegen ökonomischer Sicherheit, sondern unter Freiheitsbedingungen geschlossen, dann gibt das der Liebe jeweils eine andere Qualität. Weiters beschreibt Maslow das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Für ihn gibt es Mangel- und Wachstumsbedürfnisse.

ILSE ARLT (1876–1960) legte die Grundlagen für die soziale Arbeit als ­wissenschaftliche Profession und schrieb die ersten Lehr­bücher dafür. 1912 gründete sie die erste ­Für­sorgerinnenschule ­Österreich-Ungarns. 12

Themen

? Aber ist das wirklich eine Bedürfnispyramide? Daraus haben sich in der sozialen Arbeit alle frag­ würdigen Stufenmodelle entwickelt. Auch Straßen­ zeitungsverkäufer können Gedichte schreiben. Maslow wendet sich selber gegen den Begriff der ­Hierarchie. Da wird er missverstanden. Nicht alle Bedürfnisse können zur Gänze befriedigt werden. Bei Nussbaums Liste des guten Lebens sind die Fähigkeiten eher gleichwertig und systemisch vernetzt zu denken. Auch die österreichische Sozialarbeits-Pionierin Ilse Arlt hat ihre 13 Gedeihenserfordnernisse als in komplexer Vernetzung zueinander stehend aufgezeichnet. Die sind alle wichtig. Von Fall zu Fall muss man Prioritäten setzen in der praktischen Sozialarbeit. Manches geht aber verloren, weil die soziale Arbeit so spezialisiert ist. Das macht es unmöglich, dass jemand noch den Gesamtblick auf alle Gedeihenserfordernisse des Menschen im Auge behält. ? Ressourcenansätze sind jetzt in aller Munde. Diese würde ich eher als Orientierungen bezeichnen, weniger als Theorien. Es geht um die individuellen Ressourcen, die ein Mensch aufbaut – da wären wir

wieder bei den Fähigkeiten, die er entwickelt. Und dann um die äußeren Ressourcen, die da sein müssen, damit diese Fähigkeiten entfaltet werden können. Ressourcen werden oft als Worthülse verwendet. Auch beim Begriff des Empowerment muss man nachfragen: Was ist denn eigentlich gemeint?

? Der Begriff des „Talents“ ist jetzt voll da. Der kommt wohl mehr von der Exzellenzforschung, weniger von Benachteiligungen. Da muss man achtgeben, dass er die Debatte nicht verengt und soziale Ungleichheiten beschönigt. Das Potenzial ist bei den meisten Kindern groß, die Bedingungen des Aufwachsens und der Förderung aber sind sehr unterschiedlich. So wie „Talent“ zurzeit diskutiert wird, besteht auch die Gefahr, dass es ahistorisch und biologistisch verwendet wird. Doch der Umgang mit der eigenen Geschichte ist wichtig. Viele Ressourcen können bei Beschäftigung mit der eigenen Biografie gewonnen werden. Da können wir von der psychoanalytischen Erziehungsberatung lernen, die in den 1920er-Jahren in Wien entwickelt wurde. In Begegnung mit der eigenen Geschichte kommen: Was bin ich in diesem Geflecht und was kann ich werden? Da können Möglichkeiten wachsen. ? Prinzip Hoffnung? Hoffnung ist einfach da. Solange wir leben. Immanuel Kant hat Religion als transzendente Hoffnungslogik bezeichnet; als etwas Rationales, das alternierend oder zusätzlich zur immanenten Hoffnungslogik motiviert, sich zu engagieren – und weiterzutun.


PROJEKTE

Mangel in Ruanda

Schwerpunkt bei „Brot für die Welt“.

Beim Freiwilligentreffen werden viele gute Erfahrungen ausgetauscht Ausgewogene Ernährung als Basis für gesunde Entwicklung

F

ast jedes zweite Kind im ostafrikanischen Staat Ruanda leidet an Mangelernährung. „Brot für die Welt“ hilft armen Familien beim Anlegen von Hausgärten. Dort ernten sie Papaya, Spinat, Paprika und Bohnen – und können sich so gesünder und ausgewogener ernähren. Das ist wichtig, denn Mangelernährung kann die Entwicklung eines Landes schwächen. Fehlen Gemüse, Obst und Milchprodukte auf dem Teller, bleiben Fünfjährige so klein wie Dreijährige, Jugendliche sitzen unkonzentriert in der Schule und verbauen sich die Chance auf eine bessere Zukunft. Erwachsenen fehlt die Kraft für die Feldarbeit. Die Menschen haben nicht genügend Abwehrkräfte gegen Infektionen und Krankheiten. Im Jahr 2015 steht bei „Brot für die Welt“, der evangelischen Aktion für Entwicklungszusammenarbeit, das Thema Mangelernährung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. www.brot-fuer-die-welt.at

Kulinarium

Integration mit Geschmack.

Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten gemeinsam in Küche und Service

Spring ins Leben

Der neue Jahrgang ist gestartet.

78

Jugendliche haben sich im vergangenen Jahr engagiert, etwas ganz Neues ausprobiert und selbst davon profitiert: Sie waren als „Junge Freiwillige“ ein Jahr lang in Einrichtungen der Diakonie in ganz Österreich tätig, haben Menschen mit Behinderung betreut, Kinder beim Lernen begleitet und alte Menschen im Alltag unterstützt. 70 Jugendliche sind diesen Herbst in den neuen Jahrgang gestartet. „Ich bin erst seit einem Monat dabei und wurde von meinen KollegInnen schon gefragt, warum ich denn nur ein Jahr bleiben möchte. Sie sind ziemlich froh, dass ich da bin und sie unterstütze, denn Arbeit gibt’s genug“, erzählt Kathi, die seit September das LehrerInnenTeam und das Team der Schulverwaltung im Evangelischen Gymnasium Donaustadt unterstützt. www.spring-ins-leben.at

D

as Kulinarium ist ein Cateringservice für kleine und größere Gelegenheiten. Die MitarbeiterInnen des Kulinariums kreieren Buffets für private Feste, Firmenfeiern und Veranstaltungen. Das Besondere: Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten gemeinsam – in der Küche, beim Catering und im Service. Das Kulinarium gibt es in Linz, Kitzbühel und Salzburg. Menschen mit Behinderung haben es am Arbeitsmarkt schwerer, weil sie nicht „mit der Masse mithalten“ können. Sie benötigen etwas mehr Assistenz, Zeit und Zuwendung, damit ihre Talente entdeckt und gefördert werden können. Die Arbeit im Kulinarium zeigt, dass Dienstleistungsprojekte Integration fördern und das Selbstwertgefühl steigern. Für die MitarbeiterInnen im Kulinarium ist das ein Schritt aus der sozialen Isolation und eine Weiterentwicklung des Selbstbewusstseins und der Teamfähigkeit. www.kulinarium-linz.at • www.kulinarium-kitz.at www.kulinarium-salzburg.at

Themen

13


WORDRAP

WORD RAP MIT HILDE DALIK, SCHAUSPIELERIN

Neugieriges Miteinander JUGEND? Umbruchsphase.

HILDE DALIK pendelt in ihren Arbeiten zwischen Theater und Film. Seit 2006 ist sie Ensemblemitglied im Theater in der Josefstadt. Ihre Ausbildung machte die Schauspielerin am Konservatorium der Stadt Wien. Die 1978 geborene Wienerin war im Fernsehen sowohl in Paulus Mankers „Alma“Produktionen zu sehen als auch in Komödien wie „Die Lottosieger“, „Contact High“ und im Kino in „Die Werkstürmer“. Außerdem gab Hilde Dalik Gastrollen in fast allen aktuellen Krimiserien in Österreich. Das erste Mal Regie führt sie bei „Romeo und Julia – freestyle“ im Theater Dschungel Wien.

14

Themen

JUGENDLICHE? Viele Themen, mit denen sie sich auseinandersetzen. Bewundernswert sind die ­Jugendlichen, die Krieg, Gewalt und Flucht erfahren haben und dabei große menschliche Qualitäten mitbringen.

CHANCEN? Gleichheit anstreben. Trotz schwieriger ­Umstände glücklich sein.

ZUKUNFT? Weitermachen, weitergehen. Mutig und lustvoll.

DIAKONIE? Erste Begegnung durchs Laura Gatner Haus, wo die jugendlichen Flüchtlinge leben. Seither Bewunderung für die Arbeit.

VISION? Gut, wenn man eine hat.

LUXUS? Für mich gerade: Zeit.

TYPISCH ÖSTERREICH? Schnitzel, Palatschinken, Kebab.

ENTBEHRLICH? Dogma, Starre, Fantasielosigkeit, Empathie­losigkeit.

ERSTREBENSWERT? Ein respektvolles, wertschätzendes und ­neugieriges Miteinander.

TRADITION? Schön, wenn sich jemand darum kümmert. Ich bin daran interessiert, aus Tradition Neues zu schöpfen.

MOTTO? Geben ist das ultimative Ziel. In welcher Form auch immer. In der Kunst wie im Leben.


DIAKONIE WÖRTLICH

Romeo und Julia – freestyle

„Romeo und Julia – freestyle“ erzählt von den alltäglichen S ­ chwierigkeiten Jugendlicher und junger Erwachsener, die auf ihrer Flucht ganz allein in Österreich gelandet sind. Hilde Dalik

Workshop mit AsylwerberInnen Hilde Dalik (siehe auch linke Seite) macht seit rund einem Jahr mit jungen AsylwerberInnen in einem Wohnhaus des Diakonie Flüchtlingsdienstes Theaterworkshops. Daraus ist die Idee entstanden, gemeinsam mit den jungen AsylwerberInnen ein Stück auf die Bühne zu bringen. Im vergangenen September war es so weit: Das Theater Dschungel Wien war Ort des Auftritts. Und der Applaus des Publikums war tosend und begeistert. Diakonie Themen hat mit den jungen KünstlerInnen gesprochen und bringt Ausschnitte aus dem Stück.

Hilde Dalik mit den DarstellerInnen bei den Proben

Sharif

„Niemand geht zur Schule“

Sharif und Chadischat bei den Proben

Paris (dargestellt von Sharif) stellt sich im Stück bei Julia vor: „Salam Julia! Ich bin Paris. Das weißt du ja schon.“ ,Ich bin Paris‘ heißt auf dari: ,Ma hastom Paris‘. Auf Pashtu heißt es:

,Zeh Paris yam.‘ Paschtu, Dari, Pashai, Torkman sind alles afghanische Sprachen. Meine Muttersprache ist Pashei. Später einmal will ich ein Wörterbuch für meine Muttersprache schreiben. Es gibt nämlich kein Wörterbuch auf Pashai. Niemand kann Pashai schreiben. Dort geht niemand zur Schule. Alle kämpfen. Ich war nicht in der Schule als Kind. Ich habe Kartoffeln verkauft. Warum bin ich weg aus Afghanistan? Gute Frage. Warum ist mein Vater tot? Warum ist mein älterer Bruder tot? Warum hat mein anderer Bruder eine Prothese? Warum sag ich, mein Herz ist tot?“

Chadischat

„Theater spielen ist cool“ Chadischat „Hadi“ (18) besucht die Handelsschule in Wien. Sie ist mit acht Jahren mit ihren Eltern nach Österreich gekommen. Im Gespräch erzählt sie, wie sie das Theaterspielen erlebt: „Das Stück ,Romeo und Julia‘, da war ich am Anfang zögerlich. Ich dachte, der Text ist von Shakespeare. Der wird sehr schwer zu lernen sein. Ich war unsicher. Aber am Ende war das wirklich super. Das Theaterspielen ist so cool und Hilde ist mein großes Vorbild. Das Ganze hat so großen Spaß gemacht, zum Beispiel mit meinem ,Bruder‘ hier ... (lacht und nimmt Zarif Hoseini an den Händen) ... Auch in der Schule bin ich viel beachtet worden. Manche LehrerInnen waren sogar im Theater und haben unser Stück

gesehen. Sie freuen sich, dass ihre Schülerinnen Thea­ter machen, das taugt ihnen richtig. Und das hilft mir, dass ich zu meinen Hadi – eine der drei Darstellerinnen der Julia – bei den Proben LehrerInnen auch eine gute Beziehung aufbaue. Meine Schul­kollegInnen haben Karten für die Aufführungen im Oktober reserviert. Die beiden Vorstellungen sind jetzt schon fast ausverkauft. Wir überlegen Zusatzvorstellungen. Später werde ich versuchen, auf dem Konservatorium Theater zu studieren. So wie Hilde.“

Themen

15


MYTHEN & MÄRCHEN

Mythos: „Jede/r schafft es, wenn er/sie nur will“ Der soziale Status der Eltern bedingt den Lernerfolg der Kinder. Das gilt in Österreich noch mehr als anderswo.

VON MARTIN SCHENK

?

STIMMT´S MYTHEN & MÄRCHEN

16

Themen

W

ie stark hierzulande der Lernerfolg von Kindern am sozialen Status der Eltern hängt, zeigt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) erneut auf: Kinder von Eltern mit hoher Bildung und damit hohem Einkommen, hoher beruflicher Position bringen um 90 Punkte bessere Leistung als Kinder aus Elternhäusern mit weniger Bildung und Einkommen. In

Noten werden oft nicht nach Leistung, sondern nach Herkunft vergeben

anderen Ländern beträgt dieser Abstand weniger als 40 Punkte. Feinauswertungen fördern noch verstörendere Daten zutage. Nicht die Leistung zählt. Nicht die Kompetenzen werden honoriert. Noten werden nach Herkunft vergeben. SchülerInnen aus Haushalten mit geringer Bildung erhalten bei glei­cher Leistung schlechtere Noten. Bei gleicher Lesekompetenz fassen sie deutlich schlech­te­re Noten aus. Umgekehrt bekommen SchülerInnen aus universitärem Elternhaus bei gleichen Kompetenzen die besseren Beurteilungen. Beim Übertritt von der Volksschule ins Gymnasium spielt sich dasselbe ab. Kinder mit Eltern,

die maximal Pflichtschulabschluss aufweisen, treten bei gleichen Noten seltener in die AHS über als Kinder von Uni- oder Matura-Eltern. Bei gleicher Lesekompetenz wechseln laut OECD 67 Prozent der SchülerInnen mit Akademiker-Eltern in die AHS, vierzig Prozent mit Matura-Eltern, aber nur 22 Prozent der SchülerInnen aus Haushalten mit Pflichtschulabschluss. „Nicht jeder hat die gleiche Chance, in absolute Spitzenpositionen aufzusteigen“, erläutert der Soziologe Michael Hartmann. Selbst mit einem Hochschulabschluss nicht. Eine Studie, bei der Biografien von 6500 DoktorInnen über Jahrzehnte untersucht wurden, hat gezeigt, dass Spitzenpositionen überrepräsentativ mit Kindern aus dem Bürgertum bzw. Großbürgertum besetzt werden. Vor allem in der Wirtschaft werden 80 Prozent an diesen Kreis vergeben, der in der Bevölkerung drei bis vier Prozent ausmacht. Entscheidend ist der richtige Stallgeruch. Es zählt die Ähnlichkeit. Wir schätzen andere sozial ein: Wie reden sie, wie sind sie angezogen, was lesen sie, welche Fernsehsendungen sehen sie, was essen sie, welche Musik hören sie, welches Auto fahren sie? „Bildung hört man mehr, als man sie sieht. Den materiellen Besitzstand sieht man dagegen eher, als dass man ihn hört“, bringt es der Sozialwissenschafter August Gächter auf den Punkt. Bei Bewerbungsgesprächen regiert die „gehörte Bildung“ mit Namen und Akzent, dann erst die wirkliche Qualifikation. Versuche mit unterschied­ lichen Absendernamen bei Bewerbungsbriefen ha­­ben die Kriterien für Einladung oder Desinteresse gezeigt: Michael ja, Mustafa nein. Generell kann man sagen, dass in den meisten Ländern die Wirtschafts- und die Justizelite in ihrer großen Mehrheit aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Familien stammen. Die politische Elite ist in Frankreich, Spanien, Portugal oder mittlerweile auch in Deutschland so zusammengesetzt wie die wirtschaftliche Elite, das ist ein Anteil von mindestens drei Vierteln an BürgerIn­nen- und GroßbürgerInnenkindern.


FACHKOMMENTAR INHALT

Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht

Evangelische Schule am Karlsplatz, Wien

Die ersten drei Schulwochen im Schuljahr 2014/15 an der Polytechnischen Schule Karlsplatz in Wien.

D

ie 23 SchülerInnen der „Polytechni- im Verlauf des Filmprojekts (12 Jahre!) wachsen und altern. Wieder im Klassenraum ein anschlieschen Schule“ und ihre LehrerInnen ßendes Filmgespräch. Trotz englischer Originallernen einander kennen. Man spricht fassung mit deutschen Unter­titeln war der Streiüber Wünsche, Träume, Erfahrungen, Ziele. In Kleinteams werden Punkte des Klassenvertra- fen echt cool. Hätten wir uns nie gedacht! ges (Konfliktlösungsstrategien, aktives Zuhören, Umgangsformen, Sozialkompetenzen, Wert- Im Theater schätzung, Pflichten und Rechte der SchülerIn- Ins Theater gehen wir auch – „Romeo und Julia nen ...) erarbeitet und zu Papier gebracht. – freestyle“. Jugendliche mit Fluchterfahrung aus Man stellt die Ergebnisse vor, diskutiert, stellt Einrichtungen des Diakonie Flüchtlingsdienstes Fragen, fasst zusammen. Schließlich soll ja der stehen gemeinsam mit professionellen SchauKlassenvertrag von allen SchülerInnen und Leh- spielerInnen auf der Bühne und interpretieren rerInnen ohne Einwände unterzeich­net werden. William Shakespeares Drama neu. Im Anschluss dürfen wir die KünstlerInnen interviewen. Passt Die Nachrichten wunderbar zu unserem Projekt „Langer Tag der Flucht“. Übrigens – Diakonie, ist das nicht unser Der Unterricht beginnt mit dem gemeinsamen Anhören der Acht-Uhr-Nachrichten. Ukraine? Schulerhalter? Und ab geht’s in die unend­lichen Weiten des Internets, zur Recherche ... Wo liegt das? Was passiert dort? Schottland will selbstständig werden? Warum? Und Spanien ist Im Theater davon gar nicht begeistert? 250 Flüchtlinge sind angeblich im Mittelmeer ertrunken? Wie konnte Tja – und dann passiert es: Ein Schüler kommt das passieren? Wer oder was wird in Vorarlberg gegen Ende der dritten Schulwoche in einer gewählt? Österreich hat einen neuen Finanzmi- Pause zu mir und meint: „Herr Jäger, es ist echt nister? Was ist mit Staatshaushalt gemeint? toll hier im Poly, aber wann beginnen wir eigentDie Jugendlichen recherchieren Geschichtli- lich mit dem Lernen?“ ches und Aktuelles und finden Antworten in den Ich muss ein ziemlich verdutztes Gesicht geBüchern der Schulbibliothek, im Internet mit Hil- macht haben, denn er beginnt sofort zu erläufe ihrer Handys und der schuleigenen Laptops. tern: „Wir haben noch kein einziges Schulbuch Ein Kinobesuch wird vorbereitet. Was, gleich verwendet, wir haben nur die Hefte und Mappen nach den Sommerferien gehen wir schon ins beschriftet, ganz wenig hineingeschrieben und Kino? Zweieinhalb Stunden im De France. Ein wissen nur die Schularbeitstermine.“ Kinosaal allein für uns. Die Besonderheit an dem epts.schule-karlsplatz.at Film „Boyhood“ ist, dass die SchauspielerInnen

Franz Jäger ist seit 1985 an der Evangelischen Schule Karlsplatz in Wien als Lehrer tätig. Er unterrichtet als Klassenvorstand an der neu gegründeten Polytechnischen Schule Deutsch, Politische Bildung, Berufsorientierung und Bewerbungstraining, leitet die Schultheatergruppe und ist SchülerInnenberater.

Themen

17


ZAHLEN

Die Welt in Zahlen Taschengeld In Österreich bekommen Jugendliche ... ab 15 Jahren

30 €

zwischen 10 und 15 Jahren

Taschengeld pro Woche

9 € Taschengeld pro Woche

zwischen 5 und 10 Jahren 3 € Taschengeld pro Woche

unter 5 Jahren 1,5 € Taschengeld pro Woche Quellen: www.ing-diba.at, Eurostat, Diakonie intern

Junge Menschen begeistern sich für verschiedene Musikstile:

3.100.000

BesucherInnen beim Donauinselfest 2014

200.000

BesucherInnen beim FM4 Frequency 2014

Täglicher Zigarettenkonsum bei Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren

23,6 %

Österreich

Spanien

18,4 %

150.000

BesucherInnen beim NovaRock 2014 75.000 BesucherInnen beim Urban Art Forms 2013 20.000 BesucherInnen beim Woodstock für ­Blasmusik 2014

Rumänien

10,8 % 5,7 %

Kinobesuch der 16- bis 19-Jährigen

Theaterbesuch der 16- bis 19-Jährigen

Frühzeitiger Schul- oder Ausbildungsabbruch

in Österreich gehen 12,2 % nie ins Kino

in Österreich gehen 44,4 % nie ins Theater

7,3 % der 18- bis 24-Jährigen in Österreich

54,7 % in Bulgarien 42,3 % in Lettland 18,4 % in Polen 15,5 % in den EU-27 1,4 % in Island 18

Griechenland

Themen

66,2 % in Malta

50,5 % in Italien 42,7 % in den EU-27 33,4 % in Ungarn 13,8 % in Island

23,6 % in Spanien 12 % in den EU-27 11 % in Belgien 6,3 % in Litauen


BÜCHER | EUROPA

Buchempfehlung

Best of EUrope

Dorfgeschichten aus der Großstadt: Zur Geschichte und Sozialarbeit und Sozialarbeitsforschung Band 7

Rosa Dworschak; Löcker, 2014

g In dieser außergewöhnlichen Sozial­

reportage berichtet Rosa Dworschak aus dem Leben der Familien des sogenannten „Negerdörfls“, einer Wiener Armensiedlung, in dem sie von 1928 bis 1938 als Sozialarbeiterin tätig war. Die Erzählungen Dworschaks sind getragen von dem, was ihrem Verständnis nach für psychoanalytische Sozialarbeit grundlegend ist: dem lebendigen Interesse für die an­deren, der Fähigkeit, zu verstehen, auf andere und deren Lebensauffassung einzugehen und sie nicht zu verurteilen.

Für sich und andere sorgen – Krise und Zukunft von Care in der modernen Gesellschaft

Brigitte Aulenbacher, Maria Dammayr; Beltz Juventa, 2014 Das Buch befasst sich mit Selbst- und Für­sorge, mit Care, Demokratie und Ökonomie, Ethik und Ökonomie, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat, Migration und Haushaltsarbeit, privater und pro­fessioneller Sorge­ arbeit, Arbeitsbedingungen im Care-Sektor.

g

Handbuch Resilienzförderung

Margherita Zander; VS Verlag für Sozial­wissenschaften, 2011­ Wo Resilienzförderung manchmal wie das neue Zauberwort betrachtet wird, versucht dieses Handbuch erste Orientierungspunkte zu geben. Es reflektiert die grundsätzlichen Chancen und Grenzen des Konzepts, fragt aber auch nach dem gesellschaftlichen Kontext, in welchem dieser Ansatz wirken soll. Wem kann überhaupt geholfen werden? Welche sozialen Schieflagen bleiben bestehen? Was bedeutet es, Kinder und Jugendliche zu „stärken“ in einer Gesellschaft, die längst nur auf die „Starken“ setzt?

g

Der Capability Approach und seine Anwendung: Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen ­erkennen und fördern

Gunter Graf, Elisabeth Kapferer, Clemens Sedmak; Springer VS, 2013 Auf welche relevanten Fragestellungen lässt sich der von Amartya Sen und Martha Nussbaum formulierte „Capability Approach“ anwenden? Eignet er sich als Grundlage für Studien und Projekte, die sich mit der Konzeptualisierung und Minderung von Kinderarmut beschäftigen? Die Autorin und die Autoren gehen diesen Fragen aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven nach und zeigen das Potenzial des Ansatzes auf.

g

Betreuung für Schulabbrecher

VAMOS – Los geht’s! „Das hat mich wertvoll gemacht, als Mensch, in meinen eigenen Augen.“ So beschreibt Sami sein Glücksgefühl, nachdem er einen Job gefunden hat. Die Stelle hat er aufgrund seiner Qualifikationen bekommen und nicht weil Lohnzuschüsse oder Eingliederungsprogramme dazu verholfen waren. Er arbeitet als Akustiker in einem Tonstudio.

Hilfe für Jugendliche in Helsinki Sami hat eine schwierige Vorgeschichte – wie die meisten Jugendlichen, die zu VAMOS kommen. Das finnische Projekt, das derzeit in den Städten Helsinki und Espoo seitens des Helsinki Deaconess Institutes angeboten wird, hat im letzten Jahr 1.300 Jugendliche, die vorzeitig die Schule oder Ausbildung verlassen haben, betreut. Der Ansatz ist dabei vollkommen neu. Erstens sind an nur einem Standort unterschiedliche Betreuungspersonen verfügbar – Sozial­ ­ arbeiterInnen, PsychologInnen, Job-Coaches etc. Zweitens wird versucht, durch eine Bezugsperson Vertrauen aufzubauen und Wertschätzung sowie Interesse für die Jugendlichen zu vermitteln. Und drittens ist es die tägliche Routine, die es jugendlichen SchulabbrecherInnen ermöglicht, wieder im alltäglichen Leben Fuß zu fassen.

Teilhabe ermöglichen So kann steigender Jugendarbeitslosigkeit, Vereinsamung und Vereinzelung von jungen Menschen, die auch in Finnland um sich greift, entgegengetreten werden. Ziel für die Jugendlichen ist es, wieder aktiv an der Gemeinschaft bzw. einer Ausbildung oder einem Beruf teilzuhaben. Die vielen positiven Effekte hat nun auch die Europäische Union erkannt und fördert das Projekt – nicht zuletzt um eine bundesweite Umsetzung in ganz Finnland zu erreichen. Der umfassende Ansatz von VAMOS ist es auch, der den Erfolg garantiert. Sami drückt es so aus: „VAMOS ist einzigartig. Es ist anders. Es ist keine Therapie und möchte auch keine sein. VAMOS ist VAMOS – ein verlockendes Projekt, das überraschend gut funktioniert.“ www.diakonie.de (Stichwort „vamos“)

Themen

19


DIAKONIE HAUTNAH

Kommen und Gehen im Wàki

Seit 20 Jahren ist das Wàki ein Zufluchtsort für Jugendliche in Krisensituationen. Häufig kann die Lage durch die K ­ risenbetreuung entspannt werden. VON HANNELORE KLEISS

D

ie 14-jährige Florentina wohnt seit zwei Monaten in der Krisenstelle des Diakonie Zentrums Spattstraße in Linz. Auslöser war ein Riesenstreit zu Hause. Das war nur der Punkt auf dem i. Denn ihr ganzes Leben ist turbulent: Florentina kennt ihren Vater nicht. Er hat die Familie nach der Geburt verlassen. Für Florentinas Mutter war es schwer, über die Runden zu kommen. Sie bekam Panikattacken. Immer wieder hat sie kurze Zeit in Lebensgemeinschaften gelebt. Keine Beziehung hielt länger als zwei Jahre. Mit ihrem jetzigen Partner lebt sie nun schon vier Jahre zusammen, und seit drei Jahren hat Florentina einen Stiefbruder. Seitdem fühlt sich Florentina daheim als Außenseiterin. Die Geldsorgen sind geblieben. Wenn Florentina hört, wie ihre Mutter und ihr Stiefvater laut streiten, läuft sie davon. Sieben Wochen lang ging sie nicht zur Schule. In letzter Zeit kam sie oft nächtelang nicht nach Hause. Dann war sie häufig am Bahnhof zu finden.

Wut und Tränen

Das Wàki-Team: Hannes Atteneder, Erika Breuer, Thomas Ehling, Christine Khek und Stefan Scharinger, Praktikant (v. l.) 20

Themen

„Im Wàki drücken die Jugendlichen ihre Gefühle über das bisher Erlebte in ganzer Bandbreite aus: Angst, Streit, Wut und Tränen sind zu erleben, und die Verzweiflung reicht bis zu Suizid­ drohungen. Es gibt aber auch tiefes Mitgefühl, Freudenschreie und herzerfrischendes Gelächter. Die Jugendlichen bringen psychische Krankheiten ebenso mit wie das Potenzial für wunder-

Das Wàki bietet Platz für sechs Jugendliche ab 12 Jahren

same Entwicklungen trotz widrigster Umstände“, beschreibt Sonder- und Heilpädagogin Christine Khek den Zustand der Jugendlichen. Khek ist eine der MitarbeiterInnen im Wàki, das Platz für sechs Mädchen und Burschen ab 12 Jahren bietet. Die Jugendlichen werden täglich rund um die Uhr und bis zu vier Monate lang betreut. Im BetreuerInnenteam gibt es Fachpersonen in den Bereichen Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Sonder- und Heilpädagogik sowie Psychologie.

Klare Regeln Häufig suchen Familien erst Unterstützung, wenn sie nicht mehr ein noch aus wissen. Auch Florentinas Mutter hat völlig hilflos mit dem Wàki Kontakt aufgenommen. Florentina war auch im Wàki zuerst nächtelang abgängig. Sie hielt sich nicht an Vereinbarungen und kam alk­o­ holisiert von ihren Touren durch die Stadt zurück. Erst allmählich wirkten sich die klaren Regeln, die Stabilität sowie die empathische Haltung der PädagogInnen beruhigend auf Florentina aus. Die Familiengespräche waren zusätzlich entlastend und klärend für die Familienmitglieder. Nach fast vier Monaten im Wàki konnte Florentina wieder nach Hause zurückkehren.

Zurück nach Hause Sechs von zehn Jugendlichen können nach der Zeit im Wàki wieder in ihre Familie zurückkehren. Für alle anderen werden von der Kinder- und Jugendhilfe passende Wohn- und Betreuungsmöglichkeiten gesucht. „Am schwierigsten ist die Situation für die stei­ gen­de Zahl von Jugendlichen, die bereits psychiatrisch behandelt wurden“, schildert Einrichtungsleiterin Erika Breuer. „In Familien hingegen, in denen Eltern überfordert sind und Jugendliche kaum Grenzen kennen, bringt die Krisenbetreuung oft Entspannung und die Jugendlichen können wieder nach Hause zurück.“ www.spattstrasse.at


KURZ GEMELDET

Voneinander lernen

Interkultureller Preis für Kindergarten in Mostar. Das Diakoniewerk unterstützt seit 2002 den Kindergarten „Sunčani most“ („Sonnenscheinbrücke“) in Bosnien-Herzego­ wina und fördert, dass Kinder vorurteilsfrei miteinander spielen und voneinander lernen. Mehr als 400 Kinder aller ethnischen Gruppen unter­schiedlicher sozialer Herkunft mit und ohne Behinderung wurden seit der Gründung bereits betreut. Engagierte bosnische, kroatische und serbische Kindergärtnerinnen bemühen sich, Vorurteile gegenüber Kindern mit Behinderung und kulturelle, religiöse und sprachliche Unterschiede zu überwinden. Dieses Engagement wurde im September mit dem Hauptpreis des „Intercultural Achievement Award“ ausgezeichnet. Der Preis geht an internationale Projekte und NGOs, die den interkulturellen Dialog fördern. Aus mehr als 70 internationalen Einreichungen ist der integrative, multiethnische Kinder-

Im Kindergarten werden Kinder aller ethnischen Gruppen unter­ schiedlicher sozialer Herkunft mit und ohne Behinderung betreut

garten als Sieger hervorgegangen. Den 2. und 3. Platz belegten Projekte aus China bzw. Kenia. www.diakoniewerk.at/de/kindergarten-suncanimost-mostar/

Schlagfertig

Der Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten.

Neue Website und Blog der Diakonie www.diakonie.at

Hoffnungsträger Diakonie Herzlich willkommen!

Jetzt online!

Neu: Website & Blog www.diakonie.at

Die neuen Webseiten der Diakonie Österreich sowie des Diakonie Flüchtlingsdienstes, der Diakonie Bildung und der Diakonie Katastrophenhilfe gehen in den nächsten Tagen online. Auf www.diakonie.at sind alle Kontakte der Dia­konie-Einrichtungen in Österreich zu finden. In einem Blog, der unter http://blog.diakonie.at zu finden ist, bekommen die UserInnen Einblicke in die Welten der MitarbeiterInnen und KlientInnen der Diakonie. Außerdem werden hier sozialpolitische Stellungnahmen der Diakonie zu aktuellen Themen zu lesen sein. Auf diakonie.at bloggen MitarbeiterInnen der Diakonie, aber auch ehrenamtliche MitarbeiterInnen und „Junge Freiwillige“ sind eingeladen, über ihre Erfahrungen zu berichten. http://blog.diakonie.at

Michael Chalupka, Roland Siegrist (v. l.)

Seit 20 Jahren engagieren sich Diakonie-Direktor Michael Chalupka und Diakonie-Präsident Roland Siegrist für die Diakonie Österreich. Die Feier zum runden Amtsjubiläum stellten der Direktor und der Präsident unter den Titel „Hoffnungsträger“. Die beiden Jubilare betonten, auch in Zukunft ein schlagfertiges Duo im Kampf gegen Armut, soziale Ungerechtigkeiten und für den Schutz von Minderheiten bilden zu wollen. „Mut machen heißt auch Mut haben“, betont Roland Siegrist, „und Mut gehört dazu, wenn man sich der Aufgabe verschrieben hat, Österreich sozialer zu machen.“ Michael Chalupka meint, dass es in den vergangenen 20 Jahren gelungen sei, in Österreich mehr gesellschaftliches und politisches Bewusstsein für die soziale Frage zu schaffen. So werde dem Problem der Armut mehr Aufmerk­ samkeit zuteil. Hier habe die Arbeit der Diakonie, gemeinsam mit vielen Partnern, Positives bewirkt. www.diakonie.at

Themen

21


AUF DEN PUNKT GEBRACHT

Moritz und der Glitzerzauberstab VON PAULUS HOCHGATTERER

E PAULUS HOCHGATTERER ist Schriftsteller und ­Kinderpsychiater

22

Themen

ine Sozialpädagogin meines Teams kam unlängst auf mich zu und erzählte, es gebe da in ihrem Freundeskreis eine schreckliche Geschichte; einen viereinhalbjährigen Buben, dessen Vater sich vor zwei Tagen erhängt habe. Alle seien völlig schockiert, vor allem sei die Mutter total durch den Wind und wisse gar nicht, wie sie mit ihrem Sohn reden solle und was sie ihm zumuten dürfe. In so einem Moment ist es von Vorteil, wenn man ein bisschen ein Kopfmensch ist, also gelernt hat, zu rationalisieren, sonst würde man wahrscheinlich augenblicklich davonlaufen. Ich rationalisierte also und sagte, sie sollten möglichst nicht warten, sondern sofort herkommen. Ich sprach zuerst mit der Mutter und hörte von lang andauernden schweren Depressionen des Mannes, einer psychiatrischen Hospitalisierung, von mit Mühe aufrechterhaltener Arbeitsfähigkeit und von der guten Beziehung zum Buben. Ich hörte von ihrer Verzweiflung über seine Verzweiflung, davon, wie sie sich ursprünglich kennengelernt hatten, und von dem Halt, den sie in ihrer Religionsgemeinschaft erfahren durfte. Dann holten wir den Buben herein. Die beiden saßen auf der Couch, Moritz und seine Mutter, nebeneinander und unverschränkt. Der Bub sprach mit mir darüber, was er mit seinem Vater am liebsten gemacht hatte, in den Wald gehen, mit Schwimmflügeln schwimmen

und fernsehen, davon, dass sein Vater einmal im Spital gewesen, und davon, dass er jetzt tot war. Ich versuchte, mit dem Buben darüber zu reden, dass auch die Seele krank werden könne, aber das war für ihn schwer zu verstehen. Ich versuchte nicht, ihm die Geschichte auszureden, die er von seiner Mutter gehört hatte: Sein Vater sei in den Wald gegangen, und dort sei er einfach gestorben. Der Wald war ein guter Ort. Wir sprachen über den Himmel, über das Begräbnis und darüber, was er dem Vater ins Grab mitgeben könne. Die Mutter weinte. Moritz weinte nicht. Er schaute zuerst auf die Mutter, dann zu mir und sagte: „Weißt du, ich habe einen Glitzerzauberstab zu Hause, den habe ich probiert, aber der hat auch nicht funktioniert.“ Die beiden gingen, und ich hatte das Gefühl, die Sache werde gut verlaufen, ohne Verleugnung und mit der Verletzung, die der Verlust eines Elternteiles für ein Kind immer bedeutet, aber nicht mit mehr.

Magische Momente Am Abend zu Hause hatte ich plötzlich das Bedürfnis, die Geschichte meiner Frau zu erzählen. Ich tue das sonst selten, ob aus gut integrierter Professionalität oder aus dem Bedürfnis, meine Privatheit zu schützen, ist egal. Ich erzählte jedenfalls, und nach wenigen Sätzen begann ich zu ahnen, was der englische Psychoanalytiker


„Weißt du, ich habe einen ­Glitzerzauberstab zu Hause, den habe ich probiert, aber der hat auch nicht funktioniert“ Moritz

Wilfred Bion mit seinem Modell des therapeutischen Containers, jenes Behältnisses, in das die im Augenblick unbewältigbaren Dinge zur weite­ ren gemeinsamen Verdauung getan werden, gemeint hatte. Mein Container ging über. Am Ende saß ich da und heulte, und meine Frau saß mir gegenüber und heulte mit. Zugleich wurde mir klar, dass der Augenblick, in dem der Bub den Satz vom Glitzerzauberstab gesagt hatte, einer dieser magischen Momente gewesen war, der seine Fortsetzung und Vervoll­ ständigung in der Situation fand, in der meine Frau und ich dasaßen, in uns ein Stück der Unendlichkeit seiner Trauer: Man erkennt ganz zentrale Dinge, ohne sie mühsam reflektiert oder ewig besprochen zu haben, weil sie sich konstel­ lieren wie ein Kristall. Es geht im Leben um die Identifikation mit dem schwachen Vater, das war es, worüber wir weinten, darum, dass man ihm nah sein darf, auch wenn er krank ist, und dass es wohl die allergrößte Schwäche ist, wenn er tot ist. Moritz hat zentrale Dinge zur Verfügung, die es ihm ermöglichen, den großen Verlust zu ertragen: Er hat eine Gemeinschaft um sich, die sich sorgt. Er hat das Bild eines Vaters in sich, mit dem es schön war, im Wald, im Schwimmbad und vor dem Fernseher. Vor allem aber hat er eine Mutter, die ihn liebt und das Erleben der Erfolglosigkeit seines Glitzerzauberns erträgt.

24 Mal Menschen Zukunft ermöglichen Österreich braucht gute Ideen gegen die Krise. Investieren wir in Menschen und stärken wir so unsere Gemeinschaft! Das Mini-Taschenbuch enthält 24 Vorschläge für eine Politik gegen die Krise.

Kinder und Jugendliche brauchen besondere Unterstützung und die richtige Hilfe, wenn es um die Übergänge zwischen Schule, Aus­bildung und Berufsleben geht. Das gilt besonders für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sowie für jene, die in Armut leben, Lernschwierigkeiten oder einen zerrütteten Familienhintergrund haben. Österreich braucht gute Konzepte, um wirtschaftlich schlechte Zeiten zu überbrücken. Investitionen im sozialen Dienstleistungs­ bereich sind ein Gebot der Stunde. Dafür hat die Diakonie „24 Vorschläge“ gegen die Hoffnungslosigkeit und für echte Reformen entwickelt. Werden Sie #Hoffnungsträger/in und bestellen Sie das Mini-Taschenbuch bei der Diakonie: office@diakonie.at

Themen

23


Österreichische Post AG / Sponsoring.Post GZ 02Z033615 S

Hoffnung suchen. Hadi, Hoffnungsträger – Bei uns in Sicherheit seit 2011.

Erfahren Sie mehr auf diakonie.at Spendenkonto: AT49 2011 1287 1196 6399

Menschen Zukunft schenken.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.