DIE BESTE ZEIT Das Magazin für Lebensart Wuppertal und Bergisches Land
Ausgabe 10, 2011 - 3,50 Euro
Pechstein-Retrospektive Ein Expressionist aus Leidenschaft
Die Kunst von Peter Brötzmann Natur-Kunst In der Galerie Epikur Wuppertal Über Andrea Hold-Ferneck
Lulu im Wuppertaler Opernhaus
Die Mordkiste Schwebe-Slam Erzählung von Dorothea Renckhoff Poetry-Slam über die Schwebebahn
Street Art Good Vibrations Ausstellung in der Kunsthalle Barmen 16. Hildener Jazztage Die Lustige Witwe Operette von Franz Lehár
Jazz-Lokal mit Savoir vivre Ein neuer Sound
Buchvorstellungen Kulturnotizen Spannung aus dem Bergischen Land Kulturveranstaltungen in der Region
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Ueberholz. Wir bauen Atmosphäre, zum Beispiel für die WSW
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Impressum „Die beste Zeit“ erscheint in Wuppertal und im Bergischen Land Erscheinungsweise: 5 – 6 mal pro Jahr Verlag HP Nacke KG - Die beste Zeit Friedrich-Engels-Allee 122, 42285 Wuppertal Telefon 02 02 - 28 10 40 E-Mail: verlag@hpnackekg.de V. i. S. d. P.: HansPeter Nacke und Frank Becker Erfüllungsort und Gerichtsstand Wuppertal
Bildnachweise/Textquellen sind unter den Beiträgen vermerkt. Gastbeiträge durch Autoren spiegeln nicht immer die Meinung des Verlages und der Herausgeber wider. Für den Inhalt dieser Beiträge zeichnen die jeweiligen Autoren verantwortlich. Umschlagabbildung: Max Pechstein, Selbstbildnis mit Hut und Pfeife (Ausschnitt), 1918, Öl auf Leinwand, Kunsthaus Zürich, Geschenk Emil Hauser
Kürzungen bzw Textänderungen, sofern nicht sinnentstellend, liegen im Ermessen der Redaktion. Für unverlangt eingesandte Beiträge kann keine Gewähr übernommen werden. Nachdruck – auch auszugsweise – von Beiträgen innerhalb der gesetzlichen Schutzfrist nur mit der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Trotz journalistischer Sorgfalt wird für Verzögerung, Irrtümer oder Unterlassungen keine Haftung übernommen.
Editorial Liebe Leser, gerne feiert man Jubiläen und Jahrestage. 2011 z. B. konnten wir bereits den 80. Geburtstag von Caterina Valente feiern, den 90. von Friedrich Dürrenmatt und den 100. von Astor Piazzolla, Buddy Hollys 75. kommt im September, Chuck Berrys 85. und Franz Liszts 200. im Oktober dazu, und im November wird Uwe Seeler 75. Die Liste feiernswürdiger Geburtstage ließe sich in diesem Jahrs von Italo Svevo und Tomi Ungerer bis Václav Havel, Justinus und Eckhard Henscheid noch endlos fortsetzen. Über Todestage wollen wir mal gar nicht reden. Kurt Tucholskys „Schloss Gripsholm“ erschien übrigens vor 80 Jahren, vor 125 Jahren wurde Modest Mussorgskijs „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ posthum uraufgeführt, und vor 75 Jahren das Millowitsch-Theater in Köln eröffnet. Vor 60 Jahren kam der Skandalfilm „Die Sünderin“ von Willi Forst, mit Hildegard Knef in der Titelrolle in die Kinos, vor 60 Jahren erschien das erste deutsche Micky Maus-Heft und die erste deutsche Langspielplatte kam ebenfalls vor 60 Jahren auf den Markt. Das Heft, welches Sie heute in den Händen halten, nehmen wir es bei der Zahl, gibt uns in der Redaktion auch einen ganz kleinen Anlaß zum Feiern. Für die zehnte Ausgabe der Zeitschrift „Die Beste Zeit“ haben wir für Sie wieder Berichte, Bilder und Geschichten um, über und aus der Kultur unserer weiteren Region zusammengestellt. Da gibt es allerhand zu erzählen, zu kommentieren und zu zeigen, wie Sie auf den folgenden 52 Seiten sehen werden. Denn allen Unkenrufen zum Trotz ist die Kultur dank der Initiative des unermüdlichen Einsatzes von Schauspielern und Musikern, Autoren und bildenden Künstlern nicht in die Knie zu zwingen. Der Plan einer umstrittenen Fusion regionaler Orchester geistert durch Musentempel und politische Gremien, die Zukunft des Wuppertaler Schauspielhauses noch immer nicht geklärt und das Von der Heydt-Museum bereitet sich schon mit Volldampf auf die nächste große Impressionisten-Ausstellung mit Werken Alfred Sisleys vor. Seien Sie dabei, unterstützen Sie die Kulturschaffenden mit ihren Stimmen und ihren Eintrittsgeldern. Noch ein kleiner „runder“ Blick zurück, weil es so viel Spaß macht: vor 50 Jahren waren die beliebtesten Vornamen bei Mädchen: Sabine, Susanne, Birgit und Petra, bei Jungen Thomas, Andreas, Michael und Frank. Man tanzte den „Twist“, der erste Verkehrsfunk wurde noch ohne wesentliche Staumeldungen auf Ultrakurzwelle (UKW) gesendet, und Stalinstadt wurde in Eisenhüttenstadt umbenannt. Ein Liter Normalbenzin kostete 58 Pfennig und eine Maß Bier auf dem Oktoberfest 1,90 DM. Wir freuen uns über Ihre Lesertreue, die uns anspornt, 2011 zu Ihrer Unterhaltung und Information weitere Ausgaben Die Beste Zeit zu produzieren.
Ihr Frank Becker
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Barbara Neusel-Munkenbeck und die Urne “moi“
Keine Angst vor Berührung
seit 1813
Alles hat seine Zeit. Berliner Straße 49 + 52-54 · 42275 Wuppertal · www.neusel-bestattungen.de Tag
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und Nacht 66 36 74
Inhalt Ausgabe 10, 2. Jahrgang, Juli 2011
Natur-Kunst
Ein Expressionist aus Leidenschaft Pechstein-Retrospektive im Kunstmuseum Ahlen von Susanne Buckesfeld
Seite 6
Die Künstlerin und Fotografin Andrea Hold-Ferneck von Marlene Baum
Lulu
Neue Kunstbücher
Tragödie von Frank Wedekind im Wuppertaler Opernhaus von Daniel Diekhans
Ausweitung des plastischen Raums vorgestellt von Thomas Hirsch
Seite 40
Seite 10
Schwebe-Slam
Street Art Kunsthalle Barmen Die Michelangelos des 21. Jahrhunderts von Frank Becker
Seite 37
Seite 15
Poetry-Slam zum Thema Schwebebahn von Frank Becker
Das Cabaret im Portemonnaie
Jazzlokal mit Savoir vivre
„Die Lustige Witwe“ der Wuppertaler Bühnen im Opernhaus von Frank Becker
Ein neuer Sound mit bewährten Mitteln von Frank Becker
Seite 19
Kunst von Peter Brötzmann
Buchvorstellungen
Zum 70. Geburtstag des Musikers und Malers in der Galerie Epikur von Susanne Buckesfeld
Weimarer Republik Geschichtspolitik in der DDR
Seite 44
Seite 46
Seite 48
Seite 22
Die Mordkiste
Kulturnotizen
Erzählung von Dorothea Renckhoff
Kulturveranstaltungen in der Region
Seite 49
Seite 26
Zwischen den Fronten
Good Vibrations
Die Kriegstagebücher Gerhard Nebels, wiederentdeckt von Michael Zeller von Johannes Vesper
Seite 50
Spannung aus dem Bergischen Land
Kulturnotizen
Seite 52
Ein Füllhorn
vom Frank Becker und Andreas Rehnolt
16. Hildener Jazztage Ein (Jazz-)Fest für die Ohren
Buchvorstellungen von Frank Becker
Seite 30
Seite 34
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Ein Expressionist aus Leidenschaft Max Pechstein-Retrospektive Kunstmuseum Ahlen 10. Juli bis 1. November 2011
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Max Pechstein (1881-1955) gehört zu den wichtigsten Pionieren des Expressionismus in Deutschland. Unter den Mitgliedern der Dresdner Künstlervereinigung „Die Brücke“, deren Sprecher er zeitweise war, galt er schon zu Lebzeiten interessier-
ten Sammlern und Kunstkritikern als führender Vertreter der neuen Kunstauffassung. So konnte Pechstein schon früh mit seinen Werken Erfolge erzielen. Ausschlaggebend für die breite Anerkennung waren seine akademische Ausbildung, die er als
einziger unter den Brücke-Künstlern genossen hatte, und die stärkere Einbindung dekorativer Elemente in seine Kunst. Zudem erhielt er seit seiner Studienzeit regelmäßig Aufträge für Glas- und Wandmalerei sowie Mosaike und wurde von
den Zeitgenossen als hervorragender Glaskünstler geschätzt. So konnte er sich Reisen nach Paris und Italien sowie an die Ostsee leisten, wo er sich häufig aufhielt, um in Ruhe und Abgeschiedenheit malen zu können. Um das Jahr 1910, ein erster Höhepunkt im Werk Pechsteins, erregte er als Mitbegründer der „Neuen Secession“ in Berlin, die sich vehement von der etablierten akademischen Kunst absetzte, sowohl mit seinen Werken als auch mit öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen erhebliche Aufmerksamkeit. Auch als der Expressionismus in den 1920er Jahren erstmals einer kritischen Revision unterzogen wurde, blieb die Kunst Max Pechsteins davon unangetastet. Indem er Einflüsse des Realismus und der Neuen Sachlichkeit in seine Kunst aufnahm, gelang es ihm, sich seine künstlerische Unabhängigkeit zu bewahren. Anstelle der freien malerischen Formulierungen des Expressionismus ist eine Synthese von Ausdruck und Anschauung, Unmittelbarkeit und Konstruktion kennzeichnend für eine äußerst vielseitige Werkphase, die bis Anfang der 1930er Jahre andauerte. Während des Dritten Reiches wurden auch die Werke Pechsteins als „Entartete Kunst“ verfemt und aus öffentlichen Sammlungen entfernt. Diese Jahre verbrachte der Künstler zurückgezogen in Leba an der Ostsee. Nach 1945, zurück in Berlin, greift Pechstein Strömungen der deutschen Nachkriegskunst in seiner noch immer ausdrucksstarken Kunst auf. Innerhalb seines Œuvres nehmen – typisch für den expressionistischen Themenkreis – Topoi der Ursprünglichkeit zentralen Raum ein: Badeszenen an den Moritzburger Seen, das Leben an der Südsee, das er auf einer Reise nach Palau kennen lernte, oder die einfachen Fischer an der Ostsee – sie faszinieren Pechstein bis in die späten Jahre. So war er zeitlebens bestrebt, in Harmonie mit der Natur leben zu können. „Was Stillleben mit exotischen Plastiken, 1918, Öl/Lw, Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloß Gottorf
mir Dresden, Italien, Frankreich und Berlin an Kulturerfahrung gebracht haben, erweist sich als das, was es in Wahrheit gewesen ist: als äußerer Belang, der mühelos abgeschüttelt wird. Aus mir selbst springt mit froher Unbefangenheit der Junge heraus, als der ich mit Tieren und Blumen, mit Acker und Wasserläufen Freundschaft geschlossen habe und ohne Mühe mit Fischern, Bauern und Arbeitern lebte.“ Ab dem 10. Juli kann das vielseitige Schaffen Max Pechsteins in einer breit angelegten Retrospektive im Kunstmuseum Ahlen neu entdeckt werden. In enger Kooperation mit den Erben Max Pechsteins und der Bearbeiterin des Werkverzeichnisses, Aya Soika. präsentiert die Ausstellung nach Stationen in Kiel und Regensburg neben bekannten Meisterwerken aus den führenden Sammlungen und Museen der Welt erstmals auch weniger bekannte Seiten des künstlerischen Schaffens Max Pechsteins, darunter das früheste Ölbild, das Pechstein 1894 im Alter von zwölf Jahren anfertigte, Gemälde aus seinem Spätwerk oder Arbeiten der angewandten Kunst, die bislang gar nicht oder nur selten in der Öffentlichkeit zu sehen waren. Ergänzt wird die Ausstellung durch noch nicht gezeigte grafische Blätter Max Pechsteins, welche die Entwicklung des malerischen Œuvres vorwegnehmen und spiegeln. Dass das Kunstmuseum Ahlen einzige Station der Pechstein-Retrospektive in Nordrhein-Westfalen ist, verdankt es nicht zuletzt seinem auch überregional bedeutenden Ruf. In bis zu fünf Ausstellungen jährlich präsentiert das Museum wesentliche Aspekte der Kunst der Moderne sowie aktuelle Tendenzen der Gegenwartskunst in Einzel- oder großen kulturgeschichtlichen Überblicksschauen. Neben bedeutenden Vertretern der Klassischen Moderne sind im Kunstmuseum Ahlen auch regelmäßig etablierte zeitgenössische Künstler oder Nachwuchstalente mit ihren Arbeiten vertreten. Dies spiegelt auch die ambitionierte Sammlungsstrategie des Hauses wider. Der systematische Erwerb von
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Links: Morgen bei Purwin (Kurische Nehrung), 1939, Öl auf Leinwand, Privatsammlung, Courtesy of Villa Grisebach, Berlin – Rechts: Fischerhafen auf Bornholm, 1924, Öl auf Leinwand, Privatsammlung – © Pechstein – Hamburg / Tökendorf
Werken europäischer Avantgardekunst und bedeutender Positionen, die nach 1945 entstanden sind, erfolgt unter dem Leitthema „Farbe und Licht“. Tatkräftige Unterstützung erfährt die Sammlung seit mehr als zehn Jahren vom Förderkreis Kunstmuseum Ahlen. Dank der privaten Initiative des Unternehmers Theodor F. Leifeld öffnete das Kunstmuseum 1993 in einer restaurierten Gründerzeitvilla seine Pforten. Die herrschaftlichen Räume
harmonisch in den Skulpturengarten des Museums übergeht, wo einige repräsentative Skulpturen des Zero-Künstlers Heinz Mack zu bewundern sind; übrigens einer von nur zwei Orten deutschlandweit Für einen Ausflug lohnt sich ein Besuch des Kunstmuseums Ahlen allemal: Jene, die das südliche Münsterland mit dem Rad entdecken wollen, können ihre Landpartie ideal mit einem Besuch des Hauses verbinden, denn das Museum ist direkt am reizvollen Werseradweg gelegen. Wer sich weiter in
des im Stil der Neurenaissance erbauten Hauses, markant am ehemaligen Westtor der Stadt gelegen, sind seitdem repräsentative Plattform und wichtiger Schauplatz des kulturellen Lebens in Ahlen und in der Region. Seit der Erweiterung des Museums im Jahre 1996 durch eine Stahl-Glas-Verbundkonstruktion präsentiert sich das Haus als einzigartiges Ensemble unterschiedlicher Epochen der Architekturgeschichte, indem sich ein Ackerbürgerhaus im Geist des 18. Jahrhunderts errichtet anschließt. In stilgerecht restaurierter Fachwerkatmosphäre ist hier das Café und Restaurant „Chagall“ beherbergt, das mit seiner hauseigenen Konditorei und gehobener Gastronomie während des Museumsbesuches zu einer Atempause einlädt. Bei schönem Wetter lässt sich diese gut nach draußen in den beschaulichen Cafégarten verlegen, der
Ahlen umschauen will, sollte den nahe gelegenen historischen Markplatz mit westfälischem Flair nicht verpassen. Ebenfalls sehenswert sind die Bartholomäuskirche, eine der ältesten Taufkirchen des Münsterlandes, deren Wurzeln bis ins 8. Jahrhundert zurückreicht, und die zentral gelegene Marienkirche. Seine Lage am Rande des Münsterlandes sieht Museumsdirektor Burkhard Leismann durchaus günstig: „Das Kunstmuseum Ahlen ist etwas Besonderes in der deutschen Museumslandschaft. Die Lage in der westfälischen Provinz erweist sich sogar als Vorteil, denn viele Besucher sind regelrecht erstaunt über die attraktiven Räumlichkeiten, in denen wir unsere Ausstellungen präsentieren, und genießen die reizvolle Umgebung des Hauses. Als Stiftermuseum ist das Kunstmuseum Ahlen zudem vergleichsweise unabhängig, so dass wir qualitativ anspruchs-
Die Löwenbändigerin, um 1920, Öl auf Leinwand, Privatsammlung
volle Ausstellungen realisieren und ungestört unsere programmatische Linie verfolgen können“, erklärt Leismann. Dass dem so ist, davon können sich Besucher der Max PechsteinRetrospektive bis zum 1. November überzeugen. Susanne Buckesfeld Eine Ausstellung der Kunsthalle zu Kiel und des Schleswig-Holsteinischen Kunstvereins in Kooperation mit dem Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg und dem Kunstmuseum Ahlen. Der Katalog, erschienen im
Hirmer Verlag, kostet 29 Euro. Kunstmuseum Ahlen Museumsplatz 1 / Weststraße 98 59227 Ahlen Tel. 0 23 82 / 91 83 0 Fax 0 23 82 / 91 83 83 info@kunstmuseum-ahlen.de www.kunstmuseum-ahlen.de
Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr 14-18 Uhr, Do 14-20 Uhr Sa, So und Feiertag 11-18 Uhr Weitere Termine nach Vereinbarung
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Kein Ausweg, nirgends – Lulu Eine Monstertragödie von Frank Wedekind
Inszenierung: Sybille Fabian Bühne: Herbert Neubecker Kostüme: Michael Sieberock-Serafimowitsch Fotos: Joachim Dette Besetzung: Lulu (Juliane Pempelfort) Dr. Franz Schön (Michael Schmitter) Alwa Schön (Gregor Henze) Schigolch/Dr. Goll (Georg Marin) Eduard Schwarz (Thomas Braus) Gräfin Geschwitz/Prinz Escerny (Julia Wolff) Casti-Piani (Anne-Catherine Studer) Tierbändiger/Rodrigo/Jack (Marco Wohlwend)
Sybille Fabian bringt Wedekinds „Lulu“ als expressionistischen Totentanz auf die Bühne
links: Thomas Braus rechts: Juliane Pempelfort
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Lulu ist außer sich. Nach dem Mord an ihrem Ehemann Dr. Schön und der Flucht aus dem Gefängnis ist sie in die Fänge des Menschenhändlers Casti-Piani geraten. Sie ist ihm schutzlos ausgeliefert: Entweder schiebt er sie ins Bordell ab – oder er verrät sie an die Polizei. Selbst als Lulu den Aufstand gegen die Männerwelt probt - mit den Worten der Ophelia aus Heiner Müllers „Hamletmaschine“ bringt dies keine Befreiung. Denn auch am Ende der Revolte steht der Tod: „Ich gehe auf die Straße, gekleidet in mein Blut.“ Der Tod und das Mädchen Schräge Bühnenbilder, grell geschminkte Gesichter, verzerrte Gesten – Regisseurin Sybille Fabian hat eine Schwäche für den expressionistischen Film. In der letzten Spielzeit brachte sie Kafkas „Prozeß“ in Schwarz-weiß auf die Bühne des Wuppertaler Opernhauses. Nun präsentiert sie Wedekinds „Lulu“ im Stummfilm-Look. Als sich bei der Premiere im Remscheider Teo Otto Theater der Vorhang hob, war dies der Auftakt zu einem sorgfältig choreographierten Totentanz, der sich in immer höherem Tempo um die Titel-
figur dreht. Juliane Pempelfort gibt die Lulu als Meisterin der Verkleidung. Je nach Geschmack des Liebhabers, der sie umgarnt, ist sie die Garçonne im Anzug, der Pierrot im Tüllkleid oder die Hure im Spitzendessous. Doch wer hinter all diesen Kostümen ein unschuldiges Opfer vermutet, täuscht sich. Pempelforts rosiger Teint und ihr kindlich-harmloses Gesicht sind eine besonders subtile Maskerade. Wenn sie die Totenkopfmaske aufsetzt und über die Bühne stolziert, entpuppt sich Lulu als todbringender „Würgeengel“, dessen Sexualität keine moralischen Grenzen kennt. Ist dies ihr wahres Gesicht? Oder doch wieder nur eine Facette ihres schillernden Charakters? Regisseurin Fabian läßt diese Fragen offen. In aller Deutlichkeit zeigt sie jedoch, daß der fast überirdischen Figur Lulu niemand anders als der Tod gewachsen ist. In Wedekinds Vorlage setzt er ihrem Leben in der Gestalt des Serienmörders Jack the Ripper ein blutiges Ende. In Fabians Version ist der Tod omnipräsent. Marco Wohlwend spielt ihn mit großer Verve und Intensität als irrsinnigen Gigolo, der immer wieder Lulus Wege kreuzt. Wenn er sie zum Tanz fordert, kann sie sich ihm nicht entziehen. Mehr noch:
Marco Wohlwend hinten: Michael Schmitter linke Seite: Marco Wohlwend, Julia Wolf Bevor sich der Vorhang hebt, entwickelt Wohlwend in einem unheimlichen Ritual aus kindlichem Geplapper ihren Namen: „Oh Lu-lu-lu-lu!“ Bereits hier werden Lulus spätere Fluchtgedanken („Ich will doch nur ins Freie!“) und ihre Revolte ad absurdum geführt. Von Beginn an ist sie einem grausamen Tod verfallen. Es gibt keinen Ausweg, nirgends. Gefährliche Clowns Der Welt, der Lulu nicht entrinnen kann, haben Männer unauslöschlich ihren Stempel aufgedrückt. Jeder Zärtlichkeit und Sentimentalität entkleidet, verroht die Liebe zur reinen Triebbefriedigung. Die Grenzen zwischen Sex und Gewalt verschwimmen. Wenn freilich eine Frau sich dieser Liebe hemmungslos hingibt, ist sie nicht mehr gesellschaftsfähig. Juliane Pempelfort verleiht Lulu in ihrem unausweichlichen Scheitern tragische Größe. In der Schlußszene, als sie nackt und blutig geschunden ihre Arme weit von sich
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streckt, wird sie gar zur christusgleichen Schmerzensfrau. Dagegen erscheinen ihre Liebhaber als ebenso bösartige wie lächerliche Clowns. Thomas Braus als Maler Schwarz wandelt sich unter Lulus starker Hand vom aggressiven Macho zum kleinlauten Masochisten. Georg Marin mimt den pedantischen Spießer Goll ebenso glaubwürdig wie Lulus sadistischen Ziehvater Schigolch. Gregor Henze verkörpert Alwa Schön als erschreckend eitlen Möchtegernkünstler. Michael Schmitter ist Alwas Vater, Dr. Schön. Anfangs gibt sich der vorgebliche Biedermann noch steif wie sein Gehrock, wähnt sich als Dompteur der Bestie Lulu. Tatsächlich aber verfällt selbst er ihren Verführungskünsten. Eine besondere Ironie ist, daß Regisseurin Fabian lustvoll die Geschlech-
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tergrenzen überschreitet, an deren Verhärtung die Figur Lulu scheitert. So brilliert Julia Wolff in einer aristokratischen Doppelrolle als blasierter Escerny und als verzweifelt liebende Geschwitz. Und Anne-Catherine Studer darf den Mann spielen, den Lulu vollkommen kalt läßt. Als Casti-Piani schwingt sie im Hosenanzug frauenfeindliche Reden und reizt so erst Lulu zur (aussichtslosen) Revolte.
links: Juliane Pempelfort, rechts: Anne-Catherine Studer am Boden: Michael Schmitter diese Sehnsucht nach einer anderen Welt der Grund für den tosenden Applaus und die Bravorufe, mit der das Publikum die Remscheider Premiere der „Lulu“ feierte. Das Wuppertaler Publikum hat seit dem 13. Mai Gelegenheit, Sybille Fabians denkwürdige Inszenierung dort im Opernhaus zu erleben.
Eine Welt stürzt ein Gutes Theater kann die Sehnsucht nach einem anderen Zustand der Welt wecken. Wenn bereits vor Lulus Ende ihre trostlose Welt untergeht, die Kulissen langsam in sich zusammensinken, wird dieser Sehnsucht Raum gegeben. Vielleicht ist
Weitere Informationen unter: www.wuppertaler-buehnen.de
Daniel Diekhans Redaktion: Frank Becker
Die Michelangelos des 21. Jahrhunderts Der Charme des Temporären
Boris Hoppek, Ben Eine
Wer hätte sich nicht schon fürchterlich über mit Graffiti besprühte S-Bahn-Wagen, Hauswände - oft da, wo sie von der Eisenbahn aus zu sehen sind - Garagentore oder Mauern geärgert. Wie eine Pest verbreitete sich der illegale Einsatz von Farbsprühdosen in Narrenhänden, die ihre Tags auf frisch gestrichenen Fassaden, Haltestellenhäuschen und Briefkästen schmierten, wie ein Straßenköter, der das Bein hebt, um sein Revier zu markieren. Und doch - schon bald kristallisierten sich aus der anonymen Masse von Nachtgestalten mit Kapuzenpullis wahre Talente heraus, die beachtliche Arbeiten schufen. Etliche lösten sich aus der Illegalität und begannen, ihre Kunst - den unzweifelhaft haben wir es hier mit einer Kunstform zu tun, die Vergleiche nicht zu scheuen braucht - offiziell und höchst kommerziell zu betreiben. Einer, der diese Entwicklung schon seit fast 20 Jahren beobachtet ist der Hamburger Rik Reinking, Sammler und Kenner der internationalen Street Art-Szene, der auf Einladung des Wuppertaler Von der Heydt Museums derzeit in den Ausstellungsräumen der Barmer Kunsthalle im „Haus der Jugend“ eine ausgefallene, ja in ihrer Art
wohl einzigartige Ausstellung kuratiert: „Still on and non the wiser... - Street Art, Graffiti“. Wand- und Deckenfresken sind ja in der Kunstgeschichte nichts Neues, und um die vorige Jahrhundertwende hat die monumentale Wandmalerei, vornehmlich in Rathäusern und anderen öffentlichen Gebäuden eine späte Blüte erreicht, noch einmal aufgegriffen von der Kunst des Nationalsozialismus. Freigelegte Fresken im Wuppertaler Polizeipräsidium legen dafür Zeugnis ab. Und denken wir an die Lüftelmalerei Süddeutschlands, finden wir die kunstvolle Bemalung von Hausfassaden auch als traditionelle Volkskunst. Neuartiges wird stets vom konservativen Publikum mit etwas Mißtrauen und Abstand betrachtet - bis es sich etabliert und einen Stellenwert bekommen hat. Nicht anders war das mit dem polizeilich verfolgten und gerichtlich belangten „Sprayer von Zürich“ Harald Naegeli, nicht anders ist es mit dem Engländer „Banksy“, dessen Wandbilder vermittels Brechstangen und Schweißbrennern aus den sie tragenden Objekten gestohlen werden und mittlerweile einen sechsstelligen Wert in Euro repräsentieren (!).
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Und genausowenig anders ist es mit den im Genre führenden Künstlern, die Rik Reinking für die Wuppertaler Ausstellung aus Südamerika, Spanien, Frankreich, China, der Schweiz und Deutschland geholt hat, damit sie ihre Kunst unmittelbar am Objekt, nämlich an den Wänden der Kunsthalle Barmen zeigen. Seit Anfang Mai sind Herbert Baglione, Daim (Mirko Reisser), Daniel Man, Miss Van, Os Gemeos, Pius Portmann, Stohead, Tasek, Tilt, Heiko Zahlmann und Zevs am Werk, dort ihre originellen 16
Graffitis, Objekte, Fotos und Environments zu plazieren. Einmalig ist die Ausstellung schon deshalb, weil sie nicht wiederholbar, allenfalls per Foto dokumentierbar ist. Lediglich die transportablen Objekte entgehen der zwangsläufigen späteren Vernichtung, wenn die Wände der Ausstellungsräume später wieder Andorra-geweißelt werden... Oder vielleicht doch nicht? Also ich könnte mich nicht dazu finden, z.B. die phantastischen Märchenbilder Os Gemeos´ zu zerstören
oder Daims explosiv-dynamisches Typo-Graffiti zu übermalen. Museumsdirektor Dr. Gerhard Finckh, der noch 2007 unumwunden einräumte, bis dahin nicht den blassen Schimmer von Street Art und Graffiti gehabt zu haben, vermag heute nichtsdestoweniger seine durch die beiden Projekte entzündete Begeisterung am „Charme des Temporären“ intensiv zu
vermitteln. Es ist der Funke des Vergnügens, der hier überspringt. Was sollen mir die Wurzeln der Graffiti-Kunst, die im gesellschaftlichen Widerstreit, im Protest oder in der politischen Botschaft gesucht werden. Was in Barmen gezeigt wird, ist pralles Leben, ist Freude an Farbe,
wuchtigen Schwüngen, überbordender Phantasie, frecher Erotik und kühnen Entwürfen. Vor Os Gemeos´ dreidimensionalen märchenhaften Wandsprays auf hellem Grün kann man unendlich
Boxi - The Wonderer, Foto Frank Becker 17
Boxi (Daim) - Up and around
lange staunend, lachend, schmunzelnd verweilen. Will man herausfinden, woher der Künstler mit soviel Ideen, Gefühlen, Gedanken und Träumen aus der Welt eines Lewis Carroll kommt, kann man den Kopf-Würfel betreten, in dem er in der Manier des unerreichten Edward Kienholz einen Raum eingerichtet hat, der seine Erinnerung an die Jugend zeigt. Der sympathische Franzose Tilt hat die Welt mit einer kleinen Digitalkamera in der Hand bereist, junge Mädchen angesprochen und sie gefragt, ob sie sich für eine Fotostrecke bemalen und ablichten lassen. Die geradezu verblüffend offene Haltung der „Modelle“, ihre Bereitschaft, sich auch bis zum Intimsten zu entäußern, belegt seine Foto-Serie mit Bildern aus Japan, Hongkong, Belgien, Deutschland, England etc., die höchst reizvoll die Offenherzigkeit einer neuen weiblichen Generation zeigt, die - vielleicht auch verführt durch die WarholMaxime „In the future everyone will be world-famous for 15 minutes“ - für diese Ziel ihre Körperlichkeit in die Bresche wirft. Geradezu umwerfend ist Daims typographischer Spray im letzten Raum der Ausstellung. Hier sehen wir Graffiti in Vollendung, das der Künstler (man muß sich das vorstellen) nach langem optischen „Scannen“ (Rik Reinking) aus dem Raumgefühl freihand angelegt hat. Einfach wunderbar! Zu den Ursprüngen führt Tasik zurück, der im Eingangsbereich der Ausstellung die rekonstruierte
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Wand eines S-Bahn- Waggons aufgebaut hat, die zwei Sichtweisen ermöglicht: die „sichere“ geborgene Innenseite, die der Fahrgast sieht und die in aller Gedächtnis verankerte, nächlich bunt besprayte Außenseite des Wagens, wie man sie aus New York, Berlin oder Sao Paulo kennt. Ihre künstlerischen Mittel sind Kompressoren, Klebebänder, Farbsprühdosen, Abfallholz, alte Türen, Schablonen und Platiksäcke. Materialien ihrer, unserer Zeit. Zum zweiten Mal nach fast genau vier Jahren gastiert die Tournee der besten Sprayer in Wuppertal, zieht „Street Art“™ in die Kunsthalle Barmen ein. Museumsdirektor Dr. Gerhard Finckh hat bei der ersten Street Art Ausstellung im Februar 2007 an gleicher Stelle derart guten Zuspruch beim Publikum gefunden, daß nach einigen Jahren internationaler kreativer Entwicklung durchaus ein Fortsetzungs-Projekt angezeigt war. Mit dem bewährten Kurator Rik Reinking, ausgewiesener Kenner der Szene und einer jungen Garde weltweit anerkannter Street Art Künstler - darunter einige, die schon 2007 in Barmen waren - ist dem Von der Heydt-Museum erneut eine atemberaubend schöne, unerhört witzige, künstlerische hochrangige und zeitgenössische Themen nicht aussparende Präsentation gelungen, die mit Sicherheit weit über die regionalen, ja nationalen Grenzen hinaus wahrgenommen werden wird.
Das mit großem Aufwand in zweijähriger Arbeit renovierte Haus der Jugend in Barmen kann sich mit dieser Ausstellung, an der Os Gemeos und Victor Ash (Portugal), Herbert Baglione und Zezao (Brasilien), Ben Eine und Boxi (England), Brad Downey, Mark Jenkins und Swoon (USA), Faith 47 (Südafrika), Boris Hoppek, Miko Reisser (Deutschland), JR (Frankreich) gleich ein Juwel in die Krone seiner Ruhmeshallen setzen. Wohl selten wird eine solche Elite des längst dem gewöhnlichen Graffiti entwachsenen Künstler in dieser großzügigen Form gemeinsam zu finden sein. Es ist quasi eine über die Welt verstreute Gemeinschaft, die sich in wechselnder Konstellation rund um den Erdball immer wieder findet und auch gemeinsam zu arbeiten versteht. Aus der ambitionierten Wand-(Be)Malerei ist mit den Jahren ein anerkanntes, hoch dotiertes und sogar zu erstaunlichen Preisen auktioniertes Genre geworden, das die Differenz zwischen „High Art“ und „Low Art“ aufzuheben imstande ist und das die wegen noch immer im öffentlichen Raum zu findender häßlicher Schmierereien und Tags vorherrschenden Vorurteile abzubauen hilft. Sehen Sie zur Einstimmung auf die am Sonntag, dem 8. Mai startende und bis zum 25. September 2011 in der Kunsthalle Barmen präsentierte Ausstellung hier einige Bilder der Vorarbeiten. Die Werke wurden originär in einer knappen Woche Arbeit auf die jungfräulichen Wände der Kunsthalle appliziert - gesprüht, gesprayt, aufgemalt, geklebt, genagelt. Wichtig: schauen Sie sich das im Original an - Sie werden überwältigt sein. Frank Becker Kunsthalle Barmen Geschwister-Scholl-Platz 4-6, 42275 Wuppertal www.von-der-heydt-kunsthalle.de Weitere Informationen unter: www.streetart-wuppertal.com www.von-der-heydt-museum.de
Das Cabaret im Portemonnaie „Die Lustige Witwe“ der Wuppertaler Bühnen lockte nur wenige zur Remscheider Premiere Operette von Franz Lehár Musikalische Leitung Florian Frannek Inszenierung Pascale Chevroton Bühnenbild Jürgen Kirner Kostüme Tanja Liebermann Dramaturgie Ulrike Olbrich
Remscheid/Wuppertal. Pontevedro ist pleite. Aber wer ist das heute nicht? Die 20 Millionen pontevedrinischen Perper der reichen Witwe Hanna Glawari (Susanne Geb) könnten das fiktive Balkanland retten, viel Geld, als Franz Lehár seine 1905 uraufgeführte erfolgreichste Operette mit Blick auf das damalige Fürstentum Montenegro schrieb. Wieso erinnert das so fatal an die 90 Milliarden Euro, die aktuell dem realen Balkanstaat Griechenland fehlen?
kommen. Eigentlich kein Problem, zumal in beiden noch immer das Feuer der Liebe füreinander brennt - doch jetzt stehen das Geld und Danilos Heiratsunlust im Wege. Ein schnelles Happy End wäre ja auch für eine Operette zu einfach. Also bocken sie, und es gibt bis zum glücklichen Schluß reichlich Mißverständnisse, Verwechslungen und Hindernisse.
Operetten-Komplikationen
Höchstens halb voll war der schöne Saal des Remscheider Teo Otto Theaters, als die Wuppertaler Inszenierung von PascaleSabine Chevroton dort im Bühnenbild von Jürgen Kirner am 11. Juni ihre Remscheider (Vor-)Premiere feierte. Das erstaunt umso mehr, als Gassenhauer wie „Da geh´ ich zu Maxim“, „Lippen schweigen“, das „Vilja-Lied“, „Ich bin eine anständige Frau“, „Damenwahl“ und „Ja das Studium der Weiber ist schwer“ diese Operette über die Maßen beliebt gemacht haben und „Lustige Witwen“ eigentlich zu den Publikumslieblingen schlechthin gehören. Aber wie so oft, wenn Wuppertal in
Fotos: Andreas Fischer
Milian Milovi´c, Susanne Geb, Dorothea Brandt, Boris Leisenheimer, Tomasz Kwiatkowski
Weil Hanna nach Paris gereist ist, um das Leben nachzuholen, muß dort ein Landsmann als Bräutigam gefunden werden, damit der Zaster zum Wohle Pontevedros im Lande bleibt. Botschafter Zeta (Miljan Milovic) hält seinen Attaché, den Grafen Danilo (Thomas Laske), einen Lebemann, der seine Zeit gerne mit den Grisetten des Cabarets „Maxim“ verbringt, für einen geeigneten Kandidaten. Nur: der und Hanna kennen sich aus früherer Zeit, waren einmal sehr verliebt, konnten aber wegen Standesunterschieden nicht zusammen-
Schwach besucht
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Remscheid Hof hält, zeigt sich das lokale Publikum sehr reserviert.
jeglicher Glanz und vor allem die Eleganz Lehárs fehlte.
Schöne Stimmen
Düsteres Gesamtbild
Wer da war, konnte sich in schönen Soli und Duetten an Thomas Laskes starker Präsenz mit voluminösem, akzentuiertem Bariton und Susanne Gebs souveräner Erscheinung mit blitzsauberem Sopran erfreuen, sowie mit dem heimlichen Liebespaar Dorothea Brandt (Sopran) und Boris Leisenheimer (Tenor) leiden. Mehr als Mittelmaß war von den übrigen Solisten nicht zu hören. Von Wohlklang und Akkuratesse, wenn auch gelegentlich die Sänger bedrängend, die Begleitung durch die von Florian Frannek geleiteten Bergischen Symphoniker. Herausragend jedoch die geschlossene Leistung des von Jens Bingert einstudierten Wuppertaler Opernund Extrachors, ein wirklicher Aktivposten dieser Inszenierung, der jedoch ansonsten
Das mag auch an dem düsteren Gesamtbild gelegen haben, welches das Personal auf beklemmend enger Bühne um die zwei Paare herum in bösen Klischees als saufende „Balkanesen“ mit dem Habitus von schmierigen Zuhältern und Flittchen, dumme Offiziere mit fettigen Haaren in Russen-Uniformen und schleimige Franzosen (erkennbar an Baskenmützen) präsentierte. Trist. Nicht schön. Nicht komisch. Man fragt sich auch, was Pascale-Sabine Chevroton bewogen haben mag, den pontevedrinischen Gesandten im Rollstuhl herumfahren zu lassen, den er gelegentlich munter verläßt; und auch die Kostüme, die Tanja Liebermann entworfen hat, sind nicht direkt geeignet, die Leichtigkeit Lehárscher Operette zu vermitteln.
Hupfdohlen und ein amüsanter Kanzlist Als amüsanter Mittler zwischen den Parteien glänzt Kanzlist Njegus (Hans Richter in einer komischen Sprechrolle), und recht witzig ist die Idee, die Handlung teilweise in ein riesiges Portemonnaie zu verlegen, es geht ja schließlich ums Bare. Doch zu dem unbeholfenen, fast schon peinlichen Grisetten-Ballett in weißen Strapsen fällt mir spontan nur das Wort „Hupfdohlen“ ein. Frank Becker Die Wuppertaler Premiere wird am 15. Oktober 2011 im dortigen Opernhaus gegeben. Weitere Informationen unter: www.wuppertaler-buehnen.de
Oben: Hans Richter, Dorothea Brandt, Milian Milovi´c, Boris Leisenheimer, Susanne Geb links: Boris Leisenheimer, Dorothea Brandt
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Die Kunst von Peter Brötzmann Zum 70. Geburtstag in der Galerie Epikur Wuppertal
Improvisierte Hetzjagden. Hyperventilierende Schreie. Ein wildes Gemetzel. Wie eine Ohrfeige. Als würde ihn die Tobsucht peinigen. Beeindruckend, aber auch furchterregend. Dass sich solche Beschreibungen auf das Werk des Musikers Peter Brötzmann, nicht aber auf die Malerei, Grafik und Objekte des bildenden Künstlers beziehen, wird unmittelbar deutlich, vergleicht man die relativ stillen Bildwerke des gebürtigen Remscheiders mit seiner höchst explosiven musikalischen Ausdrucksweise. Angesichts
Peter Brötzmann, Foto Jörg Lange
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der Doppelbegabung von Peter Brötzmann würde man erwarten, dass Musik und bildende Kunst auch formal eng miteinander verbunden sind und der gleichen künstlerischen Absicht entspringen. Wird man Zeuge einer der Solo-Performances oder der Improvisationen mit Musikerkollegen, erwartet man parallel zu den musikalischen Bestrebungen, tradierte Kompositionsmuster, Melodien und Rhythmen zu sprengen, ebensolches auf der Leinwand vorzufinden – also wilde, ja wütende Pinselstriche, die ein Inferno auf der Bildfläche hinterlassen, in dem der Betrachter weder oben noch unten
vorfindet. Doch nichts dergleichen ist der Fall. Obwohl der musikalische Durchbruch Peter Brötzmanns Anfang der 1960er Jahre im Freejazz mit den ersten Ausstellungen seines Werkes einhergeht, findet der Künstler in beiden Feldern eine ganz eigene Sprache. Lediglich in einigen sehr frühen, informell anmutenden Gemälden besteht eine enge Verwandtschaft zwischen Bild und Klang. Hier scheinen Palette und Duktus einen improvisierten Verlauf noch gleichsam zu bebildern. Darüber hinaus zieht Peter Brötzmann eine klare Grenze zwischen Kunst und Musik; seine
Bildwerke sind mitnichten Analogien zu den Klangexplosionen des Freejazz. Das ist umso erstaunlicher, als dass derjenige Künstler, der den größten Einfluss auf ihn ausübte, der Video-Pionier Nam Jun Paik, grundsätzlich die Überwindung der ästhetischen Grenzen zwischen Kunst, Musik, Geräusch und Alltag zum Ziel hatte und für seine vielschichtigen Aktionen und Installationen anders als Peter Brötzmann aus allen ästhetischen Sphären schöpfte. Aber vielmehr als die vom Fluxus inspirierte künstlerische Formensprache Nam Jun Paiks, sein Material und seine Methode ist
es in erster Linie die Haltung des Koreaners, die Brötzmann von Beginn an stark beeindruckt hatte. Bei dessen Auftritten in der Wuppertaler Galerie Parnass war Brötzmann als Assistent tätig und kehrte nach ereignisreichen Fluxus-Abenden zusammen, was zuvor zu Bruch gegangen war – darunter vor allen Dingen das von Paik zuvor präparierte Klavier, das als Zeichen bürgerlicher Hochkultur der Zerstörung anheim fiel – einer Vorstellung von Kunst und Musik, gegen die der Remscheider von Jugend an rebellierte. Im Gegensatz zu Joseph Beuys etwa nahm Nam Jun Paik das damalige Anliegen vieler im Umkreis von Fluxus arbeitender Künstler, gegen tradierte Werk- und Rezeptionsvorstellungen zu Felde zu ziehen, nicht übermäßig ernst, sondern nahm mit unverfrorenem Witz nicht nur den Kunstbetrieb, sondern auch sich selbst auf die Schippe. Sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen, gelassen den Regeln des Betriebs gegenüber zu stehen und sich auf keinen Fall von Moden und Trends abhängig zu machen, dies ist das Arbeitsethos Peter Brötzmanns, mit dem er in mehr als fünf Jahrzehnten zum größten Teil im Verborgenen ein überaus vielseitiges, aber stringentes Werk schuf. Die Malerei, Grafik und Objektkunst ist Brötzmann dabei Ruheund Gegenpol zu einem ansonsten überaus umtriebigen Künstlerdasein als weltweit auftretender Jazzmusiker. Zurückgezogen im heimischen Atelier, das Refugium und Experimentierstätte in einem ist, entstehen die teils meditativen Bildwerke. Einzig die Emphase, die im Gebrauch harter, ‚armer’ Materialien, in starken Kontrasten, dunkel schwelgenden Formen und Metaphern des Scheiterns deutlich werden, verbindet die Bildwerke Peter Brötzmanns mit der emotionalen Kraft des Freejazz. Beide künstlerischen Ausdrucksformen – sowohl die Musik als auch die bildende Kunst – entstammen also der selben Quelle: einem Künstler, der mit großer Sensibilität stets auf der Suche nach dem Überschreiten altbekannter und ausgetretener ästhetischer Pfade ist. Ende der 1950er Jahre unternimmt Peter Brötzmann dies in horizontal organisierten Kompositionen aus dick aufgetragenen, zähen Farbschichten, intensiviert durch den Einsatz von gebrauchten Textilien, Teer und anderen kunstfernen Materialien. Sie bilden drückend-erdige, abstrahierte
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Landschaften, die in den dunklen Tönen im Spiel des Musikers ihre Entsprechung haben mögen. Durch die Dominanz brauner und grau-schwarzer Farbtöne in diesen Gemälden und Collagen ergibt sich ein Bild der Hoffnungslosigkeit und Trauer. Unter den kruden Materialschichten, wofür Brötzmann auch einmal einen alten Regenmantel seines Vaters verwendet, und dem unabgeschlossenen Farbauftrag scheint dennoch eine Art Verletzlichkeit auf, so dass die Werke trotz aller Schwere und Düsternis eine Ahnung von Zartheit vermitteln. Die verletzten Oberflächen erinnern in ihrer resignativen Grundstimmung an die Serie der „Otages“ (Geiseln) von Jean Fautrier, die nach den Eindrücken der Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges entstanden sind. Auch Brötzmanns Bildwerke machen die Wunden von Diktatur und Krieg des Dritten Reiches sichtbar, die unter der Oberfläche des erstarkenden Westdeutschlands der Wirtschaftswunderzeit immer noch vorhandenen sind. Diese aufzubrechen, ist nicht nur erklärtes Ziel des Jazzmusikers Peter Brötzmann, sondern gilt auch seinen bildnerischen Bestrebungen. Anfang der 1960er Jahre kommen in ähnlicher Weise wie bei den Materiallandschaften mit Gebrauchsspuren versehene Metallplatten bildhaft zur Verwendung. Abgelegtes und Weggeworfenes wie die abgeschnittenen Deckel von Konservendosen, Bleche und Schilder werden in den Kontext einer abstrakten Landschaft gesetzt und erfahren damit eine Ästhetisierung. In kritischer Haltung zum herkömmlichen Kunstbegriff stellt die Verwendung solch armer, kunstferner Materialien für Brötzmann eine Möglichkeit dar, historisch unbelastete Stoffe zu verwenden, ihre Sinnlichkeit durch die Poetisierung im Bild zu erweitern und die Grenzen zwischen Kunst und Realität weiter aufzubrechen. Die Oberflächen der Materialbilder scheinen dabei heute wie mit einer Patina versehen, die ihre Geschichtlichkeit offen legt: Neben der Wahrnehmung als Bestandteile einer Landschaftskomposition drängen sich in der Anschauung dieser Fundstücke Gedanken an ihr Vorleben auf – sie scheinen schon einiges erlebt zu haben, wie Rostspuren, Risse und Beulen bezeugen. In ihrer Versehrtheit ist den Metallbildern auch ein gewaltsames Moment zu eigen, wodurch die Kehrseite des damals propagier-
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Gurkenzepp, 1976, Oel auf Leinwand, 130 x 200 cm
Zeppelin im Hangar, 1976, Oel auf Leinwand, 130 x 200 cm
ten ungebrochenen Fortschrittsglaubens aufscheinen mag. Ähnlich schwarz und schwer schwelgen die Formen noch heute in einigen Bildwerken Peter Brötzmanns. Wie dunkle Ahnungen schieben sich finstere Wolken zuweilen in melancholisch aquarellierte Landschaften. Mit dicken Pinselstrichen werden regennasse Hügel gleichsam ausgestrichen und negiert. Die Wehmut, die in diesen jüngeren, meditativen Papierarbeiten zum Ausdruck kommt, offenbart wiederum das romantische Verhältnis des Künstlers zu einer Natur, die auch und gerade als Spiegel seelischer Zustände ihre Berechtigung hat. Doch zurück zu den frühen 1960er Jahren: In dieser Zeit begegnet Peter Brötzmann dem koreanischen Video-Pionier Nam Jun Paik in der Galerie Parnasse und wird dessen Assistent.. Die provokativen Kunstereignisse, die unter Einbeziehung von Musik, Video, Licht und Geräuschen die Sphären von Kunst und Leben noch radikaler zusammen denken, waren explizit dazu gedacht, elitäre Vorstellungen von Hochkultur zu untergraben. Angeregt durch die ironischkreativen Prozesse der Fluxus-Aktionen findet Brötzmann ein neues Bildvokabular in der Absicht, sich vom Ballast traditioneller Kunstbegriffe noch weiter zu befreien. Bleiben die informellen Farb- und Materiallandschaften noch dem herkömmlichen Tafelbild verhaftet, erweitern nun FluxusObjekte und die etwas später entstehenden Objektkästen unter der spielerischen Verwendung von Alltagsgegenständen den Bildraum ins Dreidimensionale. Alltagsmaterialien werden mit großem Gespür für ihre
Bildhaftigkeit ausgesucht und entwickeln ein Eigenleben im Schutz der Holzkisten, deren offene Seite sich dem Betrachter wie die vierte, nur gedachte Wand eines Theaterraumes darbietet. Diese Bildbühnen, die in ihrer Zugänglichkeit eher an Zeugnisse alter Volkskultur erinnern, sind zwischen Setzkasten, Theaterbühne und sakral anmutendem Devotionaliensammlung privater Andachtsschreine angesiedelt. Auch sie huldigen dem Weggeworfenen und Abseitigem, indem mit kreativem Witz neue bildnerische und semantische Kontexte erschlossen werden. Befreit von der Schwermütigkeit der bisher entstandenen Landschaftsbilder und Collagen, kommen hier die spielerischen Aspekte in der Kunst Peter Brötzmanns zum Tragen. Die erzählerische Qualität der Objektkästen scheint auch in der gegenständlichen Malerei Anfang der 1970er Jahre auf, für die sich Brötzmann einer als naiv zu bezeichnenden Bildsprache bedient, aus der meist surreale Bildwelten erstehen. Metaphern des Suchens, des Scheiterns, des Verlorenseins erscheinen im Gewand kindlich-harmloser Darstellungen, so dass den rätselhaften, existentiellen Bildinhalten eine feine Ironie eignet. In dieser Zeit taucht sowohl in Gemälden als auch in Objektkästen zum ersten Mal buchstäblich das Motiv des Zeppelin auf. Gewaltig wie ein Geschoss oder ein Phallus, aber viel gemächlicher, drängt sich das längliche Oval des Luftschiffes in den Bildraum, unerbittlich in die es umgebende Landschaft vordringend. Galt Brötzmanns künstlerisches Interesse sicherlich in erster Linie der skurrilen Form des Zeppelins, sind damit
unweigerlich Assoziationen an die ‚braune’ Vergangenheit des Luftschiffes verbunden, das während des Dritten Reiches von den Nationalsozialisten zu Propagandazwecken missbraucht wurde. Gelegentlich wandelt Brötzmann die Grundform des Zeppelins in andere Gegenstände gleicher Form wie etwa eine überdimensionierte Zigarre, Wurst oder Gurke. Jeglicher Bedeutung enthoben, ist dieses assoziative Vorgehen dem Automatismus der Surrealisten verwandt, die mit dieser Methode an Unbewusstes und Verschüttetes rühren wollten. Im Laufe der Jahre hat sich Peter Brötzmann immer wieder den verschiedenen Werkgruppen innerhalb seines Œuvres zugewandt und seine Themen weiterentwickelt, so dass heute Materialbilder neben Ölmalerei stehen, Ready-mades neben zarten Aquarellen. Hinzu gekommen ist die Druckgrafik, mit der sich der Künstler in früheren Jahren fast ausschließlich im angewandten Bereich beschäftigt, etwa indem er Veranstaltungsplakate, mit denen Konzerte angekündigt werden, oder Cover für Schallplatten und CDs entwirft. Für seine freien Arbeiten druckt Brötzmann auf feinsten, handgeschöpften Japanpapieren Holzschnitte von Landschaften, metaphorischen Stadtansichten seiner Wahlheimat Wuppertal oder auch erotischen Szenerien. Dabei spielt er mit dem Gegensatz zwischen der Zartheit des filigranen Bildgrundes und der Härte des SchwarzWeiß-Kontrastes, welches das Hochdruckverfahren zulässt. Während der Künstler mit Schneidinstrumenten gegen den Widerstand des Materials angeht, erscheinen die weißen Stellen auf dem Papier wie Verwundungen, die in den hölzernen Druckstock getrieben wurden. Das grafische Vermögen des Künstlers zeigt sich darin, wie meisterhaft die Motive in miteinander kontrastierende Flächen gegliedert werden, die das jeweilige Bild erst konstituieren. Diese Blätter greifen die gesteigerte Ausdruckskraft der Expressionisten auf, die wie Peter Brötzmann einst von der Werkkunstschule und der lebendigen Kunstszene ins Tal der Wupper gelockt wurden. Nicht zuletzt belegen sie eindringlich, dass Brötzmanns Kunst, auch wenn sie ruhiger erscheint als in früheren Jahren, so kraftvoll und konsequent ist wie eh und je. Susanne Buckesfeld Fotos Jörg Lange
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Die Mordkiste Philomena erzählt (1759)
Dorothea Renckhoff Studium Theater- und Literaturwissenschaft u. Theorie des Films Ruhr-Universität Bochum; Praktika an Theatern und als Kulturjournalistin Erstes Engagement am Schauspielhaus Bochum bei Peter Zadek (Assistentin Regie/Dramaturgie), später Dramaturgin Freie Volksbühne Berlin, Regieassistentin u. Autorin WDR-Fernsehen, Leitende Dramaturgin Rheinisches Landestheater/Theater am Niederrhein, Chefdramaturgin Städtische Bühnen Münster. Während dieser Jahre Arbeit u. a. mit Tankred Dorst, Werner Schroeter, Rainer Werner Fassbinder, Kurt Hübner, Helmut Käutner, Karl Wesseler, Peter Zadek, Hans Magnus Enzensberger, Karl Otto Mühl, Harald Mueller, Minoru Miki, Johannes Reben, Barbara Honigmann, Lisa Witasek u. v. a. Beendigung der Theaterkarriere, da eine führende Position am Theater mit den familiären Anforderungen (verheiratet, zwei Kinder) nicht mehr vereinbar war. Seitdem freischaffend in Köln als Autorin und literarische Übersetzerin. Seit 2008 Mitglied im PEN-Club.
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Auf der Wiese neben dem Gasthof erhebt sich ein Blumenhügel, wie ein großes Grab; zwischen den kleinen Blüten und Blättern der Rosenranken, die ihn überwuchern, liegt ein dunkler Grund, das ist das Verdeck der Kusche, mit der der Fremde in unser Dorf hinauf kam. Nach dem Unglück haben die Salzfuhrleute den Wagen beiseite gefahren und die Pferde ausgespannt, und niemand mochte das Gefährt mehr anrühren. Es hat auch kein Besitzer danach gefragt, und wenig später begannen die Rosen es einzuspinnen, aber keiner kann sagen, wer sie gepflanzt hat. Doch es war uns wohl allen recht, dass sich ein Schleier um einen Gegenstand bildete,
an dem sich unser Blick, mitten im Ort, ständig stieß wie an einem Stein im Weg, um eine Kette von Bildern entstehen zu lassen, vor denen die Augen zu schließen nicht half, denn sie lebten, nur unzureichend verborgen, hinter unserer Stirn und traten hervor, ohne dass wir sie hindern konnten, sobald ein äußerer Anlass die Erinnerung reizte. Die Erinnerung an den Tag, als Johann Zilwer ins Tal kam mit der Mordkiste auf dem Wagen. Am Morgen war vor dem Gasthof das Laub weggefegt worden, doch schon wieder lagen die kleinen bunten Hände auf dem Boden verstreut, und die Kutsche ging über sie hin. Die schweren Schritte
der ermatteten Pferde übertönten das leise Knistern, mit dem die zarten Rippen der Blätter unter den hohen Rädern brachen. Schon damals kam nur selten eine Kusche zu uns ins Tal; die Reisenden fürchteten die Straße über den schrecklichen Pass. Und es gab ja auch nichts in unserem Bergkessel als Salz und Armut, denn das Salz gehörte uns nicht mehr. Die Kutsche rollte auf den Platz vor dem Gasthof; sie verdeckte die tief stehende Sonne und kam zum Stehen. Die Luft um den Wagen erschien wie ein Schleier aus Licht, und ein schmaler goldener Streifen lief um die ganze Erscheinung, über den Rücken der Pferde und das hohe Dach bis zu den hinten aufgeschnallten Koffern und Truhen. Bis zu der eisenbeschlagenen Kiste, die an diesem Tag, und vielleicht nicht zum ersten Mal, einem Menschen das Leben nahm. Die Kutsche selbst blieb dunkel, ein Schattenriss vor all dem Licht, nur ein einziger leuchtender Fleck brach aus der schwarzen Wand, ein halb geschlossenes, glühendes Auge, wo die Sonne durch einen Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen der Fenster fiel. Und dann öffnete sich das Auge, denn jemand schlug die Portiere zurück. Es war ein Herr. Ich sah sein unschönes bleiches Gesicht, groß wie ein Schinken. Doch er lächelte, lächelte mir so freundlich zu, und ich öffnete ihm. Öffnete ihm die Kutschentür. Bückte mich, um den Tritt herunter zu klappen. Sah, wie ein eleganter, blank polierter Schuh darauf niedergesetzt wurde, mit einer glänzenden Schnalle. Wartete auf den zweiten, während ich mich wieder aufrichtete und dabei auf den seidenen Strumpf blickte und den kräftigen Schenkel in der engen Hose darüber. Doch was sich dann aus dem dunklen Leib der Kutsche schob und im herbstlichen Licht größer und größer wurde, das war kein menschlicher Fuß, kein menschliches Bein. Das war ein rund gedrechseltes Holz, dunkel und glänzend, das zielbewusst seinen Weg suchte, meinen Rocksaum streifte, wie ohne Absicht, und dann hart zu Boden gesetzt wurde, mitten hinein in eine der vertrauensvoll geöffnet am Boden liegenden kleinen Hände. Es war eine Krücke. Der Fremde hielt sie fest unter die linke Schulter geklemmt, und kaum hatte sie
das gespreizte Händchen durchbohrt und festen Stand gewonnen, da schwang er sich aus der offenen Tür herunter zur Erde. Und beklommen sahen wir, dass er nur ein halber Mann war, so vornehm und reich er auch sein mochte, schlimmer verunstaltet als der verkrüppelte Fröhlich aus der Sägemühle, denn das linke Bein war ihm dicht unter der Hüfte abgenommen. Als der Fuß des Fremden den Boden berührte, schien er ein schwaches Geräusch daraus loszutreten; ein feines schabendes Knacken breitete sich um ihn aus, und dann ein leises Rasseln, wie aus ganz weiter Ferne, als rollten dicht unter der Erdoberfläche getrocknete Erbsen in einer Schachtel, die der Stoß seiner Krücke aus ihrem Schlaf im Lehm geweckt hatte. Doch dann sah ich, woher das Geräusch kam, die welken Blätter um den Fremden hatten sich zusammengeschart und hasteten über den harten Boden von ihm weg, mit einem Windstoß zwischen sich und dem Seitenlicht in ihren durchscheinenden Leibern. In diesem Augenblick kam der Mesner von der Kirche herüber, er blieb stehen und starrte auf die Flucht der leuchtenden Blätter, und am Abend erzählte er in der Wirtsstube, der Einbeinige habe zur Begrüßung mit glänzenden Kupferpfennigen um sich geworfen. Aber später sagte man, er habe bei seiner Ankunft ein Gefolge aus Goldmünzen mit sich geführt, die ganz von allein um ihn über den Platz liefen. Doch der Fremde achtete nicht auf Münzen und Blätter, er wandte sich nach der geöffneten Kutsche um und streckte den Arm aus, und drinnen hörte man es flattern wie von einem starken Hahn. Dann erklang etwas, das kein Hahnenschrei war und überhaupt kein tierischer Laut. Der Mesner stand erstarrt, und ich selbst war stumm vor Schrecken; ich hörte Worte, deutlich zu verstehen, und doch nicht zu begreifen, denn was da sprach, konnte kein Mensch sein, diese kalte flachgepresste Stimme kam aus keiner warmen Brust, die sich mit strömendem Atem hob. Kam aus keiner Kehle, wo das Leben unter der dünnen Haut klopft, kam aus keinem weichen Mund. Die fuhr, vielleicht, aus einer metallenen Fratze oder einer zersplitterten Rüstung, und die Bosheit des kopflosen Reiters konnte zu solchen Tönen geronnen sein.
Es wurde still. Und ich vergaß meine Angst, denn ich sah etwas, das war so schön, dass ich seufzen musste vor Glück, und ich streckte die Arme, um das Geschöpf zu empfangen, das aus dem dunklen Hohlraum ans Licht kam. Es war ein Vogel, ein großer Vogel, und er glühte wie die Gestalten der Heiligen hinter dem Altar, wenn die Sonne durch das bunte Glas schien. Ich glaubte, es müsse ein Paradiesvogel sein, denn ein in solchen Farben leuchtendes Tier hatte ich noch niemals gesehen, ich kannte solche Farben überhaupt nur von den Kirchenfenstern, und von den bemalten Kulissen im Dachgeschoss der Sägemühle. Doch dann öffnete der Vogel seinen gekrümmten dunklen Schnabel, und ich sah seine hässliche schwarze Zunge, und hörte dasselbe kreischende Schreien, das mich zuvor so erschreckt hatte, und da wusste ich, dass ein Lebewesen mit einer solchen Stimme nicht nach dem Paradies benannt sein konnte. ‚Frikassier mich der Henker!’ gellte der Vogel, so deutlich wie zuvor. Er war auf dem ausgestreckten Arm des Fremden gelandet und lief ihm mit kleinen Schritten zur Schulter hinauf, und der Einbeinige strich ihm über die glänzenden Federn und lächelte mir zu. Aber es waren noch mehr Wunder in der Kutsche. Es raschelte drinnen, nicht von Flügeln oder von dem Heu, das sie beim Pferdewechsel in den Wagen werfen, damit die Reisenden es warm haben; es raschelte von Rüschen und Seide, und ich staunte, dass eine vornehme Dame sollte unser Tal besuchen wollen, wo es nichts gab als ein paar steinige Felder und den Wald und die Felsen rundum, und den Salzberg, aber den hatte noch nie eine Frau betreten. Doch in der offenen Tür erschien nicht der Kopf einer Dame mit feiner weißer Haut, sondern ein schreckliches, verbranntes Gesicht, schwarz wie verkohltes Holz, mit einer furchtbar verformten Nase und Lippen, die unter der Hitze zu Wülsten aufgeplatzt waren. Aber die dunklen Züge zeigten keinen Schmerz, der Mund lächelte, und während die Frau eine gleichfalls schwarze Hand mit einem leeren Vogelkäfig vorstreckte, sagte sie etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand; der Fremde nahm ihr den Käfig ab und reichte
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ihn an mich weiter, und als ihre Finger sich öffneten, sah ich, dass sie an den Innenseiten nicht verbrannt waren, auch unter den Nägeln waren sie verschont geblieben und schimmerten silberweiß; diese Frau hatte nicht im Feuer gelegen, diese Haut war nicht verkohlt, und war auch auf keine Dämonenmaske gespannt. Es war das eigene Gesicht der Frau, sie war eine Mohrin. Der Mesner wich ein paar Schritte zurück, aber ich stand da und starrte sie an und konnte die Augen nicht von ihr wenden. Die Salzfuhrleute hatten von solchen Erscheinungen erzählt, sie hatten in den Städten von ihnen gehört, und einige wollten selbst welche gesehen haben. Auch Fröhlich hatte aus der Hauptstadt von einem Mohren und seinem Sohn geschrieben, die in goldgestickten Kleidern am Hof gehalten wurden, so wie man ihn mit seinem verkrümmten Körper als Narren hielt, zum Entzücken von Fürsten und Edelleuten. Nun stand eine solche dunkle Frau leibhaftig vor mir, und sah fast aus wie ein richtiger Mensch, raffte ihren großen schimmernden Rock, um aus der Kutsche zu steigen, und der Fremde antwortete ihr in der Sprache, die ich nicht verstand. Auch Fröhlich war ja von solchen, die ihn zum ersten Mal sahen, stets mit Abscheu und Grauen betrachtet worden, und doch hatte ich ihn so gut gekannt, dass mich seine Missgestalt nicht mehr schreckte, ich sah sie nicht einmal mehr, denn er war mein Freund und kannte meine Gedanken und heimlichen Wünsche. So blieb ich bei der Kutsche stehen und wich nicht zurück, während die Leute aus dem Dorf sich beim Kirchturm zusammendrängten und herüber staunten. Der Einbeinige hob jetzt ein wenig die Stimme und redete uns in unserer Sprache an, er sprach die Worte anders aus als wir, aber es war doch unsere Sprache, die er brauchte. Er nannte uns seinen Namen, der bedeute Silber, und mit Silber werde er zahlen für alle Dienste, die ihm geleistet würden, vielleicht sogar mit Gold. Die Leute bei der Kirche bewegten sich unruhig, eine Woge unentschiedener Empfindungen trieb herüber, bis zu uns an die Kutsche; sie hatten so lange kein Gold und Silber gefühlt, und ihre Sehnsucht nach der Berührung der kalten Münzen in der empfindlichen Handfläche wuchs bei Zilwers Verheißung und wurde riesengroß,
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in einem einzigen Augenblick, wie die Frucht an einem Wunderbaum, aber darunter zitterte der Schrecken vor der wilden schwarzen Frau, und die Verlockung, sie von nahem zu sehen und ein Stück von ihr zu erfassen. Auch ich hätte gern einen Finger auf ihren Arm gelegt, um zu erfahren, ob etwas von der Schwärze auf ihrer Haut daran haften bliebe, wenn ich ihn fortzöge, oder ob ihr Dunkel das Licht von meiner Haut schluckte und zum Verschwinden brächte. Es wucherten solche Gedanken in ihrer Gegenwart, und sogar den Pfarrer habe ich sie einmal anstarren sehen, als sei ihre Schattengestalt ein Riss in der hellen Welt, und er fürchte durch sie in die Nacht zu stürzen. Und doch war Zilwer noch fremder als sie, in seinem wunderschönen blauen Rock, obwohl er so hell und so blond war wie die meisten von uns, und freundlicher und herzlicher als wir alle. Seine Stimme bezauberte uns; sie klang so voll und warm, wie Glücksversprechen und Verheißung, doch plötzlich klirrte es darin wie von einer Fuchsfalle. Der Kutscher hatte das Gepäck vom Wagen zu schnallen begonnen und war dabei an die eisenbeschlagene Kiste geraten. ‚Vier Männer,’ sagte Zilwer leise, doch später stellte sich heraus, dass alle es gehört hatten, so fern sie auch standen, so wie man den Klang eines leichten Hammers von weit her hört, wenn er unvermutet auf einen silbernen Nagel trifft, ‚vier Männer tragen die Kiste, sonst gibt es ein Unglück.’ Und sofort lösten sie sich aus der Gruppe bei der Kirche und kamen herüber gelaufen, die Augen fest auf die goldenen Knöpfe des Fremden geheftet. Drei Männer, die jeden Tag die schweren Salzsäcke auf ihre Pferde luden und den steilen Weg aus dem Tal mit ihnen gingen. Aber es waren nur drei. ‚Vier Männer,’ wiederholte Zilwer, und ehe noch einer von der Kirche herüber kommen konnte, sprang der Mesner auf die Kiste zu, und reckte die dünnen Arme, diese Arme, mit denen er die große Heimkehrerglocke zum Klingen brachte, ich hatte es oft gesehen, wie er sie zerrte und riss, bis sie ihn hob, bis er an dem Glockenseil hinauf fuhr und wieder herab stürzte und sich mit den Spinnenbeinen vom Boden abstieß, um mit dem Ton der Glocke wieder dem Schalloch des Turms entgegen zu fliegen.
Jetzt sah ich, wie sie die eisenbeschlagene Kiste vom Wagen hoben, und der Mesner konnte sie nicht halten, er riss und zerrte wie an seinem Glockenseil, aber da war keine erwachende Kraft, die ihn emporzog, da löste sich etwas wie ein Felsen und drängte mit ungeheurer Gewalt dem Boden zu; ich sah ein Zittern in seinen mageren Beinen aufsteigen und durch den ganzen Körper wandern bis zu seinem dünnen Hals, bis in den großen Kopf, der so rot wurde wie die Sonne am Abend, und er schwankte und taumelte beiseite, und die Kiste verschob sich und drängte an ihm vorbei, als wäre sein Zittern ihr widerlich; mit einer entschiedenen Bewegung riss sie sich aus seinen Händen los, stürzte, plötzlich rasend schnell, und zermalmte dem Kutscher, der neben den Mesner gesprungen war und sie aufzuhalten suchte, den Fuß. Die drei starken Männer hielten sie weiter fest, sie ließen nicht los, jeder an seiner Seite, und sahen zu, wie Blut unter der Kiste hervor kam, an der Ecke, die in die Erde zeigte. Der Kutscher lag da, mit einem erstaunten Lächeln auf dem Gesicht, und gab keinen Ton von sich. Alle waren ganz still, keiner rührte sich, nur das Blut bewegte sich auf dem hellen Boden, als wären wir Figuren in einem großen gemalten Kirchenbild, das am Tag seines Heiligen zu bluten beginnt. Es sah aber aus, als käme das Blut direkt aus der Kiste; es lief über das Pflaster und zeichnete dunkle Linien in den Staub. Plötzlich warf Zilwer sich mit einem großen Sprung an seiner Krücke dicht neben den Kutscher, der bunte Vogel kreischte und flatterte auf den Arm der Mohrin hinüber, und der Fremde rief den Männern etwas zu; sie setzen die Kiste ab und sammelten sich an der blutenden Ecke, und dann hoben sie sie gemeinsam an, fort von dem zerschlagenen Βein, und Zilwer riss der Mohrin einen Gürtel herunter und ließ sich auf die Kiste fallen, die Krücke warf er neben sich hin, und beugte sich über den Verletzten und hantierte mit dem Band vom Kleid der schwarzen Frau, und das Blut auf dem Boden wurde still. ‚Daraus wird nichts mehr,’ sagte Zilwer und zuckte mit der Schulter gegen den Fuß des Kutschers, und dann tastete er nach seiner Krücke und stand mühsam auf, ‚am besten sofort weg damit,’ fügte er hinzu, ‚habt Ihr einen Arzt?’ und die Männer
Dorothea Renckhoff Foto Frank Becker
Peter Krämer WP/StB
Andreas Niemeyer WP/StB
Thomas Pintzke StB
Katrin Schoenian WP/StB
Dr. Jörg Steckhan RA/WP/StB
Peter Temmert WP/StB
Anke Jagau RA/StB
Susanne Schäfer StB
Stephan Schmacks StB
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Holz gemalt, wie die Kaiser und Könige in der Sägemühle, auf dem Bretterportal zum Theater. Und vielleicht haben die Fünfzehn auf der Mordkiste sich belebt auf Zilwers Befehl und sind hervor gewachsen aus den Planken, um das Ding selber zu tragen, so wie ich mich erinnere, dass die gemalten Figuren in der Mühle manchmal lebendig wurden und sich zu regen begannen, damals, als Fröhlich sie mir zeigte. Der Kutscher hat noch einige Wochen im Gasthof gelegen, ich musste der Wirtin helfen, ihn zu pflegen, aber Zilwer behielt Recht, es wurde nichts mehr mit ihm, und schließlich trugen ihn dieselben Männer aus dem Haus, die ihn auch hinein getragen hatten. Nach seinem Tod hätte ich gerne nachgesehen, ob sich eine sechzehnte Gestalt auf dem Holz der Kiste zeigte, aber ich wagte es nicht, denn Johann Zilwer schien es an seinem Körper zu spüren, wenn jemand sie berührte, als sei sie ein Stück von ihm; dann stand er plötzlich wie aus der Erde gewachsen im Raum, und alle Freundlichkeit war von ihm abgefallen. Diese Kiste enthalte seinen kostbarsten Besitz, sagte er zu mir, sein Herz schlage darin, aber ich frage mich, ob nicht er, der so heiter und herzlich auftrat, all seine Unbarmherzigkeit von sich abgetrennt und zwischen diesen Planken eingeschlossen hatte, um sie, kalt und unvermischt, plötzlich freizulassen, wie man einen Basilisken von Kette und Augenbinde löst, und seine Opfer zu zermalmen, so wie ich die Mordkiste den Fuß des Kutschers hatte zermalmen sehen. Vielleicht aber bewahrte er auch einen fluchbeladenen, gestohlenen Schatz darin. Gold, mit dem er uns verlockte und unsere Gier anstachelte, dass wir alles taten, was er von uns verlangte, bis wir in jenen Wahn gerieten, in dem der eine den andern nicht mehr kannte und wir einander die Steine aus den Häusern brachen. Als der Fremde verschwunden war, fiel unser Irrsinn in sich zusammen, aber keiner mag sich daran erinnern, und in trockenen Sommern findet sich immer jemand, um die Rosen zu tränken, die uns vor dem Dorn der Erinnerung an das Unglück schützen, als Johann Zilwer mit seiner Mordkiste zu uns kam.
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schüttelten die Köpfe. ‚Kann einer mit der Säge umgehen?’ fragte der Fremde, und die Männer wichen vor ihm zurück, und einige, ganz wenige, schüttelten wieder die Köpfe. ‚Ja, dann!’ sagte Zilwer und wandte sich ab, und ‚vergesst die Kiste nicht!’ kommandierte er, und vier Männer traten neben das eisenbeschlagene Ding und sahen darauf nieder, und keiner mochte es anfassen. ‚Gold, wenn sie oben ist,’ sagte Zilwer, und die Männer bückten sich und stemmten sie hoch und schleppten sie zur Tür, sie sprachen kein Wort und starrten vor sich hin, und sahen sich auch nicht um, als die Wirtin den Kutscher an ihnen vorbei zum Seiteneingang tragen ließ. Der Mesner trippelte jammernd hin und her und wollte die Türen öffnen, aber beide Male kam er zu spät, und schließlich folgte er der Gruppe, die den Kutscher trug, zögernd und unschlüssig und in großem Abstand. Die Mohrin stand noch immer bei der Kutsche, den Vogel auf dem Arm, als wären sie aus einem farbenglühenden Himmel in unser Dorf gefallen, doch schon bald ist der Glanz der fremden Frau verblichen, ihre schwarzpolierte Haut in Krankheit grau geworden, ihr brennendes Dunkel im Sterben erloschen. Und der bunte Vogel ist mit dem Einbeinigen verschwunden. Die vier Männer schafften die Kiste in die Fremdenzimmer hinauf, vier Männer, die an das Gewicht der schweren Salzsäcke gewöhnt waren, aber einer von ihnen sagte mir später, es sei ihm jede Stufe der steilen Treppe doppelt so hoch vorgekommen wie sonst, denn ihre Last sei so schwer gewesen, als habe man die ganze große Kiste mit Bleigewichten gefüllt, oder mit nassem Salz. Ich weiß nicht, wie Zilwer sie ganz allein herunter geschafft haben soll, an jenem Morgen, als er verschwand, wenn sie nicht durch ein Wunder plötzlich von der Luft getragen wurde, oder vielleicht von Geistern, wie der Sarg der Mohrin, von dem die Träger behauptet haben, er sei mit einem Mal ganz leicht geworden, als sie den Friedhof betraten, denn in dem Augenblick habe der Teufel die schwarze Frau geholt. Es war aber auf Zilwers Kiste eine dunkle Malerei zwischen den Beschlägen, undeutlich und schwer zu erkennen, fünfzehn Gestalten, ich glaube, es waren Männer, in seltsamen Kleidern, direkt auf das glatte
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Good Vibrations 16. Hildener Jazztage Ein (Jazz-)Fest für die Ohren Zum 16. Mal fanden vom 31. Mai bis 5. Juni auch in diesem Jahr wieder in Hilden die von Peter Baumgärtner initiierten und zunehmend erfolgreichen Hildener Jazztage statt. Das Eröffnungskonzert am Dienstag bestritt im „Kunstraum“ das auf Jazz spezialisierte Atom String Quartet aus Polen, begleitet von den beiden Vibraphonisten Mathias Haus und Rupert Stamm. Mathias Haus (auch Dozent für Schlagzeug an der Musikhochschule Wuppertal). Mit einer Groove Party wandte sich das Fest am folgenden Abend im Jugendtreff an die Tanzfreudigen und Jüngeren unter den Jazzfreunden - „Milkyway Ride“ mit der Sängerin Tsesa Tebege und „Knee Deep“ spielten auf. In einem ganz speziellen Konzert zelebrierte das Trio Lichtblick um den Trompeter Markus Stockhausen (Markus Stockhausen: Trompete, Flügelhorn - Angelo Comisso: Piano, Synthesizer - Christian Thomé: Schlagzeug) am Donnerstag „Klangräume“ in der Reformationskirche, ein Gastspiel seiner unerhört populären Kölner Konzertreihe „Klangvisionen“. Ungewöhnliche Fusion-Grenzgänge zum Schlagergut der 20er Jahre präsentierte am Freitag im QQTec das Hartmut Kracht Trio, Modern Jazz auf der Basis von Latin und Hardbop kam vom Engstfeld/Weiss-Quartett und heitere wie melancholische Songs brachte die Hannah Köpf Band mit einer zeitlosen Mischung aus Jazz, Pop und SongwriterElementen. Wie schon in den Jahren zuvor schloß die Jazznight in der Stadthalle den Reigen mit einem hochkarätigen Programm, zu deren Auftakt die Bigband „Thoneline Orchestra“ unter der feinfühligen Bandleaderin und Saxophonistin Caroline Thon, mit Julia Hülsmann am Klavier und der charismatischen Sängerin Filippa Gojo antrat. Das darauf folgende Duo Peter Fessler (Gitarre, Gesang, Pfeifen) und Danny Gottlieb (Schlagzeug) spielte Filippa Gojo
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Frank Chastenier (Orgel)
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ungemein einfühlsam und sensibel Bossa Nova Standards von Antonio Carlos Jobim. Das war ein Fest für die Ohren. Dritte Band im Bunde war schließlich Denis Gäbels „Organ Club“, feat. Frank Chastenier an der Hammond B3. Ein ungemein groovender Abschluß der Jazznight, wie Chastenier anzusehen ist. Die Pläne für Ausgabe 17 der Hildener Jazztage liegen schon in der Schublade. Vormerken! Karl-Heinz Krauskopf Redaktion: Frank Becker
Atom String Quartett
Danny Gottlieb (Schlagzeug)
Mathias Haus (Vibraphon)
Caroline Thons Thoneline Orchestra
Peter Fessler (Gitarre)
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Ein Füllhorn
Spannung aus „Huldigung an Sisley“, das jetzt durch die Sisley-Ausstellung im Wuppertaler Von der Heydt-Museum neue Bedeutung bekommt.
Carola Leppings Sisley-Impressionen Carola Lepping (1921-2009) hat ein literarisches Werk hinterlassen, das in seiner Sprache und Poesie einzigartig ist. Wir haben ihr Leben hier skizziert und mit ihrem Opus magnum „Cor“ vorgestellt. Vor zwei Jahren starb sie in Hückeswagen, wo sie seit 1941 gelebt und gewirkt hatte. Man hätte ihr gegönnt zu erleben, daß ihre Geburtsstadt Wuppertal vom 13. September 2011 an die umfangreichste je in Deutschland gezeigte Ausstellung mit Werken des Malers präsentieren wird, dem sie einen Zyklus von Erzählungen gewidmet hat - Alfred Sisley. Seine impressionistischen Bilder haben sie so nachhaltig beeindruckt, daß von den 1950er Jahren an eine Serie literarischer Miniaturen entstand, die sie erst 50 Jahre später, nach ihrer Pensionierung als Lehrerin und Bibliothekarin, in einem bezaubernden Band der Öffentlichkeit präsentierte - auch 50 Jahre nach der Ehrung mit dem renommierten Charles Veillon-Preis für die beste Literatur deutscher Sprache für den Roman „Bela reist am Abend ab“. Daß Carola Lepping noch einige ihrer in Schubladen schlummernden Skripte zwischen 2004 und 2008 zur Druckreife bringen und publizieren konnte, ist ein Glücksfall für die Literatur - und für Leser, die ein Gespür für wahre Poesie und große Sprache haben. So auch
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Nicht um die Figur des Maleres Alfred Sisley geht es in den kostbaren kleinen Erzählungen, es geht um die Bilder, die seine Gemälde in seinen Betrachtern wach werden lassen, um die Geschichten, die sich aus „Pont de Moret“ (1892), „La route de Hampton Court“ (1874), „Vue du Canal Saint-Martin“ (1870), „La neige a Louveciennes“ (1878), „Maisons au bord du Loing“ (1889) oder „Allée près d´une petite ville“ (1865) im Kopf entwickeln. Ihre „Bildergeschichten vom Glück“ sind ein Füllhorn von kleinen Episoden voller leiser Glücksmomente, flirrender Sonnenstrahlen, stiller Wege, auch Wehmut - vor allem aber wunderbarer Charakterbilder und sensibler Momentaufnahmen. Besonders wer die Bilder Sisleys und seiner impressionistischen Maler-Freunde gesehen hat, wird doppelten Genuß aus Carola Leppings delikaten Erzählungen ziehen. Als literarische Begleitung zur SisleyAusstellung ist „Huldigung an Sisley“ unbedingt zu empfehlen. Wir geben dem Band unsere Auszeichnung. Carola Lepping - „Huldigung an Sisley Bildergeschichten vom Glück“ © 2004 Carola Lepping, 220 Seiten, 17 x 22 cm, 29 farbige Abbildungen Books on Demand, Norderstedt ISBN-10: 3833418788, ISBN-13: 9783833418785 - 28.– Euro Frank Becker
Köln/München/Bergisches Land. Im Kölner Emons Verlag, Vorreiter und neben dem Gmeiner Verlag führend auf dem Sektor des Regionalkrimis, sind brandaktuell die neuen Kriminalromane zweier beliebter Autoren aus dem Bergischen Land erschienen: Harry Lucks „Lachen und Schießen“ und Oliver Buslaus „Altenberger Requiem“. Oliver Buslau läßt von seiner Schreibwerkstatt in Bergisch Gladbach wieder seinen liebenswert chaotischen Wuppertaler Privatermittler Remigius Rott auf einen Kriminalfall mit viel bergischem Regionalkolorit los – und Harry Lucks erfolgreiche Krimireihe um die Münchner Mordkommission 3 (der aus Remscheid stammende Journalist und Autor lebt dort) findet mit neuen Charakteren ihre gleichsam spannende und unterhaltsame Fortsetzung. Ein Abgesang aufs Kabarett „Lachen und Schießen“ von Harry Luck Anneke van Royen macht alles wieder wett, was seit Johan Cruyff an Abneigung gegen Oranje in mir schwelte. Die patente holländische Kommissarin wird im Europol-Austausch-Programm für ein halbes Jahr nach München versetzt, wo sie im Kripo-Team der Münchner MK 3 unter Hubert Neidlinger, der „MännerWG“, auch gleich in den sehr komplexen Fall eines scheinbaren Serientäters gerät, der offenbar unter Kabarettisten und Stars der Comedy eine Todesliste abarbeitet. Harry Luck, neben Max Bronski längst anerkannter Spitzen-Autor für unterhaltsame München-Krimis, hat sich für seinen jüngsten Roman hervorragendes, sympathisches neues Personal ausgedacht - und er läßt die Handlung in einer sehr populären Umgebung spielen, die durch ihr mannigfaltiges Fernseh-Angebot in allen Wohnstuben der Republik bestens bekannt ist: dem Geschäft mit vordergründigem Spaß. Das gute alte EnsembleKabarett scheint am Ende zu sein, die platte Fließband-Kalauer-Industrie scheffelt Geld. Es ist wie mit den gepflegten kleinen Buchhandlungen, die überall den großen, alles Individuelle verschlingenden Ketten wichen müssen. So geht es auch
dem Bergischen Land der Münchner „Lach-Kompanie“, deren letzter Dinosaurier Lorenz Merz am Morgen nach der letzten Vorstellung auf der Bühne des vom Konkurs bedrohten traditionsreichen Unternehmens erschossen aufgefunden wird. Was nach einer Einzeltat an dem designierten Barnabas für den nächsten Starkbieranstich der CSU auf dem Nockherberg aussah, entwickelt sich schnell zur Serie, denn ein Unbekannter streckt auch Toni Paroli nieder, der auf Wunsch der CSU nun Merz´ Stelle beim Derblecken mit weniger politischem Zündstoff einnehmen sollte und tötet den Komiker Horst Bendix nach dessen Auftritt im „Schlachthof“. Daß die Anschläge Lücken in die Phalanx des Comedy-Geschäfts reißen, läßt befürchten, daß die Serie weitergeht. Die Soko aus Anneke, ihrem Münchner Kollegen Lukas Schmidtbauer, Kies Grötzinger und Natascha von der MK 1 glaubt, daß es Franz Pröse al. Max Metulskie treffen könnte, einen Unsympathen, der mit billigen Zoten ganze Stadien füllt und Millionen verdient. Ihn zu schützen stellt sich als schwierig vor, denn er will sich nicht verstecken, schon gar nicht den nächsten großen Auftritt absagen. Es gibt viele Verdächtige, denn eine Reihe von Leuten könnte ein Motiv haben. Die Ermittlungen führen u.a. zum einflußreichen und knallharten Chef der Benedictus-Brauerei Rolf Eberehartinger, zum Gag-Schreiber Ernst Grau, zum Business der Gag-Factory, zu einer Stalkerin, in hohe politische Kreise und zum Doyen der Szene, dem Alt-Kabarettisten Alfons Hedderich. Daß dabei ganz nebenbei die alte und neue Münchner Kabarett-Welt gespiegelt wird, ist Harry Lucks genauer Recherche zu verdanken. So läßt nicht nur der Titel „Lachen und Schießen“ an Münchens berühmtestes Kabarett der Nachkriegszeit denken. Die derzeitige Talentschmiede „Schlachthof“ spielt eine Rolle, man muß an viele berühmte Nockherberg-Derblecker denken, und daß und Max Metulskie an den unappetitlichen Großverdiener Mario Barth erinnert, ist sicher kein Zufall. Temporeich, spannend und mit neben den Protagonisten gut gezeichneten Randfiguren erzählt Luck die Geschichte dieses
gelungenen klassischen „Whodunit“. Der Epilog macht Hoffnungen auf einen neuen Anneke van Royen/Lukas Schmidtbauer-Krimi und läßt auch für das Kabarett einen Hoffnungsschimmer leuchten. Harry Luck – „Lachen und Schießen“ © 2011 Emons Verlag, 191 Seiten, Broschur, 9,90 Euro Andere Titel von Harry Luck: „Der Isarbulle“, „Das Lächeln der Landrätin“, „Absolution“, „Schwarzgeld“, „WiesnFeuer“ Weitere Informationen: www.emonsverlag.de und: www.kbv-verlag.de sowie: www.harryluck.de Remigius Rott ermittelt wieder „Altenberger Requiem“ von Oliver Buslau Gerne war er wieder einmal Gast in der Buchhandlung Marabu, und es machte ihm sichtlich Vergnügen, dort jüngst vor einer großen Fangemeinde seinen noch druckfrischen Kriminalroman „Altenberger Requiem“ aus der Taufe zu heben. Oliver Buslau gehört zu den beliebtesten Autoren nicht nur der Region, denn sein Œuvre umfaßt mehr als „nur“ Bergische Krimis. Mit denen allerdings feiert er seit 2000 ungebrochen und zunehmend Erfolge. Im jüngsten Kriminalfall läßt Buslau zum ersten Mal seit 2008, als „Neandermord“
erschienen war, wieder Remigius Rott ermitteln, den stets an der Pleite entlang schrammenden sympathischen Privatdetektiv aus Wuppertal, mit dem er im Jahr seine Karriere als Autor begonnen hatte. „Die Tote vom Johannesberg“ war seinerzeit der erste Fall, mit dem Remigius „Remi“ Rott den Weg in die Herzen der Leser fand. Was Rott mit Harry Potter gemeinsam habe, fragt Buslau augenzwinkernd und gibt schnell die Antwort: beide haben jetzt sieben Abenteuer bestanden. „Aber“, beruhigt Buslau die Zuhörer, „von Rott wird mit Sicherheit noch mehr zu erwarten sein“. Das wollen Krimi-Freunde auch hoffen, denn beim „Altenberger Requiem“ schöpft Buslau wieder sein Erzähltalent äußerst unterhaltsam und fesselnd aus. Mit dabei ist auch vertrautes Personal früherer Rott-Krimis, nämlich Kumpel Manni, der inzwischen zu Geld gekommen ist und Remi daran teilhaben läßt und Tante Jutta, die ewig junge reiche Witwe, die hie und da mit Jobs die Hand schützend über ihren mitunter etwas leichlebigen Neffen Remigius hält. Buslau-Leser können sich also zu Hause fühlen. Sogar den betagten roten Golf hat Rott noch. Ist auch schon Kult. Warum ließ Oliver Buslau die Premiere in Wermelskirchen steigen? Na klar, weil Wermelskirchen, genauer gesagt Tente eine zentrale Rolle in diesem Fall spielt. Wie immer hat Buslau sorgfältig recherchiert, um das Lokalkolorit aufs i-Tüpfelchen zu treffen. Das betrifft nicht nur Wermelskirchen, sondern das ganze Bergische Land, denn diesmal stolpert Remigius Rott bei einer Bergischen Rätsel-Ralley, die Tante Jutta anlässlich ihres 57. Geburtstags für die Gäste ausgerichtet hat, in einen mysteriösen Mordfall. Natürlich zum Mißfallen der Polizei, allen voran Kommissar Kotten, der Rotts Einmischung gar nicht schätzt. Aber wir kennen ja Rott. Wenn der sich mal in einen Fall verbissen hat… An seiner Seite ist diesmal eine ganz entzückende junge Dame mit Namen Yvonne, Zufallspartnerin Rotts bei der Ralley in ihrem roten Fiat Topolino. Keine Frage, Rott ist Knall auf Fall verliebt. Die beiden machen überraschende Entdeckungen aber auch Remi macht die seinen über sie. Hat sie Rott bewußt in Ermittlungen hineingelotst? Welches Geheimnis
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hütet die hübsche Blonde mit den langen Beinen? Wer hat die fromme Klara Hackenberg unweit des Altenberger Doms an der Dhünn erstochen? Und: wird aus Remi und Yvonne ein Paar? Ein spannender und unterhaltender Fall, der unser Ermittler-Duo nach Solingen und Schloß Burg (hier spielt auch die bedrohte Burger Brezel eine Rolle; nur noch drei von früher 30 Bäckern bieten diese Spezialität an, und Slow Food Bergisches Land kämpft um die Aufnahme der klassischen Backware in die „Arche des Geschmacks“ - aber das ist eine andere Geschichte...), Wermelskirchen und Altenberg, Overath, Wiehl und Nümbrecht führt. Übrigens – Sie ahnen nicht, auf was Oliver Buslau im Rahmen seiner umfangreichen Hintergrundrecherche stieß: Nicht nur der (heute nicht mehr existierende) Bahnhof Tente spielte eine maßgebliche Rolle in den Roman-Verfilmungen der in England (!) spielenden Geschichten von Eric Malpass „Morgens um 7 ist die
Welt noch in Ordnung“ und „Wenn süß das Mondlicht auf den Hügeln schlaft“ 1968/69. Die Filme sind mit unübersehbarem Lokalkolorit komplett in Wermelskirchen und dem Bergischen Land gedreht worden. Wer den neuen „Rott“ ausgelesen hat, lechzt sicher schon nach neuem Stoff. Den hat Buslau bald zu bieten: im Herbst wird ein historischer Kriminalroman erscheinen, dessen Handlung im Potsdam des 18. Jahrhunderts im Dunstkreis Friedrichs den Großen angesiedelt ist. Nehmen wir es wörtlich: man kann gespannt sein. Andere Titel von Oliver Buslau: „Die Tote vom Johannisberg“, „Flammentod“, „Rott sieht rot“, „Schängels Schatten“, „Bergisch Samba“, „Bei Interview Mord“, „Das Gift der Engel“, „Neandermord“, „Die fünfte Passion“ Weitere Informationen unter: www.oliverbuslau.de und www.emons-verlag.de
Oliver Buslau – „Altenberger Requiem“, 2011 Emons Verlag, 283 Seiten, Broschur, 10,90 Euro
Frank Becker
Sparkassen-Finanzgruppe
Unsere Kulturförderung ist gut für die Sinne.
Kunst und Kultur prägen die gesellschaftliche Entwicklung. Die Sparkassen-Finanzgruppe ist der größte nicht-staatliche Kulturförderer Deutschlands. Auch die Stadtsparkasse Wuppertal ist ein wichtiger Partner für Kunst und Kultur in unserer Stadt. Das ist gut für die Kultur und gut für Wuppertal. www.sparkasse-wuppertal.de
Sparkasse. Gut für Wuppertal.
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Natur – Kunst Andrea Hold-Ferneck „Im Fluss der Gedanken sind meine Ausstellungen nur ein Zwischenstopp“
Ensemble, Schwarz-Weiß-Fotografien mit Objekten, Goethe Institut Rotterdam, 2008
Wie mit einem Skalpell ziseliert die Fotografin Andrea Hold-Ferneck seit 1993 Blätter immergrüner Pflanzen und isoliert sie damit nicht nur von ihrer natürlichen Umgebung, sondern verzichtet auch auf die natürliche Farbigkeit zugunsten von fein abgestuften Grauwerten. Was ist gewonnen, wenn sie die Pflanze wie eine Ranke zum Kreis windet oder zu einer Art Spinnentier formt und sie wie tänzerisch hoch an der Wand oder bis dicht unter die Decke schweben lässt? Das Ergebnis dieser Eingriffe ist die eigentümliche Verlockung, die dem Auge des Betrachters widerfährt: Es ist animiert, den anmutigen, sanften Wölbungen der Blattformen nachzuspüren mit ihrem feinen Netz von Adern, den eleganten Windungen und Rhythmen, und dem weichen Ineinander von Licht und Schatten zu folgen. Indem die Abbildung der Pflanze, auf Plexiglas aufgezogen, nicht unmittelbar auf, sondern einige Millimeter vor der Wand schwebt, tritt die Helligkeit des Bildträgers mit der Wand und der Schwarz-Weiß-Fotografie in eine sensible Wechselwirkung. Im Kunstraum Wuppertal installierte Andrea Hold-Ferneck 1995 die Arbeit „Floras Traum“. Das im Raum vorgegebene schmiedeeiserne Geländer mit floralen Motiven wirft ebenso seine Schatten auf die dahinter liegende weiße Wand wie die Gartengeräte, die, anmutig und bedrohlich zugleich, darüber zu schweben scheinen. Schatten und Objekte treten in einen Dialog, zu dem sich auch die Schatten der Betrachter gesellen, und hoch darüber auf der Wand schwebt die Schefflera und wirft
ihren eigenen Schatten. Warum offenbart sich die Plastizität dieser Pflanze anscheinend erst dann, wenn sie ins Zweidimensionale gebannt ist? Diese Überraschung und Verzauberung des Betrachters beruht auf visuellem Kalkül, auf der präzisen Vorstellung von ganz bestimmten optischen Qualitäten, denen Andrea Hold-Ferneck mit ihren Arbeiten seit Jahren auf der Spur ist. Ihr dabei zu folgen ist nicht immer leicht, denn sie geht ihren Weg mit Konsequenz und irritiert und verstört zuweilen durch bewusst inszenierte Gegensätze, denen sich der Betrachter zu stellen hat. Dem uralten Auftrag der Künstler, Flächen und Räume zu gestalten, stellt sich Andrea Hold-Ferneck auf ihre Weise, indem sie den Betrachter zugleich verlockt und fordert, durchaus auch durch Komik. Ein besonderes Beispiel dafür sind die 1996 fotografierten Schultafeln, deren Flügel halb aufgeklappt sind wie bei einem Altarbild. Sofort stellt sich die Assoziation „Tafelbild“ ein. Doch mit ihren floralen Konkurrenten teilt die Tafel lediglich die grüne Farbe und die Möglichkeit des Öffnens oder Schließens. Auch erfährt das monochrome Grün Nuancierungen bestenfalls durch den jeweiligen Reinigungszustand. Im Kontext mit Fotografien von Natur verweigert sich die Tafel dem Betrachter und fasziniert ihn zugleich. So kontrastiert sie durch ihre strenge geometrische Flächigkeit, ihre Künstlichkeit und ihre sperrige Zweckhaftigkeit die lustvolle Begegnung mit der Vielfalt der lebendigen Natur. Die Tafel erlaubt dem Auge kein optisches Eindringen, sie lässt
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kaum Spiel mit Lichtreflexen zu; unbeschriftet besitzt sie weder Spannung noch Dynamik. Allerdings gibt ihre geometrische Starre dem Auge die Möglichkeit, inne zu halten angesichts der Fülle der Natureindrücke und öffnet so den Blick für eine ihr eigene, andere Art von Schönheit. Entsprechend der Natur arbeitet die Künstlerin mit Kontrasten – und geht darin noch einige Schritte weiter, indem sie in ihren Ausstellungen lebende mit fotografierten Pflanzen konfrontiert und dazu Fundstücke einbezieht, die sich manchmal zufällig in der Galerie oder im Museum befinden. Das kann dann zu recht verstörenden Begegnungen führen. Im Kunstverein Bremerhaven installierte Andrea Hold-Ferneck 2001 auf grünem Kunstrasen zwei standarisierte weiße Plastikstühlchen, ‚Monoblockstuhl’ genannt, an die
Stamm 1, Farbfotografie, 2007, 170 x 130 cm
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grün-weiß gestreifte Ausstellungskataloge angekettet waren. Der irritierte Betrachter erlebt, wie armselig ein Industriemöbel wirken kann angesichts des überbordenden Reichtums an Farben und Formen der lebendigen Natur. Dabei liegt der Künstlerin nicht an Narrativem, sondern an der Suche nach neuen Möglichkeiten des Mediums Fotografie und an Denkanstößen durch Konfrontationen, an Schärfung der Wahrnehmung. Weil diese Gegensätze für die Arbeiten von Andrea Hold-Ferneck prägend sind, lassen sie sich nur ungern isoliert voneinander betrachten. „Meine Arbeit entsteht im Fluss, alles ist in ständiger Bewegung und Verwandlung,“ sagt sie, und deshalb übernimmt sie frühere Werke wie Leitmotive in spätere Ausstellungen, oder sie lässt Fotografien von Installationen zu einer neuen Arbeit
werden, die dann den Charakter von Stillleben annehmen können. Alles folgt aus dem Vorhergegangenen, alles durchdringt oder überlagert sich und entwickelt sich weiter. Ein Aspekt ihrer Arbeit seit 2000 ist die Suche nach der letzten möglichen Abstraktion von „Pflanze“, die Frage nach dem „Pflanzenhaften“, nach dem Begriff „Pflanze“. Dazu gehören die strengen, im Atelier entstandenen Fotografien der ebenso statisch wie anmutig wirkenden Amaryllis. Der Suche nach der reinen Form steht das Eindringen des Auges durch das Medium der Fotografie in die scheinbar chaotische Wildnis von Pflanzenformationen entgegen. Der Blick des Betrachters ist unmittelbar in den Rhythmus der Natur gelockt. Keinen Augenblick kommt das Auge zur Ruhe. Die Kamera spürt eine unendliche Vielfalt von Blättern, Früchten, Zweigen oder Nadeln auf, ein lebendiges, zauberhaftes Spiel von Licht und Schatten. Der künstlerisch selektierende Blick sieht allein die Farben und Formen, das Hell und Dunkel, Linien, Flächen und Strukturen, die den fotografischen Ausschnitt bestimmen. Im Spiel mit den Tiefenschärfen im scheinbar ungestalteten Blättergewirr fokussiert die Fotografin mal den Vordergrund, mal den Hintergrund, lineare oder runde Formen, Licht und Schatten oder das Gegenlicht und lauscht der Natur formale und farbliche Ordnungen ab, die das Auge des Betrachters leiten können. So lassen sich in der Fülle von Gegensätzen mehr und mehr verborgene Ordnungen erkennen: Wie einzelne Töne sind zum Beispiel Beeren oder Schneckenhäuser in die Bildfläche gesprenkelt und ballen sich zu kleineren oder größeren Clustern oder setzen zarte Akzente, wie die Krokusse im melancholischen Weiß des Schnees. Zufällig gefallene Äpfel auf einer Streuobstwiese bilden ihre Ensembles, ein Meer von kleinen gelben Blüten entfaltet seine Dynamik. Welche Qualitäten kann das bewusst sehende und gestaltende Auge der Natur an Energie, an Anmut oder auch an Spießigkeit ablauschen? Was zeigt sich, wenn man Hecken und Gebüsche nicht als Wände sieht, sondern als vielfältig gestaltete durchlichtete Räume? Durch die Zerteilung der Bildtafeln in Paare wie etwa bei den Beeren im kahlen Gezweig (2007) verstärkt sich die Bewegung der Vegetation, denn der Rhythmus
Liebesperlenstrauch 1-2, Farbfotografien 2007, je 140 x 95 cm der einen Bildhälfte geht fließend in den der anderen über. Die leuchtend violetten Beeren und die untereinander vernetzten Zweige scheinen vor dem unscharf durchlichteten Hintergrund zu schweben. Ihre linearen Strukturen offenbaren sich dem Auge als fallende Diagonalen, die durch die kleineren und größeren Formationen der Beeren und einzelnes, anders gerichtetes Astwerk aufgefangen werden. Ein weiteres wichtiges Motiv ist seit 2007 die Arbeit mit der Struktur von Baumrinde. Die Fotografin fokussiert das subtile Spiel der Farbtöne in Verbindung mit den Strukturen, die sich aus dem Wachstum und den Witterungseinflüssen ergeben. Dabei entfaltet sich ein reiches Farbenspiel von zarten Grau- Grün- und Blautönen. Der besondere Reiz der helleren Farbstufen liegt darin, dass sie sich außerhalb der Struktur der Rinde befinden, ja, davor zu schweben scheinen und so ein eigenes lockeres Gefüge bilden. Entscheidend für die bildnerische Wirkung der Fotografie ist jedoch die zarte Überlagerung dieser Strukturen von Licht und Schatten, die durch das Blätterdach
fallen und der Rinde weiche Akzente verleihen. So ist das Schroffe und Starre, das man gewöhnlich mit Rinde assoziiert, durch das Medium Fotografie moduliert in etwas Weiches, Fließendes, das einen eignen Mikrokosmos entwickelt. Die Vorstellung des Betrachters wird verändert durch das, was die Kamera aufspürt, und wieder ist es, wie bei der Schefflera von 1993, der künstlerische Umgang mit dem Schatten, dem sich diese Entdeckung verdankt. Andrea Hold-Ferneck geht es nicht nur um schöne Bilder, sondern auch darum, zu analysieren und zu überraschen. Sie lauscht der Natur bildnerische Qualitäten ab und manipuliert diese fotografisch so, dass die Nähe von Kunst und Natur offenbar wird: Kunst und Natur sind zwei Aspekte ein und derselben Sache, und beide lassen sich mit kunstwissenschaftlichem Vokabular erfassen. Doch so leicht macht es die Fotografin dem Betrachter nicht. Sie geht der Frage nach, wie sich Natur, Kunst und Künstlichkeit zueinander verhalten und welche Rolle der Mensch dabei spielt als Künstler und als Rezipient. Dazu stellt sie in ihren
Ausstellungen Fotografien von Natur die Künstlichkeit von industriell gefertigten Produkten oder kunstvoll überzüchteten Pflanzen gegenüber. Gerade aus diesen provozierenden Irritationen ergeben sich Anregungen für ein neues Sehen. Andrea Hold-Ferneck lebt und arbeitet als Bildende Künstlerin und Kommunikationsdesignerin in Wuppertal. Zuletzt wurde ihr die künstlerische Leitung der historischen Dauerausstellung der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal „Tora und Textilien“ durch die Museumsleiterin Dr. Ulrike Schrader übertragen. Diese Aufgabe gab der Designerin die einmalige Möglichkeit, das gesamte Ausstellungskonzept von der Ausstellungsarchitektur bis zur Lichtsetzung, vom Erscheinungsbild bis zur Mikrotypografie nach ihren Vorstellungen zu entwickeln. Als Fotografin hat Andrea Hold-Ferneck mehrere Stipendien und Preise erhalten und an zahlreichen Gruppen- und Einzelausstellungen mitgewirkt. Marlene Baum
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Neue Kunstbücher Ausweitung des plastischen Raumes Vorgestellt von Thomas Hirsch Ist Franz West bereits ein nachmoderner Klassiker oder mehr denn je ein Avantgardist der jüngsten Stunde? Dem österreichischen Künstler, der 1947 in Wien geboren wurde und seit seiner Teilnahme am Skulpturenprojekt Münster 1987 international etabliert ist, gebührt vor allem das Verdienst, die organische Plastik in eine anschauliche Durchdringung von Körper und geistiger Befindlichkeit überführt zu haben. Franz West bleibt dem wirklichen Leben verpflichtet und er ist darin fundamental: Im Mittelpunkt steht die leibliche Präsenz mit ihrer Verletzbarkeit und, derart entkernt und meist lediglich in Anspielungen, mit ihrer Sinnlichkeit. Am bekanntesten sind seine „Passstücke“ aus Gips, die er seit 1980 explizit zur Diskussion stellt. Die Oberfläche dieser Objekte ist unruhig, aufgerissen, das Gipsstück wirkt archaisch. Zwischen Körperfragment und schützendem Kleidungsstück können die „Passstücke“ auf den Körper aufgelegt werden, verlangen aber vom Betrachter die Einnahme bestimmter Positionen; sie sind benutzbar, nach Anweisung zu bestimmten Stunden. Ansonsten lehnen sie an der Wand und werden wieder zu Bildhauerei per se. Mit den Erfahrungen dieser Konzeption ist Franz West immer weiter in den Realraum ausgegriffen und hat noch – auch hier – Schnittmengen
Franz West – Autotheater, 208 S. mit ca. 200 Farbabb., geb. mit Schutzumschlag, 29 x 23 cm, DuMont, 39,95 Euro
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zwischen angewandt und frei entwickelt, wobei das menschliche Maß stets die Bezugsgröße bleibt. So entstehen benutzbare Ensembles aus Stühlen oder Sofas oder Kammern mit Collagen und aufragende Plastiken in einem provozierenden Rosa-Ton, die nun wie Primärformen physischen Eros wirken … Vor etwa zwei Jahren fand im Museum Ludwig in Köln eine umfassende monographische Ausstellung statt mit dem von Franz West gewählten Titel „Autotheater“. Das Katalogbuch dazu ist bei DuMont erschienen, mit seiner Chronologie ist es für das Werk von Franz West hierzulande die wohl umfassendste Publikation. Deshalb machen auch die vielen, aber vielleicht doch zu vielen Texte Sinn – und sie bestätigen noch die Bedeutung dieses österreichischen Künstlers, der sich so entschieden der Existenz des Menschen widmet. Die Vorstellung von Plastik als energetisches, in gewisser Weise rücksichtsloses Ereignis betont auch der US-amerikanische, leider früh gestorbene Jason Rhoades (1965-2006), aber er wendet sich kaum dem Menschen in seiner Physis zu als vielmehr den Spuren seiner Zivilisation. Er greift (ausgehend von Entwürfen und Realisierungen im Atelier) in den Ausstellungsraum ein – arbeitet noch wie ein Berserker und macht mit Mitarbeitern Aktionen – und entwickelt aus Detailstrukturen des alltäglichen Lebens seine
Eva Meyer-Hermann: Jason Rhoades in der Friedrich Collection, 223 S., 200 Farbabb., Hardcover, 29x23 cm, DuMont, 39,95 Euro
Installationen, die häufig den Charakter von Labor oder Fabrik in einer aufgelassenen Situation tragen. Rhoades arrangiert Ready-mades und wandert damit gewissermaßen auf den Spuren des Europäers Duchamp und des Amerikaners Edward Kienholz. Aber er entzieht sich einer durchdeklinierten Lesbarkeit, agiert mit offenen Stellen und kreist so bestimmte Themen ein, die unterschwellig besonders von der amerikanischen Gesellschaft handeln (Patriotismus, Koppelung von Religion und Konsum, Sexualität zwischen Schöpfungsprozess und Maschinerie, kulturelle Identität). Er bedient sich dazu der Klischees der Populärkultur, erschafft für sich selbst zudem eine multiple Persönlichkeit, die wesentlich seine Biographie anspricht ... Verdienste, die man Friedrich Christian Flick als Kunstsammler zweifelsohne anrechnen muss, sind, dass er ganze Werkkomplexe einzelner Künstler zusammengetragen und der Öffentlichkeit im Hamburger Bahnhof in Berlin zugänglich gemacht hat und dass dazu solide gestaltete Monographien entstanden sind. Im Fall von Jason Rhoades ist dies ganz besonders hilfreich, weil in das Buch auch die zentralen Arbeiten außerhalb der FlickCollection einbezogen sind und damit eine konzise Werkübersicht geboten wird. So komplex die Installationen für sich sind, die nur im und mit dem jeweiligen Raumgefüge für die Dauer einer Ausstellung existierten: Im Buch des DuMont-Verlages vermittelt sich doch das Besondere dieser Werke. Der lange Textbeitrag von Eva Meyer-Hermann ist hilfreich, weil sachlich und systematisch, aber untief. Aber das nur am Rande … Die Bedeutung dieses wichtigen Buches schmälert es nicht. Jason Rhoades handelt bisweilen an den Grenzen wissenschaftlicher Hinwendung, dazu belässt er dezidiert die Versatzstücke, betont das Collagierte und Zuständliche, den Prozess, darin Vibrierende alltäglicher Zivilisation. Damit greift er weiter in unsere praktische Realität ein als etwa Franz West. Diesbezüglich vorausschauender handelt wiederum der Deutsche Carsten Höller, der sozusagen auf die Zukunft hin konzipiert hat. Konsequenterweise – und im Gegensatz zu Rhoades – transformiert Carsten Höller seine Ideen und Forschungen in eine oft
Carsten Höller 2001-2010, 288 S. mit 795 Farbabb., Hardcover, 23,5 x 28 cm, Hatje Cantz, 49,80 Euro kühle, sehr kalkulierte, also geschlossene Form. Zugleich handelt er konzeptuell, im Einklang mit wissenschaftlicher Erfahrung. Tatsächlich ist Carsten Höller, der 1961 in Brüssel geboren wurde, von Haus aus promovierter Biologe. Bereits in seiner Gemeinschaftsarbeit mit Rosemarie Trockel „Ein Haus für Schweine und Menschen“ zur Documenta 1997 liegt sein Programm vor. Wiederholt formuliert er Evolutionstheorien in Verbindung mit fiktiven Populationen und stellt noch Beziehungen zur Gefühlswelt des Menschen her. Dazu zitiert und erfindet er Mythen, etwa bei der Arbeit „Soma“, die unlängst im Hauptschiff des Hamburger Bahnhof mit lebenden Tieren installiert war, benachbart zum Erweiterungsbau für die Sammlung von Friedrich Christian Flick. Wie genau Carsten Höller seine Beiträge vorbereitet, dass er wiederholt bestimmte Motive und Themen aufgreift und sozusagen entwickelt, wo schließlich deren Wurzeln liegen, das erschließt sich nun aus dem rein als Verzeichnis angelegten Buch „Carsten Höller: 2001-2010. 184 Objekte, Versuche, Veranstaltungen“, welches, anschließend an ein davor datiertes Werkverzeichnis, sämtliche Beiträge chronologisch erfasst: die Installationen, Objekte, Vorträge, Plakate, Videos, Aktionen. Das katalogisierende Nacheinander, bei dem jede Arbeit eine Doppelseite erhält, verzichtet auf eine Einleitung und eine Biographie, jedoch wird jede Arbeit für sich auf der rechten Seite ausgiebig textlich und mit Marginalabbildungen erläutert. So nüchtern, knapp und punktgenau wie die einzelnen Werke selbst, so konsequent ist dieses Buch von Carsten Höller.
Es ist die Sachlichkeit und das in Form Gesetzte, welches das Werk von Liam Gillick mit dem von Carsten Höller verbindet. Zugleich bewegt sich die Kunst beider Künstler an den Grenzen zu anderen Disziplinen, ist in ihrem künstlerischen Charakter ohne Vorkenntnisse manchmal nicht ohne weiteres auszumachen. Zugleich bleibt ein Rest des Offenen, ja, der poetischen Struktur. Und doch haben beide Künstler (etwa im Gegensatz zu Olafur Eliasson) kaum größere Bekanntheit über den reinen Kunstbetrieb erhalten, auch wenn einzelne ihrer Arbeiten (etwa die Rutsche von Carsten Höller in Berlin oder die farbig gerasterte Lichtdecke von Liam Gillick in Frankfurt) beständig wahrgenommen werden. Im Kunstbetrieb hingegen gehören diese Künstler zu den maßgebenden, bereits die jüngeren Generationen anregenden Persönlichkeiten, die weltweit ausgestellt werden. Aufgrund dessen und aufgrund seiner theoretischen, noch interdisziplinären Ansätze wurde der 1964 geborene Brite Liam Gillick sogar eingeladen, 2009 den Beitrag des Deutschen Pavillons auf der Biennale Venedig zu entwerfen. „How Will You Behalf? A Kitchen Cat Speaks“ wurde später noch einmal in der Bundeskunsthalle Bonn in veränderter Fassung ausgestellt – und auch da blieb diese Arbeit, die einerseits an das Bauhaus und dessen Folgen im angewandten Bereich anschließt, andererseits mit der Suggestion einer Katze, die sich in einem der Schränke befände, auf psychologische Komponenten und Erkenntnisse in der Verhaltensforschung setzte, relativ hermetisch. Immerhin bezog die Bonner Ausstellung 2010 weitere Werke ein und verdeutlichte so, welche Aspekte zwischen
Liam Gillick – Ein langer Spaziergang... Zwei kurze Stege..., 256 S. mit ca. 500 Farbabb., Halbleinen mit Schutzumschlag, 30 x 24,5 cm, Snoeck, 68,- Euro soziologischer Recherche und visueller konstruktiver Darstellung überhaupt Liam Gillicks Denken beeinflussen und wie entschieden er Phänomene der Gesellschaft und ihrer Sozialstruktur aufgreift. Und vor allem erschien zu der Bonner Ausstellung ein umfassendes Buch, das – in der Informationsdichte und der Systematik ähnlich wie die Monographie von Höller, aber lockerer in der Anlage und auch nicht auf völlige Vollständigkeit setzend – den Zusammenhängen des Werkes auf der Spur ist. Indem Gillick in diesem mit einem definierten Formvokabular zwischen Fläche und Raum begriffs- und konsequent erkenntnisorientiert arbeitet, entpuppt sich sein Werk als weiterer maßgeblicher Beitrag der heutigen plastischen, zur Installation drängenden Kunst. An dem Buch gibt es nichts, aber auch gar nichts zu mäkeln.
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Schwebe-Slam Zum 110. Geburtstag der weltweit einzigartigen Wuppertaler Schwebebahn hatten sich der Autor und Literatur-Organisator Ulrich Land, die Verkehrsbetriebe der Bergischen Stadt und der Rundfunksender WDR 3 dem literarischen Trend der Zeit folgend etwas Besonderes ausgedacht: einen hochkarätigen Poetry-Slam mit der Schwebebahn als Thema, der die Genres und Generationen der regionalen Literatur zu einer mehr als zweistündigen Lesung zusammenbrachte. Nach einer Kaiserwagen-Fahrt von Oberbarmen nach Vohwinkel traten in den Räumen der Schwebebahn-Verwaltung mit dem seltenen Blick auf die Wende-Anlage Ulrich Land, David Grasshoff und André Wiesler (Wuppertaler Wortpiraten), Dieter Jandt, Rebekka Möller, Mitch Heinrich, Karl Otto Mühl, Hermann Schulz und Wolf-Christian von Wedel-Parlow ans Mikrofon, um dem Publikum im ausverkauften Saal ihre zum Teil eigens für diesen Abend geschriebenen Erzählungen, Gedichte, Kurzgeschichten zu präsentieren. Es wurde ein äußerst kurzweiliger Abend voller literarischer Delikatessen und eingestreuter musikalischer Perlen von Michael Burger an der akustischen Gitarre. Der Laut-Poet Michael (Mitch) Heinrich eröffnete den Reigen mit einer seiner hinreißenden phonetischen Illustrationen der Wirklichkeit, die er „Schwebelautpoesie“ genannt hat und mit der er die Zuhörer quasi hautnah an die Bahn brachte. So haben sie die 20 Stationen bisher sicher nicht wahrgenommen - aber von jetzt an! Von ihren Erlebnissen, Erinnerungen und Träumen, dem Leben mit und sogar in der Bahn, die zwar nicht unablässig , aber doch von frühen Morgen bis kurz vor 23.00 Uhr die 13,3 Kilometer hin und zurück rollt, berichten die Impressionen, Fiktionen und Späße Jandts, Grashoffs, Wieslers, Lands und Mühls, dem übrigens bis heute niemand glauben will, daß einmal für kurze Zeit die Schwebebahn gestohlen worden sei. Von neidischen Düsseldorfern natürlich. Karl Otto Mühl zitierte auch ein Kapitel aus seinem Roman „Siebenschläfer“. Wolf Christian von Wedel-Parlow erzählte in „Glänzende Auen“ von der gar nicht mal so abwegigen Idee, die Schwebebahn abzureißen und zu verkaufen - schließlich haben die Wuppertaler Stadtväter schon wesentlich dümmeres getan. Hermann Schulz führte pointiert zum Amüsement des Publikums lächerliche TVQuizsendungen am Beispiel von „Wer wird Millionär“ und einer strittigen Schwebebahnfrage vor. Wissen Sie denn warum Ende des 19. Jh. die Schwebebahn gebaut wurde? Wirklich, um den Sozis eins auszuwischen...? Die ganz große Überraschung des Abends war die jüngste Autorin und Poetry Slammerin Rebekka Möller (19), die mit ihrem Wuppertaler Stimmungsbild „Über den Dächern einer Stadt“ literarisch den Vogel abschoß. Einige der erwähnten Beiträge können wir Ihnen jetzt auch in „Die Beste Zeit“ präsentieren. Nebeneffekt der Veranstaltung: man möchte sogleich die ganze Schwebestrecke mit dem dabei gewonnenen Blick auf das 110 Jahre alte Verkehrsmittel rauf und runter gondeln, um diese Bahn völlig neu zu er-fahren.
Über den Dächern einer Stadt… Von Rebekka Möller Regen praßt auf kalte Steine, Eisen, Stahl und Rost. Er schaut gen Himmel und fragt sich, warum es in dieser Stadt eigentlich immer regnet? In dieser nebelschleierverhangenen Stadt, die die Depression der Kriegsjahre hinter sich gelassen hat – Er hat sie noch nicht hinter sich gelassen. Er faßt an. Er baut auf. Er errichtet Haltestellen und Stützpfeiler. Aber wer stützt ihn? Wo ist seine Haltestelle? Es weht Gegenwind. Von allen Seiten weht Gegenwind ihm entgegen.
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Er packt an. Er schafft. Steht erschöpft auf dem Schwebebalken, dem Fahrzeugträger. Von überall klingst zu ihm auf: „Wir sind wieder wer!“ - Aber: Wer sind wir denn? Und wer ist Er? So steht er da, einfach nur da, über den Dächern einer Stadt, irgendwo unter dem Himmel Deutschlands. Uhren ticken. Kinder wachsen. Jahreszeiten vergehn. Es ist Herbst. Ein sonniger Himmel mit Regentropfen durchwoben läßt Wolken weichen und zeichnet einen buntverbleichten Regenbogen. Und die sanften Tropfen auf seiner Haut bringen lang ersehnte Abkühlung vom Arbeitsschweiß der Jahre. Der Wind hat sich gedreht. Jetzt weht Westwind, schon lange weht Westwind. Er und die Stadt, sie beide sind jetzt im Aufbruch begriffen. Hand in Hand erschaffen sie Talachsen und Fahrschienen, lassen Brachflächen zusammenbrechen und Gelenkzugbahnhofsstege entstehn. Von überall her klingt Kofferradiomusik, spielt schwingende, swingende Songs. Heute im Komplettpaket: Erneuerung. Neu-Anfang, Neu-Beginn, neues Glück! So steht er da, über den Dächern einer Stadt, irgendwo unter dem Himmel zweier Deutschlands. Immer schneller vergeht die Zeit und immer größer werden Kinder. Auf Herbst folgt Winter…. Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Frühling, Sommer, …. Und mitten im Sommer ein Regenguß! Und da schaut er gen Himmel und fragt sich warum es in dieser Stadt eigentlich immer regnet?!? Und er denkt für sich: Wegen des Steigungsregens! Und er lacht und der Regen praßt auf ihn nieder, auf ihn und die Stadt, durchnäßt, triefend aber glückselig riecht er den Sommerregenduft. Geliebten Sommerregenheimatduft. Wenn er jetzt über die Stahlbalken geht, dann mit Rückenwind. Beschwingt, und stolzen Schrittes. Jede Windung, die er prüft, jede Niete, die er pflegt sind Schritte auf dem Majestätsweg zur Zuversicht. So steht er da, über den Dächern einer Stadt…Er geht seinen letzten Rundgang, zieht die letzte Schraube an und verläßt die Schwebebahn.
„Warum baute man vor 110 Jahren in Wuppertal keine Straßenbahn, sondern eine Schwebe- oder Hängebahn“. Leichtes Schmunzeln im Saal. Auch Jauch gab sich erheitert. Auf seinem erhöhten Stuhl rutschte er hin und her und las laut die Frage, anschließend die vier vorgeschlagenen Antworten.
Wie Günter Jauch bei „Wer wird Millionär?“ in unerwartete Probleme geriet. Aus geheimen Protokollen von RTL Von Hermann Schulz Aufmerksame Zuschauer der Sendung „Wer wird Millionär?“ wissen natürlich, daß sie nicht live ausgestrahlt, sondern aufgezeichnet wird. Ein kluger Sender ist damit gut beraten! Es kann immer mal passieren, daß Abläufe völlig daneben gehen oder sich Kandidaten als fragwürdig erweisen. Manchmal genügen kleine Schnitte, um Peinlichkeiten zu eliminieren, manchmal allerdings geht alles daneben! Die Kandidateneinheit, von der hier berichtet wird, wurde intern als unvorhersehbare Panne bezeichnet und komplett verworfen. Was ist da passiert? Auf dem Stuhl saß ein Düsseldorfer Bürger, nennen wir ihn Hannemann. Biederes Gesicht, leicht angeberisch angezogen, Siegesgewißheit auf seiner Miene, die ganze Persönlichkeit leicht blasiert. Über seinen Beruf befragt, antwortete er kurz: Städtisch! Jauch ließ sich damit nicht abspeisen: Was heißt das? Sind Sie vielleicht Bürgermeister? Der Kandidat verlegen: Hundesteuerstelle, Abteilung Kampfhunde. Jauch: Interessant! Dann kennen Sie sich vielleicht auch mit gefährlichen Fragen aus. Machen wir also weiter! Kandidat Hannemann hatte es schon bis zur 500-Euro-Hürde geschafft und wollte höher hinaus. Die Frage, um 1.000 Euro zu erreichen, lautete:
Antwort A: Im engen Tal der Wupper war nicht genug Platz für eine Straßenbahn Antwort B: Der verantwortliche Baumeister hat versehentlich die Pläne für eine Straßenbahn falsch herum gehalten, mit Rädern und Schienen nach oben Antwort C: Die Stadtoberen waren der Meinung, Wuppertal sei mit dem Blick von oben am erträglichsten Antwort D: Um den Sozis einen Denkzettel zu verpassen, denn die wollten in allen Straßen Rolltreppen installieren. Der Kandidat grübelte. Er überlegte halblaut: A, nicht genug Platz, das könnte sein. Auch B, also die Pläne falsch herum …, das wäre bei Wuppertaler Baumeistern denkbar. Antwort C, von oben am schönsten? Die Stadt ist ja nicht gerade eine Augenweide! Und D? Die Rolltreppen zu verhindern? Ich bin zwar kein Sozi, aber das kann ich ausschließen. Also, Herr Jauch: D auf keinen Fall! Günter Jauch: Lieber Herr Hannemann: die Frage lautet nicht, was weggelassen werden soll. Sie müssen sich für eine der Antworten entscheiden. Kandidat: Ich nehme jetzt den Publikumsjoker. Jauch liest noch einmal laut die vier Vorschläge. Kandidat: Nein! Nein! D soll weggelassen werden. Jauch: Wie soll das denn gehen? Kandidat wendet sich an das Publikum: Bitte D einfach weglassen. Gelächter im Saal. Jauch: Das können Sie den Leuten doch nicht vorschreiben! Bim. Bim. Bim. Der Pegel der vier Säulen geht auf und nieder, bleibt stehen: bei
allen vier Säulen 25%, auf den Punkt genau. Der Kandidat rutscht ratlos auf seinem Stuhl herum. Fifty-Fifty-Joker, kräht er. Jauch: Von den vier Antworten bleiben also zwei. Sie kennen ja das Verfahren. Kandidat: Nein, von drei! Jauch: Sie Schlauberger! Drei kann man nicht fifty-fifty teilen! Wenn man von drei zwei wegläßt, bleibt ja nur noch eine Antwort! Kandidat: Ja, und?! Jauch, sichtlich genervt, geht nicht weiter auf den Kandidaten ein. Plopp! Antworten B und C verschwinden Kandidat windet sich, schaut sich ratsuchend nach seiner stark geschminkten Ehefrau um. Aber die lacht nur schadenfroh, ihr Ehemann steckt in der Bredouille. Kandidat Hannemann: Ich rufe meinen Telefonjoker an, Herrn Jung. Jauch: Wer ist das? Kandidat eifrig: Ein Pastor aus Wuppertal, Autor des berühmten Buches „Glaubenskämpfe als Volkssport“. Jauch vergrätzt: Bitte hier keine Werbung für Bücher! Man hört die Wahltöne, dann das Telefonsignal. Hier Pastor Jung am Apparat! Günter Jauch hier! Herr Pastor Jung, hier sitzt ihr Freund Hannemann aus Düsseldorf. Jung grantig: Ich habe keine Freunde in Düsseldorf. Jauch (peinlich berührt): Egal, dann eben Ihr Bekannter. Sind Sie bereit? Ich lese jetzt die Frage. Da der Kandidat schon den fifty-fifty-Joker verbraucht hat, bleiben nur zwei mögliche Antworten. Warum wurde vor 110 Jahren in Wuppertal die Schwebebahn statt Straßenbahn gebaut: A: Zu wenig Platz im Tal oder D: Um den Sozis eines auszuwischen. Jung lacht hämisch: Das ist ja lächerlich, was Sie da sagen! Beides ist falsch! Jauch: Wie??? Jung: Ja, beides ist total falsch! Jauch: Und wie müßte die Antwort Ihrer Meinung nach lauten? Pastor Jung: Das weiß doch jeder! Die Ratsherren aus Barmen und Elberfeld
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Schwebe-Slam waren alle evangelisch. Zu Beginn der entscheidenden Sitzung, zu der die Pläne für eine Straßenbahn und die Schwebebahn vorlagen, wurde die Losung der Herrnhuter Brüdergemeine gelesen. An dem Tag galt der Bibelvers Lukas 2, Vers 14 „Ehre sei Gott in der Höhe …“ und so weiter. Sie kennen das ja sicher. Das gab den Ausschlag für die Bahn da oben, alles andere ist Unsinn! Steht im Stadtarchiv unter Theologiegeschichte des bergischen Ingenieurwesens. Er legt unwillig auf. Jauch blickt den Kandidaten ratlos an, dreht sich um zur Regie, hebt fragend die Schultern. Laute Stimme aus dem Hintergrund: Günter, wir müssen da noch mal recherchieren. Wir schalten jetzt ab! Man sieht verwackelt das Kamerabild, wie Herr Hannemann seinen hohen Sitz verläßt und drohend auf Jauch zugeht. „Ich will mein Geld!“, ruft er. Zwei starke Männer nehmen ihn in den Schwitzkasten und führen ihn ab. Jauch wischt sich den Schweiß von der Stirn. Aus dem Hintergrund hört man noch Stimmengewirr: Alles weg! Alles löschen! Ich war ja gleich gegen diese blöde Frage…. Aber wir haben doch recherchiert auf wissenschaftlicher Grundlage … So ein Mist … Seither läßt sich Jauch nicht mehr auf problematische Themen ein, schon gar nicht, wenn sie auch nur im Entferntesten mit Wuppertaler Volksfrömmigkeit zu tun haben könnten.
Glänzende Auen Von Wolf Christian von Wedel Parlow „Ah, ich riech es schon, dein Standardgericht.“ Sie ließ die Wohnungstür ins Schloß fallen, das allabendliche Signal, das mir ihre raumfüllende Anwesenheit ankündigte. Am Geräusch ihrer zu Boden fallenden Schuhe konnte ich abschätzen, wie ihre Laune war. Heute schien sie erstaunlich beschwingt. „Na, wie war’s?“, fragte ich wie jeden Abend. „Erzähl ich gleich, jetzt hab ich erst mal Hunger. Du, jeden Abend Bratkartoffeln? Du hattest mal mehr Abwechslung drauf.“ Sie goß sich vom Rotwein ein. „Die Bockwurst siehst du wohl gar nicht. Ein
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großes Menü, wo denkst du hin? Dafür wäre heute gar keine Zeit gewesen.“ „Ferngesehen?“ Sie sah mich mit diesem Blick an, halb strafend, halb belustigt. „Und wenn schon! War ne tolle Sendung, die ganze Bundestagsdebatte haben sie gebracht. Fühlte mich mal wieder bestätigt, so klein, wie die Opposition heute war, ob CDU oder SPD, die Grünen kannst du sowieso vergessen. War schon richtig, daß wir letztes Jahr die Bewegung für ein Freies Deutschland gewählt haben und mit uns die halbe Republik. Einfach kümmerlich, was die Merkel und der Gabriel brachten. Dabei war es ihre Große Anfrage … Ä!“ Eine Kartoffelscheibe war mir auf den Schoß gefallen. „Tja, Benehmen ist Glücksache!“ Sie grinste. So war sie eben, nutzte jede Schwäche, um mir eins auszuwischen. Immerhin ließ sie mich weiterreden. Sie war wohl doch etwas müde von dem Tag im Büro. „Der Lindner hat sie alle zur Schnecke gemacht, wie er da so die Zahlen runterspulte, die Entwicklung der DM, seit wir aus dem Euro ausgestiegen sind letztes Jahr …“ „Na, warten wir’s ab“, unterbrach sie mich, „auch seine Bäume werden nicht in den Himmel wachsen.“ Jetzt war sie die Skeptikerin, normalerweise war es mein Part. Sie nahm einen Schluck Wein, ein bißchen viel auf einmal, fand ich. „Jetzt hör einmal zu“, begann sie, und ich wußte, jetzt würde sie erst einmal für eine ganze Weile das Feld beherrschen. „Was da im Rathaus läuft“, fuhr sie fort, „ist eine viel größere Sache als deine Lindner-Story …“ „Na, da bin ich ja mal gespannt“, wagte ich einzuwerfen. „Aber bitte kein Wort davon zu niemandem. Top secret.“ Sie sah mich aus schmalen
Augen an, und ich wußte plötzlich, wie sie im Büro mit sogenannten Untergebenen umging. „Der Stefan hat mir heute Nachmittag ein Band zum Schreiben gegeben mit dem Gedächtnisprotokoll einer Unterredung mit dem WSW-Chef. War noch taufrisch. Erst heute Morgen haben sich die beiden getroffen. Brisant, sage ich dir …“ „Entschuldige, wenn ich dich unterbreche. Stefan, wer ist Stefan?“ „Na, der OB! Sag mal, wo lebst du eigentlich? Interessierst dich wohl nur noch für Berlin und die große weite Welt. Ich merke es schon lange. Die WZ, Wuppertal, alles ruft nur noch ein großes Gähnen bei dir hervor.“ Das hatte ich nun davon, daß ich sie unterbrochen hatte. War doch eigentlich völlig unwichtig, wer dieser Stefan war. „Also der Deal soll wie folgt laufen: Die Schwebe wird abgebaut und dem DisneyPark bei Paris zum Kauf angeboten. Nur ein kleiner Teil bleibt stehen, als historisches Denkmal, mit Fahrten nur am Wochenende, und zwar die Strecke von Sonnborn bis Vohwinkel Endstation.“ Ein wahrhaft historisches Statement. Sie goß sich ein zweites Glas Rotwein ein. „Ausgerechnet die Strecke, die unmittelbar an den Schlafzimmern der dort wohnhaften Familien entlang führt“, wetterte ich. „Aufklärung am lebenden Modell soll da wohl am Samstagvormittag geboten werden, für Eltern mit halbwüchsigen Kindern. Und anschließend in den Zoo. Doch wirklich mal eine touristische Neuerung! Keß, würde ich sagen. Aber in mir sträubt sich da einiges.“ „Du mußt aber auch in allem ein schlüpfriges Haar entdecken. Sieh’s doch mal positiv! Sonnborn und Vohwinkel hätten nur noch an zwei Tagen in der Woche das nervtötende Fahrgeräusch der Schwebe zu ertragen …“ „Ja, ja, alles schön und gut, aber kommen wir doch mal zum Kern der Sache!“ Ich war nun wirklich langsam ungeduldig geworden, während sie in aller Seelenruhe an ihrem Wein nippte. „Wie will denn dein ach so ideenreicher Stefan den Verkehr bewältigen entlang der Talachse, wenn er die Schwebe nicht mehr hat?“ „Durch eine zweite Stadtbahntrasse parallel der jetzigen S8.“ Ich war wie vor den Kopf geschlagen und konnte mir gerade noch ein ungehobeltes „Hä?“ verkneifen. „Wie begriffsstutzig ihr Männer doch manchmal seid! Die zweite Trasse haben wir doch schon. Seit Jahren liegt die Nordbahn-
trasse brach, das hast du wohl noch gar nicht mitbekommen. Die Fledermäuse haben auf der ganzen Linie gesiegt. Kein Fußgänger, kein Radfahrer darf die Tunnel betreten. Die Wuppertalbewegung hat das Projekt aufgegeben. Konnte man ja auch verstehen nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs.“ Sie sah mich triumphierend an, aber ich gab noch nicht auf. „Und gegen eine durch den Tunnel donnernde S-Bahn haben die Fledermäuse nichts?“ „Nein, natürlich nicht. Für die S-Bahn braucht man keine Tunnelbeleuchtung. Das ist der springende Punkt. Das bißchen Geräusch und den Wind, den die S-Bahn erzeugt, wenn sie durch den Tunnel rauscht, können die Tiere ertragen.“ „Und die Finanzen? Woher will dein Stefan das Geld nehmen?“ Es war mein letzter Pfeil im Köcher. „Ach, es gibt so viele Töpfe, der Erlös aus dem Verkauf der Schwebe, die Rücklagen für die Instandhaltung der Schwebe … Keine Angst, das klappt schon.“ Das klang nicht gerade überzeugend. Offenbar hatte ich einen wunden Punkt getroffen. Aber Finanzen hatten sie noch nie interessiert. „Der OB zieht das durch, da kannst du sicher sein.“ Die plötzliche Gewißheit machte mich stutzig. Da mußte etwas dahinter stecken. „Offenbar ist das noch nicht die ganze Geschichte. Irgendetwas willst du mir vorenthalten.“ Sie lächelte. „Du hast recht, ein kleines Detail fehlt noch. Eine Kollegin vom Katasteramt hat mir heute Nachmittag erzählt, Stefans Tochter habe sich diese schöne Villa an der Wupper gekauft. Na, was sagst du jetzt? Wird im Wert ganz schön steigen, wenn die Schwebe erst mal abgebaut ist. Eine Villa inmitten glänzender Auen, von der Wupper umspült.“ „Auch die Tochter wird im Wert steigen und endlich einen abkriegen. Denn bisher ist sie ja wohl leer ausgegangen, schätze ich.“ Wir waren uns plötzlich einig. „Weißt du“, sagte sie und zum ersten Mal wurde sie weich an diesem Abend, „ich habe es ja immer bedauert, daß wir keine Kinder haben, aber wenn ich das höre, bin ich doch ganz froh darüber. Was meinst du, wie wir uns abstrampeln müßten, wenn wir unsere Kinder auch so ausrüsten wollten wie Schlachtschiffe …“
Als uns die Schwebebahn gestohlen wurde Von Karl Otto Mühl Eines Tages geschah Schreckliches: Als ich abends spät vom Neumarkt zum Bahnhof ging, klaffte vor mir, an der Stelle, wo die Schwebebahn, der Wupper folgend, die Alte Freiheit überquert, klaffte eine furchtbare Lücke. Die Schwebebahn war weg. Mit weit aufgerissenen Augen lief ich zum Islandufer, lief weiter, ich glaube, ich lief bis zum Westende – aber nichts war zu sehen – keine Schwebebahn, kein Gerüst. Ich gestehe, erst in diesem Augenblick verstand ich, was uns die Schwebebahn bedeutet. Sie ist unsere Heimat, sie ist bergische Version des Heiligen Grals. Ich schluchzte hemmungslos auf, während ich mich in der Nacht am Wuppergeländer festhielt. Schließlich ging ich nach Hause, immer noch verzweifelt. Zu Hause schlief schon alles. Nur die Tochter hatte mich kommen sehen. „Da bist du ja wieder“, sagte sie. „Du sollst doch Bescheid sagen, wenn du fortgehst.“ Warum das von mir verlangt wird, habe ich nie verstanden. In meinem Zimmer rief ich sofort Lenchen an. Sie war vor achtundvierzig Jahren meine Freundin, aber sie hat gesundheitliche Probleme. Auch mit dem Arzt, weil der behauptet, es läge am Alkohol, während sie doch fast nichts trinkt. Also, von ihr habe ich es erfahren. Die Düsseldorfer müssen es gewesen sein. Sie haben sie geklaut. Bei Nacht und Nebel. Geld haben sie genug für so eine Transaktion, und gönnen tun sie uns auch nichts, diese Pfeffersäcke. Ich denke, ihr kulturelles Minderwertigkeitsgefühl steckt dahinter.
Aber, technisch gesehen, war es schon eine Meisterleistung. Es sollen nur ganz wenige eingeweiht gewesen sein. Und jetzt ein Ereignis, das alles andere übertrifft: Am Morgen war die Schwebebahn wieder da. Ich behaupte, sie ist mit ihren eisernen Beinen zurückgestakt, die Düssel entlang, über Dornap, und plötzlich stand sie wieder am alten Platz zwischen Vohwinkel und Oberbarmen. Am Morgen ging ich in die Stadt, um zu hören, was die Leute dazu sagten. Sie werden es nicht glauben, aber kein Mensch sprach von diesem erschütternden Ereignis. Wirklich kein einziger! Ich war fassungslos. Wenn ich jemand fragend anblickte, schaute er zur Seite. Ich habe nur die Erklärung, daß es pure Verlegenheit war. Die Leute wissen nicht, wie sie mit solchen Ereignissen umgehen müssen. Ich dagegen bin nicht so ratlos, wenn Unerwartetes geschieht. Damit ein Ereignis zustande kommt, müssen viel mehr unsichbare Kräfte als sichtbare zusammenwirken – Schwingungen, die sich ein einzigers Mal innerhalb der Ewigkeit zu sichtbarer Materie verdichten. Darum passiert auch nichts zum zweiten Mal. So etwas begreifen nur die wenigsten. Sie gehörte nicht nach Düsseldorf, sie war ja hier paßgenau in das enge Tal geflochten, und vielleicht hat sie ja auch eine Seele, eine Eisen-Seele, die es nach ihrer Heimat verlangte, der in Grün eingebetteten Stadt. Lenchen sagte am Telefon, man habe sie einfach zurücktransportiert, einfach aus schlechtem Gewissen heraus. Sonst wäre ja kein Wuppertaler mehr in die Altstadt gekommen. Wundern tut mich immer noch, daß das auch jetzt niemand von der Sache mit der Schwebebahn spricht. Wenn ich in der Familie nur eine Andeutung davon versuche, machen alle so ein komisches Gesicht und blicken einander an, oder sie sagen gleich, ich solle das mit dem Arzt besprechen.
© bei den Autoren, Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011
Redaktion und Fotos: Frank Becker
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Jazz-Lokal mit Savoir vivre Ein neuer Sound mit bewährten Mitteln
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Sounds kommen und gehen. Jazzfreunde wissen um die Schwierigkeit, auf dem Markt der Töne etwas wirklich Neues zu entdecken. Umso aufmerksamer hört man hin, wenn sich dann Klänge ins Ohr schleichen, die genau das in sich vereinen, worauf man schon so lange gewartet hat: Klassischer Background, bewährte Stilmittel in frischen Kompositionen mit neuen Elementen aufgepeppt und piekfeines Handwerk. Wir sprechen von einer All-Star-Band, deren Protagonisten samt und sonders längst ihre Meriten im Jazz-Geschäft haben. Von einem Quartett mit herausragenden Qualitäten ist die Rede, das sich bescheiden auf seine HeimatRegion, das Bergische Land beruft, in dessen Reihen aber jeder einzelne ein Solitär der Jazz-Szene weit über die Region hinaus ist.
Mit Wuppertal, dem Lebens- und Arbeitsmittelpunkt von Bert Fastenrath (git), Martin Zobel (tp, flh), Andy Gillmann (dr) und Carsten Stüwe (org, b) verbindet sich seit weit mehr als einem halben Jahrhundert allerbeste Jazz-Tradition und -Innovation. Denken wir nur an die großen Namen Ernst Höllerhagen, Wolfgang Sauer, Peter Kowald, Peter Brötzmann, Wolfgang Schmidtke, René Pretschner, Jan Kazda und viele andere mehr, die von der „Fabrikstadt an der Wupper“ (Paul Zech) aus die deutschen und internationalen Jazz-Annalen mitgeschrieben haben. Die Bescheidenheit des Quartetts setzt sich im selbst gegebenen Namen fort, denn „Jazz_lokal“ scheint nicht die Grenzen sprengen zu wollen. Sie tun es aber vom ersten Akkord ihres grandiosen Albums an mit Verve und Wärme, mit Ideenreichtum, enormer Sensibilität, Spielfreude und
tief unter die Haut gehendem Gefühl. Das hat internationales Format. „Savoir vivre“ – die Kunst der feinen Lebensart. Der Titel des Albums ist Programm. Da ist Martin Zobel, nach meiner Meinung einer der besten deutschen Flügelhorn-Virtuosen, der im Opener „Lost“ (Gillmann) vor dem sanften Background von Bert Fastenraths Gitarre, Andy Gillmanns dezentem Einsatz des Schlagzeugs und Carsten Stüwes genial fast wie in den 60ern klingender Orgel eine gelungene musikalische Gratwanderung zwischen der Lyrik Chet Bakers und der Dramatik von Miles Davis´ „Sketches of Spain“ unternimmt. Solo werden sie alle nach und nach hinreißend gefeatured. Carsten Stüwe lässt, wie oben schon erwähnt, die in den 60er Jahren durch Jimmy McGriff und Jimmy Smith im Jazz sehr populär gewordene Orgel wieder ihre angestammte Rolle übernehmen – eine kostbare Zeitreise. Andy Gillmann, der jüngst vom Fachmagazin „drum-heads“ portraitiert wurde, brilliert am Drumset, dessen rhythmische Möglichkeiten durch ihn und mal seinen Beat, mal das weiche Spiel mit den Besen unerschöpflich zu sein scheinen. Bert Fastenrath, in der Presse mit allem Recht oft genug stilistisch in die Nähe von Wes Montgomery und Lee Ritenour gerückt, zaubert butterweich auf seiner Signature Gibson Pat Martino, die er hinreißend plaudern und swingen lässt. Es sei, sagt Label-Chef Thilo Berg, „Musik die man zu jeder Gelegenheit hören könne, die eine breite Hörerschicht mit Niveau und Anspruch ansprechen wird und dabei kein ‚Fahrstuhl-Jazz‘ ist.“ Das trifft den Punkt. Alle zwölf Titel sind von hoher Ästhetik in Spiel und Arrangement und lösen den selbst gestellten Qualitäts-Anspruch glänzend ein. Bis auf John Lennons „Imagine“ wurden alle Stücke von der Band geschrieben - „glad to see you“ hat Andy Gillmann einen genannt. „Glad to hear you“ kann man mit einer dankbaren Verneigung zurückgeben. Savoir vivre? É voilá! Text und Fotos Frank Becker
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Buchvorstellungen
Kulturnotizen Raumplastiken – Arbeiten von Norbert Kricke im Skulpturenpark Waldfrieden
Weltkriegsliteratur in der Weimarer Republik
Luther, Müntzer und die DDR für Anfänger
Autoren und ihre Schicksale: Ernst Glaeser, dessen Roman „Jahrgang 1902“ heute noch bekannt ist, stand dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller nahe, emigrierte 1933, während seine Bücher auf dem Scheiterhaufen landeten, kehrte aber Ende der 1930er Jahre ins faschistische Deutschland zurück und wurde Redakteur von Luftwaffen-Frontzeitungen sowie eines nationalsozialistischen Periodikums im besetzten Polen.
Ein unglaublich materialreiches Werk ist vorzustellen. Wer sich für die Bauernkriege, Thomas Müntzer oder Martin Luther und die Reformation interessiert und wissen will, wie die DDR-Historiker versuchten, die genannten Personen und Ereignisse in die Traditionslinie des zweiten und untergegangenen deutschen Staates hineinzuzwängen, ist mit Alexander Fleischauers Dissertation von 2009 sehr gut bedient. Die Geschichtspolitik der SED und ihrer Blockparteien sowie die Haltung der evangelischen Kirchen der DDR werden ebenso akribisch nachgezeichnet, wie Filme und Romane zu den erwähnten historischen Themen vorgestellt werden. Alexander Fleischauer, „Die Enkel fechten’s besser aus“. Thomas Müntzer und die frühbürgerliche Revolution – Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in der DDR, Münster: Aschendorff 2010 rff 2010
Der Bücherverbrennung fielen auch die Werke des heute vergessenen Edlef Köppen zum Opfer, der in seinem „Heeresbericht“ stark mit Montagen arbeitet – ähnlich Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ – und in seine Romanhandlung Erlasse und Befehle der militärischen Führung, Regierungsdekrete, Zeitungsberichte, Reklametexte und Tagebucheintragungen einbaut. Schon die schiere Zahl ist beeindruckend: Fast 8.000 Titel hat Thomas F. Schneider in seinem „bio-bibliographischen Handbuch“ über „Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum Ersten Weltkrieg 1914-1939“ erfasst. M. D. Elizabeth Guilhamon/Daniel Meyer (Hrsg.), Die streitbare Klio. Zur Repräsentation von Macht und Geschichte in der Literatur, Frankfurt am Main: Peter Lang 2010
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Matthias Dohmen
Noch bis zum 25. September 2011 sind im Wuppertaler Skulpturenpark Waldfrieden Arbeiten des Düsseldorfer Bildhauers Norbert Kricke (1922-1984) zu sehen. Der deutsche Avantgardist der Nachkriegs-Moderne, der an der Akadamie der Künste in Berlin studiert und später an der renommierten Düsseldorfer Kunstakademie eine Professur innehatte, entwickelte einen einzigartigen, unverkennbaren Stil der zunächst streng geometrischen, schließlich sich scheinbar frei im Raum entwickelnden Gestaltung gebogener Drähte und stählerner Stangen. In Wuppertal sind sowohl die fragil wirkenden Draht-Arbeiten aus den 1950er und 1960er Jahren (im gläsernen Ausstellungs-Kubus) zu sehen, wie im Parkgelände die späteren wuchtigen Monumental wirkenden Objekte aus verchromtem Stahlrohr. Günter Grass schreibt in seiner Autobiographie: „Beim Häuten der Zwiebel“ über Norbert Kricke: „In der Klasse des Bildhauers Enseling (...) stieß ich auf Norbert Kricke, der naturgetreu seinem Meister nacheiferte und lebendige nackte Mädchen in nackte Mädchen aus Gips verwandelte, bis er, nur wenige Jahre später, von seinen Nackedeis genug hatte und fortan mit dekorativ gebogenen Drahtskulpturen dem Zeitgeist zu Diensten war.“ Weitere Informationen unter: www.skulpturenpark-waldfrieden.de/ Arp-Museum in Remagen zeigt biomorphe Plastiken Remagen - „Biomorph“ lautet der Titel einer Ausstellung, die bis zum 22. Januar im Arp-Museum Bahnhof Rolandseck in Remagen eine umfassende Ausstellung zu Positionen der „Biomorphen Plastik“
Jüdisches Museum Westfalen würdigt André Citroen mit einer Ausstellung Dorsten - Das Jüdische Museum Westfalen in Dorsten würdigt seit dem 12. Juni den Automobilentwickler André Citroen mit einer Ausstellung. Citroën wollte von Beginn an erschwing-
CICLOPE NUDA
Elfriede Jelinek erhält den Mülheimer Dramatikerpreis 2011 Ruhr - Die österreichische Autorin und Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek erhält den mit insgesamt 15.000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikerpreis. Jelinek erhält die international hoch geschätzte Auszeichnung bereits zum vierten Mal. Eingeladen zum Festival war sie mit dem Stück „Winterreise“ in der Inszenierung der Münchener Kammerspiele. Jelinek war in der 36-jährigen Geschichte des Festivals bereits zum 15. Mal mit einem Stück vertreten. Der Publikumspreis der diesjährigen „Stücke“ geht an Nurkan Erpulat und Jens
GRANITO
zeigt. Künstlerischer Ausgangspunkt ist Hans Arp, der als der wegweisende Protagonist der organischen Abstraktion gilt, die sich an den ständigen Entstehungs- und Wandlungsprozessen der Natur orientiert. Seine Arbeiten, besonders seine Plastiken inspirieren die Kunst seither. In der jüngsten Gegenwart beginnen Künstler weltweit erneut, die Thematik des „Organischen“ und des „Biomorphen“ inhaltlich und formal neu zu interpretieren. Arp findet seine Dialogpartner in den Werken von 18 bedeutenden Künstlern und Künstlerinnen. Darunter Louise Bourgeois, Tony Cragg, Bodo Korsig, Maix Mayer, Wilhelm Mundt, Ernesto Neto oder Thomas Rentmeister. Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Internet: www.arpmuseum.org
liche und praktische Autos bauen und führte daher ab 1919 als erster in Europa die Fließbandproduktion ein. Früh hat er auch den Wert der Werbung und Markenbildung erkannt und machte aus dem Doppelwinkel des Zahnrads das Logo der noch heute bestehenden Firma Citroen. Der Automobilentwickler mit jüdischen Vorfahren führte außerdem das 13. Monatsgehalt ein und stellte seinen Mitarbeitern Kinderkrippen zur Verfügung. Die Ausstellung zeigt auch die Herkunft des André Citroën und seiner Familie. Seine Vorfahren hatten noch von Amsterdam aus mit Limonen – daher sein Nachname – gehandelt. Um das Jahr 1811 mußten die Juden einen Familiennamen annehmen. Die Vorfahren des Automobilherstellers nannten sich Limoneman. Später änderten sie den Namen in Citroen. Auch nach dem Tod von Andre Citroen blieb die Marke die Verkörperung der Avantgarde. Die Ausstellung ist dienstags bis freitags von 10 bis 12.30 Uhr sowie von 15 bis 18 Uhr und samstags und sonntags von 14 bis 17 Uhr geöffnet. Internet: www.jmw-dorsten.de
Lichtbogen Frank Marschang e.K. Karlstraße 37 42105 Wuppertal Tel. 0202.244 34 40 Fax 0202.244 34 39 www.lichtbogen-wuppertal.de info@lichtbogen-wuppertal.de
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Hillje für das Stück „Verrücktes Blut“ in der Inszenierung von Ballhaus Naunynstraße/Ruhrtriennale. Die „Stücke 2011“ zeigten sieben Inszenierungen in zwölf Vorstellungen. Den mit 10.000 Euro dotierten Mülheimer Kinder-Stücke-Preis erhielt Michael Müller für sein Stück „Über die Grenze ist es nur ein Schritt“. Im kommenden Jahr findet das Festival vom 19. Mai bis zum 9. Juni statt. Internet: www.stuecke.de Sommerfestspiele Xanten mit Beatles und Bizet Xanten - Ein Musikmix aus Verdi, Pucchini und den Beatles ist vom 12. bis 28. August bei den diesjährigen Sommerfestspielen im Xantener Amphitheater zu erleben. Wie die Veranstalter mitteilten, wird neben einer großen Verdi- und Puccini-Gala sowie der Show „Beatlemania“ auch die Oper Carmen von Georges Bizet, das Musical „My Fair Lady“und die Kleist-Komödie „Der zerbrochne Krug“ zu sehen und zu hören sein. Internet: www.sommerfestspiele.net Herne zeigt Ausstellung über Museumssachen und Redensarten Herne - Unter dem Titel „Der Schlips auf der Goldwaage“ präsentiert das Emschertal-Museum in Herne seit dem 15. Juni eine Ausstellung über Museumssachen und Redensarten. Deren Ursprünge gingen zurück auf das Brauchtum früherer Tage, auf die ritterliche Welt des Mittelalters, auf Technik, Rechtswesen oder auch auf den Arbeitsalltag von Handwerkern. Bei der bildhaften Beschreibung griffen viele der Redensarten auf Objekte zurück, deren Bedeutung oder Funktion heutzutage nicht mehr bekannt ist. Dennoch würden sie benutzt, wobei der eigentliche Hintergrund jedoch eher erahnt denn gewußt werde. Die bis zum 22. Januar nächsten Jahres laufende Schau führt Objekte und Redewendungen zusammen, indem sie die Funktion der Exponate beschreibt und die daraus abgeleiteten Redewendungen erläutert. Die Ausstellung ist dienstags bis freitags von 10 bis 13 und von 14 bis 17 Uhr, samstags von 14 bis 17 Uhr sowie sonntags von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Internet: www.herne.de
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Ausschreibung für Europäischen Krimipreis startet Unna - Zum dritten Mal wird im Rahmen des Festivals „Mord am Hellweg“ jetzt der Ripper Award ausgelobt. Der mit 11.111 Euro dotierte Europäische Preis für Kriminalliteratur geht an einen Kriminalschriftsteller, der sich mit seinem Wirken im europäischen Ausmaß um die Kriminalliteratur verdient gemacht hat, erklärte ein Sprecher der Stadt Unna. Preisträger sind bereits die schwedischen Autoren Henning Mankell und Håkan Nesser. Verlage, literarische Einrichtungen, Lektoren, Agenturen, Krimiautoren, Krimijournalisten, Literaturvermittler und -förderer können ihre Favoriten bis zum 31. August vorschlagen. Erstmals wird der Ripper Award bereits zum Finale der nächsten Festival-Ausgabe am 10. November 2012 vergeben und nicht erst im Frühjahr des darauffolgenden Jahres, hieß es weiter. Internet: www.mordamhellweg.de Ausstellung „Was essen wir heute?“ in Venlo eröffnet Das Museum van Bommel van Dam präsentiert seit dem Pfingstwochenende eine Schau rund um das Thema Nahrungsmittel Venlo - Unter dem Titel „Was essen wir heute?“ präsentiert das Museum van Bommel van Dam im niederländischen Venlo seit dem Pfingstwochenende eine Ausstel-
lung rund um das Thema Nahrungsmittel. Die bis zum 11. September laufende Schau blickt nicht nur zurück in die Vergangenheit, sondern beleuchtet auch die Gegenwart und die Zukunft der menschlichen Nahrung. Heutzutage essen wir sowohl Produkte aus der Region als aus aller Welt. Jedes für sich erzählt eine äußerst spannende Geschichte über Nachhaltigkeit, Gesundheit, Innovation, Geschmack, Qualität und Frische. In der Region Venlo, die für Spargel, Champignons und Tomaten berühmt ist, sucht man nach Wegen, vorhandene Produkte zu verbessern und neue Nahrungsmittel zu entwickeln. Die Ausstellung zeigt ein überraschendes Spektrum verbesserter Produkte, innovativer Techniken und alternativer Nahrungsmittel, das künftig möglicherweise den Hunger bekämpfen kann. Gesunde Snacks, wiederentdecktes Getreide, aber auch Insekten und Algen. Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Internet: www.vanbommelvandam.nl
Internationales Jazzfestival Viersen wird 25 Jahre Viersen - Zum inzwischen 25. Mal findet in diesem Jahr das Internationale Jazzfestival Viersen statt. Die Veranstaltung vom 22. bis 25. September präsentiere eine anspruchsvolle Mischung aus Jazz, improvisierter Musik, Big Band-Klängen, Funk, Electronic Beats und Pop nationale und internationaler Jazzgrößen. Stargast ist in diesem Jahr der amerikanische Sänger und Saxophonist Curtis Stigers, der in den 90er Jahren mit „I Wonder Why“ einen internationalen Top-Ten-Hit feierte. Bereits vor dem traditionellen Eröffnungskonzert am 23. September in der Kreuzkirche können sich Jazzfreunde auf Livemusik freuen. Anläßlich des Jubiläums gibt es am 22. September ein Geburtstagskonzert mit Trombone Shorty & Orleans Internet: www.jazzfestival-viersen.de
Kulturnotizen Ausstellung über Düsseldorfer Theaterleben damals und heute Düsseldorf. Im Foyer der Universitäts- und Landesbibliothek der Heinrich-Heine Universität in Düsseldorf ist bis zum 15. Juli eine Ausstellung zur Geschichte des Theaters in Düsseldorf zu sehen. Die Schau erinnert daran, daß Anfang des 20. Jahrhunderts gleich zwei neue Theaterstätten in Düsseldorf eröffnet wurden, deren Spuren sich auch heute noch im Kulturleben der Stadt finden. Das Apollo-Theater und das Schauspielhaus Düsseldorf unter Leitung von Louise Dumont und Gustav Lindemann. „Morgenfeiern“ machten im Schauspielhaus den sonntäglichen Gottesdiensten Konkurrenz, denn Louise Dumont führte mit dem Worttonsprechen ganz neue, innovative Aufführungspraktiken ein. Das Apollo-Theater brachte muskelbepackte Artisten und Elefanten auf die Bühne. Gezeigt werden Originalquellen zur Entstehungs- und Erfolgsgeschichte der Theater unter anderem aus dem Archiv des Theatermuseums Düsseldorf und dem Stadtarchiv. Die Ausstellung ist montags bis freitags von 8 bis 24 Uhr sowie samstags und sonntags von 9 bis 24 zu sehen.
Filmmuseum Düsseldorf zeigt den Mythos des US-Westens in Deutschland Düsseldorf - Unter dem Titel „Der Schatz im Silbersee“ zeigt das Filmmuseum Düsseldorf seit dem 25. Juni eine Ausstellung zum Mythos des amerikanischen Westens in Deutschland. Die bis zum 9. Oktober laufende Schau zeichnt erstmalig den Weg des Mythos durch alle Medien nach. Ausgehend von den frühen Tagen der Besiedlung des amerikanischen Westens verfolgz der Besucher den spannenden Weg mythischer Bilder und Beschreibungen, die ihren Weg in das Kollektiv-Bewusstsein der Deutschen fanden. Nicht zuletzt dank Karl Mays Geschichten vom Apatschen-Häuptling Winnetou und seinem weißen Blutsbruder Old Shatterhand ist auch die Westernliteratur hierzulande zum Massenphänomen geworden. Der Schwerpunkt der Schau liegt auf der filmischen Umsetzung des Mythos. Die Ausstellung ist dienstags sowie donnerstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr und mittwochs von 11 bis 21 Uhr geöffnet. Internet: www.duesseldorf.de/filmmuseum
Ausstellung über „Heines Reisen durch Europa“ in Düsseldorf Düsseldorf - „Heines Reisen durch Europa“ lautet der Titel einer Ausstellung, die bis zum 21. August im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf gezeigt wird. Anschaulich widmet sich die Schau der zwischen 1826 und 1831 erschienenen vierbändigen Reihe der „Reisebilder“ des Dichters. Diese „Reisebilder“ brachten für Heine den ersehnten literarischen Durchbruch, erklärte Sabine Brenner-Wilczek, die Leiterin des weltweit einzigen Museums für den 1797 in Düsseldorf geborenen Dichter. Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr, samstags von 13 bis 17 Uhr geöffnet. Internet: www.heine-institut.de von Andreas Rehnolt Redaktion: Frank Becker
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