iapsalmata Rivista di Filosofia Alessandra Granito Verzweiflung und Auslöschung Die Frage des Ursprungs bei Søren Kierkegaard und Thomas Bernhard Beiträge für Eine Rezeption
11#3
Diapsalmata Rivista di filosofia issn: 2036-5217 © 2009-11 |||||||||||||||||||||||||
VERZWEIFLUNG UND AUSLÖSCHUNG DIE FRAGE DES URSPRUNGS BEI SØREN KIERKEGAARD UND THOMAS BERNHARD BEITRÄGE FÜR EINE REZEPTION
Copyright © 2011 Alessandra Granito All rights reserved
Anno II - Numero 3 Ottobre 2011
Diapsalmata - Rivista di filosofia © 2009-11 ISSN: 2036-5217 www.orthotes.com/diap Multilingual Review (registered) ||||||||||||||||||||||||||||||||||
Direttore: Diego Giordano Redazione: Laura Basile, Sergio Fabio Berardini, Alberto Fragio, Raffaele Grimaldi
Printed in Italy
Verzweiflung und Auslöschung Die Frage des Ursprungs bei Søren Kierkegaard und Thomas Bernhard Beiträge für Eine Rezeption ______________________________________________________________ Alessandra Granito (Università „G. d‘Annunzio“ di Chieti-Pescara)
Schlaf und Tod, die düstern Adler Umrauschen nachtlang dieses Haupt: Des Menschen goldnes Bildnis Verschlänge die eisige Woge Der Ewigkeit. An schaurigen Riffen Zerschellt der purpurne Leib. Und es klagt die dunkle Stimme Über dem Meer. Schwester stürmischer Schwermut Sich ein ängstlicher Kahn versinkt Under Sternen, Dem schweigenden Antlitz der Nacht. G. Trakl, Klag.
D
er Nachhall, den Kierkegaards Denken in der Literatur erzeugt hat, ist tiefgreifend und noch zu erforschen. In meinem Beitrag, möchte ich eine Betrachtung zu einer interessanten und noch unbekannten Beziehung zwischen dem rätselhaften und komplexen vis teoretica des österreichischen Schriftstellers Thomas Bernhard (Heerlen 1931-Gmunden 1989) und der kierkegaardschen Philosophie anstellen . Bernhards wilde und große Literatur mit Kierkegaards Denken zu vergleichen, ist gerechtfertigt und sinnvoll. Dies rührt nicht allein daher, daß dem Roman Alte Meister (1985) ein Kierkegaard-Zitat als Motto vorangestellt wird: Die Strafe entspricht der Schuld: aller Lust zum Leben beraubt zu werden, zum höchsten Grad Lebensüberdruß gebracht zu werden , Meine Untersuchung zum Verhältnis Bernhard-Kierkegaard bezieht sich auf den Artikel von Heinrich Schmidinger, „Thomas Bernhard und Sören Kierkegaard“, in A. Buschmann (hrsg.), Jahrbuch der Universität Salzburg 1995-1997, München 1999, S. 29-46. Th. Bernhard, Die Kälte. Eine Isolation, Salzburg, Residenz, 1981, S. 141. Th. Bernhard, Alte Meister, Frankfurt a.M, Suhrkamp 1985, S. 7. Es handelt sich um die letzte Eintragung im Kierkegaards Tagebuch vom 25. September 1855, knapp zwei Wochen vor seinem Zusammenbruch: »Die Bestimmung dieses christlichen Lebens. Die Bestimmung dieses Lebens ist: Zum höchsten Grad von Lebensüberdruß gebracht zu werden. Derjenige, der, also zu diesem Punkt gebracht, festhalten kann, oder derjenige, dem Gott dazu verhilft, festhalten zu können, dass es Gott ist, der ihn aus Liebe zu diesem Punkt gebracht hat, er macht, christlich, die Prüfung des Lebens, ist für die Ewigkeit reif. Durch ein Verbrechen bin ich entstanden, ich bin entstanden gegen Gottes Willen. Die Schuld, die jedoch in einem Sinne nicht die meine ist, wenn sie mich auch in Gottes Augen zum Verbrecher macht, ist: Leben zu geben. Die Strafe entspricht der Schuld: aller Lust zum Leben beraubt zu werden, zum höchsten Grad von Lebensüberdruß gebracht zu werden«.
Alessandra Granito
sondern vielmehr daher, daß Bernhard sich offensichtlich an Kierkegaards Theorie vom Selbst-sein-können und anderen Themen orientiert . In diesem Thesenpapier, betrachte ich die Frage des Ursprungs mit Hilfe zweier Hauptbegriffe: die kierkegaardsche Verzweiflung sowie die Entsprechung Bernhards Auslöschung . Meiner Meinung nach, gibt es in Kierkegaards und Bernhards Werk eine enge Verbindung zwischen Philosophie und Literatur, die als eine antrophologisch-existenziale Relevanz verstanden werden kann. Beide basieren auf einer spezifischen Weise der Existenz, die nichts anderes als die grundsätzliche Herausforderung der menschlichen Existenz bedeutet, welche darin besteht: sich selbst zu verwirklichen. Ich möchte meinen Beitrag mit den folgenden Fragen und einer anschließenden Antwort beginnen, die den Hauptsinn umreißen: Was heißt Verzweiflung? Was heißt Auslöschung? Wiederbeginn des Neuen! Wo ein Ende ist, ist auch ein Anfang.
1
Als erstes, erkennen sowohl Kierkegaard als auch Bernhard an, was bei Emile Cioran Cafard heißt: Die Stimmung, die die qualitative Diskrepanz zwischen der Welt und sich selbst ausdrückt; die Stimmung, die einen Abgrund zwischen Wirklichkeit und Wahrheit entschleiert; die Stimmung die auf ein tiefes Unbehagen und einen unlösbaren Widerspruch hinweist. Beide glauben daran, daß die Existenz im Wesentlichen eine Negativität und eine Verbindung zwischen horror vacui und dem Leiden ist; daß die Realität zwei Gesichter hat: die Grenze (als Objektivität) und die Unbegrenztheit (als Wunsch); die Möglichkeit und die Notwendigkeit; die Immanenz und die Transzendenz, das Heimliche und das Unheimliche. Sowohl der kierkegaardsche Mensch, als auch der bernhardsche Mensch leben ohne Horizonte in einem farbenprächtigen Land in ihren Verwirrungen. Dann warten sie. Alle warten auf etwas, das alles zerreißt, beendet. Aber die Veränderung kommt nicht von außen, sondern von einer Dimension, die anders ist, als die rein ästhetisch-unmittelbare Dimension: Sie befindet sich in großer Tiefe und sie schließt die Existenzangst mit ein. Kierkegaard und Bernhard sind beides subjektive Denker. Das heißt beide schreiben darüber, daß die Wahrheit auf dem selben Grund wie das Unerforschliche liegt: Die Wahrheit ist nicht absolut, objektiv, allgemein und unpersönlich, sondern hat mit der subjektiven Denkweise, mit der eigenen Existenz des Menschen zu tun. Im Bezug darauf hat meiner Meinung nach Kierkegaard, vor allem Bernhards Theorie vom „doppelt-reflekierten subjektiven Denken“ interessiert: Dabei ist mir bewußt, daß auch dieser Weg nicht vor Verzerrung bewahrt. So spreche ich von der Wahrscheinlichkeit eines Einflusses von Kierkegaard auf Bernhard. Z.b. Gerhard vom Hofe und Peter Pfaff haben in ihrem Buch Das Elend des Polyphem dargelegt, daß der Einfluß kierkegaardscher und christlicher Denkmuster auf Bernhards Werk auf diese Weise ungerechtfertigt hoch veranschlagt wird: G. v. Hofe – P. Pfaff, Das Elend des Polyphem. Zum Thema der Subjektivität bei Thomas Bernhard, Peter Handke, Wolfgang Koeppen und Botho Strauß, Königsten/Ts. 1980, S. 38-57. Im Bezug auf die Rezeption von Die Krankheit zum Tode in Bernhards Romanen, siehe Amras (1964) und Korrektur (1975). Kierkegaard-Erwähnungen finden sich neben den im Haupttext zitieren Stellen u.a. auch in Th. Bernhard, Auslöschung. Ein Zerfall, Frankfurt, Suhrkamp 1986, S. 586. (=A). Weitere Hinweise sind hier in den folgenden Werken Berhnards: Frost, Frankfurt a.M. Insel Verlag 1963; Verstörung, Frankfurt a.M., Suhrkamp 1974; Beton, Frankfurt a.M, Suhrkamp 1982; Der Untergeher, Frankfurt a.M, Suhrkamp 1983. Vgl. zudem die 1966 erschienene Erzählung Zwei Erzieher ebd. S. 56-62, in der auf Kierkegaards Furcht und Zittern sowie EntwederOder hingewiesen wird (S. 61), sowie die Theaterstücke Der Theatermacher, in: Stücke 4, Frankfurt 1988, S. 46, und Ritter, Dene, Voss, edb. S. 156.
Die Frage des Ursprungs bei Søren Kierkegaard und Thomas Bernhard
[…] daß das Erkennen sich zu dem Erkennenden verhält, der wesentlich ein Existierender ist, und daß sich daher alles wesentliche Erkennen wesentlich zur Existenz und zum Existeieren verhält .
Bernhard schreibt auf ähnliche Weise: Die Wahrheit, denke ich, kennt nur der Betroffene […] , […] vorbereiten schließlich auf mein größtes Unternehmen, ich bereite mich auf mich selbst vor, das alles ist nur eine Vorbereitung auf mich selbst .
In diesem dauernden Widerspruch, zwischen Realität und Denken, zwischen Kontingent und Notwendigkeit zu leben, liegt der existenziale Zustand des Menschen und die Beziehung des Menschen mit sich selbst, mit seiner Freiheit, Persönlichkeit und Existenz: das heißt, mit seinem eigenen Ursprung. In Die Krankheit zum Tode schreibt Kierkegaard (Anticlimacus), daß der Mensch einen “qualvollen Widerspruch”, eine Ambivalenz und ein Sichselbstverzehren lebt; daß er in der Agonie des Wunschs überlebt: Die Verzweiflung liegt als Möglichkeit in der Natur des Menschen, als Wirklichkeit im Menschen selbst10.
Ähnlich erwähnt Bernhard in einer Rede anläßlich der Verleihung des österreichischen Staatspreises für Literatur im Jahr 1968: Wir bevölkern ein Trauma, wir fürchten uns, wir haben ein Recht, uns zu fürchten, wir sehen schon, wenn auch undeutlich im Hintergrund; die Riesen der Angst. Was wir denken, ist nachgedacht, was wir empfinden, ist chaotisch, was wir sind ist unklar. Wir brauchen uns nicht zu schämen aber wir sind auch nichts und wir verdienen nichts als das Chaos.
Kierkegaard und Bernhard gehen von einer pathischen nicht theoretischen Voraussetzung aus: die klare und nüchterne Anschauung des Lebens als Verwirrung11. Das Bewußtsein eigener Grenzen hat den Zauber der Unschuld gebrochen: Offenen Auges auf die Welt und auf sich selbst blickend, ist der Mensch auf den Grund der S. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brosamen, in: Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, hrsg. Von H. Diem und W. Rest, München 1976, S. 338. Th. Bernhard, Der Keller, Salzburg, Residenz 1976, S. 42. Th. Bernhard, In der Höhe. Rettungsversuch, Unsinn, Frankfurt, Suhrkamp 1990, S. 64. S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, in Gesammelte Werke, Bd. 8, Übersetzer: H. Gottsched und C. Schrempf, Diederichs Verlag, Jena 1938, S.15. (=KT) 10 KT, S. 12. 11 Ich würde von einer „Biographie des Schmerzes“ bei Thomas Bernhard Romanen sprechen. Zur interessanten Frage des Schmerzes bei Thomas Bernhard, siehe auch Alfred Barthofer, „Berge schwarzer Qual: Zur thematischen Schwerpunktstruktur der Lyrik Thomas Bernhards“, in Acta Germanica 9 (1976), S. 187–211; Paola Bozzi, Ästhetik des Leidens. Zur Lyrik Thomas Bernhards, Frankfurt/Berlin/Bern, Lange 1997. Von Bernhard siehe: Th. Bernhard, Auf der Erde und in der Hölle, Salzburg, Müller 1957; und in Gesammelte Gedichte, Volker Bohn, Frankfurt, Suhrkamp 1991, S. 7–121 (=GC). Im Verhältnis zu der Frage des Ursprungs und des Leidens, siehe insbesonderes: „Novemberopfer“ (GG, S. 18), „Fäulnis“ (GG, S. 20), „Traurigkeit“ (GG, S. 59), „Schwarze Hügel“ (GG, s. 84), „Tod und Thymian“ (GG, S. 99), „Der Tod“ (GG, S. 113). Z.B: »Hinter den Bäumen ist eine andere Welt,/ ein Gras, das nach Trauer schmeckt, eine schwarze Sonne,/ein Mond der Toten,/eine Nachtigall, die nicht aufhört zu klagen/von Brot und Wein/und Milch in großen Krügen/in der Nacht der Gefangenen«. (GG, S. 31)
Alessandra Granito
Dinge und in den Ab-Grund seines Selbst gegangen. Horribile visu: hier findet er nur den Zweifel, die Ambivalenz, die Zerrißenheit, die Unsicherheit und das Flüchtige.
2
Kierkegaard hat Bernhard insbesondere mit seiner Theorie des Selbstsein jedes einzelnen Menschen interessiert. Bernhard schreibt nämlich im Roman Beton (1982):
Aber jedes Leben, jede Existenz gehört nur einem und zwar diesem einzigen und kein anderer hat das Recht, irgendein solches Leben und eine solche Existenz zu verdrängen, abzudrängen, hinauszudrängen aus dem Leben 12.
In Der Untergeher (1983) schreibt er ebenfalls: Wertheimer war nicht imstande, sich selbst als ein Einmaliges zu sehen, wie es sich jeder leisten kann und muß, will er nicht verzweifeln, gleich was für ein Mensch er ist ein einmaliger sage ich selbst. […] Jeder Mensch ist ein einmaliger Mensch und tatsächlich, für sich gesehen, das größte Kunstwerk aller Zeiten […]. Wir müssen kein Genie sein, um einmalig zu sein und das auch erkennen zu können, dachte ich13.
In diesem Sinne, ist dies der Hauptpunkt: das „Selbst“, das „Sich-selbst-werden“, die „doppelte- reflekierte Bewegung des Selbst“ sind die kierkegaardschen Begriffe, auf die sich Bernhard bei seinem Begriff Aufgabe als „Auslöschung des Ursprungs“ bezieht. Hier möchte ich keine anthropologische Analyse wagen, aber ich halte es für angebracht, an die kierkegaardsche Definition des Selbst als Verhältnis zu erinnern und bei dem Thema der Freiheit zu verweilen. Beides sind die Grundbegriffe, die den Begriff Verzweiflung erklären und zu verstehen helfen, wie und warum sie mit dem bernhardschen Begriff Auslöschung verbunden sind. Was heißt Verzweiflung? In diesem Zusammenhang möchte ich mich auf den kierkegaardschen Begriff “Verzweiflung” in einer existenzialen Bedeutung beziehen, als Bedingung des Sich-Selbst Werdens. Sie ist ja eine allgemeine14, verborgene, dialektische und ambivalente “Krankheit im Geist”15; sie liegt in der Sphäre des Geistes und im Ewigen des Menschen; sie ist eine Leidenschaft sich selbst zu verzehren16. Aber die Verzweiflung ist auch ein unendlicher Vorteil: man kann bewußt verzweifelt sein, und in eine andere Richtung gehen; sie bedeutet das Leben als Qual abe auch Möglichkeit einer Änderung zu erleben; sie ist kein Schicksalsschlag, sondern ein inneres, persönliches und subjektives Mißverhältnis. An dieser Stelle, wird das Wort Mißverhältnis zum Hauptbegriff. Was heißt Mißverhältnis? Warum ist die Verzweiflung ein Mißverhältnis? Ich fange mit der kierkegaardschen Definition des Selbst als Geist an, als ein Verhältnis das sich zu sich selbst verhält17. Das Th. Bernhard, Beton, wie Anm. 5, S. 160. Th. Bernhard, Der Untergeher, wie Anm. 5, S. 133-134. 14 »[…] daß nicht ein einziger Mensch ler der noch nicht etwas verzweifelt sei, in dessen Innerem nicht eine Unruhe, ein Untriebe, eine Disharmonie, eine Angst wohne, eine Angst vor einem unbekannten etwas, oder vor einem Etwas, das er nicht einmal kennen zu lernen magt; eine Angst vor einer gewissen Möglichkeit des Daseins oder eine Angst vor sich selbst; so daß er eine Krankheit des Geistes in sich trägt, die ab und zu blitzartig in und mit dieser ihm selbst unerklälichken Angst merken läßt daß sie da ist«; KT, S. 19. 15 »[…]die Verzweiflung aber ist auch das größte Unglück und Elend des Geistes, ist die Verlorenheit. Mit dem Nichtverzweifeltsein steht es nicht wie mit dem Nichtlahm- Richtblindsein und vergl.«; Ebd., S. 12. 16 Ebd., S. 15. 17 KT, S. 10. 12 13
Die Frage des Ursprungs bei Søren Kierkegaard und Thomas Bernhard
Selbst ist etwas Gegebenes, etwas das bereits eine Synthese ist. Es ist jedoch keine passive Reduplikation, sondern eine aktiv-doppelt-reflextierte Bewegung: oder ist das im Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält18.
Daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält, deutet darauf hin, daß dieses Verhältnis (das Selbst, der Mensch) sich zu sich selbst verhalten kann (ab esse valet ad posse valet illatio), aber mit dem Unterschied: daß die Möglichkeit und Realität als zwei ontologische Begriffe verstanden werden müssen. Bei Kierkegaards (Anticlimacus) theoretischer Perspektive existiert der Mensch nicht nur, sondern er weiß daß er existiert. Er ist das Bewußt und besonders das Selbstbewußtsein. Dieses faktische »daß« ist der Auftrag des Menschen: auf sich das eigene Selbst zu nehmen, das heißt frei zu werden. Das ist Freiheit19. Die Freiheit Sein Selbst zu werden ist, ein durch Pathos gekennzeichneter Prozess. Deshalb denken beide daran, daß das sich selbst zu werden nicht nur ein unmittelbarer-ästetischer, sondern ein dialektischer und problematischer Prozess ist. Im Bezug darauf schreibt Kierkegaard (Anticlimacus): […] der Geist ist immer in einem kritischen Zustand […] und unmittelbare Gesundheit des Geistes gibt es nicht20.
Ähnlich schreibt Thomas Bernhard im Roman Frost: jedes Werden bedeutet Leiden21.
Beide denken, daß die Freiheit als eine Voraussetzung und télos; als die qualitative Distanz zwischen der Faktizität des Selbst und dem Ideal des Selbst ist; sie ist unvollendetes Streben, eine unerfüllbare Suche. Das ist der Kern dieses Beitrags: Warum ist die Freiheit des Sich selbst Werdens ein Synonym für die Unruhe, die Frustration und das Unheimliche? Weil die Freiheit wesentlich mit einem Mißverhältnis verbunden ist. Mit welchem Mißverhältnis? Meiner Ansicht nach, sind Kierkegaard (Anticlimacus) und Bernhard in dieser Antwort einer Meinung: Der Mensch ist ja wesentlich Geworfenheit, aber er ist für einen Transzendenz-Raum (der Raum des Nicht-Identisch) und einen weiteren Sinn aufgeschlossen, der sich ganz von der Immanenz unterscheidet. Entweder in der Trivialität und Konformismus (der Extremismus der Immanenz), oder in einem mimetischen und pathologischen Wunsch (der Extremismus des Ideals) zu leben, ist das Mißverhältnis, das Tremendum und der Irrtum, d.h. die Täuschung des Selbst. In diesem Sinne ist das Mißverhältnis die Verzweiflung22, das heißt, ein struktureller Zustand und eine existenziale Bestimmung des Menschen: »Zum Tode krank sein« heißt also: nicht sterben können, doch nicht, als ob da noch Hoffnung, der Tod, nicht kommt. Wenn der Tod die größte Gefahr ist, hofft Ebd. Ebd., S. 26. 20 Ebd., S. 22. 21 Th. Berhard, Frost, wie. Anm, 5, S. 146. 22 Sowohl bei Kierkegaard (Anticlimacus) als auch bei Thomas Bernhard spielt der Begriff Mißverständnis eine wichtige Rolle: Kierkegaard spricht über das Mißverständnis durch eine ironische Mitteilung, Bernhard hingegen denkt an das Mißverständnis wie das Lächerliche. Trotzdem meinen beide das Mißverständnis als Summe der Tragödie. Thomas Bernhard sagt: »Das Lächerliche sei allgewaltiger als alles andere. In der Lächerlichkeit gibt es die Verzweiflung«. 18 19
Alessandra Granito
man auf Leben; wenn man die noch schrecklichere Gefahr kennen lern, hofft man auf den Tod23.
Ähnlich schreibt Thomas Bernhard in Frost: Das Leben ist reine, klarste, dunkelste, kristallinische Hoffnungslosigkeit… Dahinein führt nur ein Weg durch Schnee und Eis in Menschenverzweiflung, dahinein, wo man hinheingehen muß; über den Ehebruch des Verstandes24.
Die Verzweiflung ist ein Zeichen im Bewußtsein der Negativität des Lebens und der Grenze, die die condicio humana als Abgrund darstellen. In Verstörung (1974) schreibt Bernhard folgendes: Wir zwingen uns, unsern Abgrund nicht wahrzunehmen. Lebenslänglich aber schauen wir in unsern physischen wie auch psychischen Abgrund hinunter. Unsere Krankheiten zerstoren unser Leben systematisch, wie eine immer mangelhafter werdende Orthographie sich selbst zerstört25.
Ähnlich lesen wir in Die Krankheit zum Tode: Es ist so, um bildlich zu reden, wie wenn sich bei einem Schriftsteller ein Schreibfehler einschliche […], und dieser Schreibfehler sich nun seiner Fehlerhaftigkeit bewußt gegen den Schriftsteller empören würde, ihm aus Haß gegen ihn verbieten würde das Geschriebene zu verbessern, und in wahnsinnigem Trotz zu ihm sagte: „Nein, ich will nicht ausgelöscht werden, ich will als eine Zeuge gegen dich dastehen, als eine Zeuge dafür, daß du ein schlechter Schriftsteller bist“26.
Die Verzweiflung ist die Perversion der menschlichen Freiheit; sie ist ein unlösbarer Konflikt des Selbt mit sich selbst; sie ist die Disharmonie und das Mißverhältnis im Selbst, wenn sich das Selbst (Sich-Selbst) entscheiden muß; sie ist wesentlich eine existenziale Frustration, eine häßliche und abstoßende Leere, der Sinn für die Absurdität des Ganzen und der radikale Zweifel an der Existenz. Das kierkegaardsche Thema der Verzweiflung als der Wille des Menschen seine Grenzen nicht zu erkennen, ist in Bernhards Roman Der Untergeher der zentrale Punkt: er spricht über den Verzweifelten als „Untergeher“ (Wertheimer und Gould), dad heißt, als den Menschen, der vom Wille zur Macht gezeichnet ist, als der Mensch, dessen Ideal eine Pain wird, weil sein Ideal tiefe Wurzeln in seinem Wesen hat. In Der Untergeher – der Ebd., S. 14-15. Ebd., S. 295. 25 Th. Bernhard, Verstörung, wie Anm. 5, S. 170. In Frost spricht Bernhard über die Verzweiflung-Hoffnungslosigkeit nicht als Todeskrankheit. Laut des österreichischen Schriftstellers sind die Todeskrankheiten die Täuschungen, die Illusionen, die Verführung, oder die Nicht-Realität, wie sie ist: negativ und schmerzhaft: »Die Todeskrankheiten führen ihre Träger dazu, sich ihnen auszuliefen. Ich habe das immer beobachtet. […] Der Todeskranke, oder besser der Todkranke, geht in seine Todeskrankheit hinhein, zuerst staunend, dann sich fügend. Die Todeskrankheit macht den von ihr Befallenen vor, sie seien eine Welt für sich. Dieser Täuschung verfallen die Todeskranken, die Todkranken, und sie leben von da an in dieser Täuschung, in ihrer Todeskrankheit, in der Scheinwelt ihrer Todeskrankheit, nicht mehr in der Welt der Wirklichkeit. [….] Die Todeskrankheiten, das sind rhythmisch religiöse Bequemlichkeiten. Die Menschen gehen in sie hinein wie in einen Garten, der ihnen fremd ist«; Th. Bernhard, Frost, S. 229. 26 KT, S. 68-69. 23 24
Die Frage des Ursprungs bei Søren Kierkegaard und Thomas Bernhard
bernhardsche Verweifelter – lebt der Mensch ein Mißverhältnis: Er ist der Gefangene seiner eigenen Ideale und hat keinen spontanen Wunsch, sondern einen mimetischen Wunsch, der das Epiphänomen eines doppeldeutigen und uneigentlichen Verhältnis ist. Sowohl bei Kierkegaard als auch bei Bernhard ist die Frage der Entscheidung von sich selbst als Einzel (Kierkegaard) – Einmaliges (Bernhard) sehr wichtig und zentral: Sie ist eine doppelte dialektische Bewegung; sie ist kein creatio ex nihilo, kein causa sui, sondern eine Wieder-Aufnahme, eine Wieder-Geburt. Wenn man dies versteht, so ist es laut Kierkegaard (Anticlimacus) möglich, aus der Sackgasse der Verabsolutierung des Idealen und/oder der Endlichkeit herauszukommen. Bei Bernhard dagegen deckt sich diese Aufklärung, diese Konstruktion des Selbst nicht mit der Entscheidung des Selbst. Bernhards Denken spricht über keine metanoia und keine Wendung27, weil die Anerkennung der Unendlichkeit jeder einzelnen Existenz nur eine theoretische Notlösung ist, um nur zu überleben, ja aber natürlich nicht um zu leben. Beide erkennen dennoch an: man verzweifelt eigentlich über sich selbst und nicht über etwas anderes. In Die Krankheit zum Tode liest man: Also verzweifelt er eigentlich nicht darüber, daß er nicht Cäsar wurde, sondern dieses Selbst, das nicht Cäsar wurde, ist ihm, recht verstanden, das Unerträgliche; oder noch richtiger: das Unerträgliche ist ihm, daß er sich selbst nicht loswerden kann28.
Ähnlich schreibt Bernhard in Beton (1982): Wir stellen immer zu hohe Ansprüche an alles und jedes, alles ist uns nichts als unvollständig […]. Wir sehen den Niedergand, wo wir den Aufstieg erwarten, wir sehen die Hoffnungslosigkeit,wo wir die Hoffnung nähren. Das ist unser Fehler, unser Unglück. Wir wollen diesen Menschen auf dem Gipfel sehen und er scheitert in den Niederungen, wir wollen tatsächlich alles erreichen und erreichen tatsächlich nichts29.
Was bleibt zu tun? Kann der Ursprung, die faktische, existentielle Mitgliedschaft (Gehäuse) vor dem Frost dieses Bewußtseins retten? Oder: Ist das Leiden ein fatales Joch? In dieser Frage wird das „Gespräch“ zwischen Kierkegaard (Anticlimacus) und Bernhard sehr interessant: Es ist nötig, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen und mit der Illusion der Faktizität zu brechen. In Frost lesen wir: Laut Kierkegaard (Anticlimacus) kann nur Gott etwas tun, um den Menschen vor Verzweiflung, vor dem Tod des Geistes zu retten. Im Licht Gottes, gibt es eine Hoffnung, daß der Tod nicht das letzte Wort behält. In den Romanen von Bernhard hingegen, kennen die Figuren - wie der Maler Strauch in Frost Gott als „eine einzige große Verlegenheit“, als „nur mehr gefrorene Luft“, betrachten; oder wie der Ich-Erzähler in Verstörung, der die Schöpfung “als eine ungeheure Erschöpfung” erlebt - eine solche Möglichkeit nicht. Im Gegenteil: sie bemühen sich darum, sich selbst zu realisieren, indem sie eine Aufgabe verfolgen (Konrad in Das Kalkwerk, Roithamer in Korrektur) bzw. sich als Künstler verwirklichen (Reger in Alte Meister, Wertheimer in Der Untergeher), umso mehr erkennen sie, daß sie nichts anderes als “die Schule des Todes” absolvieren. 28 KT, S. 15-16. 29 Th. Bernhard, Beton, wie Anm. 5, S. 117. 27
Alessandra Granito
Ja, ich habe meine Zeit nicht haben wollen, Die Krankheit ist die Folge der Interesselosigkeit an meiner Zeit, der Interesselosigkeit, der Arbeitslosigkeit, der Unzufriedenheit. […] Das war so; ich mußte einen Weg finden, den ich noch nicht gegangen bin30.
Damit möchte ich betonen, daß für Kierkegaard (Anticlimacus) die Verzweiflung – wie die Tragödie der Angst - die “Wache des Geistes” ist: Sie ist per absurdum der Beweis für die “Existenz” und die “Möglichkeit” des Selbst; sie ist die Entschleierung der Illusion der Autarkie des Selbst; sie ist die Summe der Unfähigkeit sich selbst zu vernichten und sich selbst zu erschaffen; sie ist die Unmöglichkeit, eine Eklipse von sich selbst zu machen. Mit anderen Worten: Laut Kierkegaard (Anticlimacus) ist die Verzweiflung ja eine Krankheit zum Tode, aber auch ein Vorteil für den Menschen Sein-Selbst zu werden, wenn er die entgegengesetzte Richtung einschlägt zur Unmittelbarkeit. Aus der Verzweiflung durch den Glauben als aversio a creaturis et conversio ad Deum, gibt eseinen einzigen Weg, um den Sinn in der Sinnlosigkeit zu finden, um das Scheitern erträglich zu machen und um in der Lage zu sein, zum Ursprung gehören zu können, das heißt zum Ursprung, derm wir uns zugehörig fühlen und nicht zu dem wir gehören oder gehören wollen. In diesem Sinne, hat die Verzweiflung nur in entgegengesetzter Richtung, eine positive Bedeutung wie das eigentliche Selbst-Bewußtsein.
3
Kierkegaard und Bernhard konvergieren in einem Punkt: Die Selbstverwirklichung, die Verwirklichung der eigenen Freiheit und der eigenen Existenz, ist weder a priori noch ein Woher, sondern ein Wozu. Sie betrachten ja, daß das Leben etwas Negatives und Schmerzensreiches ist, aber nicht nur das: das Leben ist auch und besonders Engagement. Um sich selbst werden zu können, um einnen Sinn im Un-Sinn zu finden, muß die Aufgabe die Negativität doch durchqueren. Das Sich-Selbst-Werden, ist eine etische Aufgabe ansicht: Selbsbetrachtung, Selbstspekulation, Selbstverdammung und Selbstverleugnung. Diese sind die bernhardschen Themen, die in dem Roman Auslöschung. Ein Zerfall auftauchen. Sowohl bei Kierkegaard als auch bei Bernhard ist die Aufgabe ein zentrales Thema. Wie schon gesagt: In seiner existenzialen Bedeutung hat die Aufgabe ihre Wurzeln in der Negativität. Aber es ist genau aufgrund der Negativität und der Aufgabe, daß der Mensch zum Sinn unserer Ursprünge zurückgehen kann. Ohne die Negativität kann er weder ein eigentliches Verständnis von sich selbst geben, noch eine entgegengesetzte Richtung einschlagen. Die Gegenrichtung deckt sich mit dem Begriff „Auslöschung“. Nach Bernhard soll er mit dem Ursprung als Geworfenheit, mit der faktischen Gegebenheit und mit Da des Seins brechen, um er selbst zu werden und um weiterzuleben. Wie die Verzweiflung, hat die Auslöschung auch eine existenziale Bedeutung: sie ist ein schmerzlicher und quälenderer Prozess, der - wie die Verzweiflung - in der innerlichen, stillen und persönlichen Dimension des Menschen passiert, wo das Selbst des Menschen auf sich selbst und in die entgegengesetzte Richtung zur Masse und Anonymität gerufen wird. Dagegen leben die meisten Menschen ohne Selbst-Bewußtsein, nur in den Alltag hinhein, in Sicherheit und Zufriedenheiten in ihrem Leben: […] Die Menschen dahinleben, ohne sich selbst dessen recht bewußt zu werden daß sie Geist sind und sein wollen; und das sie eben deshalb so sicher sind, so zufrieden mit dem Leben usw., was gerade Verzweiflung ist31. Ebd., S. 28. KT, S. 23.
30 31
Die Frage des Ursprungs bei Søren Kierkegaard und Thomas Bernhard
Die Auslöschung (die Gegenrichtung) ist eine innere Revolution: Sie ist der erste Schritt zur Erforschung und Realisierung des Selbst, das man ist. In seinem Roman - dessen der Protagonist, Franz-Josef Murau, tabula rasa seines Ursprungs, seiner Stadt und seiner Familie zu machen entscheidet32 – deutet Bernhard mit dem Begriff „Ursprung“ auf das Symbol der Unterdrückung und einer Tradition, al etwas Widerliche wahrgenommen wird. Die Auslöschung des Ursprungs ist genau der Versuch, die Vergangenheit zu löschen; sie ist der Befreiungsakt aus einer kulturellen, historischen und persönlichen und unerträglichen Bindung; sie ist ein intellektueller und emotionaler Umsturz33, eine Abwendung von einer unmittelbar-ästhetischen Selbst-Vorstellung. Die Auslöschung ist eine Zerstörung, die „aufbaut“; sie ist eine existenziale Notwendigkeit, weil sie sich dem Zerdrücken der Identität entgegengesetzt. Allerdings ist die Auslöschung des Ursprungs immer zum Scheitern verurteilt, weil er nicht aus sich selbst herausgehen kann. Warum? Da der Ursprung Herkim Grunde das ist, was wir sind; wir sind das Zeichen unserer gesamten Existenz. Laut Bernhard bedeutet „auslöschen“ nicht nur eine neue Richtung des Lebens gegen die Hochburg der Beschränktheit und Bequemlichkeit einzuschlagen34, sondern ein intransigentes Beobachten und Gegendenken. Wer nicht in der Lage ist oder nicht sein will, diesen Vorgang durchzuführen, flüchtet sich in eine Projektion und Verfälschung der Wirklichkeit und von sich selbst. Wie in einer Fotografie oder einem Ideal-Bild, verbleibt der Mensch im „Denkkerker“, in der Passivität, in der Starre, in der Steife und in der Vermittlung, weil jeder als total verfälscht abgebildet sein will, niemals als der, der er in Wirklichkeit ist. Und alles wird noch chaotischer und künstlicher, falscher und synthetischer35. Die Zerstörung im Sinne “in die Gegenrichtung gehen”, ist der Höchstpreis der Freiheit. Aber es gibt zwei Arten des Scheiterns: (a) Die Zerstörung desjenigen, der einfach in der Heimlichkeit bliebt; (b) die Zerstörung desjenigen, der im Abstand zu seinem Ursprung lebt, seinen unabhängigen Weg zu folgen. In diesem Sinne ist also die Auslöschung ein Erneuerungsprozess: Es heißt, dies ist der Weg, um zu sich selbst und zu seiner Existenz wieder-zufinden; er ist eine Rebellion gegen die fatale Geworfenheit und gegen das Ideal, die Gestalt prägen zu wollen. Ähnlich schreibt Kierkegaard (Anticlimacus) in Die Krankheit zum Tode: Sie setzen nichts aufs Spiel, sie riskierten nichts, sie ließen sich immer schon in jüngsten Jahren, wie gesagt wird, fallen. Sie hatten von ihren Möglichkeiten, die sie zweifellos, - wie alle Menschen, immer gehabt hatten -, niemals Gebrauch gemacht36.
Das heißt: die Verzweiflung und die Auslöschung sind zwei verschiedene Wege, die eine entgegengesetzte Richtung für einen Wiederbeginn des Neuen zeigen: Zur Frage des Ursprungs bei Thomas Bernhard, siehe: W. Huntemann, Thomas Bernhard: „Auslöschung“, in M. Mittermayer (hrsg.), Romane des 20. Jahrunderts, Bd. 3., Reclam, Stuttgart 2003, S. 175-199; A. Herzog, Von „Frost“ (1963) zu „Auslöschung“ (1986). Grundzüge des literarischen Schaffens Thomas Bernhard, in „Zeitschrift für Germanistik“, 10(1989), S. 209-215; I. Heidelberger-Leonard-H.Höller (hrsg.), Autobiographie. Thomas Bernhards „Auslöschung“, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1995. 33 Th. Bernhard, Die Ursache. Eine Eindeutung, Residenza, Salzburg 1975. 34 Siehe: E. Marquardt, Gegenrichtung. Entwicklungstendenzen in der Erzählprosa Thomas Bernhards, Niemeyer, Tübingen 1990. 35 Vgl. A., S. 126. 36 Ebd., S. 77-78 32
10
Alessandra Granito
Tatsächlich bin ich dabei, Wolfsegg und die Meinigen auseinanderzunehmen und zu zersetzen, sie zu vernichten, auszulöschen und nehme mich dabei selbst auseinander, zersetze mich, vernichte mich, lösche mich aus. […] meine Selbstzersetzung und Selbstauslöschung. Nichts anderes habe ich ja vor lebenslänglich37.
Der Schatten des Scheiterns liegt in jedem Versuch, sich definitiv vom Ursprung zu lösen, weil der Abschied nicht nur schmerzlich, sondern auch unsicher ist. Der Menschen läuft daher Gefahr, sich zu verstümmeln38. Aber nicht nur, sondern als auch ein (Da)-Sein, das jedoch dem Scheitern und den Grenzsituationen durch ein Projekt an seinem Selbst entegegentreten kann. Das Scheitern ist ja die Dimension des Verlustes, aber man erkennt es auch vor allem als die Dimension des Abgrunds zwischen dem Denken und der Realität. Sowohl bei Kierkegaard als auch bei Bernhard ist jedoch das Scheitern ein „Befragungsraum“ über sich selbst und den eigenen Urspung; es ist eine Dialektik zwischen dem Selbst und dem eigenen Zugehörigkeitshorizont; es ist eine Gelegenheit, um über die eigene Existenz nachzudenken. Die Suche nach dem Sinn wird zu einem paradoxen Prozess, weil dieser in und durch den unvermeidlichen und irreduziblen Un-Sinn geht39. Das heißt: das Scheitern ist eine innere und konstitutive Bedingung für eine existenziale und eigentliche Erfahrung, weil der Lebenssinn nicht in seiner definitiven Totalität gefunden werden kann, sondern immer wieder neu erzeugt werden muß. Alles bleibt nur in einer fragmetarischen Art: es handelt sich um Wahrheitsruinen und Denkfragmente; aber es handelt sich nicht um die Unsinnigkeit der Welt, sondern um den Sinn im UnSinn. Die Rücksichtlosigkeit des Ursprungs bedeutet wesentlich déracinement der Dimension, die in dem unmittelbaren Menschen lebt, das heißt déracinement eines Teils des Andersseins in der Identität, die eine Atrophie der Freiheit verursachen kann. Es geht um die Beziehung zwischen Zugehörigkeit und Freiheit: Wenn der Mensch Sein-Selbst werden soll, aber ein Teil von ihm sich nicht aus seiner Zugehörigkeit emanzipieren kann, bleibt er in sich selbst geschlossen und gleichzeitig weit von sich selbst entfernt40. In dieser Perspektive, werden die Verzweiflung und die Auslöschung eine Chance und eine positive Gelegenheit.
4
Bernhard betont, daß die Frage des Ursprungs unsere lebenslängliche Thematik ist41. Der Ursprung ist das bedingungslose Einwurzeln im eigenen Sein; er ist der Ort, wohin der Mensch geworfen wurde und der einen geistigen und emotionalen Umsturz anregen kann. Es ist gerade diese Geworfenheit, die der Mensch entweder als Bindung akzeptiert, ohne Fragen zu stellen, oder er versucht die Bindung abzubrechen, um den “Bruch” zu verursachen. Sowohl bei Kierkegaard (Anticlimacus), als auch bei Bernhard, ist die Frage des Ursprungs ein konstantes Thema, weil sie eine unruhige Ebd., S. 296. Ebd., S. 338-339. 39 »Aber wir müssen das Scheitern immer in Betracht ziehen, sonst enden wir abrupt in der Untägikeit […]. Wir müssen uns das Denken erlauben, uns getrauen auch auf die Gefahr hin, daß wir schon bald scheitern. […] Handeln heißt scheitern. Aber wir handeln naturgemäß nicht, um zu scheitern«; Th. Bernhard, Frost, S. 125. 40 »Bald wird das Leben vorbei, meine Existenz ausgelöscht sein […] und ich habe nichts erreich, es ist mir alles ziemlich fest verschlossen geblieben. Wie die Auseinandersetzung mit mir selbst bis heute ziemlich erfolglos geblieben ist. Ich bin mein Feind und gehe gegen mich philosophisch vor; […] ich gehe mit allen mir mölichen Zweifeln an mich heran und ich versage. Ich erreiche nicht das Geringste«; A., S. 155. 41 »[…] woraus wir schließlich entstanden und gemacht und von welchem wir die ganze Zeit unserer Existenz geprägt sind«; Ebd., S. 201. 37 38
Die Frage des Ursprungs bei Søren Kierkegaard und Thomas Bernhard
11
Beziehung zur dialektisch-existenzialen Dualität der Realität und der Existenz hat. Laut Kierkegaard (Anticlimacus) impliziert das „sich zu sich selbst und zur eigenen Existenz zu verhalten“ Angst und Verzweiflung. Bernhard ebenfalls: eine Verbindung mit dem eigenen Ursprung und der eigenen Gegebenheit ist etwas Unheimliches. Die Frage des Ursprungs zeigt nicht nur die Überwindung jeder Indifferenz- und Resignationsform, sondern auch eine neue Art von Theodizee: In der Tat, beide überwinden den Skeptizismus, weil sie eine Reflexion als Auflösung der trügerischen Illusion artikulieren. Was für eine Illusion? Es handelt sich um eine Illusion, die aus einer Welt der Dissonanzen (die Realität) produziert wird, um eine „Investition“ in das individuelle Dilemma, um eine Vertiefung der Erfahrung des Schreckens zu fördern, und um einen möglichen Horizont des eigentlichen, eigenen und persönlichen Lebens zu zeigen. Die Frage des Ursprungs ist ein dramatischer und scharfsinniger Gedanke, der eine weitere existenziale und soziologische Bedeutung hat. (a) Von einer metaphysisch-existenzialen Anschauung haben die Begriffe „Verzweiflung“ und „Auslöschung“ eine wesentliche Affinität: die Dialektik der Selbstentscheidung und die Identitätsuche des Nicht-Identischen; die Unentrinnbarkeit des Scheiterns als conditio sine qua non, einen Sinn zu finden und das Selbst zu werden. Das heiß, das Scheitern als Anfang. Die Verzweiflung ist nur nicht eine Krankheit und die Schwäche des Geistes, sondern auch eine Chance für die Heilung. Die Auslöschung des Ursprungs ist auch der dialektische Weg, der nur durch einen Prozess der Zerstörung von Da des Sein einen Sinnhorizont öffnen kann. Sowohl Kierkegaard (Anticlimacus) als auch Bernhard verstehen den Un-Sinn nicht als etwas irreduzibles, sondern als Chance und Gelegenheit, um einen Sinn und die Rettung zu erreichen. Die Auslöschung als Erlösung. Das Sich-Selbst-Werden bedeutet: Sich vom Ursprung und der Zugehörigkeit freizumachen und dringende existentielle Frage zu beanworten, um eine neue Lebensform zu entwickeln; aus einer passiven Anpassung der eigenen Faktizität (Gegebenheit) zu fliehen, und sich für das Anderssein zu entscheiden. Das ist, was Kierkegaard (Anticlimacus) Erbaulich in der Verzweiflung nennt und was Bernhard als Auslöschung definiert. Dieses sind zwei verschiedene Prozesse, aber sie haben interessante Ähnlichkeiten: Beide zeigen eine radikale Ausarbeitung der Selbständigkeit. (b) Im Bezug auf die Grundfrage der Herkunft, glaube ich daran, daß ein Vergleich zwischen Kierkegaard und Bernhard auch darin besteht, daß beide eine klare Einstellung gegen dogmatische Religionen, die Modernität und die Gesellschaft ihrer Zeit (Dänemark und Österreich) haben. Beide sind Kulturkritiker. Die Krankheit zum Tode ist zweifellos ein pseudonymes Werk, das sich sehr intransigent gegen die dänische Gesellschaft des XIX. Jahrhunderts wendet; eine Gesellschaft die Kierkegaard (Anticlimacus) die „bürgerliche Christenheit“ (das „neue Heidentum“) des Golden Age definiert. In Auslöschung - sowie in Frost und Beton - führt Bernhard auch eine kritische Analyse und Polemik gegen die österreichische Kultur und Politik des XX. Jahrhunderts durch42. Die bernhardsche Kritik klagt die moderne Gesellschaft Zur Thomas Bernhards Polemik gegen die Rhetorik des Mythos der Austria Felix, siehe: Th. Bernhard, Politische Morgenandacht, in „Wort in der Zeit“, XII/1(1966), S. 11-13; Th. Bernhard, Die Kleinbürger auf der Heuchelleiter, in „Die Zeit“, 17.2.1978; Th. Bernhard, Ein Brief an „Die Zeit“, in „Die Zeit“, 29.6.1978, S. 33. Die sozialistich-österreichsche Zeitung „Arbeiter Zeitung“ definiert Beton eine »grundlose Österreich-Verleumdung«: Nummer des 14.7.1982, S. 15. Die „Neue Krone Zeitung“ definiert Bernhard ein »Österreich-Verleumder und ein Feind der Welt. Er hat ein Buch (Beton) geschrieben, wo er Wien, das Burgtheater, den Bundeskanzler angreift«; n°4. des 17.7.1982, S. 16. Eine partielle Dokumentation über den „Skandal“, der Bernhard erregte: W. Schmidt-Dengler - M. Huber (hrsg.), Staat Bernhard. Über Misanthropie im Werk Thomas Bernhards, Wien, 42
12
Alessandra Granito
an, weil diese eine Abwendung des Menschen von der Introspektion und Innerlichkeit (die Revolution des Herzens, von der Kierkegaard spricht) bis zur Manie der SelbstVerabsolutierung, der Selbst-Realisierung (?) durch zweideutige und opportunistische Prozesse der Entfremdung, Objektivierung. Wie Kierkegaard, kritisiert Bernhard auch die Masse, die unmenschliche und perverse Ambiguität der modernen Gesellschaft; er kritisiert die Hypokrisie und Indifferenz der Österreicher, die gierige, »gefährliche und autoritäre Leute sind«43; er kritisiert ihr Bedürfnis nach äußerlichen und scheinbaren Beruhigungen, und die Korruption und die Ambiguität der Kirche, wo das Güte simuliert wird. Laut Bernhard ist die Kirche nur ein ungeheurer Kirchenapparat, in dem “die Wohltätigkeit ein Mittel ist, um in den Himmel zu kommen und sich zu amüsieren44. Die Kirche hat ja gar keine Existenzberechtigung45, daher ist sie eine beklagenswerte Lüge, wo das soziale Element die traurige Karikatur des Egoismus ist46. In diesem Sinn, bedeutet die »Auslöschung des Ursprung«, “den Rücken” der eigenen Umgebung zu zukehren, die als eine ekelhafte, irrelevante und ordinäre und deprimierende Krypta wahrgenommen wird. Ich verlasse ein Land, in welchem sich in zur Stupidität erzogenes Volk von der Kirche die Ohren und vom Staat den Mund stopfen läßt […]. Ich gehe aus einem Land weg, in welchem die Sprache ordinär und der Geisteszustand derer, die diese ordinäre Sprache sprechen, alles in allem unzurechnungsfähig geworden sind. […] Ich gehe aus einem Land weg, in welchem nur noch poltrende Analphabeten an der Macht sind. Wenn ich weggehe, gehe ich ja nur aus dem sich in einem abstoßenden desolaten und ganz einfach unzumutbar schmutzigen Zustand befindlichen Abort Europas hinaus47.
Aber es gibt etwas Fürchterlichess in diesem Karneval des Lebens. Der Geruch des Zerfalls, der Auflösung und des Scheiterns, ist nie weit entfernt, aber ist in der Nähe nur nicht immer ersichtlich. Und wenn dann einmail das Stundenglas abgelaufen ist, das Stundenglas der Zeitlichkeit; wenn der Lärm der Weltlichkeit verstummt ist und die arbeitsame Geschäftigkeit oder der geschäftige Mütziggang ein Ende fand; wenn alles um sich still ist, wie es in der Ewigkei ist […], die Ewigkeit fragt dich und jeden einzelnen unter diesen unzähligen Millionen nur noch Einem: ob du verzweifelt gelebt hat oder nicht48,
schreibt Kierkegaard. Ähnlich schreibt Thomas Bernhard in die Metapher des „Hundegekläffs“: Edition 1987; W. Schidt-Dengler, Bernhards Scheltreden. Um- und Abwege der Bernhard Rezeption, in ID., Studien zu Thomas Bernhard, Wien, Sonderzahl 1986, S. 93-106; J. Dittmar, Der skandalöse Bernhard. Dokumentation eines öffentlichen Ärgernisses, in »text+kritik«, Heft 43, September 1982, S. 73-84. 43 Siehe, Th. Bernhard, Beton, wie Anm. 5, S. 62-63. 44 Ebd., S. 57. 45 Th. Bernhard, Frost, S. 209. 46 »[…] der Monsignore richtet siche ine Wohnung um achthunderttausend Schilling ein und wirbt gleichzeitig im Rundfunk in einer weinerlichen Stimme bis in die kleinsten Details auf das Betrügerische hin ausgerichteten Sprache, seine Caritasbettelei an die Ärmsten der Armen«; Th. Bernhard, Beton, S. 63. 47 Ebd., S. 88-89. 48 KT, S. 24.
Die Frage des Ursprungs bei Søren Kierkegaard und Thomas Bernhard
13
Ja, ich habe ja Angst, die Angst habe ich, überall höre ich: die Angst und wieder die Angst, und ich höre die Angst, und es wird mich allein dieses gespenstische Trauma der Angst zuschanden machen, mich wahnsinnig machen, nicht nur meine Krankheit, verstehen Sie, nein, nein, nicht die Krankheit allein, die Krankheit und dieses Trauma der Angst…Hören Sie!...Da sind die Hunde, da ist das Hundegekläff, da ist der Tod, der Tod in allen seinen Verwilderungen, der Tod in allen Gebrechen, der Tod in seinem Gewohnheitsverbrechergestank, der Tod, dieses Mühsamsmittel aller Verzweiflung, der Tod, der Bazillenträger der ungeheuren Unendlichkeit, der Tod der Geschichte, der Tod der Mittellosigkeit, der Tod, hören Sie, den ich nicht will, den niemand will, den niemand mehr will, da ist er, der Tod, dieses Hundegekläff, hören Sie […]49.
Wie und warum haben sich die Stützpunkte und Bezugspunkte aufgelöst? Vor der komplexen und problematischen Frage nach dem Selbst und dem Ursprung werden die metaphysischen, theoretischen, ethischen und wissenschaftlichen Postulate in ihrer ganzen Sinnlosigkeit aufgestellt50. Sowohl laut Kierkegaard als auch Bernhard, wird die Identifikation von „Denken“ und „Sein” eine unberechtigte Forderung gegen einen metaphysischen-substantialistischen Denkansatz, der seinen Ursprung im kartesischen cogito ergo sum hat. In dieser Perspektive, kann daher der Begriff der Wahrheit als etwas Absolutes nur frustrierend sein. Es liegt jedoch in der existentiellen Aneignung einer existenzialen Reflexion über sich selbst und sein eigenes Leben, daß ein Weg aus der Passivität und dem scheinbaren Determinismus in einer ästetischen-unmittelbaren Zugehörigkeit zu finden ist. Im Bezug darauf, ist das Scheitern eine metaphysische Schuld? Vielleicht ist es das Zeichen eines irreduziblen Determinismus oder einer negativen Ontologie oder, wie Mainländer sagt, eine Metaphysik der Entropie? Was meint das Wort »Scheitern«? Nach Kierkegaard, bedeutet es das Verfehlen der eigenen existenzialen Bestimmung, (das heißt verzweifeln); laut Bernhard hat das Scheitern eine noch metaphysischere Bedeutung: Es ist das Drama der Unvollständigkeit. Beide erkennen jedoch, daß das Scheitern nicht verschließt, nicht versperrt, sondern mit Blick auf den Sinn emanzipiert, der sich immer aus dem Un-Sinn ergibt. Der Mensch muß sein Leid auf sich nehmen. Das bedeutet auch, die Täuschung, die Mißbildungen, die Brutalität, die Unruhe auf sich zu nehmen. Das ist wahr, aber im Schmerz liegt auch eine Verpflichtung: Wenn auch wahr ist, daß in der Dunkelheit und im Leid alles klar wird: Wenn wir der Wahrheit auf dem Spur sind, ohne zu wissen, was diese Wahrheit ist, die mit der Wirklichkeit nichts als die Wahrheit, die wir nicht kennen, gemein hat, so ist das Scheitern, es ist der Tod, dem wir auf dem Spur sind51.
Meiner Meinung nach, sind „Verzweiflung“ und „Auslöschung“ zwei spiegelbildliche Momente der “Sein-Werden Dialektik”. Im Bezug auf sie hat die etische Aufgabe eine zentrale Bedeutung: Das Wesen der Freiheit, die Möglichkeit zu sein steht gegen Th. Bernhard, Frost, S. 150-151. »[…] sehen Sie, wie der Glaube, sowie der Unglaube nicht mehr da sind, wie die Wissenschaft, die heutige Wissenschaft, wie der Stein des Anstoßes, das jahrtausendealte Vorgericht, alles hinausgeworfen und hinauskomplimentiert und hinausgeblasen hat in die Luft, wie das alles jetzt Luft ist…Hören Sie: alles ist nur mehr Luft, alle Begriffe sind Luft, alle Anhaltspunkte sind Luft, alles ist nur mehr Luft […] gefrorene Luft«; Ebd., S. 152-153. 51 Th. Bernhard, Der Wahrheit und dem Tod auf dem Spur, in «Neues Forum», 1986, H 173, S. 347-349 49 50
14
Alessandra Granito
den Wunsch zu haben; die Möglichkeit sich vom „Denkkerker“ zu trennen und in die andere Richtung zu gehen; die Möglichkeit in einer Gegenwelt zu leben und einem Gegendenken zu denken. Wie alle alten Meister des Denkens, stellen uns beide gründliche Gretchenfragen, unangenehme Fragen nach dem Wesentlichen, auf die eine ehrliche Antwort zu finden, den meisten nicht leicht fallen dürfte. Denn fast immer fordern sie vom Befragten ein tiefes Geständnis: Der Mensch nicht loswerden, nein, in alle Ewigkeit nicht; er kann es nicht ein für allemal wegwerfen52.
KT, S. 14.
52